Kapitel eins
„Fünf … vier … drei … zwei … eins … Frohes neues Jahr!“
Oakley Manfred erhob sein Glas Krug Grande Cuvée und stimmte mit den anderen Brotherhood-Mitgliedern und ihren Gästen ein, indem er laut „Frohes Neues Jahr!“ rief. Glitzer, Konfetti und Ballons wurden über dem Ballsaal im Chameleon Club heruntergelassen. Oakley sagte sich selbst, dass er glücklich war, während er über die festliche Begeisterung um ihn herum lächelte und einen großen Schluck seines Champagners nahm, in dem bereits ein paar Konfettischnipsel schwammen.
Erst danach drehte er sich zu dem schimmernden jungen Kerl mit glitzerndem Augen-Make-up und leuchtend pinken Lippen um, der sich an seine Seite schmiegte.
„Frohes neues Jahr, Süßer“, sagte das reizende junge Ding und strahlte ihn mit einladendem Gesichtsausdruck an.
Ellis war wirklich großartig. Er war ein aufstrebendes Laufstegmodel und im vergangenen Herbst, als Oakley irgendwie auf ihn aufmerksam geworden war, einer der begehrtesten Begleiter gewesen. Er hatte die große, schlanke, knochige Statur, die Designer so liebten, und sehr zu Oakleys Überraschung war er zudem noch wirklich intelligent.
Und Oakley fühlte nichts, als er den Mann anlächelte.
„Komm schon, gib mir einen Kuss, Liebling“, sagte Ellis, fuhr mit der Hand an Oakleys Brust hinauf und streichelte seine Wange. „Es ist ein neues Jahr. Es ist Zeit für ein neues Leben.“
„Natürlich, natürlich“, sagte Oakley und verzog leicht das Gesicht. Er schlang seinen freien Arm um Ellis’ Taille und zog ihn an sich. „Wahrscheinlich ist mir der Champagner zu Kopf gestiegen und hat mich ein wenig benebelt gemacht.“
Ellis warf ihm einen gespielt strengen Blick zu und nahm Oakley die Champagnerflöte aus der Hand. „Dann würde ich behaupten, dass du genug hattest“, sagte er und machte ein schnaubendes Geräusch. „Zu betrunken, um dich daran zu erinnern, deinen Freund um Mitternacht an Silvester zu küssen. Das bringt Unglück, weißt du?“
Oakley glaubte nicht an Glück und Unglück. Er glaubte jedoch an Sex, und er wusste, dass er, wenn er diesen noch vor Ende der Nacht haben wollte, Ellis’ Erwartungen besser erfüllen sollte.
Mit einem Lächeln, von dem er hoffte, dass es sowohl Zuneigung als auch Lust ausdrückte, zog er Ellis in eine Umarmung und küsste ihn innig. Ellis öffnete den Mund und gestattete Oakley, alles zu tun, was er wollte – was die übliche Vorgehensweise zwischen ihnen war. Ellis war nicht nur hübsch und klug, er war auch ein unfassbar guter Bottom, was der Grund dafür war, dass er nach drei Monaten nicht langweilig für Oakley geworden war.
Noch nicht langweilig geworden war.
Als der letzte Refrain von Auld Lang Syne verklang und die Mitglieder der Brotherhood in Applaus, Pfiffe und weitere „Frohes Neues Jahr“-Rufe ausbrachen, drehte Oakley sich von Ellis weg – sein Arm war noch immer mit der Taille der glitzernden Schönheit verschränkt – und suchte verzweifelt unter den anderen Klubmitgliedern nach einem Zeichen, dass er nicht der Einzige war, der sich alles andere als neu fühlte.
Er fühlte sich trotz seiner siebenunddreißig Jahre alt. Er fühlte sich, als hätte er alles getan, alles versucht und jeden Punkt seiner Liste abgehakt, die er bei seinem Uniabschluss vor all den Jahren aufgestellt hatte. Er war Partner in einem unglaublich erfolgreichen Immobilienentwicklungsunternehmen, was sein Bankkonto auf eine obszöne Größe hatte anschwellen lassen. Er hatte mehr Geld und mehr Macht, als ein Mann je haben sollte. Und das, ohne die zahlreichen Titel und Anwesen seiner Familie miteinzubeziehen. Er war ein verfluchter Earl in einer Zeit, in der solche Titel nur ausgewählten, spießigen alten Männern wichtig waren.
Er war Eigentümer mehrerer Häuser, zu denen ein Anwesen in Cumbria in der Nähe von Keswick und ein Ferienhaus am Comer See in Italien zählten. Ihm gehörte eine ganze Garage voller schneller Autos, einschließlich des Bugatti Chiron, der im Parkhaus des Klubs stand. Er hatte ein Privatflugzeug, eine Jacht, die gerade im Mittelmeer lag, und jedes hoch technologisierte Spielzeug, das sich ein Mann wünschen konnte. Ellis war der Letzte in einer Reihe gut aussehender, vollkommener, häufig berühmter Freunde, die ihn vergöttert hatten – oder zumindest die Geschenke, die er an sie verteilt hatte –, bis sie es nicht mehr getan hatten.
Aber als Oakley sich im Ballsaal umschaute und seinen jüngeren Bruder Heath in den Armen seines Verlobten Aubrey tanzen sah, während die beiden sich mit einer Liebe anlächelten, die wie die Sonne strahlte, und sich vollkommen unbewusst waren, dass die durch den Raum dröhnende Musik irgendein schneller Popsong und kein langsames Tanzlied war, fühlte Oakley sich arm.
Aubrey war im vergangenen Sommer in Heaths Leben gestolpert. Heath hatte ihn als Nanny für seine Tochter Eugenie eingestellt. Durch irgendein wirres Durcheinander aus Missverständnissen, das Oakley noch immer lächerlich fand, war Aubrey schließlich bei Heath und Eugenie eingezogen. Und er hatte ihr Leben vollkommen verändert. Oakley hatte Heath noch nie so glücklich gesehen. Er hätte nie erwartet, dass sein Bruder einen anderen Mann in der Öffentlichkeit küsste, so wie er es gerade mit Aubrey tat. Und er hätte wirklich nie gedacht, dass Heath sich in einen Rotschopf aus Cornwall verlieben würde.
„Oh, Liebling, warum machst du so ein Gesicht?“, fragte Ellis mit zu süßer Stimme und zog damit Oakleys Aufmerksamkeit wieder auf sich. Als Oakley versuchte, den Mann anzulächeln, es ihm aber nicht wirklich gelang, warf Ellis ihm einen ernsteren Blick zu und sagte: „Ich glaube, du hattest eindeutig ein paar zu viele Drinks, mein Lieber. Du setzt langsam schon diesen weinerlichen, bedrückten Gesichtsausdruck auf.“
„Welchen weinerlichen, bedrückten Gesichtsausdruck?“, fragte Oakley und wollte eigentlich lächeln, runzelte aber stattdessen die Stirn.
Ellis lachte. „Den, den du bekommst, wenn du betrunken bist und anfängst, dich wie so ein Dichter aus dem neunzehnten Jahrhundert aufzuführen, der unbedingt sein Laudanum braucht.“
„Ich führe mich nicht wie ein Dichter aus dem neunzehnten Jahrhundert auf“, widersprach Oakley.
„Genau“, sagte Ellis und verzog die Lippen zu einem zweifelnden Schmunzeln. „Ich gehe und hole unsere Mäntel. Dann können wir uns auf den Weg in meine Wohnung machen.“
Ohne darauf zu warten, dass Oakley noch etwas sagte, drehte Ellis sich um und ging davon.
Oakleys Stirnrunzeln verstärkte sich. Ihre gegenseitige Neckerei hätte ihn eigentlich anmachen sollen. Normalerweise liebte er eine solch kluge Neckerei als Vorspiel. Vielleicht hätte es mit jemand anderem funktioniert. Aber als er zuschaute, wie Ellis davonging und sein schwankender Gang ein deutliches Anzeichen war, dass er sich der Blicke von Oakley und vermutlich auch aller anderen Personen im Raum bewusst war, fühlte Oakley sich einfach nur leer.
Was tat er nur? Datete er wirklich schon wieder einen dieser glitzernden, schnuckeligen Kerle in seinen Zwanzigern? Was glaubte er, mit einem Mann wie Ellis beweisen zu können? Der Sex war großartig, aber wenn er ehrlich war, steckte nicht viel mehr dahinter.
Oakley machte erneut Heath und Aubrey in der Menge aus. Sie hatten aufgehört zu tanzen und unterhielten sich und lachten mittlerweile mit einigen von Heaths Freunden. Heath hatte den Arm um Aubreys Taille geschlungen, und Aubreys Hand lag – ganz der freche Teufel, der er war – fest auf Heaths Hintern.
Oakley seufzte so laut, dass ein Echo von der Decke widergehallt wäre, wenn es in dem Saal nicht so gedrängt und laut gewesen wäre. Vielleicht sollte er Ellis gehen lassen und sich auf einen Mann einlassen, der näher an seinem eigenen Alter war. Er kannte zahlreiche Männer zum Daten, aus der Brotherhood und von der Arbeit. Mit dem Imperium, das er sich aufgebaut hatte, konnte er wirklich aus einigen geeigneten Junggesellen wählen.
Wie zum Beweis dafür fiel sein Blick, als er dort stand und über den Missmut seiner Existenz sinnierte – und bereute, dass Ellis seinen Champagner mitgenommen hatte, als er ihre Mäntel holen gegangen war –, auf seinen alten Unifreund Jamison Croft, der allein herumgestanden hatte, aber nun auf Oakley zukam.
„Frohes neues Jahr“, begrüßte Jamison ihn, lächelte und rückte seine Brille zurecht, bevor er Oakley eine Hand entgegenstreckte. „Und viele glückliche Jahre.“
„Ebenso“, erwiderte Oakley und schüttelte seine Hand. Ihm fehlten vollkommen die Worte, doch dann platzte er heraus: „Allein hier?“
Er wollte sich selbst eine Ohrfeige verpassen, weil er eine so persönliche Frage gestellt hatte.
Jamison lächelte schuldbewusst und sagte: „Oh, du weißt doch. Ich habe immer noch nicht den Richtigen gefunden. In letzter Zeit gab es einfach niemanden, der wirklich gepasst hätte.“ Er warf Oakley einen subtil bedeutungsvollen Blick zu.
Oakley wusste ganz genau, was das bedeutete. Er kannte Jamie seit der Uni, und soweit er wusste, hatten sich Jamies Neigungen in all den Jahren nicht geändert. Er mochte zwar mittlerweile ein angesehener Professor der Psychologie sein, aber Oakley war sich halbwegs sicher, dass Jamie unter seinem Anzug als hochgradig würdeloser Prügelknabe mit Peitsche galt.
„Irgendwann findest du schon den Richtigen“, sagte Oakley, lächelte mitfühlend und tätschelte Jamies Arm.
„Dasselbe sollte ich dir sagen“, erwiderte Jamie und setzte einen anderen bedeutsamen Gesichtsausdruck auf. Er ließ seinen Blick durch den Raum zu Ellis schweifen, der sich mit dem Garderobenjungen unterhielt und möglicherweise auch mit ihm flirtete.
Oakley öffnete den Mund, um zu widersprechen, dass er und Ellis überaus glücklich waren. Doch ein Teil des unausgesprochenen Kodex der Brotherhood bestand darin, absolut ehrlich zueinander zu sein. Also seufzte er nur, rieb sich mit der Hand übers Gesicht und sagte: „Ich sollte ihn gehen lassen, nicht wahr?“
Jamie zuckte mit den Schultern. „Wenn du nicht vorhast, ihn zu behalten.“
Oakley nickte weise. „Vermutlich wäre es nicht anständig, ihn noch einmal zu vögeln, bevor ich die Sache beende“, sagte er.
Jamie lachte. „Als Kenner des menschlichen Verstandes und all seiner ethischen Grundsätze kann ich mit Sicherheit sagen, dass es ganz an ihm liegt.“
Oakley lachte schwach und drehte sich dann um, um Ellis noch ein wenig länger anzuschauen. Er fühlte sich furchtbar. Was für eine schreckliche Art, das neue Jahr zu beginnen. Er hatte sich entschieden, dass er mit Ellis Schluss machen würde, noch bevor sie zu Hause ankommen würden. Vielleicht würde eine teure Uhr ausreichen, um den Aufprall abzufedern.
„Fährst du bald in dein Haus in Cumbria?“, fragte Jamie und lenkte Oakley damit von den Schuldgefühlen ab, die an seinem Inneren nagten.
„Hmm?“, murmelte er, und zuckte dann ein wenig zusammen, als der Inhalt des Gesprächs wirklich zu ihm durchdrang. „Oh. Ja. Weißt du was? Das sollte ich wirklich tun.“
„Es geht doch nichts über eine schöne Wanderung durch die Berge, um bei Liebeskummer den Kopf freizubekommen“, sagte Jamie mitfühlend.
Oakley lachte noch weniger aufrichtig als zuvor. „Die Berge sind nicht nachtragend“, sagte er. „Wir sind alte Freunde. Ich liebe es, dort oben zu wandern. Es gibt nur mich und den Wind und manchmal den Regen. Dort wächst die Ruhe wie Blumen auf der Wiese.“
„Schön gesagt“, bemerkte Jamie.
Oakleys Lächeln wurde ironisch. Vielleicht war er doch ein Dichter. Und vielleicht würde er ein kurzes Wochenende auf Brynthwaite House einplanen. Er hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, dass eine Wanderung in den Bergen seine Seele beruhigte.
Nachdem er sich von Jamie verabschiedet hatte und Ellis mit ihren Mänteln zurückgekommen war, hatte er sich entschieden. Er würde die Sache mit Ellis auf dem Heimweg beenden, in der Nacht gut schlafen, um den Champagner und die Sorgen aus seinem Körper zu vertreiben, und am nächsten Morgen würde er anfangen, ein Wanderwochenende in Cumbria zu planen.
„Bist du bereit, Liebling?“, fragte Ellis, als er Oakley seinen Mantel reichte.
„So bereit, wie ich es nur sein kann“, sagte Oakley, seufzte und legte dann eine Hand auf Ellis’ unteren Rücken, um ihn durch den Ballsaal zu führen.
Sie waren nicht die Einzigen auf dem Weg nach draußen. Schließlich war es bereits nach Mitternacht. Sie warteten in der Eiseskälte und sprachen nicht viel miteinander, während einer der Angestellten Oakleys Auto holte. Eine gewaltige Erschöpfung setzte sich in Oakley Knochen fest, und er wusste, dass er nur noch erschöpfter sein würde, wenn er das, was er sagen musste, ausgesprochen und Ellis losgelassen hätte.
„Na, na“, sagte Ellis mit viel zu fröhlicher Stimme und riss dem Angestellten den Autoschlüssel aus der Hand, bevor Oakley ihn entgegennehmen konnte. „Du wirst nicht fahren, Oakley. Nicht heute Abend. Nicht in deinem Zustand.“
„Ich habe nicht so viel getrunken“, log Oakley. Sein Stolz ließ ihn protestieren, aber er wusste, dass Ellis damit richtiglag, ihm den Schlüssel abzunehmen.
„Und ich habe gar nichts getrunken“, sagte Ellis. „Ich bin seit achtzehn Monaten nüchtern, und ich habe vor, dass es auch so bleibt. Setz dich also ins Auto, alter Mann.“
Oakley stellte sich an, jammerte und nörgelte, aber er ließ dennoch zu, dass Ellis ihn auf den Beifahrersitz bugsierte. Als Ellis auf die andere Seite zum Fahrersitz eilte, fummelte Oakley an seinem Gurt herum. Ihm wurde klar, dass er vielleicht doch ein wenig betrunkener war, als er behauptet hatte, denn er war beim besten Willen nicht in der Lage, herauszufinden, wie er sich richtig anschnallte, da der Gurt in die entgegengesetzte Richtung verlief, wie er es gewohnt war.
Als Ellis das Auto startete, gab Oakley auf und ließ den Gurt nur locker über seinem Oberkörper liegen. Sie waren lediglich auf dem Weg nach Ealing. Es war also nicht so, als würde es wirklich eine Rolle spielen.
„Du bist schrecklich ruhig“, sagte Ellis und warf Oakley einen Seitenblick zu, als er sie auf die Park Lane und in Richtung Westway lenkte. Die Straßen waren so spät am Abend relativ ruhig, also wurde Ellis schneller.
Oakley räusperte sich und rutschte angespannt auf seinem Sitz hin und her. Er musste die Sache hinter sich bringen. Es hatte keinen Zweck, sie noch länger hinauszuzögern. Ellis würde das verstehen. Sie führten eine gute Beziehung, und Ellis war, wie schon erwähnt, klug. Er vermutete wahrscheinlich bereits, dass die Sache zwischen ihnen vorbei war.
„Ellis, wir müssen reden“, sagte Oakley.
„Oh“, sagte Ellis und zog die Silbe dabei in die Länge. „Ich habe mich schon gefragt, wann du dich dazu durchringen würdest, mich gehen zu lassen.“ Er wechselte den Gang, und der Motor schnurrte, während London an ihnen vorbeihuschte.
„Du weißt, dass die Sache zwischen uns nur in Ordnung ist“, sagte Oakley und drehte sich seufzend zur Seite. „Du verdienst etwas Besseres als ‚nur in Ordnung‘.“
Ellis nickte, und seine Miene wurde ernst. „Ich verdiene auf jeden Fall etwas Besseres als ‚in Ordnung‘“, sagte er und starrte geradeaus. „Ich hatte gehofft, mit dir etwas Besseres als ‚in Ordnung‘ zu haben. Dass du dich ein bisschen mehr anstrengst, damit sich etwas verändert.“
„Ich habe mich angestrengt“, protestierte Oakley und fühlte sich durch Ellis’ haargenaue Beobachtungen, die in ihm eine so verflucht starke Schuld auslösten, besonders verärgert.
Ellis blickte Oakley von der Seite an, als er abbog. „Komm schon, Liebling. Du bist seit einem Monat außerhalb des Betts nicht mehr präsent in dieser Beziehung.“
„Das stimmt nicht“, entgegnete Oakley, auch wenn es das tat. „Du bist mir wichtig, Ellie. Deshalb möchte ich, dass du glücklich bist. Und das wird nicht mit mir gelingen. Du verdienst jemanden –“
So weit kam Oakley, bevor die Hölle losbrach.
Es geschah stoßweise. Das Auto raste geradeaus, und dann flog es, drehte sich und kippte. Oakley hatte keine Ahnung, wo oben oder unten oder rechts oder links war. Im einen Moment war die Welt glatt und gerade und linear, und im nächsten Moment waren da nur noch Chaos und Kanten und Schmerz.
Der Schmerz war schockierend und surreal. Er schien von überall und nirgendwo gleichzeitig zu kommen. Oakley registrierte kaum, dass er sich nicht mehr im Auto befand, dass er mit Glassplittern übersät war und dass sein Kopf und sein Rücken gegen etwas geprallt waren. Er wusste nicht, wie das passiert war, aber was auch immer seinen Rücken getroffen hatte, war bei Weitem der schlimmste Aufprall gewesen. Der Schmerz war schreiend und weiß-blau und überwältigend.
Und dann war da nur noch Dunkelheit.
Dunkelheit und Kälte, durchbrochen durch plötzlich aufblitzende Erkenntnis.
„Oakley? Oakley? Sprich mit mir. Mach die Augen auf, Oakley. Bitte.“ Ellis’ flehende Stimme drang vom Ende eines, wie es sich anfühlte, langen Tunnels zu ihm. „Oakley, bitte stirb nicht.“ Ellis weinte bitterlich. „Sie sind bald hier. Der Rettungswagen wird gleich hier sein.“
Das Nächste, was Oakley wahrnahm, waren Sirenen in der Ferne. Er war sich jedoch sicher, dass eine Ewigkeit vergangen war. Im einen Moment waren da Dunkelheit und unendliches Schweben, und im nächsten Moment waren die Sirenen da.
„Sie haben alles richtig gemacht, ihn nicht zu bewegen“, drang es von einer weiblichen Stimme am anderen Ende der Dunkelheit zu ihm hindurch. „Sie sagten, er ist durch die Windschutzscheibe geflogen?“
„Er war nicht angeschnallt“, schluchzte Ellis. „Ich hätte nachschauen sollen.“
Oakley wollte Ellis sagen, dass es nicht seine Schuld gewesen war. Er hätte sich anschnallen sollen. Er hätte herausfinden müssen, wie es funktionierte. Aber die Dunkelheit nahm erneut Besitz von ihm.
Das Nächste, was er wusste, war, dass er sich bewegte. Und vermutlich schrie. Schmerz durchdrang jeden Teil seines …
Nein, es war nicht jeder Teil seines Körpers. Es waren sein Kopf und seine Arme, sein Rücken und seine Schultern. Alles, was darunter lag … war nicht da.
„Vorsichtig“, erklang es von einer männlichen Stimme, als Oakley spürte, wie er hochgehoben wurde. „Wir haben es mit einer möglichen Wirbelsäulenverletzung zu tun, vermutlich im Bereich des unteren Thorax und des oberen Lendenbereichs. Bewegt ihn nicht mehr, als ihr müsst.“
Oakleys Bewusstsein war plötzlich voll da, und er stöhnte vor Schmerzen.
„Lebt er, ist er wach?“, drang es von Heaths Stimme voller Panik von irgendwo zu ihm herüber.
Oakley blinzelte leicht und sah jede Art von blinkenden Lichtern und leuchten Blitzen um ihn herum.
„Mr Manfred?“, fragte ihn die Person mit der weiblichen Stimme vor ihm. „Mr Manfred, können Sie mich hören? Drücken Sie meine Hand, wenn Sie mich hören.“
Oakley drückte, doch seine Verwirrung war so beängstigend, dass ein Teil von ihm losweinen wollte. Er konnte sich nicht bewegen. Um ihn herum war alles steif und fest wie ein Puffer, der ihn absolut stillhalten sollte.
„Er ist wach“, sagte Heath. „Oakley, du bist wach. Gott sei Dank.“
Oakley war nicht in der Lage, den Kopf zu drehen, um seinen Bruder anzuschauen, aber Heath erschien plötzlich über ihm, lächelte zu ihm herunter, und sein Gesicht war rot und vor Anspannung verzogen.
„Wir sind in einem Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus“, erklärte er. „Halt einfach meine Hand. Sie werden sich gut um dich kümmern. Kannst du reden?“
Oakley öffnete den Mund, aber nichts kam heraus. Ehrlich gesagt, war er sich nicht sicher, ob es ihm überhaupt gelungen war, den Mund zu öffnen.
„Er muss absolut stillhalten“, sagte die Rettungssanitäterin. „Von dem, was sein Freund beschrieben hat, haben sein Rücken und möglicherweise auch sein Kopf einen starken Aufprall erlitten, als das Auto auf die Eisfläche getroffen ist. Er war nicht angeschnallt. Er hat Glück, dass er noch am Leben ist.“
Glück, noch am Leben zu sein. Diese Worte klangen in Oakleys Gedanken nach. Er atmete so tief ein, wie er konnte, und drückte das, von dem er nun wusste, dass es sich um Heaths Hand handelte, fest.
„Was ist mit seinem Rücken?“, fragte Heath. „Wie wurde er getroffen?“
„Wir sind uns nicht sicher“, sagte die Frau. „Sein Freund hat erzählt, dass alles verschwommen war. Wir werden mehr wissen, sobald wir im Krankenhaus ankommen und Untersuchungen durchführen können. Womöglich muss er operiert werden.“
Aus irgendeinem Grund gefiel Oakley der Klang davon nicht. Tief in seinem Inneren hatte er ein furchtbares Gefühl.
Panik schlich sich an den Rand seines Bewusstseins, und er versuchte, sich zu bewegen, versuchte, sich aufzurichten.
Doch nichts passierte. Jede Faser seines Körpers wollte aufstehen und vor dem, was auch immer passiert war, davonlaufen, aber er konnte sich nicht bewegen. Und das hatte mehr Gründe als nur die stabilisierenden Blöcke, die überall um ihn herum platziert worden waren. Er spürte seine Beine nicht. Er spürte gar nichts unterhalb seiner Taille. Es war so, als wäre nur die Hälfte von ihm da. Wo war also der Rest von ihm?
„Du wirst wieder in Ordnung kommen, Oak“, sagte Heath und streichelte sanft mit einer Hand über seinen Kopf. „Alles wird gut werden. Du kommst wieder in Ordnung.“
Der letzte Gedanke, der Oakley durch den Kopf ging, bevor er das Bewusstsein verlor, war, dass er sich sehr sicher war, dass er nicht wieder in Ordnung kommen würde.
Kapitel zwei
Will Shepherd ging mit Schwung in seinem Schritt und einem Lächeln auf den Lippen den Flur des Greater Kensington Hospitals entlang. Im neuen Jahr herrschte für ihn bisher überall eitel Sonnenschein. Zugegeben, das neue Jahr war erst eine Woche alt, aber bisher hatte er einen schönen Silvesterabend mit Freunden verbracht, es war ihm gelungen, Tickets für das Spiel der Ealing Eels am kommenden Wochenende zu ergattern, und er hatte tatsächlich fünfzig Pfund durch das Rubbellos gewonnen, das seine Mum ihm in seinen Weihnachtsstrumpf gesteckt hatte.
Außerdem hatte er in dem Vorstellungsgespräch für den Leiter der Therapieabteilung brilliert, das vor ein paar Tagen stattgefunden hatte. Das war die Quelle des Lächelns, das Will aufgesetzt hatte, als er beim Verlassen des Physiotherapieflügels des Krankenhauses einer der Krankenschwestern am Empfang zuwinkte und um die Ecke zu den Verwaltungsbüros abbog.
Wenn es nach Will ging, war die Position des Leiters der Therapieabteilung nur für ihn geschaffen worden. Soweit er sich zurückerinnern konnte – seit dem Unfall, nach dem sein kleiner Bruder Brandon im Rollstuhl gelandet war –, hatte Will eine Leidenschaft dafür, Menschen mit schweren Verletzungen und Traumata zu helfen. Er hatte von Anfang an nach Brandons Unfall gewusst, dass er dazu geboren war, den Leuten dabei zu helfen, dass es ihnen wieder besser ging. Für ihn war es so viel mehr als nur ein Job. Es war eine Leidenschaft, eine Berufung.
Während seines Vorstellungsgesprächs am Donnerstag hatte er seinem Chef Doktor Glover all diese Gefühle und noch mehr deutlich gemacht. Mittlerweile war es Montag, und auf seinem Weg in Glovers Büro spürte er überall die Erregung, dass all das, was er sich je erträumt hatte, ihm bald überreicht werden würde.
„Guten Morgen, Will“, begrüßte Glovers Sekretärin ihn und grinste breit. „Sie sehen heute sehr gut aus. Hatten Sie ein schönes Wochenende?“
„Ein großartiges, danke, Janice, und Sie?“, fragte Will höflich. Er war zu angespannt, um noch länger herumzustehen und mit Janice Smalltalk zu betreiben, aber er mochte die ältere Dame, also würde er höflich sein.
„Oh, Sie wissen schon“, antwortete Janice. „Ich hatte die Enkelkinder zu Besuch, was immer ein Vergnügen ist. Aber Sie wollen meine Geschichten sicher gar nicht hören.“
Will lächelte sie an und sagte: „Sie wissen, dass ich Ihre Geschichten liebe.“
Es war ein Lippenbekenntnis, da sowohl er als auch Janice durch die offene Tür gehört hatten, dass Glover von seinem Schreibtisch aufgestanden war und zur Tür kam.
„Ah, Will, Sie sind es, hervorragend“, sagte Glover und deutete dann mit der Hand in sein Büro. „Kommen Sie herein und setzen Sie sich.“
Will hüpfte förmlich in das Büro und bemerkte dabei kaum, wie Glover die Tür hinter ihm schloss. Sein Herz fühlte sich vor Erwartung, was Glover ihm mitteilen würde, leicht wie eine Feder an.
„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte Glover und nickte in Richtung des Stuhls vor seinem Schreitisch, während er um den Tisch herumging und sich dahinter setzte. Will setzte sich, und Glover fuhr fort: „Ich bin mir sicher, dass Sie ganz neugierig darauf sind, die Entscheidung der Einstellungskommission bezüglich der Position des Leiters der Therapieabteilung zu hören.“
„Das bin ich, Sir“, sagte Will und lächelte breit. „Und ich versichere Ihnen, dass ich bereit bin, jedwede Herausforderung, die Sie mir entgegenbringen werden, zu meistern.“
Glovers Lächeln war ein wenig zu angespannt, als er mit dem Stuhl näher an seinen Schreibtisch rutschte. Will gefiel es nicht, wie er die Ellbogen auf seinen Schreibtisch lehnte und ihn einen Augenblick lang anstarrte.
„Wir haben uns entschieden, eine andere Richtung einzuschlagen“, sagte Glover schließlich.
Die Worte trafen Will wie ein weißes Rauschen, sorgten für einen Kurzschluss in seinem Gehirn und ein unangenehmes, zerrissenes Gefühl in ihm. Sein Lächeln begann zu schwinden wie bei einer Art Comicfigur, die mit einer Schaufel am Kopf getroffen worden war. Endlich gelang es ihm, zu sagen: „Wie bitte?“
Glovers Gesichtsausdruck wurde mitfühlend, und er warf Will ein väterliches Lächeln zu. „Ich weiß, dass Sie diesen Job wollten“, sagte er. „Und es war eine schwere Entscheidung für das Einstellungskomitee. Sie waren wirklich einer der beiden besten Kandidaten für die Stelle. Aber letztendlich hatte das Komitee das Gefühl, dass Doktor Armitages Erfahrung und Qualifikationen besser zu den Verpflichtungen des Jobs passen. Wir hatten den Eindruck, dass Ihre wahre Stärke in Ihrer Exzellenz im Bereich des aktiven Umgangs mit Patienten liegt, die lernen, mit Rückenmarksverletzungen fertigzuwerden, und dass es eine Sünde wäre, Sie auf ein Büro zu limitieren.“
Will hörte das Kompliment in Glovers Worten. Das tat er wirklich. Aber in ihm herrschte das absolute Chaos. Es fühlte sich so an, als wäre er mit voller Kraft in die Wände seiner Erwartungen gekracht und litt nun unter der schlimmsten Sorte kognitiver Dissonanz, die er je erlebt hatte.
„Ich verstehe“, sagte er, und versuchte, nicht auf seinem Stuhl herumzuzappeln, während er dagegen ankämpfte, aufzustehen, loszurennen und die Tür hinter sich zuzuknallen.
Will wollte Glover anbrüllen, dass er ein Blödmann war und dass es eine Sünde war, ihn bei der Beförderung zu übergehen. Er wollte Glover den Mittelfinger entgegenstrecken und ihm sagen, dass das Krankenhaus nur ein Jungenklub war, in dem Freunde sich gegenseitig auf die Beine halfen, ob sie es nun verdienten oder nicht. Er wollte Glovers Schreibtisch umwerfen oder ein Loch in die Wand boxen … aber all diese Dinge waren nicht nur lächerlich, sie wären auch vollkommen unangebracht gewesen.
„Armitage ist ein guter Mann“, sagte er und nickte langsam. „Er hat Erfahrung, und Sie haben recht: Er wird die Position hervorragend ausfüllen. Er wird ein guter Chef sein.“
Manchmal war es einfach zum Kotzen, erwachsen zu sein.
Glover lächelte. „Ich bin froh, dass Sie es so sehen“, sagte er. „Und das ist für Sie in keinster Weise das Ende der Fahnenstange. Wir haben uns entschieden, Ihnen eine kleine Gehaltserhöhung zu geben, und wir hoffen, dass Sie sich erneut bewerben werden, wenn und falls weitere solcher Stellen frei werden. Sie wissen, dass es das größte Anliegen des GKH ist, eine der führenden Rehakliniken Londons, wenn nicht sogar ganz Englands zu werden. Wir hoffen wirklich sehr, Sie weiterhin in unserem Team zu wissen, wenn wir diese Mission bestreiten.“
„Vielen Dank, Sir“, sagte Will. Er fühlte sich wie ein erschlaffter Ballon, der seine Luft verloren hatte und nur noch schrumpelig auf dem Boden liegen konnte.
Eine unangenehme Stille folgte, bevor Glover sagte: „Haben Sie noch irgendwelche Fragen an mich?“
Will blinzelte ihn an. Ihm fiel nicht eine einzige Sache ein. „Nein, Sir.“
Glover lächelte. „Dann habe ich nicht vor, Sie weiterhin von Ihrer Arbeit abzuhalten. Sie sind einer unserer am besten bewerteten Therapeuten, und Sie gehören in diesen Bereich.“
Irgendwie gelang es Will, zu lächeln, als er sich erhob. „Danke, Sir.“
Er entfernte sich vom Schreibtisch und ging in Richtung der Tür des Büros. Er war sich nicht sicher, ob noch mehr ermutigenden Worten von Glover folgen würden oder sie sich endgültig verabschiedet hatten. Er war kaum in der Lage, die lächelnde und mitfühlende Janice zu bemerken, als er das Büro verließ. Es schien irgendwie ungerecht und unaufrichtig von ihr, ihn zuvor angelächelt und seine Aufregung befeuert zu haben, wenn sie gewusst haben musste, dass er enttäuscht werden würde.
Die Welt erschien seltsam zerrissen in Folge der Besprechung. Will machte sich auf den Weg in den Pausenraum. Er brauchte eine Minute, bevor er sich wieder auf der Schwesternstation meldete, um herauszufinden, welche Rotation an diesem Tag für ihn anstand. Alles, was er von diesem Tag erwartet hatte, zur Hölle, alles, was er von seinem weiteren Leben erwartet hatte, war kreischend und krachend lahmgelegt worden, und er war sich nicht ganz sicher, was er nun mit sich anfangen sollte.
Diese Frage wurde umgehend beantwortet, als er den Pausenraum erreichte und sein Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche seiner Krankenhauskleidung heraus, sah, dass Brandon ihn anrief und nahm den Anruf mit verzerrtem Gesicht entgegen.
„Und?“, fragte Brandon sofort. „Hast du den Job bekommen? Spreche ich mit dem neuen Leiter der Therapieabteilung?“
Es hatte etwas ausgesprochen und unerwartet Bitteres an sich, dem kleinen Bruder, der einen vergötterte und den Will ebenfalls verehrte, zu antworten: „Nein. Sie haben sich entschieden, eine andere Richtung einzuschlagen.“
„Sie haben was?“, schrie Brandon auf und warf all die empörten Emotionen in seine Worte, zu denen Will nicht in der Lage gewesen war. „Was zur verdammten Hölle ist mit ihnen los? Du bist bei Weitem der beste Kandidat für den Job.“
Will seufzte und rieb sich mit der freien Hand übers Gesicht, bevor er sich auf einen der unbequemen Sessel in der hinteren Ecke des Raumes beim Fenster setzte. „Offenbar haben sie das Gefühl, dass Doktor Armitage besser zu der Stelle passt“, sagte er und versuchte dabei nicht zu knurren oder zu wimmern. Den Job, den er wollte – verzweifelt, leidenschaftlich und mit jeder Faser seines Körpers –, nicht zu bekommen, war keine Entschuldigung dafür, sich wie ein verwöhntes Kleinkind zu verhalten.
„Dieser alte Knacker?“, fragte Brandon und schnaubte. „Das tut er nicht. Vermutlich steht er bereits mit einem Bein im Grab, und sie wollen ihm die gesamte Abteilung anvertrauen?“
„Armitage ist fünfundfünfzig“, sagte Will und zwang sich, des Teufels Advokaten zu spielen, obwohl er eigentlich nur in die Schimpftiraden seines Bruders einsteigen wollte. „Er hat mehr Erfahrung als ich. Und außerdem sagt Glover, dass das Einstellungskomitee das Gefühl hat, als wäre mein Talent am besten in der aktiven Pflege der Patienten aufgehoben und nicht hinter einem Schreibtisch.“
Es gab eine kurze Pause, bevor Brandon sagte: „Nun, das stimmt. Du bist spitze mit Patienten.“
Auf das widerwillige Kompliment seines Bruders hin lachte Will bitter schnaubend auf. „Ich kann gut mit Menschen umgehen“, sagte er. „Aber ich will nicht für immer in diesem Bereich feststecken. Im Leben geht es vor allem darum, sich weiterzuentwickeln, oder nicht?“
„Richtig“, stimmte Brandon ihm zu, auch wenn in seiner Stimme ein Hauch Zögern lag.
Zwei Krankenschwestern betraten den Raum, unterhielten sich fröhlich miteinander und gingen zur Kaffeemaschine, also senkte Will die Stimme und lehnte sich auf dem Sessel nach vorn, spreizte leicht die Beine und stützte die Ellbogen auf die Knie. Dann fuhr er fort: „Ich möchte nicht für den Rest meines Lebens in einer einzigen Position feststecken. Das weißt du doch. Ich bin gut in meinem Job, aber sollte ich dieses Talent nicht nutzen, um die Abteilung zu leiten?“
„Das solltest du auf jeden Fall, Kumpel“, sagte Brandon. „Und es ist eine absolute Scheiße, dass sie dir diese Gelegenheit verwehrt haben. Bist du irgendwo in der Nähe des Parkhauses? Könntest du irgendjemandem das Auto zerkratzen, um ihnen zu zeigen, dass du es ernst meinst?“
Trotz allem lachte Will laut über den Witz seines Bruders, was dafür sorgte, dass die Krankenschwestern am anderen Ende des Raumes ihm ein Lächeln zuwarfen. „Ich denke, ich kann meine Wut genug beherrschen, um nicht auf Sachbeschädigung zurückgreifen zu müssen“, sagte er.
„Gut“, sagte Brandon. „Es ist nämlich ein langer Weg von Hammersmith zum GKH, und meine Arme würden verflucht müde werden, bevor ich dort ankommen und die Kaution für dich bezahlen könnte.“
Will lachte erneut, so dankbar für seinen Bruder, dass er es kaum begreifen konnte. Nach alldem Mist, den Brandon seit seinem Unfall vor zwanzig Jahren durchlebt hatte, hatte er nie seinen Sinn für Humor oder seinen Beschützerinstinkt für Will verloren. Das Gefühl beruhte eindeutig auf Gegenseitigkeit.
Will wollte noch mehr sagen, aber Armitage selbst betrat den Pausenraum und sah so aus, als wäre er auf einer Mission. Er entdeckte Will und kam dann durch den Raum auf ihn zu.
„Ich muss auflegen, Kumpel“, sagte Will. „Der Mann höchstpersönlich hat gerade den Raum betreten.“
„Ooh“, sagte Brandon. „Lasset die Kämpfe beginnen.“
Sie verabschiedeten sich kurz voneinander. Dann stand Will auf und steckte sich das Handy wieder in die Tasche, sodass er bereit war, als Armitage ihn erreichte.
„Guten Morgen, Will“, sagte Armitage und setzte ein Lächeln auf, das zugleich freundlich, väterlich und entschuldigend war. „Ich habe gehört, dass Sie Ihren Termin mit Glover hatten.“
Will lächelte verkrampft und streckte ihm die Hand entgegen. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte er und schüttelte Armitages Hand. „Sie könnten es nicht mehr verdienen.“
„Ich war überrascht, dass sie Ihnen nicht die Stelle gegeben haben“, sagte Armitage und sah dabei noch immer ein wenig reuevoll aus. „Das ist jedoch nicht der Grund, aus dem ich nach Ihnen gesucht habe.“
„Ach ja?“ Will wollte verbittert und gekränkt bleiben, aber in Armitages Augen lag gerade genug Funkeln, um sein Interesse zu wecken.
„Ja“, sagte Armitage. „Ich habe einen neuen Patienten für Sie.“
Will blinzelte. Einen neuen Patienten zugeordnet zu bekommen, war nicht ungewöhnlich, aber etwas an der Art, wie Armitage es ihm erzählte, und dem leichten Anflug von Anspannung in seinem Gesichtsausdruck sorgte dafür, dass Will mehr erfahren wollte.
Vor allem, als Armitage subtil über seine Schulter zu den zwei Krankenschwestern blickte, die sich an den Tisch gesetzt hatten und ihren Kaffee tranken.
Armitage trat einen kaum merklichen Schritt auf Will zu, nachdem er sich ihm wieder zugewandt hatte, und sagte: „Ich bitte Sie, diesen Patienten als Gefallen für die Brotherhood zu übernehmen.“
Will riss leicht die Augen auf. „Die Brotherhood?“
Er war dort Mitglied, ja, aber er hielt sich üblicherweise am Rand auf. Er war nicht der Typ dafür, protzige Partys zu besuchen oder Klubs zu unterstützen. Er hatte die Brotherhood hervorragend gefunden, um sich beruflich zu vernetzen, und er behielt seine Mitgliedschaft, um an besonderen Abendessen und sozialen Veranstaltungen für jüngere Mitglieder im medizinischen Bereich teilzunehmen.
Er hatte nicht gewusst, dass Armitage Mitglied war. Er hatte nur vage geahnt, dass Armitage schwul war. Und er hatte definitiv nicht gewusst, dass Armitage von seiner Mitgliedschaft wusste.
„Gehen Sie ein paar Schritte mit mir, und ich werde es Ihnen erklären“, sagte Armitage und versuchte, so zu tun, als würde er Will nicht aus dem Raum scheuchen, um zu verhindern, dass die Krankenschwestern sie belauschten.
Sobald sie halb auf dem Flur waren und zurück in Richtung der Therapiestation gingen, stieg Armitage in seine Geschichte ein. „Kennen Sie Oakley Manfred überhaupt?“, fragte er.
Will zuckte mit den Schultern. „Ich kenne den Namen. Er ist ebenfalls Mitglied der Brotherhood, nicht wahr? Und irgendeine Art milliardenschwerer Immobilienmagnat?“
Armitage nickte. „Beides richtig. Und an Silvester wurde er aus seinem Auto geschleudert, als es auf eine Eisfläche traf. Er hat den Unfall überlebt, und wie durch ein Wunder erlitt er keine schweren Kopfverletzungen, nur eine Gehirnerschütterung.“
„Wow, Sie verarschen mich“, sagte Will und verfluchte sich sofort für seine Wortwahl vor dem Mann, der nun im Grunde sein Chef war.
„Nur Gott weiß, wie ihm das gelungen ist“, sagte Armitage. „Aber er hat auch ein schwerwiegendes Trauma der Wirbelsäule erlitten. Er hat einen inkompletten Querschnitt des ersten Lendenwirbels mit schwerer Stauchung. Durch eine OP wurde verhindert, dass durch Knochenfragmente schlimmere Verletzungen hervorgerufen werden.“
Will gab einen tiefen Pfiff von sich. „Also ist er nicht unbeschadet daraus hervorgegangen“, sagte er.
Armitage blickte ihn ernst an. „Er wird in absehbarer Zeit wohl nirgendwohin gehen.“
„Nicht mit einer Verletzung des ersten Lendenwirbels“, stimmte Will ihm zu. „Ich nehme an, es gibt kein Anzeichen dafür, dass die Stauchung zurückgeht, und wie ich vermute, geht auch die Lähmung unterhalb der Hüfte nicht zurück.“
„Sie nehmen richtig an“, sagte Armitage, als sie um die Ecke auf einen der Rehaflure bogen, und wurde dann langsamer. „Sie wissen so gut wie ich, dass alles passieren kann, ob in einem Tag, einem Monat oder einem Jahr. Und die Bilder zeigen, dass es sich nicht um eine vollständige Fraktur handelt und das Rückenmark nicht durchtrennt ist. Aber bisher sieht es nicht gut aus.“ Er blieb neben der Tür zu einem der größeren, komfortableren Zimmer stehen und sagte dann mit gedämpfter Stimme: „Mr Manfred nimmt es nicht besonders gut auf. Er hatte bereits zwei Physiotherapeuten, und es ist erst eine Woche vergangen.“
„Ja, aber es war auch erst eine Woche“, sagte Will.
Andererseits hatte er jeden Tag mit Wirbelsäulenverletzungen zu tun, und das seit fast zehn Jahren. Was für ihn zur alltäglichen Routine gehörte, war katastrophal lebensverändernd für Mr Manfred. Fast alle Patienten, die Will im Laufe der Jahre behandelt hatte, hatten die üblichen Trauerphasen durchlaufen, weil sie ihren alten Körper verloren und stattdessen einen bekommen hatten, der nicht auf die Art funktioniert hatte, die sie gewohnt gewesen waren.
Das bedeutete jedoch nicht, dass ihr Leben vorbei war. Brandon war dafür Beweis genug, und seine Verletzung hatte einen viel höher liegenden Teil der Wirbelsäule betroffen. Und selbst Brandon wäre der Erste, der einem vor Kurzem verunglückten Patienten sagen würde, dass es andere schlimmer getroffen hatte als sie.
„Sie wollen also, dass ich Mr Manfred als Patienten übernehme“, sagte Will. „Auch wenn er aufgrund seiner Verletzung angriffslustig und verbittert ist?“
„Sie sind der Beste, den wir haben, Will“, sagte Armitage und legte eine Hand auf Wills Arm. „Und ich denke, dass die Arbeit mit einem anderen Mitglied der Brotherhood Mr Manfred ermöglichen wird, sich für Sie zu erwärmen und mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“
„Was, weil wir beide schwul sind und er mich vielleicht süß findet?“, fragte Will, hob eine Braue, scherzte aber nur halb. Wenn er ehrlich war, fand er, dass die Andeutung etwas Kränkendes an sich hatte.
„Nein“, sagte Armitage mit leicht übertriebener Geduld. „Weil Mr Manfred die Brotherhood respektiert und in der Organisation aktiv ist. Es handelt sich dabei um etwas Bekanntes, das ihm in einer Zeit, in der sich alles in seinem Leben gegen seinen Willen verändert, Beständigkeit geben wird. Diese Verbindung zur Brotherhood könnte zu einem dringend benötigten Anker für ihn werden.“
Will fühlte sich sofort wie ein Arsch. „Natürlich“, sagte er und senkte leicht den Kopf. Es war mehr als nur ein wenig schmerzhaft, das zu sagen, aber er hob den Blick, schaute Armitage an und gab verlegen lächelnd zu: „Ich vermute, das ist der Grund, aus dem Sie Ihnen statt mir die Beförderung gegeben haben.“
Armitage erwiderte das Lächeln mit einem ehrlichen, respektvollen. „Sie sind ein guter Mann, Will“, sagte er, tätschelte Wills Arm und bedeutete ihm dann, das Zimmer zu betreten. „Ich denke, Sie werden diese Aufgabe gut meistern.“ Er griff in den Ablagekasten neben der geschlossenen Tür, nahm das sich darin befindende Tablet heraus und tippte es an, um es zum Leben zu erwecken. „Bitte sehr, und viel Glück.“
Will nahm das Tablet entgegen und betrachtete es einen Augenblick lang, während Armitage davonging. Es erschien ihm ein wenig seltsam, dass Armitage nicht mit ihm hineinging, um ihn vorzustellen, aber Will nahm an, dass es dafür einen Grund gab. Er tat einen tiefen Atemzug und gestattete sich, sich über das Vertrauen zu freuen, das Armitage ihm entgegenbrachte. Und ehrlich gesagt, wusste er, dass er ein Profi war. Er hätte jeden Patienten übernommen, wenn Armitage glaubte, dass er der Richtige dafür war. Er hatte lediglich einen schlechten Tag, nachdem sich alles, von dem er geglaubt hatte, dass es zu seinem Leben gehören würde, vor seinen Augen aufgelöst hatte.
Will klopfte an die offene Zimmertür und sagte: „Guten Morgen.“ Dann trat er ein. „Und wie geht es Ihnen heute, Mr Manfred?“
Ihm zeigte sich der Anblick eines angeschlagenen, lädierten und bandagierten Mannes, der laut seiner Akte siebenunddreißig war, im Bett lag und den Blick bewusst vom offenen Fenster abwandte. Anders als auf anderen Notfall- oder Traumastationen war Mr Manfred nicht umgeben von piepsenden Maschinen oder Infusionsständern, was ein Zeichen dafür war, dass seine Genesung gut voranschritt.
Ein weiterer Mann, der Mr Manfred sehr ähnlich sah, jedoch eine betrübte, angespannte Miene aufgesetzt hatte, blickte aus dem Fenster. Will spürte sofort, dass der Mann Mr Manfreds Bruder sein musste und dass sie sich gestritten hatten.
Diese Vermutung schien sich zu bestätigen, als Mr Manfred Will den Kopf zudrehte, ihn finster anblickte und sagte: „Verfluchter Mist, noch einer. Können Sie mich nicht ausnahmsweise mal alle in Ruhe lassen? Ich habe es satt. Verschwinden Sie einfach.“
Will spannte den Kiefer an und erwiderte Mr Manfreds finsteren Blick. Es waren der falsche Tag und die falsche Zeit für einen Patienten, ihn so anzufahren.
„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen“, platzte er heraus.
„Nun, Sie können Sie gleich dahin verpissen, wo Sie hergekommen sind“, grummelte Mr Manfred.
Großartig, dachte Will und runzelte die Stirn. Armitage hatte es also doch auf ihn abgesehen. Denn ein Patient wie Oakley Manfred war das Letzte, was er zu alldem anderen noch gebrauchen konnte.