Leseprobe A Dead Girl's Betrayal

Wer nicht eifersüchtig ist, der liebt nicht.

Augustinus

1

Juni

Leander, wo bist du?

Das Auto, in dem ich sitze, riecht nach kaltem Rauch. Ich starre auf den Hinterkopf des Albinos, ab und zu sehe ich ihn im Profil, wenn er aus dem Fenster blickt. Keine Ahnung ob er wirklich rote Augen hat. Ich nenne ihn so, weil er weißblonde Haare und ganz helle Haut hat und eine Sonnenbrille trägt, obwohl es draußen kühl und diesig ist.

Seinen Namen kenne ich nicht. Aber ich habe Angst davor, wozu er fähig sein könnte, und zwinge mich, nicht daran zu denken, sonst breitet sich Panik wie Lava in meinem Bauch aus. Rot glühende Lava, die alles in mir verschlingt und nur noch nackte Angst zurücklässt. Meine Finger krallen sich jetzt in das speckige Polster, ich richte meinen Blick starr nach unten. Auf dem Boden liegt eine leere, zerknautschte Schachtel Marlboro, Technoklänge hämmern leise vorn aus dem Radio.

»Worauf warten wir eigentlich?«, frage ich erneut, obwohl ich mir doch geschworen habe, nichts mehr zu sagen. Der Albino hat keine meiner Fragen beantwortet. Und was ich wirklich meine, ist vielmehr: Was hast du mit mir vor? Was habt ihr mit mir vor? Und wo ist Leander? Leander muss mir helfen, wir gehören doch zusammen. Lena und Leander – für immer und ewig. Trotz allem, was passiert ist. Oder gerade deswegen.

Der Albino trommelt jetzt mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Offenbar warten wir auf jemanden.

»Ich muss mal«, versuche ich es verzweifelt, meine Stimme klingt dünn und piepsig. Die Stimme eines kleinen Mädchens, das sich jeden Moment in die Hose pinkeln wird.

Dem Albino ist das egal. Sein runder Kopf mit den weißblonden Haarstoppeln ruckt im Takt der Musik, im Rückspiegel sehe ich nur die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille. Er beobachtet mich, auch wenn er so gleichgültig tut. Stumpfe, schwarze Löcher in einem bleichen Gesicht. Sie kommen mir vor wie tiefe Krater, in die ich fallen und in denen ich auf Nimmerwiedersehen verschwinden werde. Ich denke an meine Eltern, die jetzt ahnungslos nach Hause kommen, den Kühlschrank mit Einkäufen vollpacken, die Post durchsehen, ein paar Worte über ihren Tag in der Zahnarztpraxis und im Büro wechseln. Wann werden sie sich wundern, wo ich bleibe? Und ich denke an Leander, meinen Leander. An den unheilvollen Tag im April, an dem alles anfing. Etwas Heißes steigt in meiner Kehle hoch. Hastig kneife ich die Augen ein paarmal auf und zu. Nicht heulen, lieber nachdenken, wie ich hier rauskomme.

Wie konnte ich nur so blöd sein, hier einzusteigen? Jetzt sind die Türen verriegelt.

Wir stehen vor einem Abrisshaus in einer heruntergekommenen Straße. Ein zerrissenes Plakat wirbt für die längst vergangene Mega-Sommerparty im Jahr 2007, die Haltestelle ist menschenleer und alles, was ich in der letzten Stunde gesehen habe, war eine streunende Katze und ein kapuzenvermummter Typ, der seinen Kampfhund ausführte.

Jemand reißt die Beifahrertür auf.

»Fahr los«, sagt eine Stimme. Ich habe sie schon mal gehört. Weiß, zu wem sie gehört.

Mir wird übel.

2

April

Auf dem Foto war Leander ungefähr acht Jahre alt.

Er stand irgendwo an einem Strand, trug eine rote Mütze mit einem Garfield-Aufdruck und blickte missmutig in die Kamera.

»Warum guckst du denn da so traurig?«, fragte ich ihn. Wir saßen in seinem Zimmer unterm Dach auf dem Bett und ich hatte mir das Album mit seinen Kinderfotos geschnappt, noch bevor er es verhindern konnte. »Ist es wegen der hässlichen Mütze?

Meine Eltern haben mich als Kind auch immer unmöglich angezogen. Ich sag nur: kackbraune Strumpfhosen, die auch noch furchtbar gekratzt haben.«

Leander fing an, an meinem T-Shirt herumzuspielen. »Nee, nicht wegen der Mütze. Ich glaube, ich war wegen was anderem traurig.«

»Und warum?«

Seine Finger schoben jetzt Stoff weg und strichen sacht über meinen nackten Bauch. »Na, weil ich dich noch nicht kannte.«

Ich lachte. Es war genau das, was ich hatte hören wollen. »Du hättest mich doch damals gar nicht beachtet. Kleine Jungs und kleine Mädchen mögen sich in dem Alter nicht besonders.«

»Du wärst mir mit Sicherheit aufgefallen«, murmelte er, sein Mund presste sich jetzt auf meinen Bauch.

»Ich hätte dir deine kratzenden Strumpfhosen ausgezogen und dich gerettet.« Er wurde drängender und ich kippte mit einem kleinen Quieken nach hinten auf sein Bett. »Was ist mit Mathe?«, quetschte ich zwischen zwei Küssen heraus, dabei war mir Mathe in diesem Moment so was von egal. Ich wollte

doch auch, dass er weitermachte.

»Scheiß drauf«, flüsterte er. »Nachher.«

Seine rechte Hand hakte meinen BH auf und schob sich warm auf meine Brust. Ich legte meine Hände um seinen Hinterkopf und zog ihn näher an mich heran, als ich etwas hörte. Im Haus klappte eine Tür. Leander hielt inne, er hatte es ebenfalls gehört. Wir sahen uns an. Ich zog eine Augenbraue hoch.

»Leander? Willst du ein bisschen Quarkkuchen?«

Seine Oma, die mit im Haus wohnte. Wir hielten mucksmäuschenstill, klammerten uns halb ausgezogen aneinander, versuchten, nicht loszuprusten.

»Leander? Bist du oben? Ist frisch gebacken!«

Schritte klackerten. Erst unten im Korridor, dann auf der Treppe.

»Die kommt hoch.« Mit einem Satz richtete ich mich auf und zog meinen BH wieder an.

Leander grinste. »Möchtest du denn keinen Quarkkuchen, meine süße Lena?« 

»Hör auf!« Ich schlug spielerisch mit meinem T-Shirt nach ihm. »Das ist doch peinlich, wenn deine Oma hier reinplatzt. Wieso kommt die überhaupt hoch? Ich denke, die hat es mit dem Knie?«

Leander zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es auch der Ellenbogen, ich weiß nicht mehr genau.«

Er stand auf. »Wir kommen gleich runter«, rief er laut.

Zu spät.

Die Tür ging just in dem Moment auf, als ich mein T-Shirt gerade wieder angezogen hatte.

»Ach, die Lena«, sagte seine Oma bei meinem Anblick. Sie schnaufte leicht. Was musste sie auch so die Treppe hochhetzen?

»Na, da will ich euch nicht stören.« Sie lächelte entschuldigend. »Ich dachte nur, der Leander liegt wieder mal den ganzen Nachmittag im Bett rum.«

Ich wandte den Blick ab, um nicht laut loszukichern, und er blieb dabei an einem Poster hängen.

Leander und seine Band – The Gargoyles. Mit düsteren Mienen standen sie vor etwas, das wie der apokalyptische Rest einer Großstadt aussah, dabei war es nur die Industrieanlage hinten am Fluss. Das Plakat kündigte ihr erstes richtig großes Konzert in zwei Wochen an. Einer seiner Kumpel hatte das Foto geschossen, ich war auch dabei gewesen. Wenn man ganz deutlich hinsah, konnte man auf dem Bild meinen Schatten erkennen, aber natürlich stand ich nicht mit bei der Band. Leander spielte Bassgitarre und wirkte auf dem Poster dunkel und unnahbar, dabei war er das gar nicht. Das wusste ich schließlich am besten, immerhin war ich seit sieben Monaten seine Freundin.

Er war witzig und zärtlich und intelligent, er liebte seine Katze und seine kleine Schwester, er komponierte die Songs für die Band und schrieb wunderschöne Texte dazu, er war nicht eitel, obwohl er umwerfend gut aussah, wir konnten über dieselben Dinge lachen und es war seither kein Tag vergangen, an dem ich nicht vor Stolz bald geplatzt war, dass er ausgerechnet mich zur Freundin haben wollte.

»Unten ist der Kuchen, nehmt euch ruhig.« Leanders Oma riss mich aus meinen Gedanken. »Selbst gebacken schmeckt doch immer noch am besten.«

Uns blieb gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen und uns unten in der Küche gehorsam ein Stück Quarkkuchen reinzustopfen. Danach wieder hochzugehen und da weiterzumachen, wo wir aufgehört hatten, war irgendwie nicht drin. Noch weniger Lust verspürte ich allerdings auf Mathe. Leanders Handy kündigte mit einem kurzen Schnurren eine SMS an.

Er warf einen Blick darauf. »Moritz und Sarah sind vorn am Park. Mit noch ein paar anderen. Ich hab noch eine Stunde vor der Probe, wollen wir hin?«

Ich sah aus dem Fenster. Obwohl es erst Anfang April war, zeigte das Wetter sich seit ein paar Tagen von seiner besten Seite. Die Sonne strahlte und lockte alle möglichen Blumen und Knospen heraus, von denen man bislang geglaubt hatte, sie wären auf Nimmerwiedersehen verschollen. Heute in der Schule hatten ein paar Mädchen bereits Shorts und Sonnenbrillen getragen, als wären sie am Strand von Ibiza.

»Klar«, sagte ich daher. »Gehen wir vor zum Park.«

Später habe ich oft überlegt, was passiert wäre, wenn ich mit Leander an diesem Tag einfach zu Hause geblieben wäre. Man nennt das den Schmetterlingseffekt – eine winzige Kleinigkeit entscheiden und damit das ganze Leben in eine andere Spur umleiten. In eine bessere. Oder eine abenteuerlichere.

Oder, wie in meinem Fall, direkt in die Hölle.

Wir überquerten die Hauptstraße und winkten dabei Moritz und Sarah zu, die schon zusammen mit Hendrik und Gregor auf der Bank bei den Tischtennisplatten saßen. In letzter Zeit hingen Moritz und Sarah fast jeden Tag dort rum und warteten auf ein paar andere, fast, als wären sie auf der Flucht vor sich selbst. Vor ein paar Monaten waren sie unter großem Tamtam zusammen ins Dachgeschoss der offenbar sehr freizügigen Eltern von Moritz gezogen.

Mit unendlich vielen Andeutungen und albernem Gekicher hatte Sarah uns alle täglich mit der Nase darauf gestoßen, wie herrlich diese neue Zweisamkeit war und wie erwachsen, und wie bemitleidenswert wir anderen waren, die wir noch bei unseren Eltern in unseren Kleinmädchenzimmern hockten.

Mittlerweile war der Reiz des Neuen wohl verpufft, denn Sarah beschwerte sich dauernd, dass das Zimmer von Moritz ein Saustall war und sie diejenige, die dann wieder alles aufräumen musste. Wie ein altes Ehepaar, dachte ich, als wir auf sie zuliefen und ihre leicht verkniffenen Gesichter sahen. Offenbar hatte es gerade wieder gekracht. Ich drückte Leanders Hand ganz fest. Nie würden wir so enden, das schwor ich mir.

»Gregor hat sich gerade so was von zum Horst gemacht«, begrüßte uns Hendrik, der Drummer aus Leanders Band.

»Ja, danke. Erzähl es gleich allen weiter«, knurrte Gregor verdrießlich. Er hockte rauchend auf einer der großen Holzscheiben, die eigentlich zum Klettern für Kinder gedacht waren, und kassierte dafür böse Blicke von zwei Müttern mit Kinderwagen.

»Ja natürlich, das muss die Welt doch wissen. Als abschreckendes Beispiel – wie man jemanden nicht anquatschen sollte!« Hendrik kicherte.

»Was?«, fragte ich verständnislos. »Wen hat er angequatscht?«

»Nessa.« Hendrik rollte bedeutungsvoll mit den Augen.

»Ist gut jetzt, okay?«, schnappte Gregor und quetschte seine Kippe auf der runden Baumscheibe aus.

»Also, hallo! Geht's noch?«, rief eine der Mütter und schüttelte den Kopf.

Nessa. Da brauchte man gar nicht mehr zu sagen, denn jeder wusste Bescheid. Vanessa Klinger, die von allen »Nessa« genannt wurde, als wäre sie irgendein Planet oder so. Ein Planet, um den Dutzende von lechzenden männlichen Monden kreiselten und ihre Bahnen zogen. Die Mädchen waren hauptsächlich neidisch auf sie, was sie aber nicht davon abhielt, ständig ihre Nähe zu suchen, um ein bisschen von dem Glamour abzubekommen. Vater berühmter Herzchirurg, Mutter Ärztin für kosmetische Chirurgie, ein Prachthaus im Villenviertel, ein Ferienhaus an der Nordsee, perfekte Figur, samtbraune Augen und glänzende lange Haare, Schmollmündchen, nie ein lästiger Pickel, nie ein störendes Stäubchen, mit fünfzehn die Clara im Nussknacker-Ballett getanzt, mit sechzehn den Talentwettbewerb der Stadt als Violinistin gewonnen. Ach, und natürlich keinerlei Probleme mit Integralrechnung oder Chemie wie die restlichen Sterblichen von uns, weswegen sie kürzlich auf Facebook geklagt hatte, dass sie sich gar nicht entscheiden könne, an welcher Elite-Uni sie denn nun Medizin studieren solle.

»Er hat sie vorhin gefragt, ob sie mit ihm dieses Jahr nach Wacken will«, fuhr Hendrik gnadenlos fort.

»Zu den Metalfreaks.« Er klatschte sich jetzt begeistert auf die Schenkel. »Da könnte die schöne Nessa ihm ihre Haare ins Gesicht schlenkern und sein gemütliches Zelt mit ihm teilen!«

Sarah wieherte los und auch ich musste gegen meinen Willen lächeln, obwohl Gregor mir ein bisschen leidtat. Aber Vanessa in Wacken im Schlamm auf der Weide mit einer Flasche Aldibier in der Hand … 

»Hätte doch sein können«, wehrte sich Gregor. »So abwegig ist das ja nicht. Dieses jähr spielen total gute Bands. Das Ding ist fast ausverkauft!«

»Was hat sie denn gesagt?«, erkundigte sich Leander. Das interessierte mich auch, trotz Gregors gequältem Gesichtsausdruck.

»Dass sie an dem Wochenende leider nicht kann, weil da ihre Geschlechtsumwandlungs-OP stattfindet.« Hendrik prustete los. Ich fand das ziemlich heftig, Gregor war doch kein schlechter Kerl. Aber Leander lachte laut auf.

»Ja, ja, sehr witzig«, knurrte Gregor. »Können wir jetzt mal das Thema wechseln? Und abgesehen davon weiß die Tussi nicht, was sie verpasst. Metal rules, baby!« Er spuckte in den Sand, verfolgt von den argwöhnischen Blicken der beiden Mamis am anderen Ende des Spielplatzes.

»Genau«, stimmte ich Gregor zu. Wacken war immer noch cooler als Sylt oder wo immer Vanessa sich aufhalten würde. Die Sonne brannte jetzt regelrecht, ich zog meine Jacke aus und legte sie auf die Bank.

Am liebsten hätte ich mich komplett ausgezogen und in die Sonne gelegt.

»Was hast du denn da?« Sarah richtete ihre Aufmerksamkeit jetzt auf das T-Shirt von Moritz. »Ist das Kaffee?«

»Was?«, Moritz schielte nach unten.

»Der Fleck da. Mann!« Sie verdrehte genervt die Augen. »Und ich muss es dann wieder waschen!«

Ich wechselte einen verschwörerischen Blick mit Leander. Sein Mundwinkel zuckte leicht. »Ich hol mir mal ein Eis da drüben«, sagte er laut. »Auch eins?«

Das galt mir.

»Ja. Aber nicht kleckern. Ich muss es dann wieder waschen.« Ich zwinkerte ihm zu. Er grinste zurück und schwang sich elegant über das kleine Geländer, welches den Park von der Straße abgrenzte. Kurz sah er nach links und rechts und spurtete dann los, über die Straße. Ich sah ihm hinterher, bewunderte seinen typischen schlenkrigen Leander-Gang, wie er lässig und doch flink durch den Verkehr huschte.

Ein Auto hupte. Und dann knallte es laut, jemand schrie, Glas splitterte, Bremsen quietschten.

»Oh Gott!«, rief Sarah erschrocken.

Leander war weg.