1
Lady Marjorie Snellthorpe hörte die Cousine ihres verstorbenen Mannes keuchen, während sie darauf warteten, das Flugzeug verlassen zu dürfen.
Nachdem Marjorie und Edna Parkinton sich jahrelang nicht gesehen hatten, waren sie sich im letzten Jahr zu Beginn einer Flusskreuzfahrt in Amsterdam wiederbegegnet. Aufgrund einer Verwechslung, die bei Ednas Buchung entstanden war, hatten sich die beiden Frauen ein Zimmer teilen müssen.
Der bevorstehende Urlaub in den schottischen Highlands war ihre dritte gemeinsame Reise, seit das Schicksal sie wieder zusammengeführt hatte. Wenn Marjorie ehrlich war, konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass sie irgendwie in diese Freundschaft – oder Reisebegleitung – hineingeschlittert war. Fast gegen ihren Willen begann Marjorie, ihre angeheiratete Cousine zu mögen, auch wenn ihr klar war, dass Edna ihre vulgären Verhaltensweisen nie ändern würde. Aber ob sie sich jemals wirklich nahe stehen würden, hing davon ab, ob Marjorie den Schaden verzeihen – wenn auch nicht vergessen - konnte, den Edna der Liebe ihres Lebens zugefügt hatte, die sie jeden Tag vermissen würde, bis auch sie aus dieser Welt schied.
Die Durchsage des Piloten und das Schild „Sicherheitsgurt ablegen“ signalisierten ihnen, dass sie das Flugzeug nun verlassen konnten.
„Komm, Marge – Zeit, Spaß zu haben“, rief Edna und unterbrach ihre Gedanken.
Marjorie atmete aus, als sie merkte, dass sie die Luft angehalten hatte. „Gut“, sagte sie.
„Soll ich die Stewardess um Hilfe bitten?“
Marjorie starrte irritiert in Ednas dunkelbraune Augen. „Nein danke. Wie du weißt, bin ich durchaus in der Lage, einen Flieger ohne fremde Hilfe zu verlassen. Aber ich wär dir dankbar, wenn du so freundlich wärst, mein Handgepäck aus dem Gepäckfach über dem Sitz zu holen.“ Mitunter war Marjories kleine Statur ein Hindernis, besonders wenn sie auf Edna angewiesen war, die sich dann gerne aufspielte.
Ednas vorhersehbares Grinsen, während sie im schmalen Gang stand, verriet Marjorie, dass sie recht hatte. Die breite Gestalt ihrer angeheirateten Cousine versperrte den Gästen einer Junggesellinnenabschiedsparty den Weg aus dem Flugzeug. Edna holte das Handgepäck betont langsam heraus und blockierte den Gang. Zweifellos absichtlich verharrte Edna in dieser Position und wartete darauf, dass Marjorie von ihrem Sitz aufstand, während die anderen Reisenden, die sich während des gesamten Fluges laut unterhalten hatten, nun leise murrten. Ein paar von ihnen äußerten ihren Unmut.
„Beeilen Sie sich, gute Frau. Wir können hier nicht den ganzen Tag rumstehen“, schrie ein Mädchen weiter hinten.
Edna drehte sich um und blaffte zurück: „Im Gegenteil: Ihre Party fängt doch erst um acht im Glenmoriston Townhouse an, nicht wahr? Und davor wollen Sie sich mit ein paar Jungs aus Inverness treffen. Schließlich ist es doch Carlas letzte Nacht als Junggesellin! Meiner Schätzung nach bleibt Ihnen jede Menge Zeit.“
Die junge Frau direkt hinter Edna errötete. „Tut mir leid, wenn wir Sie genervt haben. Wir wollten nicht so laut sein.“
„Das macht nichts“, warf Marjorie ein. „Wir waren auch mal jung. Komm jetzt, Edna. Vielleicht brauche ich doch deine Hilfe beim Aussteigen.“
Als sie den Flieger verlassen hatten, war Marjorie froh, dass es zwischen Edna und den Gästen der Junggesellinnenabschiedsparty keine weiteren Reibereien gab, außer ein paar gemurmelten Bemerkungen, dass die „alte Schachtel“ ihnen auf den Keks ging.
Edna grinste. „Denen hab ich es gezeigt. Sie brauchten nicht alle im Flieger wissen zu lassen, was sie vorhaben. Das nächste Mal werden sie sich besser benehmen.“
„Das bezweifle ich, und ich für meinen Teil hatte meinen Spaß an ihrer ungezügelten Vorfreude. So was hört man heutzutage selten.“ Weitaus angenehmer, als dir zuzuhören, wie du von deiner Zeit als Sängerin schwärmst, dachte sie, ohne den Gedanken auszusprechen.
„Ich verstehe nicht, was so unterhaltsam an einem Haufen alberner junger Frauen ist, die den ganzen Flug über gackern. Aber wenn du meinst, Marge.“
„Und ich kann nicht nachvollziehen, warum du das Bedürfnis hast, dich mit wildfremden Leuten wegen trivialen Dingen anzulegen. Das ist mir völlig unbegreiflich.“
Edna drückte Marjorie unsanft ihre Reisetasche in die Hand. „Gehen wir. Ich freue mich schon auf Horace, und ich wette, du kannst es kaum erwarten, deinen Fred wiederzusehen.“
„Er heißt Frederick.“ Marjorie biss die Zähne zusammen. Und mein Name ist Marjorie, dachte sie. Laut sagte sie: „Worauf ich mich freue, ist, die Highlands näher kennenzulernen. Ralph hat Schottland geliebt, aber die meiste Zeit verbrachte er hier oben beim Angeln. Daher bin ich nur selten mitgekommen und habe ihn mit …“ Marjorie stockte; beinahe hätte sie ausgeplaudert, dass er mit seinem Chauffeur Johnson verreist war - was Edna mit Sicherheit an ihr vermeintliches Unglück erinnern würde.
„Ich muss zugeben, dass die Extratage am Loch Ness aufregend werden können, solange wir uns nicht nachts draußen aufhalten.“ Edna blies den Atem aus und wischte sich die Stirn.
„Das ist eine seltsame Bemerkung.“
„Was?“
„Schon gut.“ Auch Marjorie freute sich auf den verlängerten Aufenthalt. Der Reiseplan war in der Woche vor der Abreise geändert worden, weil die zuständige Behörde Renovierungsarbeiten im Hotel, in dem sie anschließend wohnen würden, angeordnet hatten. Ihre Reiseleiterin Faith Weathers hatte daraufhin vier statt zwei Übernachtungen am Loch Ness organisiert. Anscheinend bot das Hotel einen Blick auf den großen See, den Marjorie schon seit vielen Jahren besuchen wollte. Wäre sie mit Ralph gereist, hätte er seine Angel mitgenommen und sie sich selbst überlassen. Bei diesem Gedanken meldete sich leise ihr schlechtes Gewissen. Dennoch war der geänderte Reiseplan aus ihrer Sicht ideal.
„Wo stecken denn alle?“ Edna sah sich suchend um.
„Mit allen meinst du sicher Horace? Faith ist da drüben.“
Ihre Reiseleiterin wartete schon feierlich mit einem großen Schild, auf dem stand: Queen River and Land Tours, Highland-Tour.
„Ist das Daisy, die neben ihr steht?“
„Richtig“, sagte Marjorie, die sich freute, die junge Frau wiederzusehen. Daisy hatte sie auf der Amsterdam-Reise begleitet. Sie war jünger als Faith, lebendig, entgegenkommend und freundlich.
„Machen Sie sich um Ihr Gepäck keine Sorgen, Lady Marjorie“, rief Faith ihr zu. „Die Koffer werden hergebracht und für Sie in den Bus geladen.“
Edna schnaubte und fragte beleidigt: „Und was ist mit meinen?“
„Ihre auch, Edna.“ Faith lächelte herzlich, als sie zu ihr gingen, und hakte sie auf einer Liste ab. Die junge Daisy grinste amüsiert, was Marjorie zeigte, dass sie sich noch gut an Edna erinnerte. Einmal begegnet, nie mehr vergessen.
Faith schüttelte ihnen die Hand. „Wir fahren in einer halben Stunde zum Busbahnhof, um den Rest der Reisegruppe abzuholen. Manche von ihnen sind mit dem Bus hergekommen. Bevor wir zum Loch Ness weiterfahren, halten wir an einem beliebten Aussichtspunkt, den Rogie-Falls-Wasserfällen. Wir mussten die Teilnehmer auf zwei Hotels verteilen … Ach, ich habe ganz vergessen, zu fragen, wie Ihr Flug war?“
„Laut“, sagte Edna und warf Marjorie einen gereizten Blick zu.
Faith zog die Augenbrauen hoch. „Ach was?“
„Der Flug war völlig in Ordnung“, sagte Marjorie.
Edna lachte gackernd. „Wenn Sie gerne aufgedrehten jungen Tussis zuhören, die stundenlang über das andere Geschlecht reden.“
Daisy konnte ein Grinsen nicht verbergen.
Faith nickte und ihr Gesicht erhellte sich. „Fast hätte ich es vergessen … Horace Tyler ist vor ungefähr einer Viertelstunde angekommen und ins Café gegangen. Er sagte, wenn ich Sie sehe, soll ich Ihnen Bescheid sagen, wo er ist, falls Sie dazukommen möchten.“
„Bei Horace kann man sich darauf verlassen, dass er es sich bequem macht. Kommst du mit, Marge?“
Marjorie hatte längst die Hoffnung aufgegeben, dass Edna irgendwann damit aufhören würde, sie mit der Kurzform ihres Vornamens anzusprechen. Nichts hatte bisher funktioniert – Edna machte so weiter, egal, ob sie es ignorierte oder sich weigerte, zu antworten. Edna würde sich nie ändern, und auch wenn es Marjorie in letzter Zeit eher nervte als ärgerte, glaubte sie nicht, dass ihre angeheiratete Cousine etwas dagegen tun konnte. Sie verwendete nun mal Kurzformen, und das nicht nur bei Marjorie – also warum dagegen ankämpfen? „Ich komme gleich. Geh schon mal vor.“
Edna eilte durch die Halle und rückte dabei ihre rote Perücke zurecht, von der sie überzeugt war, dass sie für Schottland am passendsten war, als sie sie heute früh vor ihrer Abreise aufgesetzt hatte. Marjorie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und wandte sich an Faith. „Ich habe vergessen, Sie zu fragen, bevor ich Major Jeffries großzügiges Angebot annahm: Werden Edna und ich in getrennten Zimmern untergebracht?“
„Die ursprüngliche Buchung sah eigentlich ein Doppelzimmer vor, aber ich habe sie geändert und Ihnen ein zusätzliches Zimmer besorgt. Die Besitzerin von Nessie’s Lochside Hotel, wo die Hälfte unserer Reisegruppe untergebracht ist, war sehr entgegenkommend, vor allem, nachdem ich unseren Aufenthalt verlängert habe. Das Hotel wurde gerade erst eröffnet, daher half sie uns nur zu gern aus.“
Marjorie spürte, wie sich die Spannung in ihrem Nacken löste. „Das ist wunderbar.“
„Schwieriger war, unsere Buchung für die Extranächte im zweiten Hotel zu verlängern, was bei Touristen sehr beliebt ist. Für die zusätzlichen Tage haben sie einige unserer Gäste in ihren Lodges für Selbstversorger untergebracht und angeboten, die Mahlzeiten im Hotel zu servieren, aber das betrifft Sie nicht. Daisy wird bei dieser Hälfte der Gruppe bleiben und wir werden die organisierten Touren gemeinsam durchführen. Nach den wenigen Telefonaten, die ich mit Nessa geführt habe, klingt sie wie ein Energiebündel. Ich glaube, wir werden uns hier wohlfühlen.“
„Nessie’s Lochside Hotel, sagten Sie? Wird das Ungeheuer von Loch Ness nicht so genannt?“
Faith kicherte. „Ja. Die Besitzerin hat es nach dem berüchtigten Ungeheuer benannt. Unsere beiden Hotels liegen nahe am Ufer von Loch Ness und es ist die Erfüllung ihres Kindheitstraums. Ich bin sicher, wir werden mehr über die Gegend erfahren, wenn wir sie kennenlernen.“
Ein paar andere Teilnehmer kamen, um sich bei den beiden Reiseleiterinnen zu melden und sich zu erkundigen, wie es weiterging. Marjorie beobachtete einen mürrisch wirkenden, schlaksigen Mann, der Daisy bissig anfuhr. Faith griff ein. Danach hießen beide die Gäste willkommen und hakten ihre Namen von den Listen ab. Der Anblick von Faith und den Klemmbrettern vermittelte Marjorie ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit. Faith war für ihren Beruf perfekt geeignet: Sie war effizient und sympathisch, eine Frau, die mit jedem umgehen konnte. Selbst Marjorie, die eine erfahrene Gastgeberin von Dinnerpartys war, bewunderte sie dafür. Von Frederick, nach dem sie Ausschau hielt, auch wenn er nicht ihr Fred war, womit Edna sie immer aufzog, war keine Spur zu sehen. Sie hoffte, dass er es sich nicht anders überlegt und die Reise abgesagt hatte. Er und Horace waren unterhaltsame Begleiter und hielten Edna davon ab, ihr zu sehr auf die Nerven zu gehen.
Marjorie ging hinüber in die Kaffeebar.
Horace stand auf, um ihr die Hand zu schütteln. „Schön, dich wiederzusehen, Marjorie. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich für dich schon eine Kanne Tee bestellt habe. Die Bedienung ist langsam und ich wollte verhindern, dass du nichts zu trinken bekommst.“
„Ich freu mich auch, dich zu sehen“, erwiderte Marjorie. „Und es macht mir nicht im Geringsten etwas aus.“ Sie betrachtete missbilligend den Becher. Sie trank zwar lieber Tee aus einer Tasse, doch es war eine nette Geste und sie durfte nicht pingelig sein. Edna und sie kannten Horace schon seit der Amsterdam-Reise, während sie Frederick erst vor Kurzem im Urlaub und auf einer Flusskreuzfahrt in Rumänien kennengelernt hatten. Ein dankbarer Teilnehmer hatte ihnen die jetzige Reise geschenkt, nachdem sie einen Mord aufgeklärt und seine Unschuld bewiesen hatten.
„Fred kommt mit dem Bus aus Glasgow, wo er seinen Sohn besucht hat. Bald ist die Viererbande wieder zusammen.“ Horace zwinkerte und Edna schnaubte amüsiert.
„Ich möchte keiner Bande angehören. Außerdem zähle ich Faith dazu; daher sind wir vielleicht eher eine Erwachsenenversion von Enid Blytons Fünf Freunden.“
Edna gluckste. „Guter Witz, Marge. Sie hat Sinn für Humor, wenn sie nicht gerade ein Snob ist.“
„Du auch, wenn du mal keine Chaotin bist“, gab Marjorie zurück.
Horace lachte laut und schnaubte dabei ebenso belustigt wie Edna. „Ich hätte nichts dagegen, ein Mitglied eurer Bande zu sein, Lady Marjorie, aber die Vier Freunde reichen mir auch, solange es keine Morde gibt.“
„Das kann ich leider nicht garantieren, vor allem nicht, da wir am nebligen Ufer des Loch Ness wohnen“, gluckste sie und schalt sich gleichzeitig insgeheim, als Edna blass wurde. Bei unserer Vorgeschichte sollten wir mit so was lieber nicht spaßen.
2
Während Edna und Horace miteinander plauderten, trank Marjorie Tee und vertrieb sich die Zeit damit, die Leute zu beobachten. Sie schaute zu, wie sich weitere Teilnehmer ihrer Reisegruppe anschlossen, indem sie zu Faith und Daisy gingen. Der schlanke Mann, der Daisy angeblafft hatte, lief unruhig auf und ab. Hin und wieder schaute er – wie sie – heimlich nach, wer eincheckte, und schien nach jemandem Ausschau zu halten. Vielleicht wartete er auf einen anderen Reisegast. Marjorie hoffte, dass er in dem anderen Hotel, das Faith erwähnt hatte, untergebracht war. Sein finsterer Blick eignete sich kaum für einen entspannten Urlaub.
Da ihr nun manche Teilnehmer die Sicht auf den Mann versperrten, beobachtete Marjorie andere Gäste, die näher am Fenster vorbeigingen. Zwei Polizeibeamte kamen herein und setzten sich an einen Tisch, wo sie sich leise miteinander unterhielten. Der Polizist nahm seine Kappe ab, unter der blonde Locken und ein Stück trockene Haut am Haaransatz zum Vorschein kamen. Er schien seiner Kollegin, die Marjorie den Rücken zuwandte, nur mit halbem Ohr zuzuhören. Marjorie fragte sich, ob auch er nach jemandem Ausschau hielt oder sich einfach nicht für das interessierte, was seine Kollegin erzählte.
„Marge?“
„Entschuldige, meinst du etwa mich?“ Marjorie sah Edna an.
Edna verdrehte die Augen. „Es ist Zeit, aufzubrechen. Faith winkt uns schon seit Ewigkeiten zu sich.“
Marjorie erwähnte lieber nicht die Tatsache, dass sie doch noch gar nicht so lange im Café saßen, und ignorierte Ednas Übertreibung. Sobald sie aus dem Bahnhof traten, nahm Marjorie einen tiefen Atemzug der kühlen, aber belebenden schottischen Herbstluft und genoss ihre Frische.
Die Reisegruppe, die sich bisher versammelt hatte, bestand aus Teilnehmern, die auf drei verschiedenen Flügen angereist waren. Wie Horace ihnen bereits gesagt hatte, kam er aus Gatwick, Marjorie und Edna waren von Manchester aus geflogen, und der Rest war vom Flughafen Heathrow aus gestartet. Faith erklärte, dass die Passagiere des Fluges aus Heathrow mitsamt ihrem Gepäck aufgrund eines technischen Defekts des ersten Fliegers in ein anderes Flugzeug umsteigen mussten. Faith und Daisy versammelten alle Reisegäste, darunter mehrere Nachzügler, zu denen auch der hochgewachsene Mann gehörte, den Marjorie in der Bahnhofshalle wahrgenommen hatte.
Nachdem sie in den Luxusbus eingestiegen waren, suchten sich Marjorie, Edna und Horace bequeme Sitze in der Mitte aus. Edna war froh, dass Marjorie sich ans Fenster setzte, weil sie sich auf diese Weise mit Horace, der alleine saß, unterhalten konnte.
„Ich halte den Platz für Fred frei“, sagte er und stellte eine Tasche auf den Fenstersitz neben sich. Der Bus war nur halb voll, also war es nicht wirklich notwendig.
„Er heißt Frederick“, murmelte Marjorie leise, aber es war sinnlos, sich deswegen zu streiten. Horace und Edna waren sich so ähnlich, dass sie Blutsverwandte sein könnten. Sie zu korrigieren wäre so sinnlos, wie zwei Teenager davon abhalten zu wollen, den Unterricht zu stören. Trotzdem war sie froh darüber, dass sich Horace und Edna so gut verstanden, denn dadurch war ihre angeheiratete Cousine genügend abgelenkt, um sie nicht allzu sehr zu nerven.
Endlich waren sie auf dem Weg zum Busbahnhof. Horace und Edna unterhielten sich weiter angeregt, während Marjorie aus dem Fenster schaute.
Als sie wieder einmal von Ednas Gekicher und Horaces Schnauben gestört wurde, verdrehte sie die Augen. Manchmal schämte sich Marjorie für ihr Verhalten gegenüber Edna, doch jedes Mal, wenn sie glaubte, darüber hinwegsehen zu können, tat oder sagte ihre angeheiratete Cousine etwas, das sie aufregte – ob absichtlich oder nichts ahnend, war Marjorie immer noch ein Rätsel. Sie waren in verschiedenen Welten aufgewachsen, doch das war nicht der Grund. Marjorie hatte noch nie auf Menschen wegen ihres gesellschaftlichen Stands oder ihrer Erziehung herabgesehen. Neben ihren unterschiedlichen Vorgeschichten gefiel ihr Ednas laute, unbedachte Art nicht. Edna machte den Mund auf, ohne vorher nachzudenken. Dies führte häufig zu Konflikten wie dem mit den jungen Frauen im Flugzeug. Manchmal kam es ihr so vor, als wäre ihre angeheiratete Cousine auf Streit aus. Marjorie fragte sich, ob Edna womöglich noch immer einen Groll wegen des harten Lebens ihrer Mutter hegte, für das sie Ralphs Großvater, seinen Vater und Ralph selbst verantwortlich machte, weil dieser das Familienvermögen geerbt hatte. Andererseits war es auch möglich, dass Edna immer noch um ihren verstorbenen Mann trauerte. Das konnte Marjorie verstehen und dafür Mitgefühl aufbringen. Als nach Ralphs Tod die tiefe Trauer nachgelassen hatte, die Marjorie nicht zeigen durfte, weil es sich nicht schickte, wurde sie plötzlich ohne Grund wütend. Hätte sie nicht jahrzehntelang gelernt, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, was ihre Geburt in den Adelsstand vorschrieb, hätte sie leicht ausrasten können.
Als Frau eines weiteren Aristokraten und angesehenen Geschäftsmanns hatte die Pflicht immer Vorrang vor den Gefühlen gehabt, doch ohne Zweifel verbarg sich hinter der Maske ein gebrochenes, aber noch schlagendes Herz. Hätte Marjorie nicht ihre junge Freundin Rachel Prince – jetzt Jacobi-Prince – kennengelernt, wären die letzten Jahre für sie unerträglich gewesen. Rachel ahnte nicht, welche heilende Wirkung ihre Freundschaft hatte, und jetzt war sie so etwas wie Marjories Enkeltochter, die einen besonderen Platz in ihrem Herzen hatte. Auch war Rachel pflichtbewusst – nicht nur aufgrund ihres christlichen Glaubens und ihrer Arbeit als Polizistin, sondern weil sie dies von ihren Eltern gelernt hatte; ihr Vater war Dorfpfarrer und ihre Mutter eine Pfarrersfrau, die die gleiche Rolle übernommen hatte wie Marjorie selbst, wenn auch unter anderen Umständen. Möglicherweise hatten Marjories Reaktionen auf Edna – neben den seelischen Verletzungen, mit denen sie sich in den letzten Tagen beschäftigt hatte – auch etwas mit Elementen der Trauer zu tun, die sie nie zeigen durfte.
Der Bus hielt an und unterbrach Marjories Erinnerungen. „Gott sei Dank“, sagte sie. Gleich darauf stieß Edna sie an, wie um zu beweisen, dass sie die ewige Nervensäge war.
„Was hast du, Marge? Denkst du an deinen Fred?“
„Er ist nicht mein Fred.“ Sie machte sich nicht die Mühe, noch einmal zu erwähnen, dass der Mann Frederick hieß. „Und sprich bitte leiser.“
„Wie du willst, Marge.“
„Hier kommt der Mann, von dem wir gerade gesprochen haben“, sagte Horace.
Da Marjorie klein war und die Kopfstützen ihr die Sicht versperrten, sah sie Frederick erst, als er fast bei ihnen war. Er war so vernünftig, einen Filzhut zu tragen, der seinen kahlen Kopf vor den Elementen schützte, und wirkte genauso elegant wie vor sechs Wochen, als sie sich zum ersten Mal in Rumänien begegnet waren. Er sollte sich jedoch wirklich andere Hemden zulegen. Das war das Einzige, was sie an ihm auszusetzen hatte. Frederick trug unter seinen Anzugjacken immer karierte Hemden, die selten dazu passten – vor allem, wenn er sich wie jetzt auch noch eine gestreifte Krawatte umgebunden hatte.
„Hallo zusammen.“ Seine grauen Augen bekamen schüchterne Lachfältchen, als sein Blick auf Marjorie fiel, und ihr Herz fing an, leicht zu pochen.
Hastig ermahnte sie sich, sie solle sich zusammenreißen, und nickte zur Begrüßung. „Hallo. Ich hoffe, die Fahrt hierher war angenehm.“
„Oh ja, sie war herrlich. Die Landschaft auf dem Weg hierher ist wunderschön.“ Die Sonne spiegelte sich in seinen Augen und ließ sie tanzen, als er erneut lächelte.
„Unser Flug war okay, danke der Nachfrage“, unterbrach Edna ihn, die es nicht ausstehen konnte, aus einem Gespräch ausgeschlossen zu werden. „Das heißt, abgesehen von den lauten Teilnehmerinnen an einem Junggesellinnenabschied.“
„Überfall den Mann doch nicht gleich, Edna“, sagte Horace und stand auf, um Frederick die Hand zu schütteln, nachdem andere Passagiere vorbeigegangen waren. „Hier, ich habe einen Platz für Sie freigehalten. Ich nehme an, es macht Ihnen nichts aus, am Fenster zu sitzen? Edna und ich bringen uns gerade auf den neuesten Stand.“
Marjorie musste sich davon abhalten, den Vorschlag zu machen, dass sie ihre Plätze ja komplett tauschen könnten, doch das hätte zu forsch gewirkt und Frederick sollte nicht den falschen Eindruck von ihr bekommen. Und noch wichtiger war, dass sie Edna nicht noch mehr Munition liefern durfte, die diese wieder an sie abfeuern könnte.
„Das macht mir überhaupt nichts aus. Danke, dass Sie an mich gedacht haben. Faith sieht erholt aus, nicht wahr? Entspannter als auf der letzten Reise.“
Horace wich ein paar Schritte auf dem Gang zurück, um Platz für Frederick zu machen, damit der sich auf den Fenstersitz setzen konnte. „Beim letzten Mal hatte sie viel um die Ohren, nicht wahr?“ Er zwinkerte. „Außerdem hilft ihr die junge Daisy auf dieser Tour. Wir haben Daisy auf der Reise nach Amsterdam kennengelernt, als wir uns angefreundet haben. Ein nettes junges Ding und dazu noch hübsch.“
„Und viel zu jung für dich, Horace Tyler“, schimpfte Edna ihn. „Man kann es einem Mann nicht übel nehmen, sich zu wünschen, er wäre ein paar Jährchen jünger“, grinste Horace.
„Ein paar Jährchen! Du bist schon einige Jahrzehnte älter, mein Freund.“ Edna gluckste und Horace schnaubte amüsiert.
Marjorie hoffte nur, dass ihr nächstes Ziel diese Reise lohnenswert machen würde.
3
Nach etwa einer halben Stunde bog der Bus auf den Parkplatz für die Rogie Falls ab und parkte an der Seite neben dem Ausgang. Außer ihrem Reisebus standen dort nur ein paar Autos und ein Wohnmobil, was auch gut war. Marjorie vermutete, dass der Fahrer das große Fahrzeug sonst nicht so einfach hätte einparken können. Faith sprach durch ein Mikrofon von der Vorderseite des Busses zu den Reisegästen. Marjorie konnte sie vom Fensterplatz aus zwar nicht sehen, aber sie hörte ihre Worte.
„Wir sind auf dem Parkplatz der Rogie Falls angekommen.“
„Das ist doch glasklar“, sagte Edna.
Marjorie musste lächeln. „Das ist doch glasklar“ gehörte zu den Lieblingsausdrücken ihrer angeheirateten Cousine.
Faith fuhr fort: „Ich werde den Salmon Trail nehmen, der eine Länge von etwa einer halben Meile hat und somit der kürzeste Weg zu den Wasserfällen ist. Für diejenigen unter Ihnen, die mich begleiten möchten: Es ist ein ziemlich ebener Schotterpfad bis zu den Wasserfällen, wo es einen Aussichtspunkt gibt. Es geht ziemlich steil bergab; wenn also jemand unter Ihnen stattdessen auf den Waldwegen näher am Parkplatz laufen möchte, kann er dies gerne tun. Wer lieber eine anspruchsvollere Wanderung auf unebenem und schlammigem Gelände macht, kann sich Daisy anschließen, die den Riverside Trail übernimmt. Er ist nur etwa eine Dreiviertelmeile lang, aber dafür müssen Sie relativ fit sein und stabile Schuhe anziehen. Auf dem Parkplatz hier befinden sich Toiletten, falls Sie diese statt der WCs im Bus benutzen möchten, die sich besser für die Zeit eignen, in der wir unterwegs sind. Beide Gruppen werden in etwa zehn Minuten starten, sodass Sie genügend Zeit haben, bei Bedarf auf die Toilette zu gehen und sich die Beine zu vertreten. Für was auch immer Sie sich entscheiden – wir treffen uns in zwei Stunden wieder auf dem Parkplatz. Sie können Ihre schwereren Taschen an Bord lassen oder, wenn Sie möchten, im Bus bleiben, da der Fahrer hier auf uns warten wird.“
„Ich habe gehört, dass die Rogie Falls zu dieser Jahreszeit atemberaubend schön sind, deswegen will ich einen Spaziergang machen. Durch das Herbstlaub im Wald wird es noch atemberaubender aussehen“, sagte Horace.
„Willst du damit etwa sagen, dass du noch nie hier warst?“, gab Marjorie neckend zurück. Horace neigte zum Angeben, doch aus gutem Grund, wie sie zugeben musste. Er war schon viel herumgekommen und geschäftlich sowie privat an vielen Orten gewesen. Im Vergleich dazu verblassten ihre eigenen Reisen um die Welt. In ihrem letzten Urlaub hatten sie erfahren, dass seine Mutter Rumänin war, doch er wollte sich nicht näher über seine Vergangenheit äußern. Zweifellos würde Edna sie eines Tages aus ihm herausbekommen. Horace Tyler besaß eine Luftfahrtelektronikfirma, an deren Leitung er trotz seines Alters von achtundsiebzig Jahren anscheinend immer noch beteiligt war. Manche Männer wollten offensichtlich die Zügel nicht aus der Hand geben. Allerdings traf dies auch auf manche Frauen zu. Marjorie selbst überwachte das Unternehmen, das Ralph aufgebaut hatte und an dem sie die Mehrheitsanteile hielt.
„Ich gebe es zwar nur ungern zu“, antwortete Horace, „aber ich habe in Schottland bisher nur Fabriken und Flughäfen besucht, und deshalb freue ich mich sehr darauf, nun als Tourist hier zu sein.“
„Ich wollte eigentlich hierbleiben, aber wenn ihr meint, dass sich die Anstrengung lohnt, schlage ich die kürzere Strecke vor“, sagte Edna zögernd.
Manchmal machte sich Marjorie Sorgen um Edna. Seit sich die beiden auf ihrer ersten gemeinsamen Reise wieder angenähert hatten, war ihr aufgefallen, dass ihre angeheiratete Cousine, die dicker war als sie, schon nach wenigen Hundert Metern Atemnot bekam. Auch wenn Ednas Gewicht sicher eine Rolle spielte, schien es Marjorie, als hätte dies eher mit dem Krebs zu tun, an dem die Cousine ihres Mannes erkrankt war, oder mit den Nachwirkungen der Behandlung. Sie bewunderte Ednas Entschlossenheit, das Leben trotzdem in vollen Zügen zu genießen und kein Mitleid erheischen zu wollen, obwohl sie nun eindeutig weniger beweglich war als vor der Krankheit. Außerdem litt sie seit der Behandlung unter chronischem Haarausfall und besaß daher eine Riesenauswahl an Perücken.
„Ich nehme gern die kürzere Strecke“, sagte Marjorie einfühlsam.
Doch jegliches Mitgefühl verflog schnell, als Edna antwortete: „Ich weiß nicht, ob dir zwei Stunden für den Hin- und Rückweg reichen, Marge. Bist du sicher, dass du das schaffst?“
Horace schritt ein, bevor Marjorie dazu verleitet werden könnte, etwas zu sagen, was sie womöglich hinterher bereute. „Dann los jetzt. Gehen wir zu den anderen. Kommen Sie auch mit, Fred?“
Frederick verdrehte die Augen. Er konnte es genauso wenig leiden, Fred genannt zu werden, wie Marjorie, wenn sie mit Marge angesprochen wurde, doch er musste hinnehmen, dass Horace und Edna weiterhin die Kurzform seines Vornamens verwendeten, und sich nicht davon verrückt machen lassen.
Sie stiegen aus dem Bus und schlossen sich einer Gruppe von fünfzehn Mitreisenden an, die sich um Faith versammelt hatten. Daisy war schon mit einem kleineren Trupp gestartet, wie Faith ihnen sagte. Nachdem Faith die Teilnehmer gezählt hatte, führte die Reiseleiterin sie auf einem breiten Pfad durch einen lieblichen Wald voller Nadelhölzer und Laubbäume.
„Halten Sie Ausschau nach Lachsen, wenn wir die Wasserfälle erreicht haben. Ich habe gehört, dass dies die beste Jahreszeit ist, um sie beim Springen zu beobachten.“
Faiths Stimme war in dem fröhlichen Geschnatter der Touristen kaum hörbar.
Edna stieß Marjorie an: „Lauf schneller, Marge … Nimm doch deinen Stock.“
Marjorie benutzte ihren Gehstock nur selten, aber sie war versucht, ihn bei ihrer angeheirateten Cousine anzuwenden. Nun musste sie sich jedoch heimlich eingestehen, dass es auf diesem unwegsamen Gelände möglicherweise angebracht war. Widerstrebend zog sie die zusammenklappbare Krücke aus ihrer großen Handtasche.
Edna grinste, doch ausnahmsweise war sie klug genug, nichts zu sagen.
Horace hob einen langen Ast vom Boden auf und stützte sich darauf, während er vor ihnen weiterspazierte, wodurch sich Marjorie viel besser fühlte.
„Komm, Edna. Fall nicht zurück“, rief er ihr zu.
Marjorie war froh, als ihre Begleiterin schneller ging, um ihn einzuholen. Auch wenn Edna auf den Anstiegen nach Luft schnappen musste, konnte sie hügelabwärts mit den anderen Schritt halten, obwohl Faith für den Wandertrupp, der aus verschiedenen Altersgruppen bestand, ein gleichmäßiges Tempo vorgab.
Frederick unterhielt sich mit dem mürrischen mageren Mann mittleren Alters, der Marjorie schon am Flughafen aufgefallen war. Er war für die Gegend und das Wetter genau richtig gekleidet: in einer Jagdjacke, einer marineblauen Daunenjacke und Wanderstiefeln. Der Fremde überragte den kleineren Frederick. Marjorie selbst hatte sich bequeme, flache Schuhe und ihren dunkelbraunen Lieblingswintermantel über einen Wollpullover und Tweedrock angezogen. Den Rock trug sie auf Drängen ihrer Haushälterin Mrs. Ratton, die erklärt hatte, dass er in den Highlands der Renner sein würde. Wie Marjorie zugeben musste, wirkte er nicht fehl am Platz und war mollig warm.
Es war ein frischer, jedoch kühler Herbsttag, und die tief stehende Sonne warf tanzende Lichtflecke durch die Bäume, die den Weg säumten. Die Sonnenstrahlen malten sanft schaukelnde Schatten der Äste auf den Weg. Marjorie atmete tief ein und nahm den Geruch der Kiefern wahr, während sie den Spaziergang in vollen Zügen genoss.
Ein Pärchen, das direkt vor ihr ging, hatte nur Augen füreinander. Die jungen Leute kicherten und unterhielten sich Händchen haltend; offensichtlich nahmen sie nichts und niemanden um sich herum wahr.
Junge Liebe, dachte sie. Es gehört alles zum Kreislauf des Lebens dazu. Ob ihre Beziehung wohl von Dauer sein wird oder nur eine von vielen auf dem Weg zu einem Seelenverwandten? Ihre Gedanken wollten gerade in die Zeit zurückwandern, als Ralph und sie ihre Beziehung begannen, doch etwas lenkte sie ab. Die scharfe, aber nicht unfreundliche Stimme eines rundlichen Mannes, der Ende vierzig sein musste, ertönte. Er nahm seine Kappe ab, unter der schütteres, schwarzes Haar sichtbar wurde.
„Vielleicht wollt ihr beide euch mal die Landschaft ansehen.“ Der charmante schottische Akzent in seinem Bariton war unverkennbar. Der Mann machte eine schweifende Geste mit den Armen, bevor er die Hände in die Taschen seines dicken schwarzen Mantels steckte.
Das junge Mädchen sagte schmollend: „Das tun wir doch, Dad, aber hier gibt es nichts außer Bäume. Ich hab das alles schon gesehen.“
Sobald sie es ausgesprochen hatte, drang lautes Rauschen an ihre Ohren, als sie um eine Kurve gingen und sich dem Wasserfall näherten. Der tosende Lärm fesselte ihre Aufmerksamkeit. Kurz darauf erreichten sie die Stelle, an der die restliche Wandergruppe bereits neben einer Hängebrücke stehen geblieben war. Die kurze Brücke überquerte eine Schlucht und gab den unmittelbaren Blick auf den spektakulären Wasserfall frei. Die Gischt spritzte an Marjories Nasenflügel.
Als jemand sie von hinten anrempelte, wäre sie fast zu Boden gestürzt.
4
Marjorie wurde schwindlig, während sie mit beiden Händen den Griff ihres Gehstocks umklammerte. Sie sah, wie ihr Angreifer in der Gruppe verschwand.
Frederick tauchte neben ihr auf und nahm ihren Arm.
„Ist alles in Ordnung, Marjorie? Sie sehen blass aus.“
„Mir gehts gut. Ich habe wohl meinen Stock für einen Moment losgelassen.“
„Kommen Sie hierher. Da drüben sind Lachse.“ Frederick führte sie von der Menge weg.
Gewöhnlich interessierte sich Marjorie nicht sonderlich für Fische – das war eine Leidenschaft ihres Mannes gewesen –, doch Lachse springen sehen! Das war was ganz anderes. Frederick ging mit ihr weiter weg, während ein paar der anderen schon in kleinen Gruppen die Brücke überquerten.
„Danke. Ich glaube nicht, dass ich mich so weit strecken kann, um mich da rüberzuschwingen“, sagte sie. Schon gar nicht jetzt, dachte sie. Ihr Herz klopfte immer noch heftig und sie fragte sich, ob der Stoß absichtlich gewesen war, doch ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass es mit ziemlicher Sicherheit nur Ungeschicklichkeit war.
„Die Brücke ist sicher genug, solange sie nicht zu viele Leute gleichzeitig überqueren. Sehen Sie, da drüben, am Rand der Wasserfälle!“
Und tatsächlich sah Marjorie erst einen, dann den zweiten Lachs den riesigen Sprung gegen das Wasser und die Schwerkraft wagen. „Die Armen. Sie schaffen es nicht, oder?“
„Sie werden es schaffen, sonst sterben sie beim Versuch zu springen“, erklärte Frederick. „Aber sie bekommen eine Hilfestellung. Da drüben wurde eine künstliche Lachstreppe aufgestellt. Manchmal ist es wichtig, ihnen eine helfende Hand zu reichen und ihre Fortpflanzung zu fördern, sonst werden sie überfischt. Ich nehme an, wir werden in den nächsten paar Tagen ziemlich viel Lachs essen.“
Marjorie wollte ihn gerade fragen, woher er so viel über Lachse wusste, doch als ihr bewusst wurde, woher das Essen kam, stoppte sie sich. „Ich weiß, es ist heuchlerisch, aber ich distanziere mich lieber von der Natur und dem, was auf meinem Teller landet.“
Als Frederick lachte, leuchteten seine Augen wieder. „Nicht nur Sie. Jock und ich haben auf dem Weg hierher auch darüber geredet.“
„Wer ist Jock?“ Marjorie wollte nicht verraten, dass sie den Mann bemerkt hatte, mit dem sich Frederick unterhalten hatte – und der sie vor wenigen Augenblicken fast umgestoßen hatte.
„Ach, ein mürrischer Kerl, den ich gerade kennengelernt habe. Er ist zwar interessant, aber ein bisschen schnäpperisch, wie die Schotten sagen würden.“
„Mit schnäpperisch meinen Sie nervig?“
„Eher bissig. Da drüben ist er.“ Frederick deutete auf den Mann mit der Tweedkappe.
Marjorie musterte den unhöflichen Mann diesmal von vorne. Jock hatte einen hellbraunen, widerspenstigen Bart und Schnurrbart, deren Farbton zu den Zotteln passte, die unter seinem Hut hervorragten. Aus der Nähe war er sogar noch größer und so schlaksig, wie sie bereits von Weitem gesehen hatte. Offensichtlich stritt er sich gerade mit einem Paar in seinem Alter. Vielleicht war es ganz gut, dass er nicht kräftiger war, sonst hätte er sie ernsthaft verletzen können. „Ich verstehe, was Sie mit bissig – oder schnäpperisch – meinen. Reist er mit diesen Leuten zusammen?“ Marjorie fragte sich, ob sie es waren, nach denen er am Flughafen Ausschau gehalten hatte.
„Ich glaube nicht. Er hat mir gesagt, dass er allein unterwegs ist. Ich fand ihn deshalb interessant, weil er erwähnte, in einem Dorf in dieser Gegend aufgewachsen zu sein, einem Ort namens Scraghead, der noch näher an Loch Ness ist.“ Frederick senkte die Stimme. „Er schreibt eine Enthüllung über das Leben rund um den See, wie er es nennt.“
Marjorie zog eine Augenbraue hoch.
„Wie viel davon reines Marketinggerede ist, kann ich nicht sagen“, fuhr Frederick fort.
„Er schreibt also eine Art Autobiografie oder Memoiren“, sagte Marjorie.
„Ich denke ja, aber eine, die Schmutz aufdeckt – jedenfalls seiner Meinung nach“, fügte Frederick hinzu.
„Na ja, hoffen wir, dass er keine Namen nennt, sonst endet er womöglich noch wegen Verleumdung vor Gericht. Wie Sie sagen, höchstwahrscheinlich ist es Marketinggerede. Es sei denn, er ist dem Ungeheuer von Loch Ness persönlich begegnet. Das wäre tatsächlich lesenswert.“ Marjorie gluckste. „Aber im Ernst, ich gehe davon aus, dass ein gewöhnlicher Mensch, der seine Memoiren veröffentlichen will, sie auf die Spitze treiben muss. Es sei denn, es geht um eine Karriere oder etwas, das die Leute interessiert. Ansonsten dürfte es schwer sein, die Leute dazu zu bringen, seine Memoiren zu kaufen. Ich nehme an, er ist nicht berühmt, aber das könnte er natürlich sein. Hat er gesagt, dass er noch was anderes verfasst hat?“
„Dazu kam ich nicht mehr. Als wir die Wasserfälle erreicht hatten, schlich er sich davon, während ich Faith zuhörte, die Anweisungen gab und uns warnte, auf der Hängebrücke vorsichtig zu sein.“
Bevor er mich anrempelte, dachte Marjorie.
„Und dann sind Horace und Edna aufgetaucht.“
„Mein herzliches Beileid“, sagte Marjorie lachend.
„Wohin starrst du, Marge?“
Marjorie zuckte zusammen und fragte sich, ob Edna ihr Gespräch mitgehört hatte, doch es schien nicht der Fall zu sein.
„Auf die Lachse.“ Marjorie wandte ihre Aufmerksamkeit von dem Mann ab, der Jock hieß, und konzentrierte sich wieder auf den beeindruckenden Fisch, der gegen die Elemente ankämpfte.
„Wir haben Riesenglück. Mick hat gesagt, dass man sie zu dieser Tageszeit selten sieht, aber er vermutet, es liegt an den Regenfällen in den letzten Tagen.“
„Wer ist Mick?“, fragte Frederick.
„Der große Typ da drüben. Der mit den verliebten Teenagern. Er ist Witwer und sagt, er hätte früher zweimal im Jahr hier Urlaub gemacht. Anscheinend mochte seine Frau die Gegend gern, vor allem Loch Ness. Er hat uns auch gesagt, wir müssten uns vor dem Nebel auf dem See in Acht nehmen.“ Edna schauderte. „Er kann im Nu auftauchen, dann sieht man nicht mehr, wohin man tritt. Du solltest es dir zur Gewohnheit machen, deinen Stock zu benutzen, Marge.“
Marjorie beobachtete den Mann, der das junge Pärchen vorhin ermahnt hatte und schon wieder versuchte, sie dazu zu bringen, den Blick voneinander abzuwenden. Der arme Mann. Sie wandte sich wieder zu Edna um und sah, dass Horace auf sie zukam. „Du gehst selbst nicht gerade leichten Fußes über Stock und Stein, meine Liebe, aber ich freue mich schon darauf, durch den Nebel zu laufen, vor allem, wenn wir einen Blick auf Nessie erhaschen können.“
Edna runzelte die Stirn. „Über solche Dinge sollte man nicht scherzen. Es ist keine gute Idee, das Schicksal herauszufordern.“
Marjorie riss verblüfft die Augen auf.
„Edna glaubt, das Ungeheuer gäbe es wirklich.“ Horace senkte die Stimme. „Sie ist wegen unseres verlängerten Aufenthalts am See beunruhigt.“
„Das hast du mir nie gesagt! Heute Morgen erzähltest du sogar genau das Gegenteil“, gab Marjorie zurück.
„Ich hab nur so getan. Ich dachte, du würdest mich auslachen, wenn ich es dir sage, und ich wusste ja nicht, dass wir so nah am Ufer wohnen würden.“
Erstaunt fragte sich Marjorie, ob ihre angeheiratete Cousine überhaupt die Info durchgelesen hatte, die ihr vor der Reise zugeschickt worden war.
„Auf alle Fälle –“, fuhr Edna fort und verschränkte die Arme, „– brauchst du nicht zu flüstern. Mick ist auch meiner Meinung, so wie unzählige andere im Internet.“ Edna sah Horace finster an, der sich bemühte, nicht zu lachen.
„Na ja, wenn es im Internet steht, muss es wahr sein“, neckte Frederick.
„Sie sollten besser vorsichtig sein. Ihre Glatze wird wie ein großer Fisch hervorstechen, daher würde ich dem Wasser fernbleiben, wenn ich Sie wäre“, gab Edna zurück.
Marjorie wollte die Cousine ihres verstorbenen Mannes wegen ihrer Unhöflichkeit in die Schranken weisen, doch Frederick lachte nur und zog sich den Hut noch tiefer ins Gesicht. „Ich werde darüber nachdenken.“
Nachdem sie eine angenehme halbe Stunde damit verbracht hatten, den Wasserfall zu bewundern und mehreren Lachsen dabei zuzusehen, wie sie es bis nach oben schafften, war es an der Zeit zu gehen. Faith versammelte die Gruppe wieder, um den Rückweg anzutreten.
Edna stellte Marjorie und Frederick Mick vor und zog dann mit Horace los. Als sie den Hang hinaufgingen, fand sich Marjorie am Ende der Gruppe wieder. Sie war froh, dass die beiden Männer in ein Gespräch vertieft waren und daher nicht mitbekamen, dass sie langsamer ging, als sie einen Krampf bekam und nach Luft rang.
Seit einer Lungenentzündung zu Jahresanfang wurde sie hin und wieder von Atemnot überrascht. Ihre langsame Genesung hatte Marjorie im Sommer von Rachels Hochzeit ferngehalten, was ein schwerer Schlag gewesen war, doch sie hatte auf den Rat ihres Arztes gehört. Dafür hatte sie ihren Chauffeur Johnson überredet, sie nach Southampton zu fahren, um dem glücklichen Paar zum Abschied zuzuwinken, bevor sie die Hochzeitsreise antraten, und ihre Freundin mit einem Kabinen-Upgrade als Hochzeitsgeschenk zu überraschen.
Sie hatte vergessen, dass Kälte die Anfälle auslösen konnte. Jedes Mal, wenn Marjorie glaubte, sie hinter sich zu haben, kam wie aus dem Nichts der nächste, doch normalerweise gingen sie rasch wieder vorbei. Edna wusste nichts von der Lungenentzündung - wie die meisten Menschen außer denen, die ihr sehr nahe standen. Auf der Rumänienreise hatte sie trotz der Luftverschmutzung in Cluj Napoca keine Probleme mit Atemnot gehabt. Sie war sicher, dass die schottische Luft ihre Genesung vorantreiben würde. Sie blieb einen Augenblick lang stehen, um ruhiger zu werden, und nahm ein paar tiefe Atemzüge, so wie der Physiotherapeut es ihr beigebracht hatte. Sie wusste, dass dies ihren Herzschlag verlangsamte und ihr helfen würde, sich von dem Krampf zu erholen. Marjorie hatte schon fast die Anhöhe erreicht, als die Atemnot einsetzte, und fühlte sich stark genug, um die verbleibende kurze Wanderstrecke zu bewältigen.
Als sich die Gruppe vor ihr immer mehr entfernte, beschlich Marjorie das unheimliche Gefühl, nicht alleine zu sein.