Leseprobe 4 Freunde und eine tote Diva

1

Edna Parkinton winkte mit ihren üppigen Armen und schrie aus vollem Hals: „Hier drüben, Marge!“

Als Marjorie Snellthorpe sah, wie sich Edna mitten in der Flughafenhalle des Luton Airports zur Schau stellte, bereute sie bereits ihre Entscheidung, mit der Cousine ihres Mannes Urlaub zu machen. Die nervige Person bestand darauf, sie Marge zu nennen, obwohl sie wusste, wie sehr Marjorie es hasste, mit der Kurzform ihres Namens angesprochen zu werden. Wenn Marjorie die nächsten zwei Wochen überleben wollte, durfte sie sich auf keinen Fall provozieren lassen. Doch da dies erst der Anfang ihrer Rumänienreise war, würde dies nicht einfach werden. Für ihre Dummheit könnte sie sich in den Hintern treten.

Bei Ednas Anruf vor ein paar Monaten hatte sie sich von ihrer besten Seite gezeigt. Der einzige Grund, weshalb sie angerufen hatte, war natürlich, um Marjorie zu überreden, sie auf einer Donaukreuzfahrt von Bukarest nach Budapest mit mehreren Zwischenstopps zu begleiten. Edna hatte versprochen, sie würde sich bemühen, sie nicht zu nerven – ein Versprechen, das die Frau nicht halten könnte, wie Marjorie aus Erfahrung wusste. Marjorie holte tief Luft, bevor sie zu Edna hinüberging. Zum Glück waren die meisten Reisenden zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Flüge zu checken, sodass sie den beiden nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenkten.

„Hallo, Edna.“

„Hi, Marge.“ Edna beugte sich hinunter, um sie zu umarmen, doch Marjorie wich zurück.

„Hoffentlich hab ich dich nicht warten lassen.“

Edna nahm die Abfuhr hin, ließ sich jedoch nicht so leicht einschüchtern. „Wie ich sehe, kommst du mit deinen eigenen Koffern nicht klar. Aber wenn ich den hier entdeckt hätte, hätte ich mich vielleicht dazu hinreißen lassen, das hilflose Weibchen zu spielen.“ Dann hatte sie auch noch die Dreistigkeit, kokett mit den falschen Wimpern zu blinzeln und dem gut aussehenden jungen Gepäckträger zuzuzwinkern, der Marjories Gepäck an sich nahm.

„Ach, hör doch auf! Für so was bist du zu alt, trotz der Perücke und der Gipsschicht auf deinem Gesicht.“ Seit ihrer Chemotherapie gegen Krebs litt Edna an Haarausfall. Sie war eine der wenigen Patienten, deren Haare nie wieder nachgewachsen waren. Marjorie war bewusst, wie unfreundlich sie klang, aber sie konnte nicht anders. Die Frau nervte sie zu sehr.

„Das ist meine Lieblingsperücke“, bemerkte Edna jetzt zum Gepäckträger, während sie an ihrer feuerroten Frisur zupfte, „aber ich habe eine große Sammlung – auch blonde Haare, falls Sie Blondinen bevorzugen.“

Der Gepäckträger gluckste höflich, offensichtlich ohne zu wissen, wie er mit der temperamentvollen Edna Parkinton umgehen sollte. Aber wer weiß das schon?, dachte Marjorie. Bevor Edna einen von ihnen noch weiter in Verlegenheit bringen konnte, wandte sich Marjorie an ihn.

„Und wohin jetzt?“

„Sie checken da drüben ein“, antwortete er und eilte ihnen voraus, wobei er ihren Koffer und die Reisetasche hinter sich herzog, als wären es Federn.

„Du lieber Himmel, der hat es aber eilig, was?“, sagte Edna.

„Ich frage mich, warum“, murmelte Marjorie im Stillen.

Die beiden Frauen folgten dem dunkelhäutigen Gepäckträger und stellten sich in der Schlange am Check-in-Schalter an. Sie reisten mit einer Fluggesellschaft, von der Marjorie noch nie gehört hatte, doch sie war die einzige, die einen Nonstop-Flug nach Cluj-Napoca anbot, von wo aus sie den Urlaub starten würden. Nachdem sie eingecheckt hatten, gab Marjorie dem Gepäckträger ein großzügiges Trinkgeld. Es war das Mindeste, was sie tun konnte, nachdem er Ednas Gesellschaft zehn Minuten lang aushalten musste, während sie in der Schlange darauf warteten, bis sie einer unfreundlichen, stämmigen Frau am Schalter ihre Tickets vorzeigen konnten.

Abgesehen davon, dass sie mit dem Boarding fünfzehn Minuten zu spät dran waren und Marjorie sich Ednas Beschwerden anhören musste, als klar war, dass sie getrennt sitzen würden, war Marjorie froh, endlich im Flugzeug zu sitzen. Sie hatte absichtlich im Voraus einen Sitz in der ersten Reihe gebucht, was bedeutete, dass sie während des Fluges zumindest ein bisschen Ruhe haben würde. Der Flug verlief ohne Zwischenfälle, abgesehen davon, dass Marjorie und die übrigen Passagiere Ednas laute Stimme ertragen musste, während diese Geschichten aus der Zeit, in der sie auf der Bühne gestanden hatte, zum Besten gab. Marjorie tat der Passagier leid, der das Pech hatte, neben Edna zu sitzen.

Als Marjorie aus dem Flieger stieg, war es heiß und schwül. Trotzdem freute sie sich insgeheim, es geschafft zu haben, fast drei Stunden lang Ednas endlosem Geplapper entkommen zu sein und das Flugzeug nun vor ihr verlassen zu können. Noch ein Trick, der funktionierte. Sie hob den Blick und las den Schriftzug auf dem Flieger: Avram Iancu International Airport. Er war nach einem rumänischen Revolutionär aus der Mitte des 19. Jahrhunderts benannt, wie sie während des Fluges einer Broschüre entnommen hatte.

Während Marjorie im Gepäckbereich auf die Koffer wartete, holte Edna sie schließlich ein.

„Da ist sie. Das ist meine Cousine Marge. Marge, das ist Fred. Er macht dieselbe Tour wie wir.“

Ein schlanker Mann mit Glatze, der einen eleganten blauen Anzug und ein blau kariertes Hemd trug, lächelte Marjorie schüchtern an. Seine verwirrten grauen Augen verrieten ihr, dass Edna ihn eindeutig einschüchterte.

Sie hatte Mitleid mit ihm und streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Marjorie – Marjorie Snellthorpe, und keiner nennt mich Marge, außer Edna, die übrigens nicht meine, sondern die Cousine meines verstorbenen Mannes ist.“

Der zurückhaltende Mann schüttelte ihr die Hand, nachdem er sich mit einem Taschentuch die Stirn abgewischt hatte. „Ich bin Frederick, Frederick Mackworth. Seit meiner Schulzeit bin ich nicht mehr Fred genannt worden, und das ist schon eine Weile her.“ Er warf Edna einen vorsichtigen Blick hinterher, als fürchte er um sein Leben, doch sie zwängte sich schon durch die Menge zum vorderen Teil des Gepäckbands und suchte nach ihren Koffern.

Auch wenn Marjorie es ihr nie gestehen würde, erwies sich Ednas Gesellschaft als nützlich, um ihren schweren Koffer aufzuspüren, der hinter dem Gepäck eines anderen Passagiers feststeckte. Sie beobachtete, wie sich Edna, fest entschlossen, ihn nicht entkommen zu lassen, an einer Familie vorbeidrängte und einem hochgewachsenen jungen Mann zurief: „Hey Sie! Stehen Sie nicht bloß rum. Schnappen Sie sich den Koffer!“

Wer würde es wagen, sich der Verrückten mit den feuerroten Haaren zu widersetzen? Der Mann tat, wie ihm befohlen wurde.

Frederick konnte sein eigenes Gepäck mit weitaus weniger Dramatik abholen. Er lächelte Marjorie an. „Ihre Cousine hat eine starke Präsenz, nicht wahr?“

Marjorie verdrehte die Augen und antwortete: „Ja, sie hinterlässt einen bleibenden Eindruck, ohne Zweifel. Wie kommen Sie zum Hotel?“

„Ich wollte mir ein Taxi nehmen. Wollen wir uns eins teilen?“

„Ja, das wäre sinnvoll. Ich kenne mich mit den Gewohnheiten rumänischer Taxifahrer nicht aus, und es ist immer gut, sich, wenn möglich, die Kosten zu teilen.“ Sie wollte nicht erwähnen, dass sie außerdem befürchtete, noch mehr in Verlegenheit gebracht zu werden, wenn Edna sich über den Fahrpreis stritt.

„Ich bin auch zum ersten Mal hier. Schade, dass sie keinen Transferbus für uns bereitgestellt haben, aber ich weiß auch nicht genau, wie viele Leute in Cluj dazustoßen und wie viele sich uns in Bukarest anschließen werden.“

Marjorie konnte Fredericks Dialekt nicht ganz einordnen. Sie vermutete West Country, möglicherweise Bristol.

„Ich glaube, wir werden zu zehnt sein. Edna hätte viel lieber ein paar Tage an der Schwarzmeerküste verbracht, bevor wir uns der Reisegruppe in Bukarest anschließen, aber ich wollte unbedingt in die Oper, als ich diese Option sah. Apropos Edna: Wo ist sie?“

„Sie plaudert auf der anderen Seite der Halle mit einem großen Mann.“

Marjorie drehte sich um und hoffte, dass Edna ihren Koffer nicht unbewacht hatte stehen lassen, während sie sich mit ihrer jüngsten Eroberung in Hosen unterhielt. Wenigstens hatte Marjorie ihr Handgepäck mit all ihren Wertsachen an sich genommen.

„Ach ja, jetzt sehe ich sie. Ich kenne ihn. Er war auch auf der Kreuzfahrt nach Amsterdam, die wir Anfang des Jahres gemacht haben. Wie heißt er noch? Es fällt mir gleich wieder ein …“ Marjorie sah zu, wie Edna und der hochgewachsene, distinguiert wirkende Mann laut lachten; wie ihr wieder einfiel, trug er zu seinem gefärbten braunen Haar ein Teiltoupet.

„Jetzt weiß ich es wieder! Horace – Horace Tyler. Er hat eine Luftfahrtelektronikfirma oder so was Ähnliches. Er ist schon halb im Ruhestand, aber ich glaube, er ist immer noch im Aufsichtsrat.“

Frederick wirkte ein wenig enttäuscht, dass Edna ihre Aufmerksamkeit Horace Tyler zugewandt hatte. Was hat diese Frau nur an sich? Sogar mit achtzig übte sie definitiv noch Anziehung auf das andere Geschlecht aus. Wohlgemerkt, Horace war auch nicht gerade ein Jüngling, obwohl Marjorie sich entsann, dass er eine Vorliebe für jüngere Frauen hegte. Letztendlich war er jedoch ganz in Ordnung. Zumindest würde seine Anwesenheit Edna von ihr fernhalten.

Marjorie entdeckte ihren Koffer neben Ednas. „Wenn wir rechtzeitig im Hotel sein wollen, um noch einen Happen zu bekommen, sollten wir jetzt wohl besser Edna und mein Gepäck holen. Ich kriege das Essen im Flugzeug nie runter.“

„Vielleicht ist es auch gut so, dass sie keins serviert haben“, gluckste Frederick. Er hatte ein echtes, offenes Lächeln. „Billigfluggesellschaften bieten keine solchen Extras. Ich habe sie nur ausgewählt, weil es ein Direktflug war.“

„Ich auch“, sagte Marjorie. „Aber der Flug war recht bequem und wir sind in einem Stück hier angekommen. Das ist die Hauptsache.“

Marjorie und Frederick gesellten sich zu Edna und Horace, die über irgendwas lachten, was Edna gesagt hatte.

„Schau mal, wer da ist, Marge“, sagte Edna und grinste Horace neckend an.

„Ja, was für ein Zufall.“ Marjorie vermutete, dass Horace ein weiterer Grund war, weshalb Edna unbedingt diese Reise machen wollte. „Hallo – so trifft man sich wieder“, sagte sie und streckte ihm die Hand hin.

„Hallo, Lady Marjorie. Nett, dich wiederzusehen. Neuer Freund, wie ich sehe.“ Horace hob eine sauber gezupfte Augenbraue. Edna schnaubte amüsiert.

Etwas steif erwiderte Marjorie: „Wir haben uns gerade erst kennengelernt. Das ist Frederick Mackworth. Frederick, das ist Horace Tyler.“

Horace schüttelte Frederick die Hand. „Schön, Sie kennenzulernen, Fred. Da wir zu viert sind – sollen wir uns ein Taxi teilen?“

Wenn es um plumpe Vertrautheit ging, glichen sich Horace und Edna wie Zwillinge.

Frederick“, sagte Marjorie spitz, „und ich hatte dieselbe Idee.“

„Dann lasst uns gehen. Wir können uns draußen ein Taxi nehmen. Keine Sorge, ich passe auf, dass sie uns nicht übers Ohr hauen. Ich war schon oft geschäftlich hier.“

Selbstverständlich warst du das, dachte Marjorie, die sich daran erinnerte, dass Horace auch ein Angeber war.

Während der Taxifahrt zum Hotel war es auf dem Rücksitz ziemlich eng, da Ednas Koffer – der größte von allen – hinten neben den Fahrgästen Platz nehmen musste. Doch der Fahrer war freundlich und entgegenkommend. Er unterhielt sich mit Horace, der vorne saß, darüber, wie sehr sich Cluj seit der Revolution von 1989 verändert hatte. Der Taxifahrer sprach hauptsächlich gebrochenes Englisch, doch Horace schien sich auf Rumänisch verständigen zu können und wechselte zwischen den Sprachen hin und her.

Sobald Marjorie das Luxushotel Platinia betrat, entdeckte sie sofort Faith Weathers, die Reiseleiterin des Kreuzfahrtunternehmens, bei dem sie gebucht hatten. Queen Cruises hatte viele Tochtergesellschaften, und Queen River and Land Tours war eine davon. Die Muttergesellschaft hatte laut den Prospekten erweiterte Reiserouten entwickelt, um sowohl Inlandstouren als auch Kreuzfahrten auf Flüssen und dem Meer anzubieten.

Faith wartete mit der Passagierliste und dem Klemmbrett in der Hand neben der Rezeption darauf, die Gäste zu begrüßen. Marjorie blieb stehen, um die neue Umgebung zu betrachten. Sie war noch nie in Rumänien gewesen, was der einzige Grund war, weshalb sie widerstrebend zugestimmt hatte, die nervige Cousine ihres Mannes zu begleiten. Trotzdem war es aufregend, in einem völlig fremden Land zu sein.

„Lady Marjorie! Wie schön, Sie wiederzusehen.“ Faiths Begrüßung war herzlich und ihr Lächeln aufrichtig, auch wenn Marjorie nicht entging, dass der Blick, den sie auf Edna warf, eher verhalten war. „Nett, auch Sie zu sehen, Edna. Es scheint, als wären es gerade mal zwei Minuten her, seit wir auf dem Rhein unterwegs waren.“

„Wir freuen uns, hier zu sein. Der Flug war zwar nicht lang, aber es gab nichts zu essen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns diesmal die Leiche ersparen könnten.“ Edna gluckste amüsiert.

„Leiche? Was für eine Leiche?“ Frederick riss die Augen auf, wobei seine Stirn Falten warf.

„Nichts, worüber Sie sich Gedanken machen müssen, Fred. Auf unserer letzten Reise gab es einen Unfall, das ist alles“, sagte Horace beiläufig. „Eine Frau ist die Treppe hinuntergestürzt.“

Marjorie spürte, dass Edna darauf brannte, zu widersprechen und die anderen mit Einzelheiten über den Mord an einem Hotelgast zu Beginn ihres letzten Urlaubs zu unterhalten, doch Faith wechselte rasch das Thema.

„Edna, Sie sind in Zimmer zweiundzwanzig untergebracht, Lady Marjorie, Sie haben Zimmer sechsunddreißig. Hier sind Ihre Schlüssel.“ Faith reichte jedem einen Umschlag mit einer Schlüsselkarte.

„Konnten Sie keine Nachbarzimmer für uns finden?“, beschwerte sich Edna.

Faith zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, wir mussten nehmen, was man uns zugeteilt hat.“

Marjorie formte mit den Lippen ein lautloses Dankeschön, denn sie wusste, dass Faith alles in ihrer Macht Stehende getan hatte, um für einen gewissen Abstand zwischen den Zimmern der beiden Frauen zu sorgen.

Nun wandte sich Faith an Horace. „Es freut mich, Sie wieder bei uns zu haben, Mr. Tyler. Willkommen im Platinia. Sie haben Zimmer Nummer neunundvierzig.“

„Danke“, sagte Horace. „Das ist Fred, wir haben uns am Flughafen kennengelernt.“

Faith wandte ihre Aufmerksamkeit Frederick zu. Marjorie hörte sie sagen, er sei in Zimmer dreiundzwanzig untergebracht. In der Nähe von Edna, der Arme.

„Ich habe im Konferenzraum Picasso ein privates Empfangsbuffet für Sie arrangiert“, sagte Faith. „Soll ich Ihr Gepäck auf die Zimmer bringen lassen?“

„Das wäre sehr freundlich“, meinte Marjorie. „Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Wo geht es zum Konferenzraum?“

Faith rief nach einem Portier, der mit einem Wägelchen auftauchte. An den Gepäckstücken hingen bereits Namenskärtchen, daher reichte Faith ihm eine Liste mit den Zimmernummern. Er lud die Koffer auf den Gepäckwagen und ging damit zu einem Servicelift.

„Ich bringe Sie persönlich zum Picasso. Sie sind die letzten vier Teilnehmer. Die anderen sechs kamen zusammen an und sind schon dort.“

Sie folgten Faith in den Konferenzraum, in dem zwei Tische mit Leinendecken hergerichtet waren. Weitere Tische in der Mitte des Raums boten eine Auswahl an Speisen.

Marjorie hatte sich im letzten Urlaub mit der Reiseleiterin angefreundet. Trotz ihrer Schwäche für die falschen Männer war Faith professionell und effizient. Ihr dunkelbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden und wie Edna schminkte sie sich sorgfältig. Doch während Faiths Make-up sie vorteilhaft aussehen ließ, wirkte Ednas dick geschminkter Teint manchmal wie ein Biskuitkuchen, der zu lange an der Luft gelegen hatte.

Als Marjorie die einzelnen Details des Konferenzzentrums betrachtete, wurden ihre Gedanken unsanft unterbrochen. Sie drehte sich zu den lauten Stimmen um, die von dem einzigen besetzten Tisch im Raum herüberdrangen.

2

Es war unmöglich, die lärmende Gruppe am Tisch, die aus sechs Leuten bestand, nicht zu bemerken. Sie schienen sich zu streiten – höflich ausgedrückt.

„Das sind Ihre Mitreisenden“, seufzte Faith mit leiser Stimme. Dann ging sie rasch zu den Tischen, auf denen üppige Speisen elegant präsentiert wurden. „Bedienen Sie sich am Büfett. Es wurde nur für uns aufgetischt, also können Sie so viel essen, wie Sie möchten. Allerdings würde ich noch etwas Platz für das Abendessen lassen. Sie nehmen es um sechs im À-la-carte-Restaurant ein. Anschließend bringt uns ein Kleinbus zur Oper. Morgen früh fahren wir zum Flughafen, um nach Bukarest zu fliegen. Sie finden alle Einzelheiten in Ihren Reiseplänen.“

„Was für ein Reiseplan?“, fragte Edna.

„Keine Sorge, ich habe dafür gesorgt, dass in jedem Zimmer Kopien ausliegen, falls einer der Teilnehmer vergessen sollte, die Unterlagen mitzubringen, die zusammen mit Ihrer Buchung verschickt wurden“, erklärte Faith.

„Ich habe meine hier“, sagte Horace und klopfte auf die Brustinnentasche seines perfekt geschnittenen grauen Anzugs. „Ich auch“, bemerkte Frederick. „Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen.“

Marjorie nahm den geistesabwesenden Blick in den nachdenklichen grauen Augen des unauffällig wirkenden Mannes wahr. Ich muss mehr über Mr. Frederick Mackworth erfahren, dachte sie. Marjorie wollte gerade sagen, dass sie ihren Reiseplan in der Handtasche verstaut hatte, doch Edna hatte offensichtlich genug von der Unterhaltung.

„Ich bin am Verhungern“, erklärte sie, hakte sich bei Horace unter und führte ihn an Faith vorbei zum Buffet. „Komm schon, Marge“, rief sie beiläufig.

Jetzt war es an Marjorie, zu seufzen, doch im selben Augenblick wurde sie von einem lauten Scharren abgelenkt, als auf der anderen Seite des Raums jemand mit einem Stuhl rückte. Sie drehte sich um und beobachtete, wie eine hochgewachsene, üppige Frau mit pechschwarzem Haar, die sie auf Ende sechzig schätzte, einen theatralischen Abgang machte.

„Mutter, sie hat es nicht so gemeint.“ Eine Enddreißigerin mit sandbraunem Bubikopf rannte hinter der scheidenden Diva her.

„Sieht aus, als hätten wir interessante Gesellschaft“, bemerkte Horace. Er lachte wiehernd und häufte sich Horsd’oeuvres auf einen großen Teller.

„Psst, sie können uns hören“, sagte Marjorie in der Hoffnung, Edna davon abzuhalten, sie noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Doch es war schon zu spät.

„Na, und wenn schon? Wir hören sie ja auch. Sie streiten sich schon, seit wir hereingekommen sind.“

Marjorie warf Faith einen flehenden Blick zu, die den Wink dankbar annahm.

„Am anderen Ende des Tisches ist eine große Auswahl an Fleischgerichten. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.“

Offensichtlich begierig, noch mehr Essen auf ihre Teller zu häufen, folgten Horace und Edna der Reiseleiterin. Frederick stand wie angewurzelt da und starrte auf die Tür, hinter der die unwirsche Frau und ihre Tochter gerade verschwunden waren.

„Ich will nicht neugierig sein, aber ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Marjorie.

Frederick zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. „Oh sorry, es ist bloß … ach, ist auch egal … es ist schon lange her.“ Der ernst wirkende Mann wandte sich wieder dem Büfett zu. Sein Teller blieb halb leer, weil er und Marjorie warten mussten, bis Edna und Horace Platz machten. Keiner von beiden schien es eilig zu haben, von den verlockenden Tellern voller rumänischer Köstlichkeiten abzurücken. Marjorie wollte ihn nicht weiter aushorchen und hoffte nur, dass ihm die Anwesenheit der temperamentvollen Frau nicht den Urlaub verderben würde.

Sobald sich alle bedient hatten, setzten sich Marjorie und ihre Begleiter an den zweiten Tisch, der nicht weit von der lauten Reisegruppe entfernt war. Faith schaute erst nach den vier Teilnehmern, die am ersten Tisch saßen, und erkundigte sich dann, ob die Gäste am zweiten Tisch mit ihrem Essen und dem Arrangement für den Abend zufrieden waren.

„Ich wette, Sie haben noch nichts gegessen“, sagte Marjorie, die das leichte Zittern in Faiths Händen bemerkte, das sie von sich selbst kannte, wenn sie einen leeren Magen hatte. „Warum holen Sie sich nicht auch etwas zu essen und setzen sich zu uns?“

„Ja, ganz richtig, es ist noch genug übrig. Ich hasse es, Lebensmittel zu verschwenden“, ermutigte Horace sie. „Und dann können Sie uns auch verraten, was da drüben los ist.“ Er nickte in Richtung der anderen Gruppe, die sich weiterhin stritt. Marjorie fragte sich, ob der Grund eher Gewohnheit als Feindseligkeit war. Sie hoffte es.

Faith lächelte. „Danke, ich geselle mich gerne zu Ihnen und erkläre die anderen Reisearrangements.“ Sie warf Horace einen warnenden Blick zu und ging ans Büfett, um einen Teller zu belegen.

„Die hat es mir aber gezeigt“, sagte Horace. „Von ihr werden wir keinen Klatsch zu hören bekommen.“

„Und zu Recht“, sagte Marjorie und senkte die Stimme. „Vor allem, da sich das Thema in Hörweite befindet.“

Edna kicherte. „Wir werden es früh genug erfahren. Sie sind nicht gerade diskret, was? Im Gegensatz zu Fred. Warum erzählen Sie uns nicht was über sich, Fred?“

Frederick errötete unter Ednas forschendem Blick.

„Er heißt Frederick.“ Aus einem unbekannten Grund sprang Marjorie ihm zur Seite. „Und er muss uns gar nichts über sich verraten, wenn er es nicht möchte.“

„Jetzt hat sie es dir gezeigt“, lachte Horace.

Edna zuckte mit den Schultern. „Wie ihr wollt.“ Sie spießte ein gekochtes Ei, das wie ein Huhn dekoriert war, auf ihre Gabel und stopfte es sich in den Mund. „Ich habe die launische Frau schon mal gesehen, aber ich weiß nicht mehr wo.“

„Welche?“, fragte Marjorie, obwohl sie ahnte, wen Edna meinte.

„Na, die Diva, die so theatralisch den Raum verlassen hat.“

„Woher kennst du sie?“, bohrte Marjorie nach, denn diesmal interessierte sie, was Edna zu sagen hatte.

Faith kam an ihren Tisch zurück. „Meinen Sie Dolores Hagman?“

So viel zum Thema „Kein Klatsch“, dachte Marjorie.

„Ja. Ich habe sie schon mal gesehen. Ich vergesse nie ein Gesicht, aber der Name sagt mir nichts.“

„Sie war früher Opernsängerin.“ Alle wandten sich Frederick zu, dessen Blick immer noch abwesend war.

Und zweifellos eine alte Liebe, dachte Marjorie. Edna war zu sehr damit beschäftigt, sich ihre eigenen Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, um es zu bemerken. Vielleicht war das auch gut so, denn sonst hätte sie ihm bohrende Fragen gestellt.

„Richtig! Ich habe sie an Dennis’ Geburtstag im Manchester Opera House in Tosca gesehen. Ich bin zwar kein Fan der Oper, aber mein verstorbener Mann war es. Ich stand früher auch auf der Bühne, wissen Sie, aber ich bin eher eine Entertainerin. Ich lege eine tolle Coverversion von Big Spender hin

Frederick hatte das alles zweifellos schon auf dem Flug gehört, doch Edna verbrachte die nächsten zwanzig Minuten damit, die anderen mit Geschichten aus ihrer Zeit auf den Bühnen Nordenglands zu unterhalten. Marjorie wusste zwar, dass sie eher eine Barsängerin als eine Berühmtheit gewesen war, aber sie musste zugeben, dass die Cousine ihres verstorbenen Mannes eine angenehme Stimme und viele amüsante Storys zu erzählen hatte. Sie hatte wirklich zwei Seiten. In Momenten wie diesen fand Marjorie sie unterhaltsam und ihre Gesellschaft machte Spaß. Wenn sie nur nicht ständig im Mittelpunkt stehen wollte! Nun war Edna in ihrem Element und tat vier begeisterten Zuhörern den Gefallen.

„Habe ich Sie richtig verstanden? Sie standen früher auf der Bühne?“, rief ein hochgewachsener Mann, der wie ein Künstler aussah, vom Nebentisch herüber. Seine dröhnende Stimme ließ alle im Raum verstummen.

„Meinen Sie mich?“, brüllte Edna zurück, was in der Stille, die entstanden war, überflüssig war.

„Ja, ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Sie auf der Bühne gestanden haben. Ich auch; ich habe Shakespeare gespielt. Und Sie?“ Der Mann, der aussah wie Mitte sechzig, trug eine grelle orange-blaue Krawatte, an der er ständig herumfummelte.

„Ach, fang nicht schon wieder damit an“, sagte der andere Mann, der am selben Tisch saß, und gähnte betont. Er war gut gekleidet und sein weißes Haar war sauber geschnitten. „Ich bitte Sie, Madam, ignorieren Sie ihn einfach. Er wird Sie mit seinen Geschichten aus der Zeit, als er durch Europa reiste und in langweiligen Shakespeare-Stücken mitspielte, zu Tode langweilen. Ich verstehe gar nicht, warum man um Shakespeare so viel Aufhebens macht. Sicher war er zu seiner Zeit ein guter Schriftsteller, aber der Mann ist seit Jahrhunderten tot und trotzdem tun Leute, die keine Ahnung von seinen Stücken haben, so, als würden sie sein Werk verehren, um gebildet zu wirken.“

Wie Marjorie sehen konnte, hatte Edna in diesem Mann einen Seelenverwandten gefunden. Ihre angeheiratete Cousine mochte Shakespeare auch nicht.

Faith griff ein, bevor es zu einem Streit kommen konnte.

„Major Jeffries, lassen wir am besten jedem das Seine, ja?“

„Ich war Sängerin“, rief Edna dem ersten Mann zu, um die gedämpften Unterhaltungen zu übertönen, die wieder einsetzten.

„Ich verstehe.“ Der Mann schnaubte laut und verlor das Interesse. Er beschloss, vom Tisch aufzustehen. „Ich mache einen Spaziergang. Wir sehen uns beim Abendessen“, sagte er zu seinen Tischgenossen.

„Kümmert euch nicht um ihn“, sagte der Mann, den Faith mit Major Jeffries angesprochen. „Er ist ein selbstgefälliger Snob.“

„Dad! Lass ihn in Ruhe. Er ist müde, das ist alles. Du weißt doch, dass er es hasst, zu fliegen.“ Die Frau, die das gesagt hatte, wandte sich den anderen zu und stellte sich vor. „Ich bin Denise. Das ist Simon, mein Vater. Percy Gainsborough ist derjenige, der gerade einen Spaziergang macht, und das ist seine Frau Martha. Sie steht immer noch auf der Bühne, nicht wahr, Martha?“

„Eher hinter der Bühne. Sehr zum Missfallen meines Mannes inszeniere ich zeitgenössische Theaterstücke.“

„Das sorgt sicher für interessante Diskussionen“, gluckste Marjorie. „Ich bin Marjorie und das ist meine angeheiratete Cousine Edna Parkinton.“

„Und die dazugehörigen Ehemänner, nehme ich an?“, fragte Major Jeffries.

„Du liebe Güte, nein, Major. Das ist Horace, Horace Tyler – Edna und ich kennen ihn aus einem früheren Urlaub – und Frederick Mackworth, dessen Bekanntschaft wir erst vorhin gemacht haben.“

„Freut mich, Sie alle kennenzulernen“, sagte Horace höflich.

„Frederick Mackworth, sagten Sie? Der Name kommt mir bekannt vor“, sagte Martha. „Sind Sie nicht mal mit meiner Schwester ausgegangen?“

Frederick errötete vom Hals aufwärts. „Wenn Ihre Schwester Dolores Hagman ist, dann sind wir vor vielen Jahren zusammen ausgegangen. Natürlich hieß sie damals noch Plenrith.“

„Haben Sie es nicht mitbekommen? Sie ist nicht mehr verheiratet, aber sie hat sich nicht die Mühe gemacht, den Mädchennamen wieder anzunehmen“, sagte Major Jeffries glucksend. „Ihr Mann packte seine Sachen und verschwand mit ihrem jungen Protegé. Vielleicht können Sie sie ein bisschen aufmuntern. Sie ist sehr verbittert.“

„Simon!“, sagte Martha. „Du solltest wirklich aufhören, andere Leute zu beleidigen. Es ist nicht nett, und sie ist immer noch meine Schwester.“

„Mir machst du nichts vor – du kannst sie genauso wenig leiden wie ich, nur bin ich ehrlich. Es ist kaum meine Schuld, wenn das den Leuten nicht gefällt. Aber ich wette, sie hat früher die Köpfe der Männer verdreht.“

Frederick spielte mit seiner Krawatte. „Das ist alles schon lange her. Wir haben uns aus den Augen verloren.“

„Ich habe gehört, Sie hätten eine Ärztin geheiratet. Ist sie auch hier?“, fragte Martha.

„Meine Frau ist vor fünf Jahren gestorben.“ Frederick senkte den Blick und betrachtete seine Hände.

Edna, der es nicht gefiel, außen vor zu bleiben, kam Frederick zu Hilfe, ohne es zu beabsichtigen. „Interessant, dass wir alle Verbindungen zur Bühne haben, nicht wahr? Außer Horace – er ist in der Avionik-, also der Luftfahrtelektronikbranche, tätig und Marge musste keinen Tag im Leben arbeiten, da sie eine Lady ist. Und außerdem hat sie in eine reiche Familie eingeheiratet.“ Da war wieder dieser verbitterte Ton, den Edna immer dann anschlug, wenn sie Marjorie daran erinnerte, was für ein Glück sie hatte. Ihr Schwiegervater hatte das Familienvermögen geerbt, während Ednas Vater aus dem Testament gestrichen worden war.

„Ich mag das Theater ebenso wie Shakespeare und Opern.“ Marjorie sah Edna an, ohne mit der Wimper zu zucken. Warum ging diese Frau ihr so auf die Nerven? Der Onkel des verstorbenen Ralph Snellthorpe war ein spielsüchtiger Frauenheld gewesen. An Tagen, an denen Edna vernünftig dachte, war ihr durchaus bewusst, dass weder sie noch ihr Bruder einen Penny von ihrem Vater geerbt hätten, da er längst alles verprasst hätte. Auch musste sie immer wieder daran erinnert werden, dass ihr Vater ihre Mutter verlassen hatte und sie die beiden Kinder allein großgezogen hatte.

Lady Marjorie, nicht wahr? Nun, in diesem Fall muss ich auf mein Benehmen achten“, sagte Major Jeffries.

„Woher haben Sie den Majorstitel?“, fragte Edna, die sich nicht so leicht aus der Unterhaltung wegdrängen lassen wollte.

„Ich war Soldat, wie auch schon mein Vater und mein Großvater vor mir. Opa kämpfte an der Somme. Er war einer der wenigen, die lebend zurückkamen, aber er war mit den Nerven völlig am Ende, der Arme. Dennoch hat er seine Pflicht für den König und fürs Vaterland erfüllt.“

Traurig sann Marjorie darüber nach, dass viele Überlebende des Großen Kriegs, wie er genannt wurde, nie darüber sprachen. Ihr Vater hatte bei den Schlachten in Ypern mitgekämpft, doch in ihrem Elternhaus war dieser Krieg ein Tabuthema. Da Marjorie genug Dokumentationen über die Schrecken der beiden Weltkriege – insbesondere des Ersten Weltkriegs – gesehen hatte, erstaunte es sie nicht, dass die meisten Männer die Vergangenheit auf sich beruhen lassen wollten. Aber sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie in der Tiefe ihrer Seele unter Flashbacks litten.

Als die Themen Shakespeare und Offizierstitel fallen gelassen worden waren, vertieften sich Horace und der Major in ein Gespräch über Avionik. Martha nahm zusammen mit Edna einen Drink an der Bar, während Denise die Reiseroute mit Faith besprach. Marjories Versuche, Frederick aus seiner düsteren Stimmung herauszuholen, scheiterten kläglich. Also gab sie es auf.

„Ich glaube, ich geh mich auf den Abend vorbereiten“, sagte sie in die Runde.

Frederick griff den Hinweis auf. „Gute Idee. Zeit für mich, dasselbe zu tun.“

Faith war die Einzige, die aufblickte und winkte. Als Marjorie an der Bar vorbeiging, wo Edna und Martha noch saßen, rief Edna ihr zu: „Setzt du dich zu uns, Marge?“

„Nein, danke. Ich packe meine Sachen aus und mache mich fertig. Wenn du willst, treffen wir uns gegen halb sechs hier unten auf einen Aperitif.“

„Okay. Bis dann.“

Als Marjorie am Aufzug ankam, war Frederick schon verschwunden. Sie fragte sich, was zwischen ihm und dieser Dolores Hagman wohl vorgefallen war. Sie waren sicher nicht nur miteinander ausgegangen, wie er es so nett ausgedrückt hatte. Sie hatte Dolores für einen Künstlernamen gehalten, doch Frederick hatte gesagt, sie hätte früher Dolores Plenrith geheißen, also war es vermutlich ihr richtiger Vorname.

Was auch immer in der Vergangenheit vorgefallen war – Frederick hatte gewirkt, als hätte er beim Anblick von Dolores, die aus dem Saal gestürmt war, ein Gespenst gesehen. Seine Reaktion hinterließ bei Marjorie den Eindruck, dass ihre Trennung nicht von ihm ausgegangen war. Die Wirkung, die ihr Erscheinen – oder vielmehr Verschwinden – jetzt schon auf ihn gehabt hatte, versprach einen interessanten Abend in der Oper.

Würde die Begegnung mit einer alten Liebe auch so eine Wirkung auf sie haben wie auf ihn? Aus irgendeinem Grund glaubte Marjorie das nicht.

3

„Sagten Sie nicht, Ihre Cousine hätte einen Adelstitel?“

Während Martha an ihrem Weißweinglas nippte, fiel es Edna schwer, sie einzuschätzen. Sie wirkte nett, doch ihre tristen rötlichbraunen Augen leuchteten nicht. Sie war unscheinbar und hielt offensichtlich nicht viel von Verschönerungsversuchen. Edna juckte es in den Fingern, die drei langen Härchen auszuzupfen, die aus einem Muttermal an Marthas Kinn wuchsen.

Martha sah Edna fragend an, die sich widerstrebend zwang, den Blick von den unappetitlichen Stoppeln abzuwenden und zu antworten.

„Ja, aber nehmen Sie ihr das nicht krumm. Unter ihrer steifen, förmlichen Maske ist sie ganz in Ordnung. Wenn sie will, kann sie unheimlich witzig sein.“

„Ach. Ich war mir nicht sicher, ob Sie sich gut verstehen“, sagte Martha.

„Sie tut immer so, als kämen wir nicht miteinander aus, und sagt allen Leuten, wir seien nur angeheiratete Cousinen und keine ersten Grades, aber in vielerlei Hinsicht passen wir gut zusammen. Natürlich sind wir völlig gegensätzlich. Ich gehe ihr manchmal auf die Nerven, weil ich sage, was ich denke – ein bisschen wie Major Jeffries und Ihr Mann, soweit ich das beurteilen kann.“

„Sie haben recht. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb sich Percy und Simon so oft streiten. Sie sind sich zu ähnlich, auch wenn Simon recht hat, was meinen Mann betrifft. Er benimmt sich manchmal wie ein Snob und er redet viel zu laut, aber unter der harten Schale hat er einen weichen Kern.“

„Marge kommt manchen Leuten auch wie ein Snob vor. Wenn sie übertreibt, lese ich ihr die Leviten, aber ansonsten sind wir gute Freunde.“ Edna fragte sich, ob die Freundschaft eher von ihrer Seite ausging als von Marges, aber sie wollte glauben, dass sie auf Gegenseitigkeit beruhte. „Ich habe Ihre Schwester mal in einer Oper gesehen, in Tosca. Mein Dennis – er ist mittlerweile verstorben, Gott habe ihn selig – hat die Oper geliebt.“

Bei der Erwähnung ihrer Schwester zuckten Marthas Mundwinkel. „Dolores war eine begabte Sängerin, aber ich fürchte, der Alkohol und die Zigaretten haben ihre Stimme ruiniert. Darüber ist sie ziemlich verbittert – und über ihre schmutzige Scheidung.“

„Wie traurig. Auch wenn ich kein Fan des Genres bin, war sie gut. Hat sie was von einer Diva?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Zum Beispiel wegen ihrer übertriebenen Show zum Abschied. Auch ich liebe Auftritte, aber ihr bombastischer Abgang war ziemlich spektakulär. Sie hat auf jeden Fall Aufmerksamkeit erregt.“

„Ach so, das. Wir sind daran gewöhnt, aber ja, man könnte wohl sagen, dass sie eine Drama-Queen ist. Das war sie schon immer. Dolores ist älter als ich, aber das sieht man nicht, weil sie so viel an sich hat machen lassen.“

„Ich habe selbst schon Botox ausprobiert, aber ich habe damit aufgehört. Ich wollte nicht wie eine Barbiepuppe aussehen, ganz zu schweigen von den Kosten.“ Edna schnaubte amüsiert. Martha lächelte, doch ihr Blick blieb trüb.

„Geldmangel hat Dolores noch nie davon abgehalten, es auszugeben. Wenn ich so verschwenderisch mit Geld umgehen würde wie sie, könnte ich nachts nicht mehr ruhig schlafen. Percy verdient nicht sehr viel – um ehrlich zu sein, heutzutage fast gar nichts mehr. In letzter Zeit bekommt er immer weniger Rollen. Wir leben trotzdem ganz komfortabel, weil ich einigermaßen gut bezahlt werde, aber ich bin lieber sparsam.“

„Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?“, fragte Edna, der nicht ganz wohl bei dem Gedanken war, mit einer einigermaßen Fremden über persönliche Finanzen zu sprechen. Marge würde sagen, es sei unangebracht, aber sie hat genug Geld und muss deshalb nicht darüber reden.

„Mein Job macht mir Spaß, aber viel lieber würde ich als Schriftstellerin arbeiten. Ich habe schon recht viele Manuskripte und Drehbücher geschrieben und würde gerne meine eigenen Werke verfassen und Regie führen.“ Zum ersten Mal erschien ein Funkeln in ihren Augen, aber es war schnell wieder verschwunden. „Die Welt da draußen ist erbarmungslos. Nur die Werke ganz weniger Bühnenautoren werden im Theater aufgeführt.“ Martha nahm noch einen Schluck Wein, bevor sie wehmütig weitersprach. „Ich dachte, jetzt käme endlich der große Durchbruch, aber es stellte sich als weiterer Traum heraus, der geplatzt ist.“

„Tut mir leid, das zu hören“, sagte Edna. Mensch, ist diese Frau anstrengend. Sie jammert ständig nur. Ob ich in Marges Ohren manchmal auch so klinge? „Vielleicht kommt Ihr großer Tag erst noch. Ich habe immer davon geträumt, eine berühmte Sängerin zu werden, aber ich konnte trotzdem davon leben, in Klubs zu singen. Es war ein ganz gutes Auskommen. Und jetzt genieße ich meinen Ruhestand. Ich hoffe, Marge und ich werden noch viele Reisen machen, bevor ich diese Erde verlasse.“ Edna beschloss, das Thema zu wechseln. „Komischer Zufall, dass der Freund Ihrer Schwester hier auftaucht, nicht wahr?“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, ihm je begegnet zu sein, auch wenn sein Name damals oft erwähnt wurde. Meine Eltern sagten, er und Dolores hätten sich nahegestanden. Damals wohnte ich noch zu Hause in Norwich und war eine Weile krank gewesen. Dolores war nach Bath gezogen. Ich glaube, dort haben sie sich kennengelernt. Sie hat ihn mir gegenüber zwar nie erwähnt, aber meine Eltern sagten mir, dass er eine Ärztin geheiratet hätte, als ich sie fragte, was aus den beiden geworden sei. Dolores redet fast nur über sich. Ich glaube, Ihr Begriff ‚Diva‘ beschreibt sie treffend.“

Edna lachte. Die Diva hatte Frederick offensichtlich viel bedeutet. Während des Büfetts war er noch mürrischer gewesen als auf dem Hinflug.

„Ich glaube, unser Fred ist ein bisschen melancholisch.“

Martha hob die Augen von ihrem Glas und ihr Blick huschte hin und her. Edna fragte sich, ob sie etwas verpasst hatte.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja. Es ist nur, dass ich damals an Depressionen litt. Ich frage mich, ob das der Grund ist, warum ich Mr. Mackworth nie kennengelernt habe. Na ja, das hätte ich sowieso nicht. Dolores dachte meistens, sie sei zu gut für unsere Familie. Meine Eltern haben sie sehr verwöhnt.“ Der bittere Ton war zurückgekehrt.

„Ist der Altersunterschied zwischen Ihnen groß?“

„Sieben Jahre. Ich werde bald sechzig – ein Grund für diese glückliche Zusammenkunft.“

Dolores wirkte älter als siebenundsechzig, dachte Edna, und Fred musste schon Ende siebzig sein. Sie fragte sich, ob es der große Altersunterschied gewesen war, weswegen sich die beiden Liebenden vor all den Jahren getrennt hatten.

„Auch wenn es mich wirklich überrascht hat, dass Dolores mitgekommen ist“, fuhr Martha mit ihrer trübsinnigen Stimme fort. „An meiner Gesellschaft liegt ihr nichts, und sie versteht sich gar nicht mit Percy und den anderen. Ich vermute, es war, weil Chloe dabei sein würde.“

„Chloe ist ihre Tochter?“

Marthas Lippen zuckten wieder und sie presste sie zusammen. Doch sie kam nicht mehr dazu, zu antworten, weil Horace Edna vorher aus der Situation befreite.

„Ich gehe mich jetzt fürs Abendessen umziehen. Treffen wir uns vorher noch auf einen Drink?“

Edna ergriff die Chance. „Ja, Marge hat gesagt, dass wir uns hier um halb sechs treffen. Ich sollte jetzt auch nach oben gehen und meinen teuren Fetzen für die Abendvorstellung anziehen. Ich nehme an, wir sehen uns später?“, sagte sie zu Martha.

„Aber sicher.“

„Also dann.“ Edna packte Horace am Arm und führte ihn zu den Aufzügen. „Sie ist eine merkwürdige Person“, sagte sie, als sie außer Marthas Hörweite waren. „Wir haben in mancher Hinsicht offenbar viel gemeinsam. Aber ich glaube, sie ist nicht glücklich – sie hat mir ein bisschen über sich erzählt, und scheinbar hatte sie kein leichtes Leben im Schatten ihrer Schwester – trotzdem werde ich mit ihr nicht warm.“

„Sie scheint ganz nett zu sein, im Gegensatz zu ihrem Mann. Ich glaube, das Zusammenleben mit ihm ist schwierig. Er würde jeden unglücklich machen.“

„Da widerspreche ich dir nicht. Wer ihn einmal kennengelernt hat, vergisst ihn nie mehr. Sie sagt, er hält sich für überlegen, aber dass er hinter seiner Fassade ganz in Ordnung ist. Was mich betrifft, so würde ich lieber mit einem Dornenbusch zusammenleben.“

Sie mussten lachen und machten dort weiter, wo sie im letzten Urlaub aufgehört hatten. Horace war amüsant.

5

Gegen Ende des ersten Akts geriet Dolores’ unaufhörliches Summen, das leise begonnen hatte, außer Kontrolle. Marjorie befürchtete, sie könnte jeden Moment selbst eine Arie vortragen, da sie offensichtlich immer mehr in den Bann der Vorstellung gezogen wurde. Die Leute in der Reihe hinter ihnen machten „Psst“ und gaben missbilligende Laute von sich, doch Dolores ignorierte sie und fuhr fort, ohne zu merken, dass sich die Szene zu einem Crescendo aufbaute.

„Sei still!“ Major Jeffries’ herrische Stimme übertönte das zunehmend hysterische Summen. Seine Rüge riss die Frau aus ihrem tranceartigen Zustand.

Der erste Akt endete unter tosendem Applaus. Die Vorstellung der Operngruppe war beeindruckend, auch wenn sie noch weitaus besser geklungen hätte, wenn das Zubehör und die Lautsprecher moderner und im ganzen Zuschauerraum statt nur vorne verteilt gewesen wären.

„Bravo, bravo“, rief Percy und stand auf. Horace folgte gleich darauf mit seiner eigenen Ovation.

Sobald der Applaus endete, eilte eine Traube von Zuschauern zu den Ausgängen, entweder um die Toiletten zu benutzen oder um sich eine Stärkung draußen in den Läden zu holen.

„Wir werden uns die Beine vertreten, kommst du mit?“, fragte Edna Marjorie.

„Ich glaube, ich bleibe ein bisschen hier. Geht ihr ruhig.“

Edna und Horace verließen den Saal durch den unteren Ausgang, kamen jedoch kurz darauf wieder zurück.

„Da sind Maler, die uns den Weg versperren. Sie lassen uns nicht durch“, erklärte Horace, bevor die beiden die Treppe zum Hauptfoyer nahmen.

Marjorie blieb sitzen; sie wollte sich noch nicht ihren Weg durch die Menschenmenge bahnen. Falls nötig, würde sie gegen Ende der Pause gehen. Alle anderen hatten ihre Plätze in der ersten Reihe verlassen – außer Frederick, der am Ende saß und wie betäubt vor sich hinstarrte.

„Hat Ihnen die Vorstellung gefallen?“, fragte Marjorie, was ihn zum zweiten Mal an diesem Tag zusammenzucken ließ.

„Wie bitte? Ja, sie war unglaublich gut, wenn man bedenkt, mit wie wenig sie auskommen müssen.“

„Sie meinen, was die moderne Ausstattung angeht?“

„Ja. Aber dadurch klang es wohl eher so wie damals, als die Oper eröffnet wurde.“ Frederick grinste leicht. Er war offensichtlich ein Opernliebhaber. Marjorie war sicher, dass sich hinter seiner schüchternen Fassade – und der Wirkung, die Dolores Hagmans Anwesenheit auf ihn gemacht hatte – ein interessanter Mann verbarg.

„Haben Sie schon Horaces Scotch probiert?“, fragte sie, um das Gespräch von allzu persönlichen Themen wegzulenken.

„Um ehrlich zu sein, ich habe selbst eine Flasche Brandy mitgebracht. Möchten Sie einen Schluck? Ich könnte einen Platzanweiser bitten, ein Glas für Sie zu organisieren.“

„Wenn es nicht zu viel Mühe macht, stoße ich gerne mit Ihnen an.“

„Ich bin gleich wieder da.“

Frederick verschwand und Marjorie musste gegen den Drang ankämpfen, auf die Toilette zu gehen – ein Kampf, den sie in jüngerem Alter gewonnen hätte, doch jetzt nicht mehr. Widerstrebend verließ sie ihren Sitzplatz und ging die Treppe hinauf.

Ungefähr die Hälfte der Zuschauer war auf ihre Plätze zurückgekehrt. Es war schön, so viele Familien mit Kindern zu sehen. Sie fragte sich, ob es oben Toiletten für die Besucher auf den Balkonen gab, aber ohne es zu wissen, wollte sie die Treppen nicht umsonst hinaufsteigen.

Als sie im Foyer ankam, war sie angenehm überrascht. Offensichtlich hatten viele der einheimischen Zuschauer tatsächlich das Gebäude verlassen. Vielleicht wussten sie, wo es noch andere Sanitäreinrichtungen gab. Der Zigarettenrauch verriet ihr jedoch, dass sie aus anderen Gründen hinausgegangen waren, denn im Theater herrschte striktes Rauchverbot. Wie Faith ihnen außerdem gesagt hatte, war auch Alkohol verboten; daher hoffte sie, dass Frederick dem Platzanweiser nicht verriet, wofür er das Glas wollte.

Vor den Damentoiletten hatte sich eine kleine Schlange gebildet, die jedoch schnell vorrückte. Marjorie kam rechtzeitig ins Foyer zurück, um zu hören, wie die zweite Hälfte der Vorstellung angekündigt wurde, auch wenn sie die Worte nicht verstehen konnte. Als sie zu ihrem Platz zurückkehrte, bemerkte sie, dass Dolores’ Sitz leer war. Sie sah Chloe an, die sie strahlend anlächelte. Im selben Augenblick, in dem sich der Vorhang öffnete und alle Türen geschlossen wurden, kam Frederick zurück. Er war offensichtlich außer Atem und schaute nicht in ihre Richtung, während er neben Horace Platz nahm. Entweder hatte er ihren Brandy vergessen oder kein Glas auftreiben können.

Ohne das laute Summen, das die erste Hälfte gestört hatte, war die restliche Vorstellung angenehmer, doch Marjorie wunderte sich, wo Dolores wohl steckte. Auf der Toilette war sie nicht gewesen und Marjorie hatte sie auch nicht im Foyer gesehen. Vielleicht hatte sie die Lust verloren oder sich wieder einmal mit jemandem gestritten und sich ein Taxi zurück zum Hotel genommen, auch wenn das merkwürdig wäre, da sie offensichtlich in der ersten Hälfte von der Vorstellung so mitgerissen worden war. Marjorie widerstand der Versuchung, Chloe, die ohne ihre Mutter viel glücklicher wirkte, nach ihr zu fragen. Es gehörte sich nicht, sich während einer Oper zu unterhalten, und sie wollte die Zuschauer in der zweiten Reihe hinter ihr nicht verärgern. Vielleicht war Dolores zu spät zurückgekommen und wurde nicht mehr in den Saal hineingelassen.

Als der Vorhang gefallen und der Applaus verstummt war, wandte sich Marjorie an Chloe. „Wo ist denn Ihre Mutter? Hoffentlich ist ihr nicht unwohl.“

Chloe sah sich um, als würde sie erst jetzt merken, dass ihre Mutter nicht zurückgekommen war. Sie hielt sich den Mund zu und riss die Augen weit auf.

„Mist! Ich bin geliefert. Sie hat gesagt, dass sie draußen eine rauchen würde, während ich auf die Toilette ging. Als ich zurückkam, war sie verschwunden, aber ich bin davon ausgegangen, dass sie wiederkommen würde. Und dann hab ich sie ganz vergessen. Manchmal ist mein Gedächtnis wie ein Sieb. Das sagt sie mir ständig. Ich wette, sie kam zu spät und man hat sie nicht mehr reingelassen, da die zweite Hälfte schon begonnen hatte. Jetzt wird sie mir die Schuld dafür geben, weil ich ihr nicht Bescheid gesagt habe.“

„Ich verstehe nicht, warum Ihre Mutter Sie dafür verantwortlich machen sollte. Die Durchsagen waren laut genug, um die Toten aufzuwecken, als ich im Foyer war. Vielleicht wäre es trotzdem eine gute Idee, wenn Sie sich vergewissern, dass mit ihr alles in Ordnung ist.“

„Ach, sie hat sicher einen Wutanfall bekommen und ist mit dem Taxi zurück zum Hotel gefahren, wenn sie sie nicht wieder in den Saal gelassen haben. Ich möchte mir den Abend nicht verderben lassen. Später, wenn wir zurück im Hotel sind, werde ich ihre Wut eh abbekommen.“

Auch wenn Chloe höchstwahrscheinlich recht hatte, würde Marjorie erst dann zur Ruhe kommen, wenn sie nach der nervigen Person geschaut hatten. Als Chloe aufstand, um mit Denise Jeffries und ihrem Vater zu plaudern, beschloss Marjorie, Faith, die durch die Reihe ging, nach der Diva zu fragen.

„Hat Ihnen die Vorstellung gefallen?“, fragte Faith.

„Ja, sehr, vielen Dank. Aber ich mache mir Sorgen um Dolores Hagman, die nicht mehr zurückgekommen ist. Der erste Akt schien sie noch viel mehr zu begeistern als uns andere. Daher ist es unerklärlich, warum sie die zweite Hälfte verpassen sollte.“

„Was hast du gesagt, Marge?“, wollte Edna wissen.

„Dolores wird vermisst.“

„Was meinst du mit vermisst?“, fragte Horace. „Nur weil diese dumme Person zur zweiten Hälfte nicht zurückgekommen ist, heißt das doch noch nicht, dass sie vermisst wird.“

„Was sagt Chloe dazu?“, fragte Faith.

„Sie hat berichtet, dass sie Dolores zuletzt gesehen hat, als diese nach draußen ging, um eine Zigarette zu rauchen. Sie scheint kein bisschen besorgt zu sein und denkt, dass Dolores womöglich mit dem Taxi zum Hotel zurückgekehrt ist, weil sie zu spät kam und nicht mehr reingelassen wurde.“

„Das klingt nach einer plausiblen Erklärung“, sagte Horace, dessen Wangen entweder von der Hitze oder vom Scotch gerötet waren.

„Was ist denn los?“ Frederick war anscheinend aus seinem Bann erwacht und gesellte sich nun zu den anderen vier.

Horace erklärte, was passiert war. „So wie ich diese fordernde Person kennengelernt habe, will sie nur Aufmerksamkeit.“

„Sagen Sie das nicht“, gab Frederick zurück.

Faith rief Chloe herbei. „Chloe, würde es Ihnen was ausmachen, Ihre Mutter anzurufen und zu checken, ob sie im Hotel ist? Ich kann von hier nicht weg, solange ein Reiseteilnehmer vermisst wird.“

„Sie hat sicher, wie wir alle, ihr Handy ausgeschaltet, aber ich werde es versuchen.“ Chloe wählte eine Nummer und reichte Faith das Telefon. „Sprechen Sie mit ihr, wenn sie antwortet. Sie wird zu wütend auf mich sein, um mit mir zu reden.“

Faith wartete eine gefühlte Ewigkeit, bis sich jemand meldete. „Entschuldigen Sie, wie bitte? Sprechen Sie langsamer. Es tut mir leid, aber ich spreche kaum … Einen Moment bitte … Spricht einer von Ihnen Rumänisch?“

Horace streckte die Hand aus. „Geben Sie es mir.“ Er sprach ins Telefon. „Dada …“ Horace entfernte sich ein paar Schritte und hielt sich ein Ohr zu, um zu hören, was die Person am anderen Ende der Leitung sagte. Marjorie hörte ihn das Wort politie erwähnen und ihr war klar, dass irgendwas nicht in Ordnung war. Sie und die restliche Gruppe drängten sich um Horace.

„Wir müssen sofort nach draußen gehen.“ Er sah Chloe mitfühlend an. „Es tut mir so leid. Anscheinend hat Ihre Mutter einen Herzinfarkt gehabt. Ein Rettungswagen ist schon unterwegs, aber der Mann, mit dem ich gesprochen habe, sagt, ihr Körper sei eiskalt. Ich habe ihn gebeten, vorsichtshalber auch die Polizei zu rufen.“

Chloe begann zu schwanken, doch Percy Gainsborough fing sie auf, bevor sie auf den Boden sacken konnte, und stützte sie, bis sie sich setzen konnte. Alle sprachen Dolores’ Begleiter gleichzeitig an, die sich um Chloe versammelten und ihr Wasser reichten.

„Es ist sinnlos, hier zu warten. Wir sollten lieber rausgehen und herausfinden, was los ist“, sagte Edna. Ausnahmsweise gab Marjorie ihr recht. Horace ging voraus und sie, Edna, Frederick und Faith folgten ihm. Draußen kümmerten sich rumänische Sanitäter und die Polizei um Dolores Hagman, die auf dem Boden saß, den Rücken an die Wand der Oper gelehnt.

Der perfekte Ort für den letzten Atemzug einer Operndiva, dachte Marjorie.