Kapitel 1
Ein Finger, der sich in mein Brustbein bohrt und dort einen stechenden Schmerz hinterlässt, reißt mich aus meinen Gedanken.
»Aua!«
Der Vorgang wiederholt sich, doch dieses Mal traue ich mich nicht, meinem Leid noch einmal Ausdruck zu verleihen. Denn der Blick meiner besten Freundin ist ganz schön böse.
»Hörst du mir überhaupt zu? Oder denkst du nur an Arthurs perfekten Arsch? Im Ernst, Phil, es ist verdammt schwer, einen Termin in dieser Klinik zu bekommen. Aber weißt du, was noch schwerer ist? Eine Begleitperson mitbringen zu dürfen.«
Betreten sehe ich erst zu Emma und dann auf die Picknickdecke, auf der wir sitzen. »Entschuldigung.«
Sie seufzt. »Weißt du überhaupt, wovon ich die ganze Zeit geredet habe?«
Endlich kann ich auftrumpfen, auch wenn der ein oder andere Gedanke tatsächlich zu Arthurs Hintern abgeschweift ist. »Deinen Möpsen.« Ein Lächeln schleicht sich wieder auf ihre Lippen und ich greife nach ihrer Hand. »Ich weiß, wie wichtig dir die Operation ist. Und auch wenn mir nicht ganz klar ist, wie ich als schwuler Mann da meine Expertise beisteuern kann, bin ich bei dir. Gedanklich, physisch, emotional.«
Deutlich kann ich die Rührung in ihrem Gesicht sehen und spüre, wie sie den Druck auf meine Hand erwidert.
Emma ist trans. Sie hat zum Glück ein unterstützendes Umfeld um sich gehabt, weshalb sie seit der zweiten Klasse als Mädchen lebt und ihre Eltern alles dafür getan hatten, ihr eine männliche Pubertät zu ersparen. Aber die anderen Kinder haben das damals nicht so wirklich verstanden.
Mir war es immer gleich. Für mich war sie von Anfang an Emma und ich habe sie von der ersten Sekunde an geliebt wie eine Schwester. Alles, was ich immer wollte, war, sie dabei zu unterstützen, um all ihre Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Dazu gehörte damals auch, ihr bei allen Schlachten beizustehen, die sie auszufechten hatte. Oft habe ich sie dafür bewundert, wie stark sie unseren Mitschülern entgegengetreten ist. Sie hatte schon immer ein sehr provokantes, aufbrausendes Wesen. Aber ich war immer bei ihr und habe sie für all ihren Mut bewundert. Bei ihrem Vortrag vor der ganzen Klasse, dass sie ein Mädchen ist und jeden, der sie bei ihrem alten Namen nennen würde, kopfüber ins Klo stecken wird. Oder bei meinem Outing mit fünfzehn, bei dem sie wie ein Pitbull an meiner Seite geklebt hat, um jeden daran zu erinnern, was ihm blüht, wenn man mich dumm anmacht.
Sie ist rabiat, aber effektiv. Denn im Großen und Ganzen hatte ich dank ihr nie Probleme in meinem Umfeld. Na ja, wenn man von Herzschmerz und Verliebt-in-den-Falschen-Szenarien mal absieht. Aber auch dann war Emma immer sofort mit einer großen Packung Eis und den besten Umarmungen der Welt zur Stelle. Und dann war ich im Gegenzug wieder bei ihr, wenn ihre Maske aus Selbstbewusstsein und Mut abgefallen ist. Denn die Worte der anderen prallten nie ganz ohne Folgen an ihr ab.
Jetzt kann ich endlich mal für sie da sein, denn nach langem Überlegen hat sie sich dafür entschieden, sich einer Brust-OP zu unterziehen. Und so hartnäckig wie sie ist, hat sie dafür gesorgt, mich als ihren Beistand mitbringen zu dürfen. Direkt bis in den Aufwachraum. Völlig unabhängig von den Besuchszeiten. Nur im OP bin ich nicht mit dabei.
»Du musst mir noch mal bestätigen, dass ich die richtige Wahl getroffen habe, wie viel gemacht werden muss. Und vor allem musst du bei mir sein, wenn ich aufwache, weil ich dann wieder alles zerdenke. Hätte ich vielleicht lieber mehr machen lassen sollen? Habe ich genug Geduld, um auf das große Reveal zu warten? Du kennst mich doch. Deshalb musst du mich ablenken.« Sie verdreht theatralisch die Augen und bringt mich mit ihrer Aussage zum Lachen. Genau das ist der Grund, warum sie diese Operation so lange hinausgezögert hat. Sie wollte sich absolut sicher sein, über alle Möglichkeiten recherchiert zu haben und die besten Ärzte zu kennen. Und sich die guten Stücke selbst leisten zu können.
Nächste Woche geht der Trip ans andere Ende Deutschlands los und bis dahin müssen wir sehr viel vorarbeiten. Emma und ich sind beide selbstständig und da wir nicht wissen, wie viel Zeit und Fürsorge sie brauchen wird, haben wir alle Termine und Treffen verschoben, um ohne Ablenkung etwas schaffen zu können.
Das ist auch der Grund, weshalb wir uns heute in den Park gesetzt haben, obwohl es Februar und entsprechend kalt ist – die Sonne scheint und die wollen wir genießen, bevor wir uns komplett einigeln.
Ein Seufzen entkommt meinen Lippen, denn leider bedeutet das alles auch, dass ich Arthur heute zum letzten Mal für die nächsten zwei Wochen gesehen habe.
»Das Seufzen sagt mir, dass du schon wieder bei Arthur bist.«
Niedergeschlagen lasse ich mich nach hinten auf die Decke fallen. »Ich werde ihn echt vermissen. Aber weißt du, was das Beschissenste an der ganzen Sache ist?«
»Dass er es vermutlich nur schade findet, niemanden zu haben, den er so leicht flachlegen kann?«
Verdammt. Emma kennt mich und meine Situation nicht nur viel zu gut, sie spricht die Dinge auch sehr unverblümt aus. Und die Wahrheit zu hören, tut weh.
Ich bin nur Sex für ihn. Schnell zugänglich. Einfach zu haben.
Meine beste Freundin scheint zu bemerken, dass sie den Nagel ein bisschen zu genau auf den Kopf getroffen hat, denn sie legt sich neben mich und schmiegt sich in meine Arme. Sie ist so zierlich. Immer wenn ich sie so wie jetzt im Arm halte, fällt mir auf, wie schlank und feingliedrig ihr Körper ist. In einem anderen Leben hätte sie sicherlich eine ganz wunderbare Balletttänzerin abgegeben. In diesem Leben ist sie dafür zu ungeschickt.
Meine Hand verirrt sich in ihre silberblonden Haare, streicht leicht durch die langen Strähnen. Wenn wir so zusammenliegen und ich darüber nachdenke, wie Passanten uns sehen, wird mir immer ein bisschen warm ums Herz. Sie sehen uns innig beieinander, vertraut, lediglich zwei Menschen, die glücklich wirken. Was sie nicht erkennen, ist all der Ballast, der unsichtbar über uns schwebt und uns an manchen Tagen fast zu erdrücken scheint.
Denn weit ab von diesem Bild des perfekten Paares auf einer Picknickdecke, sind wir Menschen, die anders sind. Menschen, die auch immer anders behandelt wurden. Wir beide haben uns ein Universum erschaffen, in dem wir die Normalen sind und wo nur zählt, dass wir glücklich sind. Aber leider halten sich eben nicht alle anderen an die Regeln, die wir mit neun festgelegt haben.
Es gibt langwierige Gerichtsverfahren, die es Emma erschweren, ihr Leben selbstbestimmt als Frau zu führen, was schon bei der Änderung im Personalausweis anfängt. Und es gibt Leute wie Arthur, die der Meinung sind, dass es eine Schande sei, sich heteronormativen Beziehungsmustern zu unterwerfen, wenn wir doch schwul sind. Das bedeutet in diesem speziellen Fall, dass er an Sex glaubt und nicht an Liebe oder Beziehungen.
»Ich bin selbst schuld. Eigentlich hätte ich ihn schon nach drei Wochen aus meinem Leben kehren müssen. Aber da dachte ich noch, es könnte peinlich werden, wenn wir uns im Hausflur über den Weg laufen. Stell dir das mal am Briefkasten vor. Oder das eisige Schweigen im Keller, wenn man die Weihnachtsdeko hochholt.«
Emma lacht und ich spüre ihren warmen Atem an meiner Halsbeuge. »Tja, und dann warst du auch schon Hals über Kopf in ihn verliebt.«
Ich ziehe meine Hand zurück und rücke demonstrativ ein Stück von ihr weg. »Mach dich nicht über mich lustig. Ich bin Krebs, wir verlieben uns eben schnell.«
»Und noch dazu schreibst du diese kitschigen Geschichten, in denen du deine absolut unmögliche Vorstellung von Liebe richtig ausleben kannst. Ich glaube, dadurch hast du es doppelt so schwer, denn kein Mann kann diesen Vorstellungen im wahren Leben gerecht werden.«
Vielleicht hat sie damit gar nicht mal so unrecht. Als Autor von queeren Liebesgeschichten neige ich dazu, meinen schusseligen Protagonisten gern den perfekten Prinzen anzudichten. Und eventuell fließen dabei einige Wunschvorstellungen mit ein.
Ich drehe mich auf die Seite, um Emma direkt ansehen zu können. »Aber sieh es mal so, in der Theorie braucht man nur meine Bücher zu lesen, um zu erahnen, welches Beziehungsmodell ich anstrebe und was ich romantisch finde.«
»Du wünschst dir also jemanden, der auf einem Pegasus angeflogen kommt?« Schon im nächsten Moment bricht sie in schallendes Lachen aus.
Sie ist echt unfassbar fies. Da habe ich ein einziges Mal einen kleinen Ausflug in Richtung Fantasy gemacht …
»Ich lasse dich nie wieder etwas von mir lesen.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Dann sind die Dinger aber voller Fehler. Finde mal eine gute Germanistik-Fee, die sich seitenweise Kitsch und sexy Times durchliest.«
Deutlich spüre ich, wie mein Kopf heiß wird. Das ist mir nämlich echt peinlich. Ich schreibe gern Sexszenen und die kommen bei den Lesenden gut an. Zumindest werden sie in Rezensionen und Privatnachrichten, die ich auf Social Media empfange, immer gelobt. Das ist nämlich die gute Seite an meinem Arrangement mit Arthur, denn wir haben jede Menge Sex, was auch jede Menge Inspiration für diese Szenen bedeutet. Allerdings ist es mir echt unangenehm, dass meine beste Freundin das Lektorat für mich übernimmt, denn sie schreibt mir dann jedes Mal ziemlich obszöne oder teilweise kindische Kommentare neben diese Szenen, von denen Haha sein großer, breiter Penis noch das Netteste war.
»Aber«, sagt sie und reißt mich damit wieder aus meinen Gedanken, »hast du mal überlegt, dass Arthur das auch lesen könnte? Und durch das ganze kitschige Geschwafel mitbekommen könnte, dass du verdammt verknallt in ihn bist? Neun von zehn deiner Protagonisten bekommen von dir sehr ähnliche Attribute zugeschrieben, wie sie Arthur hat.«
»Arthur weiß nicht, was ich beruflich mache. Er interessiert sich vermutlich nicht genug für mich als Person, als dass er mich auf Instagram suchen würde.«
Als ich das Mitleid in Emmas Augen sehe, wird mir bewusst, wie traurig das eigentlich ist.
»Ich finde, nachdem wir die Angelegenheit mit meinen Möpsen erledigt haben, solltest du mal wieder jemanden daten. Vielleicht mal über eine dieser Apps.«
Ich lache bitter auf. »Weil die dort alle andere Absichten haben als Arthur? Bei Grindr schreiben sich die Liebesgeschichten ja praktisch von selbst.« Demonstrativ schüttle ich bei der Vorstellung noch einmal den Kopf, denn meine Zeit mit diesen Dating-Apps ist vorbei. »Außerdem stellst du dir das viel zu unkompliziert vor. Matchen, Kontakt herstellen, irgendwie kommunizieren, Treffen vereinbaren. Von den vielen nicht angefragten Dickpics fangen wir lieber gar nicht erst an. Das kostet alles Zeit und Nerven.«
***
Am Absatz der Treppe angekommen, sehe ich Arthur mal wieder halb nackt in seiner Tür stehen. Er lässt den Zettel, den ihm ein fremder Typ entgegenstreckt, in der Tasche seiner viel zu engen Jeans verschwinden.
»Gut, ich bin auch negativ. Dann können wir ja ein bisschen Spaß haben«, sagt Arthur zu dem Kerl in diesem raunenden Tonfall, den er sonst bei mir verwendet.
Ich erlebe hautnah mit, wie unkompliziert Sexdates doch sein können. Toll.
Der fremde Kerl geht in die Wohnung, während ich dieses Schauspiel gebannt verfolge.
Arthur bemerkt mich dabei leider. Mit einem Lächeln zuckt er mit den Schultern. »Ist ein Grindr-Date. Du hast ja gesagt, dass du nächste Woche keine Zeit für mich hast. Er ist ganz süß und war bereit, sich vorher testen zu lassen. Dann kann ich ihn in nächster Zeit vielleicht öfter sehen.«
Noch einmal zuckt er mit den Schultern, dann dreht er sich um und geht in seine Wohnung, während ich so verdammt durch den Wind bin, dass ich versuche, mit zitternden Händen und dem Briefkastenschlüssel meine Wohnungstür zu öffnen.
Es tut weh und ich fühle mich gerade, als wäre ich wie ein abgelegtes Spielzeug einfach zur Seite geschoben worden, weil unter dem Weihnachtsbaum etwas Neues lag. Diese blöden Gefühle für ihn kann ich leider nicht wegzaubern, auch wenn er von Anfang an klargestellt hat, wie es zwischen uns laufen wird. Aber nach all der Zeit habe ich wohl wirklich geglaubt, ich wäre auf irgendeine Art besonders für ihn.
Dieser verfluchte Scheißkerl!
Am Morgen habe ich noch in seinen Armen gelegen. Und nur weil ich ihm für die nächste Zeit abgesagt habe, muss er sich am selben Tag ein neues Spielzeug per App bestellen?
Kapitel 2
Wie wild haue ich in die Tasten und bemerke den eingehenden FaceTime-Anruf nur, weil das Symbol der App immer wieder auf meinem Bildschirm aufhüpft.
Ich zögere kurz, denn der Anrufer ist Sascha, mein Bruder. Er wird mich ansehen und wissen, dass etwas nicht stimmt. Lässt sich bei einem Videocall leider nicht vermeiden.
In dem Versuch, noch etwas zu verschleiern, lösche ich die Lampe auf meinem Schreibtisch und zwinge mich zu einem Lächeln, bevor ich den Anruf annehme.
Mein Bruder reagiert anders, als ich erwartet habe, denn ihm fällt das Lächeln direkt aus den Mundwinkeln. »Ach du Scheiße, Philip! Was ist mit deinem Gesicht passiert? Bist du jetzt in der Botox-Phase angekommen?«
Ehrlich gesagt, hatte ich Sorge erwartet. Es muss also schlimmer sein, als ich gedacht habe. Ein Blick auf den kleinen Bildschirm, wo ich mich selbst erkennen kann, macht mir ziemlich deutlich, was ihn so aufregt: Mit dem vom grellen Bildschirm beleuchteten Gesicht und dem festgetackerten Grinsen sehe ich aus, als würde ich direkt aus dem Geisterhaus kommen.
Schnell schalte ich die Lampe wieder an, denn der Lichtschein, den mein Monitor absondert, ist alles andere als schmeichelhaft. »Mit meinem Gesicht ist alles in Ordnung, danke der liebevollen Nachfrage. Mal abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass jemand in meinem Alter mit Botox anfängt.«
Wobei … ich wurde direkt am selben Tag, an dem ich noch Sex mit meinem Nachbarn hatte, durch einen anderen Kerl ausgetauscht, nur weil ich nicht für das zweite Mal an diesem Tag verfügbar war. Vielleicht sollte ich also doch über Botox nachdenken. Denn was ist, wenn es nicht ausschließlich an der Verfügbarkeit lag, sondern wirklich an meinem Gesicht? Die Reaktion meines Bruders hat gerade ein bisschen an mir gekratzt.
Ich konzentriere mich lieber wieder auf Sascha und erkenne ein gemütliches Feuer, das im Hintergrund in seinem Kamin brennt.
Mein Bruder sieht mich ernst an. »Was ist los? Dein Gesicht ist ein einziges Seufzen.«
»Das ist sehr gut. Denn ich schreibe gerade etwas, was den Arbeitstitel Scherbenhaufen trägt. Spoiler-Alert: Es geht um ein gebrochenes Herz. Und genau diese Attitüde brauche ich dafür.«
Nun ist es mein Bruder, der hörbar seufzt und nicht nur so aussieht. »Arthur mal wieder.«
Was genau halte ich eigentlich davon, dass mein gesamtes Umfeld darüber Bescheid weiß? Mein gesamtes Umfeld mit Ausnahme des Kerls, mit dessen Körperflüssigkeiten ich regelmäßig Kontakt habe?
Ich winke ab. »Lass uns nicht darüber reden. Da du anrufst, bist du scheinbar noch nicht von einem Bären gefressen worden.«
Sascha lacht. »Nein, ganz offensichtlich nicht. Ich habe auch noch keinen einzigen gesehen, falls dich das beruhigt.«
Mein Bruder ist nur ein Jahr älter als ich, aber er ist das komplette Gegenteil von mir. Während das Spannendste in meinem Leben die Tatsache ist, dass ich regelmäßig auf Scheißkerle reinfalle und mir von ihnen jahrelang das Herz brechen lasse, ist Sascha ständig unterwegs. Momentan hängt er wegen starken Schneefalls irgendwo in Norwegen fest. Und mit irgendwo meine ich eine Hütte mitten im Wald. Was mich beeindruckt, ist seine stabile Internetverbindung, aber die hatte er auch auf dem Machu Picchu. Sascha ist Fotograf. Und zwar leider nicht von süßen Hundewelpen, sondern von eindrucksvoller Natur und unglaublichen Orten. Dafür steigt er auf Berge, springt über Vulkanen aus dem Flugzeug oder pirscht sich in der Serengeti an ein Hyänenrudel an. Dieses Mal ging es um Orca-Kolonien, aber bis dahin ist er nicht gekommen und hängt jetzt fest.
Ich brauche eigentlich nicht zu erwähnen, dass unsere Eltern über meinen Berufswunsch Autor zu werden, wesentlich begeisterter waren, nachdem sie Sascha schon dank einer Drohne live in einem Kanu über einen Wasserfall haben fallen sehen. Schreiben ist dagegen ein regelrecht sicherer Job, wenn man mal von den Einnahmen absieht.
»Weißt du schon, wann du nach Hause kommst?«
»Nein. Ich kriege momentan nicht mal die Tür auf, so hoch liegt der Schnee. Ich muss aus dem Fenster steigen. Stell dir das mal vor!« Er lacht auf und wirkt dabei so glücklich und voller Leben. »Aber ich nutze die Zeit, mache lange Wanderungen und versuche, so viel von dieser wunderschönen, rauen Natur einzufangen wie möglich. Gestern habe ich einen wilden Fluss gefunden; die Aufnahmen sind wirklich unglaublich geworden. Die Wetterlage ist so weit im Norden schwer einzuschätzen. Wenn es weiter so schneit, werde ich eine Weile lang nicht abreisen können. Bis dahin möchte ich genug Material in Reserve haben.«
Ich nicke. Denn auch wenn mir der Gedanke, wie mein Bruder mit seinem gesamten Kamera-Equipment und der Drohne stundenlang durch meterhohen Schnee wandert, missfällt, liebe ich doch die Leidenschaft, mit der er dabei ist.
Eine Idee macht sich in meinem Kopf breit. »Mit den Fotos könntest du vielleicht einen Kalender erstellen und ihn verkaufen. Und ein paar Poster. Damit kommst du sicher eine Weile über die Runden. Na ja, ich könnte auch mal wieder neue Bilder an der Wand gebrauchen.«
Mein Bruder lächelt mich an. Mit diesem Lächeln ziehen sich nicht nur automatisch auch meine Mundwinkel mit nach oben, ich werde auch gleich von einer Welle Sehnsucht überrollt. Ich vermisse Sascha. Bei jeder seiner Reisen. Natürlich bin ich wahnsinnig stolz auf ihn und seine Projekte, aber er fehlt mir sehr. Seine Umarmungen sind die besten. Die haben schon immer jeden Kummer geheilt.
»Dir würde es hier sicher auch gefallen. Es ist schön ruhig und einsam. Die Hütte hat eine kleine Scheune, da könnten wir dir einen Schreibraum einrichten. Niemand würde dich stören und niemand würde dir das Herz brechen.«
Entschieden schüttle ich den Kopf. »Und niemand würde mich inspirieren. Außerdem vergisst du etwas ganz Entscheidendes: Wo bekomme ich in dieser Hütte meine Pizza her?«
»Ach, verdammt. Deinen süßen Lieferanten gäbe es in dieser Einöde vermutlich auch nicht.«
Theatralisch verdrehe ich die Augen. Sascha war einmal hier gewesen, als ich meine samstägliche Pizza bestellt habe, und unterstellt dem Pizzaboten seitdem, er würde auf mich stehen. Aber mal abgesehen davon, dass sein Radar auf dieser Ebene absolut falsch eingestellt ist, ist es auch großer Humbug.
»Meinst du nicht, er hätte mal was gesagt, wenn er wirklich auf mich stehen würde?«
Sascha legt den Kopf leicht zur Seite. »Möglicherweise traut er sich nicht, weil er nicht weiß, ob du schwul bist.«
»Die Gay-Pride-Flagge hängt im Flur direkt gegenüber von der Tür«, sage ich und kann es leider nicht verhindern, dabei sehr schnippisch zu klingen.
Mein Bruder lacht. »Stimmt, du versteckst dich nicht gerade.«
Da kann ich ihm nur voller Stolz zustimmen. »Na ja, aber sobald es um das Thema Beziehungen geht, bin ich offensichtlich der Schwan im Teich der Regenbogen-Enten.«
Ganz deutlich sehe ich, wie sich mein Bruder auf die Unterlippe beißt, wahrscheinlich um sich einen Kommentar über diesen Vergleich zu verkneifen, dann lächelt er mich wieder nur an. »Es wird auch einen anderen Schwan geben. Aber vielleicht musst du dich endlich von dem Gedanken lösen, dass dieser unbedingt Arthur heißen muss.«
Mit einem Seufzen stütze ich den Kopf auf meine Hand, weil er mir auf einmal viel zu schwer erscheint. Da ist sie wieder, die melancholische Stimmung, mit der ich dieses schlimme Herzschmerz-Buch schreiben werde.
»Was gibt es sonst noch so bei dir?«, fragt Sascha, der mich wieder einmal so gut kennt, dass er allein durch diese kleine Geste deutlich sieht, dass ich noch nicht so weit bin und nicht über dieses leidige Thema reden kann.
Ein bisschen richte ich mich wieder auf. »Also die Schreiberei läuft gut. Ein Buch ist gerade im Lektorat. Dank meiner momentanen Situation schreibt sich das nächste wie von selbst. Und in zwei Tagen fahre ich mit Emma nach Bayern, weil sie sich die Brüste machen lässt.«
Nun bin ich es, der beobachten kann, dass meinem Bruder fast die Augen aus dem Kopf fallen.
»Sie … oh, wie schön. Dann richte ich Glück- und Genesungswünsche aus.«
Schon seit mehreren Jahren vermute ich, dass mein Bruder auf Emma steht. Oft hatte ich das Gefühl, sie flirten, besonders, da die beiden wahnsinnig viele Insider haben. Und dann ist da auch noch diese Art, wie Sascha möglichst beiläufig fragt, wie es Emma gerade geht und ob sie jemanden datet. Aber vielleicht schreckt sie ihn mit ihrer passiv-aggressiven Art ab. Beziehungsweise wirkt sie absolut nicht wie jemand, der unbedingt eine Partnerschaft im Leben braucht. Emma braucht nur sich selbst – und Schokolade. Auch ich bin nur eine Nebenfigur. Das kann beängstigend sein.
»Du, sag mal«, beginne ich vorsichtig, um nicht mit der ganzen Tür ins Haus zu fallen. »Ich habe da seit Jahren so eine Vermutung und frage jetzt einfach mal nach: Kann es sein, dass du Emma magst?«
Sascha verdreht die Augen. »Natürlich mag ich sie. Dank dir habe ich sie doch auch mein halbes Leben um mich gehabt.«
»Das meine ich nicht. Eher so auf eine Junge-liebt-Mädchen-Art.«
Wieder entgleiten seine Gesichtszüge. Aber schon im nächsten Moment fährt er die Schutzschilde hoch. »Ich glaube, du verlierst dich ein bisschen zu sehr in deinen Liebesgeschichten.«
Einen Moment lang bin ich geneigt, weiter in meiner Vermutung rumzustochern, bis er mir Antworten gibt. Dann fällt mir wieder ein, wie sensibel er seit drei Jahren mit mir zusammen um das Thema Arthur herumtanzt.
Ein wenig niedergeschlagen nicke ich. »Ist gut. Aber wenn du da mal Redebedarf haben solltest, dann bin ich für dich da. Sie ist zwar meine beste Freundin, aber du bist mein Bruder. Von mir würde sie kein Wort erfahren.«
Er seufzt so laut und so schwer, als würde er das für die ganze Welt übernehmen. Wenn er mir von allem, was gerade in ihm vorzugehen scheint, etwas abgeben würde, hätte ich wirklich jede Menge Stoff, über den ich schreiben könnte. Und erst jetzt wird mir so richtig bewusst, dass mein Bruder da irgendwo in Norwegen hockt und ganz allein ist. Egal, wie gern ich wissen will, ob meine Vermutungen bezüglich Emma stimmen oder nicht, darum sollte es gerade nicht gehen. Denn sicherlich ist er in seiner Hütte manchmal sehr einsam.
»Sag mal, wollen wir den Abend über FaceTime zusammen verbringen, gemeinsam essen und vielleicht einen Film gucken?«, frage ich direkt. Ich mag es, allein zu sein, habe aber jederzeit die Möglichkeit auf reale Kontakte, wenn mir danach ist. Auf Arthur, auf Emma oder andere Freunde. Bei Sascha allerdings hat sich nicht mal ein Bär blicken lassen. Mir ist klar, dass das ein Teil seines Jobs ist. Er ist oft an entlegenen Orten, wandert durch Wüsten und Schneelandschaften, aber er hatte bislang immer die Aussicht auf das Ende eines seiner Projekte, und damit die Chance, wieder nach Hause zu kommen. Zu seiner Familie und seinen Freunden.
Gerade hat er nur diese Hütte im Wald.
Doch er sieht mich skeptisch an. »Wolltest du nicht noch ein Buch schreiben oder so? Eins, wo du jede Menge Seufzer und Herzschmerz brauchst?«
Ein Lachen entkommt meinem Mund. »Das kann ich auch morgen noch machen. Denn weißt du, bei Arthur gehen jeden Tag drei Grindr-Dates ein und aus. Mir tut also genug das Herz weh, um dieses Lebensgefühl noch eine Weile aufrechtzuerhalten. Aber vielleicht würde ich gern ein bisschen Zeit mit dir verbringen.« Tief hole ich noch einmal Luft, denn er soll nicht denken, ich will nur aus Mitgefühl mit ihm den Abend verbringen. »Ich habe Angst, dass du dich allein fühlst.«
Kurz sieht er mich einfach nur an, dann schleicht sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen. Es ist dieses typische Großer-Bruder-Lächeln, was mir irgendwie zeigt, dass er stolz auf mich ist. Auch wenn ich nicht genau weiß, wofür.
»Das ist lieb von dir, Phil. Ich gucke gern mit dir zusammen einen Film. Aber mach dir nicht zu viele Sorgen, ja? Ich stürze mich gerade in Arbeit und habe praktisch ein kreatives Hoch. Vielleicht tut mir ein bisschen Einsamkeit mal ganz gut. Du kennst das ja.«
Mit einem Nicken stimme ich ihm zu. Denn ich hätte theoretisch auch weiterhin mit Emma und ihrer Schwester in einer WG wohnen können, so wie während unseres Studiums, aber ich wollte unbedingt allein leben. Für mich. Und für meine Arbeit. Manchmal brauche ich die Möglichkeit, nächtelang durchzuschreiben, in Worten zu versinken und mich an ihnen zu nähren, ohne dass sich jemand sorgt. Dann brennt dieses kreative Feuer am besten, wenn es in mir drin ein bisschen schmerzt. Gefühle, die man selbst fühlt, kann man so am glaubwürdigsten vermitteln. Da kann es wirklich helfen, ein wenig zu vermissen, zu sehnen, zu hoffen, während ich mich von einer neuen Geschichte verschlingen lasse.
Noch bevor ich auf die Aussage meines Bruders eingehen kann, klingelt es an der Tür. »Meine Pizza!«
Ich springe vom Stuhl auf und renne die Treppe nach unten in den Flur, stolpere dabei vor lauter Aufregung fast über eine Teppichfalte.
Jeden Samstagabend gibt es eine Familienpizza. Nur für mich allein. Da kann mir sogar Arthur gestohlen bleiben.
Schnell schaue ich noch einmal in den Spiegel und öffne aufgeregt die Tür.
Wie jedes Mal steht der gleiche Typ davor. Er ist einer dieser Menschen, deren Lächeln auch ihre Augen erreicht. Und die sind so hellbraun, dass sie fast golden schimmern, und denen sieht man sehr deutlich das Lächeln auf seinen Lippen an. Heute ist aber etwas an seiner Kleidung anders. Einen Moment lang lenken mich seine nackten Oberarme, deren Bizepse die kurzen Ärmel seines Oberteils herausfordern, von der eigentlichen Sache ab.
Pizza annehmen, lieb Danke sagen, mich ins Koma fressen.
Der Typ räuspert sich. »Hey! Na, was gibt es diese Woche für einen Film dazu?«
Ich habe ihm mal von meinem Ritual erzählt: Pizza futtern und Trashfilme gucken. Seitdem fragt er ab und zu nach meiner Filmauswahl, während er das Essen aus der Warmhaltebox herausnimmt.
Auch jetzt stellt er, direkt nach seiner Frage nach dem Film, die Box zwischen uns ab und bückt sich, um den Deckel zu öffnen.
»Weiß noch nicht. Mein Bruder und ich wollen heute digital etwas zusammen gucken. Den kann ich leider nicht für den dritten Teil von Deep Blue Sea begeistern, fürchte ich.«
Der Pizzabote stoppt kurz in seinen Bewegungen und sieht zu mir auf. »Es gibt einen dritten Teil? Wow. Der zweite war schon echt abgrundtief.«
»Das klingt für mich wie ein ziemlich großes Kompliment.«
Er lacht auf und während er am Verschluss der Thermobox nestelt, murmelt er etwas, das ich aber nicht verstehen kann.
»Wie bitte?«
Er schüttelt den Kopf. »Nicht so wichtig. Du kannst mir ja nächste Woche erzählen, für welchen Film ihr euch entschieden habt.«
Wieder liegt da dieses Lächeln auf seinen Lippen – und in seinen Augen. Wenn er lächelt, verändert das sein gesamtes Gesicht. Irgendwie wirkt er dann so nahbar und sensibel.
Ich könnte ihn jedenfalls stundenlang anstarren.
In Gedanken versunken nehme ich die Pizza an und registriere verwirrt die Packung Eis, die obendrauf steht. »Habe ich aus Versehen einen Nachtisch bestellt?«
Wieder schüttelt er den Kopf. »Du weißt doch, Stammkunden bekommen manchmal ein kleines Extra.« Er zwinkert mir auf eine Weise zu, die ich als wahnsinnig sexy empfinde.
Sofort ist da dieses aufgeregte Kribbeln in meiner Magengegend und ich stelle mir mehr Situationen vor, in denen er mir diese Seite von sich zeigen könnte. Und das auch nicht zum ersten Mal. Klar ist er mir aufgefallen, aber ich habe gefühlstechnisch schon genug mit Arthur zu tun. Außerdem ist er der Pizzabote. Ich habe keine Ahnung, ob er überhaupt auf Kerle steht. Vielleicht flirtet er generell gern, wenn er merkt, dass es ankommt. Das hält die Kunden im Haus.
»Aber letzte Woche gab es doch schon Tiramisu.« Jetzt, wo ich genau darüber nachdenke, fällt mir auf, dass es davor auch schon Mousse au Chocolat gab … und davor Käsekuchen. Mir ist das nur noch nie so richtig aufgefallen und ich habe das einfach nach der Pizza verputzt.
Seine Oberarme spannen sich an, als er die Box wieder aufhebt. Dann zuckt er mit den Schultern. »Und es gibt ganz sicher auch nächste Woche wieder etwas. Bis bald.«
Verwirrt, aber auch ein bisschen kribbelig drehe ich mich um, schließe die Tür mit einem kräftigen Tritt und gehe wieder nach oben zum Arbeitsplatz, wo mein Bruder geduldig auf mich wartet. »Sascha? Ich glaube, der Pizzabote hat heute vielleicht doch ein bisschen geflirtet.«