Leseprobe Das Geheimnis der Erbin

Kapitel 1

Es war einmal eine Prinzessin, die wünschte sich einen Prinzen. Ihr Name war Peony …

Aus: Der Prinz und die Pastinake

***

Yorkshire, England, Oktober 1741

Diese Nacht, dachte Hippolyta Royle erbittert, während sie sich im Regen einen ginsterbewachsenen Abhang hinaufquälte, war die allerschlimmste ihres Lebens. Schlimmer noch als nach jenem Abend, an dem sie die Muscheln gegessen hatte. Seitdem konnte sie keine Schalentiere mehr sehen. Schlimmer auch als Freddy Warth mit dem schlechten Atem, der ihr letzten Monat auf dem Ball einen Kuss aufgedrängt hatte. Sogar noch schlimmer als damals, da sie noch ein Kind war und ein Tiger sich an sie angeschlichen hatte. Und das war wahrlich grauenvoll gewesen.

Endlich hatte Hippolyta, keuchend und mit Regen in den Augen, die Kuppe des Hügels erreicht, als ihr rechter Fuß unter ihr wegglitt. Halb rutschend, halb rollend purzelte sie in der Dunkelheit die andere Seite des Hügels hinunter. Brombeerranken und alles mögliche andere Gestrüpp, das in diesem gottverlassenen Moor im Norden Englands wuchs, zerkratzten ihr Hände und Beine.

Unten angekommen saß sie da, kalt und nass, elend und verängstigt, während der Regen ihr ins Gesicht schlug und der Wind das Bellen der Meute an ihr Ohr trug.

Sie waren schon sehr nah.

Hippolyta rappelte sich auf. Die Lichter des Städtchens, das sie erreichen wollte, waren nicht mehr zu sehen, und ebenso wenig konnte sie ausmachen, aus welcher Richtung sich die Hunde näherten. Sie wusste nur, dass man sie finden würde, wenn sie hier blieb.

Und dann würde sie den Duke of Montgomery heiraten müssen, den abscheulichsten Menschen, den sie je gekannt hatte.

Sie rannte los, in Schuhen, die ihr zu groß waren.

Falls es einen Pfad gab, hatte sie ihn längst verloren. So taumelte und stolperte sie durch Farn und Ginster, doch sie lief immer weiter. Nein. Von diesem Wahnsinnigen würde sie sich nicht noch einmal einfangen lassen.

Es war noch keine Woche her, da hatte sie in ihrem schönen warmen Bett in ihrem eigenen Zimmer geschlummert, als vier maskierte Männer sie unsanft aus dem Schlaf rissen, sie, nur mit ihrem Hemd bekleidet, in eine Decke wickelten, sie aus dem Haus ihres Vaters verschleppten und in eine Kutsche verfrachteten. Es folgten vier Tage einer ununterbrochenen, entsetzlichen Fahrt unter ständiger Bewachung durch die Männer, die sie entführt hatten. Die Reise endete am Ainsdale Castle, dem Wohnsitz des Duke of Montgomery. Dort hatte man sie in eine winzige Zelle gesperrt, offensichtlich in der Absicht, sie so lange festzuhalten, bis ihr Ruf durch den Aufenthalt beim Duke vollkommen ruiniert wäre. Und dann wäre sie gezwungen gewesen, Montgomery zu heiraten, da kein anderer Mann sie mehr hätte haben wollen – noch nicht einmal mit der beträchtlichen Mitgift, die sie von ihrem Vater zu erwarten hatte. Warum der Duke sich all die Mühe gemacht hatte, war ihr schleierhaft. Welcher Idiot fing sich schon eine Ehefrau ein? Hippolyta war sicher, dass er sie nicht liebte, ja, nicht einmal mochte. Und ihr Geld brauchte er auch nicht, da er selbst vermögend war. Letzten Endes kam sie zu dem Schluss, dass er es aus purer Bosheit getan hatte und vielleicht auf seine verdrehte Art auch, weil er wusste, dass sie ihn verabscheute. Der Duke of Montgomery war ein abgrundtief böser, völlig verrückter Mann.

Zum Glück war seine Haushälterin, Bridget Crumb, eine Freundin von Hippolyta und hatte ihr geholfen, aus dem Verlies von Ainsdale Castle zu entkommen. Hippolyta hatte den Plan gefasst, bis zu der nahe gelegenen Kleinstadt zu reiten, dort bis zum Morgen zu warten und dann die Postkutsche nach London zu nehmen.

Das war allerdings gewesen, bevor sie von ihrem kleinen, dicken Pony fiel und es davonrannte.

Hastig stapfte Hippolyta durch die Schlammpfützen, denn das glockenhelle Gebell der Hunde klang schon ziemlich nahe. Es schien, als seien sie ihr dicht auf den Fersen. Ihr Atem kam in Stößen, und ihre Brust schmerzte vor Kälte und Furcht, als sie den nächsten kleinen Hügel erklomm. Dieser verdammte Duke!

Sie hielt sich an den Büscheln von Heidekraut, oder was immer das harte Gestrüpp war, fest und zog sich daran den Abhang hinauf, ohne Rücksicht darauf, dass die Zweige ihr in die Hände schnitten. Auf gar keinen Fall würde sie die arme, unglückliche Braut spielen, das traurige kleine Frauchen, das, von allen bedauert, in einem Winkel dahinvegetierte, bis es in bleicher Schönheit eines jämmerlichen Todes starb.

Auf allen Vieren kriechend erreichte Hippolyta die Hügelkuppe, nur um dort mit Händen und Knien tief im Schlamm zu versinken. Doch erneut rappelte sie sich auf und rutschte auf der anderen Seite den Hügel hinab. Plötzlich stöhnte sie vor Schreck auf, als sie das Licht einer Laterne bemerkte.

Nein.

Oh nein, nein, nein, nein.

Sie duckte sich und machte sich ganz klein, um hier im offenen Gelände nicht aufzufallen, als ihr klar wurde, dass es sich um eine Kutschenlaterne handelte. Sie kauerte am Rand einer Landstraße, und die Kutsche kam in gemächlichem Tempo durch den Regen auf sie zu. Sie wurde nur von zwei Pferden gezogen, und auf dem Kutschbock saßen zwei Männer. Das sah nicht nach einem Wagen des Dukes aus.

Hippolyta sprang auf, rannte auf die Straße und winkte mit beiden Armen. „Halt! Um Himmels willen, Halt!“

Einen Augenblick lang geschah nichts. Die Pferde trotteten dahin, der Regen spritzte ihr ins Gesicht, und die Hundemeute bellte, jetzt bereits näher.

Plötzlich riss der Kutscher an den Zügeln und rief: „Brr! Brr, stehenbleiben!“

In einen durchweichten Mantel gehüllt, hockte er gebückt auf seinem Sitz, und das Wasser strömte von seinem abgenutzten Dreispitz. Neben ihm saß unbehaglich ein kleinerer Mann oder Junge, der sich seinen Mantel über den Kopf gezogen hatte.

Mit zu Schlitzen verengten Augen betrachtete der Kutscher Hippolyta im Licht der Laterne. „Sei ein braves Mädchen und gib den Weg frei“, sagte er.

„Bitte“, flehte Hippolyta, „bitten Sie Ihren Herrn oder Ihre Herrin, dass sie mich mitnehmen.“

„Oha!“, entgegnete der Kutscher. „Das ist aber jetzt –“

Die Hunde kamen immer näher. Also zog sich Hippolyta auf den Bock hinauf und starrte den Mann beschwörend an. „Bitte, jetzt gleich!“

Der Kutscher seufzte und schlug mit der Faust gegen die Seite der Kutsche. „He, Matt! Hier ist so’n komisches Mädchen auf der Straße. Die will, dass wir sie mitnehmen –“

Hippolyta sprang vom Bock und schlug ebenfalls an die Tür. „Bitte, Sir! Bitte!“

Die Tür wurde schwungvoll aufgerissen, und ein junger Mann mit zerzausten Haaren streckte seinen Kopf heraus. „Was zum Teufel ist denn da los?“

Hippolyta straffte die Schultern, blickte ernst in die ziemlich auffälligen grünen Augen und sagte: „Ich bin Hippolyta Royle, die reichste Erbin von England. Ich wurde von einem Schurken entführt, der mich zwingen wollte, ihn zu heiraten. Wenn Sie mich zu meinem Vater nach London bringen, ist Ihnen eine reiche Belohnung gewiss.“

Der Mann blinzelte, weil ein Regentropfen an seiner Nase herunterlief.

Dann brach er in lautes Gelächter aus.

***

Matthew Mortimer hatte seine zweijährige Forschungsreise durch den Indischen Ozean abbrechen müssen, weil ihn die unerfreuliche Nachricht erreichte, dass drei seiner Cousins diversen Krankheiten erlegen waren und er daher nun den Titel des Earl of Paxton geerbt hatte. Jetzt versuchte er, das Lachen zu unterdrücken.

Es war nicht leicht.

Die Verrückte neben seiner Kutsche starrte ihn so hochmütig an, als sei sie die Königin von Saba, ungeachtet der Tatsache, dass sie vollkommen durchnässt und schlammbeschmiert war und einen geflickten, zerschlissenen Umhang trug. Ihr schwarzes Haar und die Kapuze ebenso wie die Schlammspuren in ihrem Gesicht verbargen ihre Züge, doch ihren Bewegungen und der Stimme nach zu urteilen konnte sie nicht sehr alt sein. Vielleicht war sie eine entlaufene Magd oder eine Bettlerin, die über die Landstraßen zog. Aber nun ja, es war wirklich eine kalte, nasse Nacht, und er hatte eine gewisse Schwäche für Gauner, die überzeugend eine Lügengeschichte zum Besten geben konnten.

Matthew gähnte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Na gut, Süße, rein mit dir. Ich kann dich bis zur nächsten Stadt mitnehmen. Dort musst du deine traurige Geschichte einem anderen Einfaltspinsel erzählen.“

Ihre Augen verengten sich kurz, und er hatte das Gefühl, als läge ihr die Bemerkung auf der Zunge, er solle sich zum Teufel scheren.

Da tönte ein Jagdhorn über das Moor. Sie erschrak und kletterte so überstürzt in die Kutsche, dass er unwillkürlich zurückwich. Mit ihr kam der ausgeprägte Geruch nach nassem Pferd, Sumpfwasser und Moder. Meine Güte, worin hatte die sich bloß gewälzt?

Die Frau ließ sich ihm gegenüber nieder, ein nasses, stinkendes Häufchen Elend, und fragte mit einem affektierten vornehmen Akzent: „Und? Geht’s jetzt bald los?“

Na, herrlich. Matthew verdrehte die Augen, knallte den Kutschenschlag zu und klopfte gegen das Kutschendach zum Zeichen, dass Josiah losfahren sollte.

Die Kutsche setzte sich in Bewegung.

Matthew kuschelte sich wieder in seinen Haufen von Decken und Pelzen, in dem er gedöst hatte, bis sie den Wagen zum Anhalten zwang. Eigentlich hatten sie im letzten Dorf Halt machen wollen, doch der Gasthof war so voll gewesen, dass Matthew sich entschlossen hatte weiterzufahren. Und dann hatte es natürlich zu regnen begonnen. Jetzt würde er sich ewig Josiahs Vorwürfe anhören müssen, und es wäre kein Wunder, wenn der alte Seemann die Kutsche über eine Klippe lenken würde, nur um ihn zu ärgern.

„Ich habe nicht gelogen“, ertönte plötzlich die Stimme der Frau aus der Dunkelheit. Sie klang ein wenig rau.

Und empört.

Er seufzte. Es war ein langer Tag gewesen, da er erst spät vom Landhaus seines früheren Lehrers losgefahren war. „Ich habe dich mitgenommen, nicht? Belassen wir es doch einfach dabei.“ Er spürte geradezu, wie sie erstarrte. „Ich danke Ihnen für Ihren Beistand …“

Beistand?

„… aber ich lasse mich nicht gerne für eine Lügnerin ansehen. Ich weiß, mein Kleid ist nicht –“

Ach, du lieber Himmel. „Also, Süße, wenn du das nächste Mal einem Gentleman einen Bären aufbinden willst, solltest du dir besser einen anderen Namen ausdenken. Hippolyta Royle? Niemand nennt sein Kind so. Das klingt ja wie eine Schauspielerin. Vielleicht bist du ja eine. Eine vom Glück verlassene Schauspielerin. Nenn dich doch lieber Moll Jones. Ein simpler Name und vor allem einer, den man schnell wieder vergisst. Also willkommen, Moll.“

Vom Sitz gegenüber hörte man nichts. Jedenfalls nichts als das Schnauben einer wütenden Frau.

Dann ihre Worte, klar und präzise: „Wie charmant von Ihnen, mir Ihre Sicht auf die Dinge zu erläutern.“

Er grinste. „Gern geschehen.“

„Also wirklich.“ Es klang, als presste sie die Zähne zusammen. Hoffentlich brach dabei nicht einer ab, dachte er. „Man könnte meinen, Sie kennen sich selbst ganz gut mit Tricks und Täuschungen aus“, setzte sie hinzu.

Jetzt schnaubte er entrüstet. „Nein, das stimmt nicht. So etwas habe ich in meinem Metier nicht nötig.“ Da fiel ihm ein Vorfall vor einem Jahr wieder ein, als er Dorfbewohnern vorgegaukelt hatte, er besäße einen Passierschein des Maharadschas, um sich aus einer ziemlich heiklen Lage zu befreien. „Normalerweise jedenfalls.“

„Aha.“ Ihre Stimme triefte vor Zweifel. „Und was für ein Metier mag das sein?“

Matthew öffnete den Mund … und machte ihn wieder zu. Er hatte die vergangenen zwei Jahre damit verbracht, Indien und den Indischen Ozean zu erkunden, weil er es sich als Angehöriger des Adels eben leisten konnte. Aber er wollte auf keinen Fall einer kleinen Bettlerin verraten, wer und was er war. „Ich bin Wissenschaftler und Kartograph. Das heißt, ich mache –“

„Landkarten, ich weiß“, entgegnete sie so schnippisch, als wäre sie eine verdammte Prinzessin.

„Du weißt, was ein Kartograph ist? Also wirklich.“ Er spähte zu ihr hinüber, konnte jedoch nicht viel erkennen.

„Ja, wirklich.“

Ihre Hochnäsigkeit entlockte ihm ein spöttisches Lächeln. „Matthew Mortimer, Kartograph. Zu Ihren Diensten, Euer Hoheit.“

„Na gut, dann bleibe ich eben Moll Jones, bis wir in eine Stadt kommen, wo eine P-P-Postkutsche fährt“, antwortete sie.

Ihre Worte wären viel imposanter gewesen, wenn sie nicht plötzlich so mit den Zähnen geklappert hätte.

Ach, verdammt. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass dir kalt ist?“

„Ich d-d-dachte, es w-wäre –“

Er wartete ihre freche Antwort nicht ab, sondern streckte die Hand aus und versuchte, ihr den nassen Umhang wegzuziehen.

Vergeblich.

Sie klammerte sich so verzweifelt daran, als seien es die Kronjuwelen. „W-w-was machen Sie denn da?“

„Dein Umhang ist triefnass“, knurrte er. „In dem Ding wird dir niemals warm.“

„Aber –“

„Lass los, verdammt noch mal!“

Er riss noch einmal kräftig daran, dann hörte er Stoff reißen, und gleich darauf klatschte ihm das nasse Ding ins Gesicht.

Die Frau, die er vom Sitz gerissen hatte, stieß ein schrilles Quieken aus und taumelte in seine Arme.

„Jetzt hör doch mal auf zu zappeln“, murmelte Matthew, nachdem er fast ihren Ellbogen gegen die Nase bekommen hatte, und ließ den Umhang fallen.

„Lassen Sie mich auf der Stelle los, Sir!“

„Ich will dir doch nur helfen!“, brüllte er wütend, während er versuchte, ihren wild fuchtelnden Armen und Beinen auszuweichen. „Ich werde mich wohl kaum an einer schlammigen, stinkenden Wanderkomödiantin vergehen, die wahrscheinlich auch noch die Blattern hat!“

Sie erstarrte vor Zorn, und so hatte er Gelegenheit zu bemerken, dass ihr Hintern auf seinem Schoß dick und rund und ihre Titten, die gegen seine Brust drückten, schön prall waren.

Genau, wie er es gern hatte.

„Oh!“, keuchte sie, wie er annahm vor Zorn und nicht vor Leidenschaft. „Oh … Sie … Ich …“

„Genau“, erwiderte er knapp, wickelte sie in eine Decke und breitete die übrigen über sie beide. „Ich. Du. Warmhalten. Nur für heute Nacht. In dieser blöden Kutsche. Und morgen früh trennen sich unsere Wege, und ich muss dich nie wieder sehen. Gott sei Dank.“