Leseprobe A Twist of Fate

1 – Das Mandat

Hannah

Ich sitze seit zwanzig Minuten in seinem Büro und er ist nicht hier. Zugausfälle, Flugverspätungen, Termine, die nicht pünktlich beginnen. Koffer, die nicht im Hotel ankommen. Wein, der zu warm serviert wird. Anwälte, die auf sich warten lassen. Alles geraubte Zeit. Ein Mensch lebt im Durchschnitt 2 504 411 136 Sekunden oder 28.800 Tage. Falls das greifbarer macht, wie absurd es ist, dass andere meinen, auf sich warten lassen zu können. In diesen zwanzig Minuten hätte ich fünfhundert Autogrammkarten unterzeichnen oder Synonyme googeln können. Vielleicht hätte ich meine Sockenschublade sortiert, Presseanfragen ignoriert oder mir eine Heilerde Maske aufs Gesicht geklatscht, die den cremefarbenen Teppich vor der Sockenschublade vollgekrümelt hätte. Wer weiß? Stattdessen sitze ich hier und habe keine Wahl. Ich muss den Termin absolvieren.

Ich stehe auf und stolziere durch das gigantische Büro des Berliner Altbaus. Klick-klack, klick-klick klack. Meine Stilettos hinterlassen Druckstellen im Parkett. Ich unterdrücke ein Schmunzeln und schaue aus den bodentiefen Fenstern, lasse den Blick über den Kurfürstendamm schweifen. Ein Septembertag, aber zu dieser Jahreszeit fühlt sich die Stadt noch immer wie August an. Auf dem Mittelstreifen zwischen den Platanen ist das Grün ausgetrocknet und verstaubt wie die Gesichter der Berliner nach einem heißen Sommer in dieser aufgekratzten Metropole. Es herrscht reges Treiben da draußen. Wenn ich die Menschen auf der Straße sehen kann, könnten sie mich hier oben auch erspähen? Das hätte mir noch gefehlt. Eine B.Z., die titelt: Alles nur geklaut? Bestseller Autorin beim Anwalt gesichtet! Ich schnaufe und atme die Unsicherheit, die in mir emporsteigen will, einfach weg. Der Trick ist, länger aus- als einzuatmen und die Gedanken in einer mentalen Gefriertruhe wegzuschließen. Klappe zu. Gedanke tot.

Wo bleibt der Kerl?

Ich lasse mich in den braunen Ledersessel fallen. Uff! Ein aquatisch-herber Duft entweicht in die Luft. Was ist das? Herrenparfüm auf der Ledergarnitur? Schritte, gleichmäßig und markant, nähern sich der Flügeltür. Endlich springt sie auf. Ich drehe mich nicht um, aber nach ein paar Sekunden schieben sich braune Tassel Loafer über nackten Füßen in mein Sichtfeld. Marineblaue Anzughose, der Gürtel in exakt der gleichen Farbe wie die Schuhe. Das muss Mann erst mal hinkriegen. Weste und Sakko. Hellblaues Hemd. Dunkelblaue Krawatte. Für Männer, die Anzug mit Weste tragen, könnte ich sterben. Ich hebe den Blick, er hält mir seine Hand entgegen. Eine schmale, silberne Brille, ein breites – sehr charmantes und gar nicht aufgesetztes – Lächeln, dunkelblondes Haar in seichten Wellen auf dem Oberkopf.

Das ist mein Anwalt?

Mein Magen kribbelt, als sich unsere Blicke treffen. Wolkengraue Augen fordern mich auf, ebenfalls zu lächeln, obwohl mir nicht danach ist. Gleichzeitig trifft mich ein vertrautes Gefühl, etwas von blaugrauen Pinselstrichen auf einer Leinwand, die ich genüsslich betrachten darf. Das muss ich erst mal sacken lassen. Die Frage ist nur: wie lange? Einerseits bin ich gut erzogen. Ich sollte aufstehen, den Handschlag erwidern und mich professionell verhalten. Andererseits ist er deutlich zu spät, also schmolle ich noch. Meinen abschätzigen Blick kontert er mit besonderer Freundlichkeit.

„Louis von Nikolai. Wir haben einen Termin.“

Louis

Ich werde nicht müde, ihr meine Hand entgegenzustrecken. Sie ist angefressen, das habe ich schon spüren können, als ich die Schwelle zu meinem Office passiert habe. Körpersprache: verschränkte Arme vor schwarzer Seidenbluse, Beine überschlagen. Ihr rot-blonder Scheitel und ein wippender Fuß in spiegelnd-schwarzen Lack-Heels sind alles, was ich von ihr zu sehen bekomme. Endlich hebt sie den Blick und etwas Unerwartetes darin gleitet zu mir empor. Sie mustert mich. Augen, so grün wie die riesige Zimmerpflanze in der Ecke meines Büros durchbohren mein Innerstes und ihr rot geschminkter, voller Mund straft mich dafür, dass ich zu spät bin. Dennoch greift sie nach meiner Hand. Ein warmer und für eine Lady nicht zu verachtender Händedruck erwidert meine Bemühungen, mich zu entschuldigen.

„Isa“, sagt sie endlich.

Ich nicke und schiebe meine Brille etwas höher auf die Nase.

„Sie haben vermutlich meinen Vater erwartet, Frank von Nikolai“, sage ich und mache mich auf, um ihre Akte von meinem Schreibtisch zu holen, jedoch vergeblich. Für gewöhnlich legt Valeria eine Terminvorbereitung mit roter Kladde auf den Schreibtisch, aber hier liegt nichts. Ich räuspere mich und kehre ohne Unterlagen zurück, öffne den Knopf meines Jacketts und setze mich ihr gegenüber in einen Ledersessel. Wenigstens hat sie etwas zu trinken bekommen. Der Espresso hat seine Crema verloren und steht unangetastet neben dem ebenfalls unberührten Glas Wasser. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, mein Blick verschwimmt. So kenne ich mich nicht. Ich bin seit knapp zehn Jahren als Anwalt tätig und für gewöhnlich braucht es etwas mehr als schwarze Lackschuhe und ein selbstgefälliges Lächeln, um mich aus der Bahn zu werfen. Heute ist es anders. Irgendetwas ist anders. Hatte ich zu viel Kaffee?

„Nein, habe ich nicht. Aber hätte ich einen Wunsch frei gehabt, wäre es Pünktlichkeit gewesen“, sagt sie. Touché. Ich versuche, nicht zu lächeln, um sie für ihre freche Art nicht auch noch zu belohnen.

Isa. Sie sind wegen Ihrer Autorenrechte hier. Ist das Ihr Klarname?“, frage ich und wünschte, das Glas Wasser wäre meins.

„Spielt das eine Rolle?“, kontert sie mit einer Gegenfrage, ohne den Ausdruck in ihrem Gesicht zu verändern. Meine Oma hat zwei Porzellanpuppen auf ihrem cremefarbenen Chesterfieldsofa. Beide sind blond, die eine trägt ein hellblaues Kleid, die andere ein weißes. Also heißen die Puppen Blue und White. Das Sofa steht in unserem Familiendomizil am Tegernsee, direkt vor dem Kamin und wenn mein Opa ein Feuer entfacht, dann zucken die Flammen wie tanzende Kobolde über die Gesichter der Puppen und ich schaue dabei zu, wie er Holzscheite nachlegt. Ein rotblondes, schmollendes Püppchen ganz in Schwarz sitzt nun bei mir im Büro, ich könnte sie Black nennen. Ihr Haar changiert, mal scheint es strahlend blond, mal auffordernd, wie ein frisch eingegossener Rosé. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo in der Mitte. Sie will mir ihren Namen nicht verraten und um ehrlich zu sein: Ich scheiße auf ihren echten Namen. Soll sich mein Sekretariat um die Formalitäten kümmern.

Der exzentrischste Mandant, der mir bisher begegnete, war ein 70-jähriger Star-Architekt, der ausschließlich mit „Sir“ angesprochen und seine 50.000 Euro teure Matratze von Berlin in sein Altersdomizil nach Mallorca verschiffen lassen wollte. Als die Matratze ankam, behauptete er, das sei nicht seine Matratze. Es entspann sich der kurioseste Rechtsstreit, den ich bis heute vorzuweisen habe. Er endete mit einer Haushälterin, die Drogen und Sextoys für ihren Chef in der Matratze nach Mallorca schmuggeln sollte, ohne dass sein Lebensgefährte etwas davon mitbekommt. Alle anderen skurrilen Fälle der letzten Jahre sind auch nicht zu verachten und ich bin gespannt, ob und wo sich das Mandat Isa Phillips einreihen wird.

„Wie darf ich Sie unterstützen?“, frage ich und lege erneut mein Bestseller-Lächeln auf.

„Wie ich Ihrer Sekretärin bereits am Telefon geschildert habe“, sagt sie, löst immerhin ihre verschränkten Arme und drapiert diese einigermaßen entspannt auf ihren Oberschenkeln, „bin ich bei einem bekannten Berliner Verlag unter Vertrag. Wenn Sie aufmerksam durch die Straßen gehen, haben Sie mich schon einmal gesehen. Auf Postern an der Bushaltestelle, Litfaßsäulen … eigentlich hänge ich überall. Kennen Sie meine Bücher?“

„Nein“, sage ich, und ich brauche kein Psychologiestudium, um zu wissen, dass das die falsche Antwort für diese Mandantin ist. Ihr Blick bleibt unverändert, ihr Fuß wippt auf und ab.

„Wir haben das Angebot bekommen, die erste meiner drei Trilogien bei einem US-Verlag zu veröffentlichen. Ich muss einige Passagen überarbeiten und für den amerikanischen Markt aufbereiten. Ich bin hier, um meine Position in diesem Konstrukt zu beleuchten. Da an mir die meiste Arbeit hängen bleibt, möchte ich das vertraglich abgebildet wissen, falls Sie verstehen, was ich meine.“

„Wir sprechen die gleiche Sprache. Haben Sie den Vertrag dabei?“, frage ich.

„Zunächst möchte ich wissen, ob wir zueinander passen“, sagt Isa.

„Sie kommen schnell zur Sache, was?“

„Noch schneller, wenn wir den Comedy-Part überspringen“, sagt sie und blickt mir dabei direkt ins Gesicht, ihre Augen funkeln mich an. Nein, sie möchte keinen auflockernden Small Talk und ich habe keine Lust, einen MeToo-Vorwurf an der Backe zu haben.

„Mit zusammenpassen meinen Sie …?“, frage ich und lehne mich bewusst weit zurück, um zu signalisieren, dass ich ihr den Raum gebe, ihre Attitüden zu entfalten.

„Es gibt Dinge, die mir wichtig sind. Ich habe keine Zeit, um den Antworten auf meine Fragen hinterherzulaufen oder einem verstreuten Anwalt bei jedem Telefonat aufs Neue zu erklären, warum ich seine Mandantin bin. Sofern Sie damit einverstanden sind, sich der Sache vollkommen anzunehmen, schicke ich Ihnen den Vertrag heute Nachmittag und wir treffen uns am Montag, um die Fragen, die meine Rolle betreffen, zu beantworten. Am Dienstag fliege ich nach New York. Überzeugen Sie mich davon, dass ich bei Ihnen in guten Händen bin?“, fragt sie, überschlägt die Beine und schickt einen fixierenden Blick über den Tisch zu mir herüber.

Verstreuter Anwalt? Ernsthaft? Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange und wische diesen unziemlichen Fauxpas aus meinem Bewusstsein, bevor mich diese Mandantin dazu bringt, meine hart antrainierte Anwaltsfassade zu vergessen.

„Ich versichere Ihnen, normalerweise –“

„Wie auch immer. Kann ich auf Sie zählen?“, fällt sie mir ins Wort.

Wie ich das hasse. Vor allem, weil ich ihr die Sache mit der fehlenden Terminvorbereitung erläutern wollte.

„Mehr als das“, erwidere ich knapp.

Verdammt, wir werden nicht warm miteinander. Das passiert mir selten. Eigentlich nie. Für gewöhnlich reicht ein freundliches Lächeln, ich fahre mir durchs Haar und die Mandanten sind begeistert. Einen verdammten Ivy-League-Absolventen sehen sie in mir. Gebildet, charismatisch, immer für einen guten Spruch zu haben. Mit Isa ist es anders und es juckt mich herauszubekommen, wieso.

„Ich entschuldige mich für Ihre Wartezeit. Meine Sekretärin muss den Termin falsch notiert haben. Deswegen habe ich auch keine Vorbereitung hier.“

Ich entschuldige mich nicht gern. Erst recht nicht für die Fehler anderer, die ein schlechtes Bild auf mich werfen. Isa erhebt sich, nimmt ihre schwarze Prada vom Sessel, schnappt sich die Vollmacht, die sie bislang ignoriert hat, nickt und verschwindet so schnell, wie ihre Lackschuhe sie über das spiegelglatte Parkett tragen können. Die Tür lässt sie offenstehen und ich warte, bis ihre Schritte verhallt sind und sie die Kanzlei über das Treppenhaus verlassen hat. Ich drücke die Kurzwahltaste auf meinem Telefon, meine Sekretärin hebt ab.

„Valeria? Umgehend in mein Büro.“

***

„Hat es einen Grund, weshalb deine Sekretärin weinend in der Damentoilette sitzt?“, fragt Mia und schiebt sich durch die Flügeltür, die sie nur einen Spalt breit geöffnet hat.

Das hat mir gerade noch gefehlt. Meine Verlobte, die sich fünfzehn Minuten, nachdem ich Valeria zwar nicht übers Knie gelegt, aber kraftvoll auf meine Erwartungshaltung hingewiesen habe, in meine Qualitäten als Führungskraft einmischt. Als ich nicht antworte, schließt sie die Tür und kommt zu mir, um sich mit der Hüfte gegen meinen Schreibtisch zu lehnen. Samtpfötchen in Chanel-Ballerinas. Ich erhasche beschwichtigende Blicke, als sie sich ihr schulterlanges, schokobraunes Haar in den Nacken legt. Die Nägel sind frisch lackiert, sie glänzen dezent und lassen keinen Spielraum für Gedanken, Meinungen oder Interpretationen. Rote Fingernägel mag ich lieber. Mochte ich schon immer und das weiß sie auch. Sie schürzt die Lippen, senkt den Blick und atmet tief durch. Sie hat einen Hauch Gucci Bloom hereingetragen. Den Duft habe ich ihr letzten Monat von meiner Reise zum Oberlandesgericht München mitgebracht. Ein Ritual, mit dem wir uns seit Jahren zeigen, dass wir auf unseren Geschäftsreisen aneinander denken. Mia bringt mir Gewürze, Kaffee oder lokale Köstlichkeiten mit. Ich shoppe für sie Dinge, mit denen sie sich umgeben kann. Parfums, Lippenstifte, Lederhandschuhe. Der Duft steht ihr und ich freue mich darüber, dass sie ihn trägt. Er erinnert mich nur an die größte Niederlage meiner juristischen Karriere in einer kartellrechtlichen Angelegenheit, die ich so gut wie gewonnen hatte – wären meine Brüder an dem Abend vor der Gerichtsverhandlung nicht auf die Idee gekommen … Ach, lassen wir das. Ich kann meine kleinen Brüder nicht dafür verantwortlich machen, dass ich an dem Tag nicht der Anwalt war, der ich hätte sein sollen. Seitdem mahnt mich dieser Duft, noch genauer zu sein. Oder erwachsener? Vermutlich Letzteres.

„Also, was ist mit Valeria?“, wiederholt sie, ohne die Stimme zu erheben. Obwohl ich ihre Nagellackfarbe nicht leiden kann, gefällt mir, dass sie vorsichtig ist.

„Stress mit dem Freund? Vaginismus? Geht es mich etwas an?“, antworte ich und starre wieder auf den Bildschirm.

„So frauenverachtend heute? Ich dachte, du wärst Anwalt und kein Rapper. So rede ich nicht mit dir“, sagt sie, macht aber auch keine Anstalten, ihre Hüfte von der cremefarbenen Natursteinplatte zu lösen.

„Wir hatten beschlossen, auf der Arbeit nicht über Vorkommnisse auf der Arbeit zu sprechen. Ich für meinen Teil halte mich daran.“

„Muss ich mir Sorgen machen?“, fragt sie, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, ihre Augen werden glasig, während sie mich fixiert.

„Wir hatten auch beschlossen, auf der Arbeit nicht über unser Privatleben zu sprechen, geschweige denn einander eine Szene zu machen“, sage ich, nehme die Brille ab und reibe mir die Augen.

„Tut mir leid. Es vermischt sich gerade alles. Wir haben schon lange nicht mehr über die Hochzeit gesprochen. Du arbeitest bis Mitternacht, an den Wochenenden bist du beim Sport oder du fährst zu deinen Brüdern. Wenn du dann so herrisch zu mir bist, fühle ich eine Distanz zwischen uns, die mir Angst macht.“

Eine Träne tropft an ihr vorbei und landet auf dem Boden. Ich verdrehe die Augen. Wenn ich herrisch zu dir wäre, würde unser Leben anders aussehen, denke ich und gleichzeitig hüte ich mich davor, in Selbstmitleid zu versinken. Die schwarzen Lackschuhe von eben blitzen vor meinem inneren Auge auf. Ich schiebe sie beiseite, ab in die Mottenkiste zu den durchzechten Nächten, dem Geruch nach Schweiß, Spucke und Körpersäften im Schlafzimmer, rotem Latex auf weißer Haut, dem Schmatzen zweier Körper, die ineinander versunken und verschlossen sind, sich festhalten, wie Muschelschale und Muschelfleisch.

„Ich brauche den sportlichen Ausgleich“, sage ich, setze die Brille wieder auf und drehe mich nun doch in ihre Richtung.

„Ich weiß, dass wir seit vier Wochen keinen Sex mehr hatten“, flüstert Mia.

„Das habe ich nicht gemeint und wir sollten wirklich zu Hause weiterreden. Ich bin gleich mit Frank zum Abendessen verabredet.“

„Wann sollen wir reden, wenn du in jeder freien Minute an den Tegernsee abhaust?“, erwidert sie.

„Du weißt, warum ich wegfahre. Und im ICE wäre durchaus Platz für dich. Opa würde sich freuen, dich zu sehen. Meine Brüder natürlich auch.“

Sie nickt, wischt sich die Tränen von den Wangen und wartet darauf, dass ich sie in den Arm nehme. Ich atme tief durch und ignoriere das Pochen hinter meiner Stirn, das flaue Gefühl im Magen und die Mattheit, die über mir hängt, wie ein Gewitter, das sich nicht entladen darf. Meine Augenlider werden schwer, ich bräuchte ein Nickerchen und einen doppelten Espresso, bevor ich dieses Mia-Intermezzo und das Abendessen mit meinem Vater bewältigen kann. Ich strecke den Arm aus und sie greift nach meiner Hand. Ich ziehe sie zu mir auf den Schoß und küsse ihr Kinn, während ich mit der anderen Hand ihren Oberschenkel streichle. Ich ertrage es nicht, ihre kupferbraunen Augen mit Tränen gefüllt zu sehen. Und jetzt ist auch nicht der richtige Zeitpunkt, um Fäden aufzugreifen, die vor uns liegen wie Stolperfallen und nach Aufmerksamkeit verlangen. Meine Lippen gleiten ihren Hals entlang, ich küsse sie unter dem Ohr und inhaliere den Duft, den ich für seine mahnenden Vorhaltungen hasse, aber an Mia liebe. Sie schluckt und wirft sich wieder ihr Haar über die Schultern.

„Ich muss noch eine Klageerwiderung fertig machen“, sagt sie, bevor ich auf den Gedanken kommen könnte, ihre Mundwinkel mit meiner Zunge zu ertasten oder meine Hand zwischen ihren Schenkeln verschwinden zu lassen. „Wir sehen uns zu Hause.“

***

Rosé. Mein Vater bestellt sonst nie Rosé. Ich drehe das Glas an seinem Stiel. Obwohl wir drinnen sitzen und die Luft steht, flackert die Kerze auf dem Tisch vor uns, als hätte jemand die Fenster aufgerissen. Ein Teller mit Austern erfreut das Paar neben uns und ich beobachte, wie mein Weinglas beschlägt.

„Wie ist deine neue Mandantin?“, fragt mein Vater und durchbricht damit die Stille an unserem Tisch, während er die weiße Stoffserviette auf seinem Schoß ausbreitet. Ich stutze.

„Die kleine Rothaarige von heute Nachmittag. Sie gilt als pedantisch“, ergänzt er.

„Noch ist sie nicht unsere Mandantin“, sage ich.

Nun ist es mein Vater, der stutzt. Seine buschigen Brauen ziehen sich zusammen und die Zornesfalte furcht sich tief wie ein U-Bahntunnel in seine Haut. Ich kläre ihn auf.

„Sie hat die Vollmacht mit nach Hause genommen. Vielleicht schläft sie eine Nacht drüber oder benutzt sie als Schmierpapier.“ Ich schnaufe, nehme dann einen Schluck von dem Wein. Samtig und frisch zugleich. Einfach perfekt.

„Interessant, dass du das so lässig nimmst. Es ist jedoch nicht das richtige Mandat, um herablassend zu werden“, sagt er.

„Muss ich etwas wissen?“, frage ich und versuche zu verbergen, dass ich heute nicht noch eine abgedrehte Geschichte brauche, die mein linkes Oberlid flattern lässt.

„Die Kleine ist das Zugpferd in Richards Verlag. Sie ist die Bestsellerautorin der Stunde. Du erinnerst dich an Richard? Einen meiner besten Freunde, langjährigen Wegbegleiter? Ohne den ich dir die Kanzlei niemals mit dem Mandantenstamm übergeben könnte, den sie jetzt hat? Deinen Taufpaten?“ Rote Flecken kriechen unter seinem Hemdkragen gen Adamsapfel empor. Er faltet die Serviette erneut von links nach rechts und räuspert sich mehrfach. Ich kann nicht anders, verdrehe die Augen und hebe beschwichtigend die Hände.

„Wie kommt es eigentlich, dass wir sie als Autorin und den Verlag vertreten? Das ist unüblich“, sage ich und nehme noch einen Schluck Wein.

„Nicht so sehr. Richard hat mich heute Nachmittag angerufen. Sie hat darauf bestanden, den US-Verlag vor Vertragsunterzeichnung kennenzulernen. Sie möchte die zuständige Lektorin vor Ort sprechen, um in Erfahrung zu bringen, wie sie das Projekt umsetzen wollen. Ursprünglich wollte sie allein nach New York fliegen, aber Richard hat ihr nahegelegt, sich für die Vertretung ihrer Rechte vertrauensvoll an unsere Kanzlei zu wenden und sich beraten zu lassen, wenn sie denn niemanden vom Verlagsteam mitnehmen möchte. Das hat sie wohl eingesehen. Ich vertrete weiterhin den Verlag. Du übernimmst die Kleine. Ich sehe keinen Interessenkonflikt, wir steuern auf das gleiche Ziel zu. Du fliegst mit nach New York. Richard möchte, dass wir sie im Auge behalten. Er vertraut ihr nicht.“

Ich stutze. New York? Ich? Bin ich ihr Babysitter, oder was?

„Was heißt, Richard vertraut ihr nicht? Sie will sich doch nur ein Bild machen, bevor sie ihren Teil der Vereinbarung unterschreibt“, entgegne ich und drehe das Weinglas weiter an seinem Stiel, um meine Überraschung zu dieser spontanen Reiseplanung zu übertünchen. Mein Vater stopft sich ein Stück Weißbrot in den Mund, kaut energisch und antwortet künstlich verzögert erst dann, als sein Mund schon lange nicht mehr mit dem Weißbrot beschäftigt ist.

„Er war kurz angebunden. Es interessiert mich auch nicht, ob sie sich wichtigmachen will oder ob das ihr Verständnis von Professionalität ist. Sie ist eine Autorin, die Science-Fiction Romane schreibt, Herrgott. Die Teenies lesen das Zeug und feiern sie als romantische Version der Ellen Ripley. Aliens und Romantik. Ich kann mir nichts Tragischeres vorstellen. Wer weiß, was in ihrem Kopf vor sich geht. Sollte sie irgendeine Attitude an den Tag legen, die Richard oder dem Verlag schaden könnte – egal, in welchem Bereich, gib mir Bescheid. Selbst wenn sie allein zur Maniküre gehen oder auch nur ein Eis kaufen will, das dir verdächtig vorkommt, informierst du mich umgehend. Ich erwarte absolute Professionalität von dir, also bring diese Autorin ohne großes Aufsehen zurück nach Berlin.“

„Das ist selbstverständlich“, antworte ich möglichst gleichgültig, kann aber nicht verhindern, dass ich meine Zähne zusammenpressen muss.

„Ach, wirklich?“, entgegnet mein Vater und schmatzt auffallend laut, während er die Stirn krauszieht und die Serviette auf seinem Schoß zum wiederholten Male glättet. Er blickt über seine rechte Schulter hinweg, innerhalb von Sekunden hat er die Menschen an den Nebentischen abgescannt.

„Dein Verständnis von Professionalität kenne ich, aber lassen wir das lieber. Die Suppe kommt“, sagt er und starrt den Kellner an, während dieser versucht, unser Hummercremesüppchen abzustellen.

***

„Wie war das Abendessen mit deinem Vater? War er entspannt?“, fragt Mia, während ich meine Hemden aus der Reinigung auf unser Bett schmeiße.

„Einigermaßen“, sage ich und blicke ins Leere. Ich kann noch immer nicht fassen, dass man mich nach New York schickt, ohne mit mir über das Vorhaben zu sprechen. Ich bin verdammte 37 Jahre alt und werde behandelt, wie ein unterwürfiger Jurastudent, der sein Maul zu halten hat, wenn ihn die Chefs mit Botengängen bestrafen. Sehr gern fahre ich auch zum dritten Mal an einem Tag zur Staatsanwaltschaft, um zentnerschwere Ermittlungsakten abzuholen. Natürlich macht es mir nichts aus, ein Feldbett in der Kanzlei aufzustellen. Es lohnt sich nicht, nach Hause zu fahren, ich bin doch eh bis Mitternacht im Büro. Darf ich Ihnen das Klopapier reichen, Herr von Niklolai? Aber sicher doch. Das Feuchte oder das Doppellagige? Ich bin auch ein „von Nikolai“ und schon lange kein Aktensklave mehr. Und trotzdem hält man es nicht für nötig, mit dem Nachfolger der Kanzlei abzusprechen, ob ich Zeit habe, den verfluchten Kontinent zu verlassen?

Mia greift nach zwei weißen Hemden und die Wäschereifolie knistert, als sie sie für mich in den Schrank hängt. In drei Tagen geht es also los. Eine Reise mit einer Mandantin, die so unterkühlt ist, wie schockgefrorene Erdbeeren aus der Tüte. Wie ist eigentlich das Wetter in New York? Wir haben Ende September. Vermutlich um die 25 Grad und eher sommerlich mild als herbstlich frisch. Ausgerechnet New York.

Mia sortiert auch die restlichen Hemden farblich arrangiert in den Schrank, ich lasse mich auf das Bett sinken und drehe gedankenverloren ein Sockenknäuel in der Hand.

„Es freut mich, dass ihr euch wieder regelmäßig zum Abendessen trefft. Diese Funkstille seit München war kaum auszuhalten“, sagt sie und ich schiele zu ihr herüber.

„Funkstille? Du meinst wohl, die Ignoranz, mit der er mich seitdem straft?“, korrigiere ich.

„Jetzt hast du die Chance, es wieder gut zu machen. Isa Phillips als Mandantin, darum beneide ich dich, sie ist wahnsinnig talentiert. Ich bin jedes Mal traurig, wenn ich ihre Bücher ausgelesen habe. Es fühlt sich fast wie ein Verlust an, die Geschichten zu beenden. Als hätte sie mit dem Ende eines Bandes einen Erzählstrang meines Lebens genommen. Kannst du dir das vorstellen?“, fragt sie.

„Das letzte fiktive Buch, das ich in der Hand hatte, hieß: Die kleine Raupe Nimmersatt. Und glaub mir, du willst sie nicht als Mandantin“, sage ich und Mia lacht.

„Ich habe gehört, dass sie durchsetzungsstark sein soll. Und du hast schon ganz andere Kaliber betreut, vergiss das nicht. Erinnere dich nur an den Corona-Testcenter-Betrüger und die 4-Millionen-Euro-Klage gegen das Land Berlin. Der Typ hatte nicht nur ein Händchen für kriminelle Machenschaften, er war auch bis in die dunkelsten Kreise vernetzt. Du hattest ihn im Griff und den Fall auch.“

„Nichts, worauf ich stolz bin“, antworte ich.

„Damit will ich sagen: Isa Phillips ist angesichts der Vertragsgespräche sichtlich angespannt, mehr aber auch nicht. Das kriegst du in den Griff. Vielleicht lese ich ihre Bücher noch mal“, sagt sie und nach einem verträumten Blick widmet sie sich meinen Krawatten. Ich stutze.

„Wir haben ihre Bücher hier?“, frage ich.

„Natürlich. Erinnerst du dich nicht? Du hast sie bis in unser Ski-Hotel nach Lech geschleppt und dich darüber beklagt, wie schwer mein Koffer ist.“

„Doch, ich erinnere mich. Ich habe die Verbindung nicht hergestellt.“

„Kein Problem. Es reicht, wenn wir ein verrücktes Fangirl in diesem Haushalt haben. Und, ist sie in natura so attraktiv, wie auf den Plakaten, die überall in der Stadt hängen?“, will sie wissen, während ihre Stimme immer fader wird, bis sie fast wegbricht. „Ihr werdet eine aufregende Zeit in New York verbringen und gemeinsam einen wichtigen Deal abschließen. Einen Vertrag für den US-Markt zu bekommen, ist sowohl für sie, aber auch für Richard und unsere Kanzlei eine große Nummer. Das werdet ihr vor Ort feiern, oder?“

Ich atme durch und lächle sie an. „Wir verbringen die meiste Zeit im Flieger, oder an riesigen Konferenztischen in unterkühlten Meetingräumen. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest“, versuche ich, zu beschwichtigen.

„Das sagst du so einfach.“

„Und so einfach ist es auch“, entgegne ich und zwinkere ihr zu.

„Na schön. Aber du versprichst, dass du an mich denkst, wenn ihr die Champagnergläser hebt, auf eurer Roof Top Bar im 70. Stock und über die Stadt schaut, ja? Denkst du dann an mich?!“, fordert sie.

„Ich denke an dich, versprochen“, sage ich und werfe das Sockenknäuel nach ihr. Sie duckt sich und die Socken fliegen gegen den Spiegel, der neben dem Schrank an der Wand lehnt.

„Fein, das wäre geklärt. Aber sag, wie löst ihr das mit dem Plagiat? Belasten sie die Gerüchte sehr?“, fragt Mia, hebt die Socken auf und lässt sich neben mich auf das Bett sinken.

Plagiat?

Mein Herz fährt Fahrstuhl und in meinen Unterarmen kribbelt es. Ich beiße die Zähne zusammen, bis meine Kiefermuskulatur steinhart ist. Mein Physiotherapeut wird nicht erfreut sein.

„Was für ein Plagiat?“, möchte ich wissen, nachdem sich mein Krampf wieder gelockert hat.

2 – Grill Royal

Hannah

„Paps, kann ich dich morgen zurückrufen? Ich bin gleich mit diesem Anwalt zum Abendessen verabredet und sehe aus, wie eine Mülltonne. Außerdem muss ich noch ein paar Gedanken verschriftlichen“, sage ich, klemme das Smartphone zwischen mein linkes Ohr und Schulter und versuche weiterzutippen, während mein Vater ins Telefon jammert.

„Hase, du sagst immer, dass du zurückrufst. Und dann arbeitest du zu viel und hast für deinen alten Herrn keine zwanzig Minuten übrig. Und ich bin sicher, du siehst nicht aus, wie eine Mülltonne“, entgegnet er und ich muss lachen. Ich weiß, dass ein Treffen, bei dem wir Zeit für uns haben, bitternötig wäre. Ich schwöre mir selbst, so wahr ich vor diesen drei Bildschirmen und meiner Schnellschreibtastatur sitze, dass Paps und ich nach meiner Rückkehr einen Vater-Tochter-Tag miteinander verbringen werden. Bis dahin ist der Vertrag mit New York unterzeichnet und vielleicht habe ich noch sehr viel bessere Neuigkeiten im Gepäck?!

„Und zu diesem Anwalt: Ich finde es gut, dass du dir endlich professionelle Unterstützung holst. Du hast das alles viel zu lange mit dir allein ausgemacht.“

In meinen Fingerspitzen zuckt etwas auf. Ich will ihm nicht widersprechen, oder mich erklären, dafür habe ich jetzt keine Zeit. Und das Gute an einem Vater, der nächstes Jahr 70 wird, ist, dass er es mittlerweile übergeht, wenn ich seine väterlichen Hinweise ignoriere.

„Paps, ich bin am Mittwoch zurück. Das bedeutet, ich bin spätestens am Donnerstag ausgeschlafen, geduscht und putzmunter. Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam frühstücken und einen ausgiebigen Spaziergang um den Schlachtensee machen?“, schlage ich vor.

„Das hatten wir schon mal, erinnerst du dich? Alle fünf Meter ein Selfie mit deinen Fans. Ich habe eine bessere Idee. Wir fahren raus aufs Land. Es gibt in der Müritz eine kleine Galerie, da will ich vorbeischauen.“

„Das brauchst du nicht. Ich verspreche dir, es funktioniert. Die Bank meldet sich noch diese Woche. Spätestens in der nächsten. Aber auf jeden Fall mit guten Neuigkeiten, anders kann es gar nicht sein“, erwidere ich und höre auf, zu tippen.

„Was, wenn nicht? Die Reservierungsfrist läuft diesen Freitag ab. Was, wenn jemand anderes zuschnappt? Wir brauchen einen Plan B, Hase“, sagt er und schnieft.

„Brauchen wir nicht. Ich sehe es bereits vor mir. Goldene Schrift auf weiß-getünchtem Grund. Vor dem Eingang stehen pinker Hibiskus und ein blauer Holzstuhl, auf dem du deine Mittagspausen verbringen kannst.“

„Mach aus dem Holzstuhl eine Bank mit dickem Polster. Ich bin keine zwanzig mehr“, sagt er und ich muss lachen. Ich streife meine gefütterten Hausschuhe ab, stehe auf und versuche, Wärme in meine Gliedmaßen zu bekommen. Draußen sind 24 Grad, aber davon habe ich wieder einmal nichts mitbekommen. Ich öffne die Balkontür und tatsächlich strömt warme Luft aus dem Innenhof zu mir ins Arbeitszimmer. Der Wind säuselt durch die Birkenblätter und wenn ich mich recke und strecke, kann ich fast über die Dächer des Vorderhauses, bis hinüber nach Kreuzberg schauen.

„Ich hol dich Donnerstag um zehn ab“, sagt Paps und damit steht die Entscheidung. Ich kehre zurück an den Schreibtisch und schicke ihm Küsse durchs Telefon, ehe wir auflegen. Dann hacke ich noch 2000 Wörter ins Dokument und trenne mich nur schweren Herzens von meinem neuen Projekt, um unter die Dusche zu springen.

Mittlerweile ist es 17:30 Uhr. Um 19:00 Uhr bin ich mit dem Anwalt im Grill Royal verabredet. Eines der wenigen diskreten Restaurants, die montags geöffnet haben. Ich genieße die Wärme des Wassers, die sich über mir ausbreitet. Meine rechte Schulter ist steif, mein Nacken sowieso. Ich habe es in all den Jahren nie geschafft, mir eine ergonomische Haltung beim Schreiben anzueignen. Ich schließe die Augen und gehe gedanklich meine To-do-Liste des Tages durch. Habe ich alles erledigt? Mein Schreibziel habe ich erreicht, mit Papa telefoniert und eine Saftkur für nächste Woche bestellt. Den Poststapel, den meine Haushaltsperle Arya auf den Küchentresen gelegt hat, habe ich vollständig geöffnet und jede einzelne Rechnung daraus bezahlt. Wie ich das hasse. Obwohl, stopp! Ich korrigiere mein Money-Mindset. Ich bin dankbar, Rechnungen begleichen zu dürfen. Jede Überweisung zeigt mir, dass ich es mir mittlerweile leisten kann. Danke, dass ich etwas zurückgeben darf, lautet mein Mantra, und ich wiederhole es so lange, bis das flaue Gefühl im Magen verschwunden und meine Fußsohlen aufgeweicht sind. Und dennoch: Innerlich bin ich die Studentin Anfang Zwanzig, die einen Teil ihres Altgoldes verkauft hat, um sich einen Friseurbesuch zu gönnen. Ein Vermieter, der persönlich bei mir geklingelt hat, um sich nach der verzögerten Zahlung zu erkundigen, Reis mit Buttergemüse und Mahnungen für die Handyrechnung waren meine steten Begleiter. Ich habe über 80 Absagen von Verlagen und Agenturen kassiert, ehe ich mit der Schreiberei ein wenig Geld verdienen durfte. Mein erster Verlag war klein, aber immerhin, sie haben mir einen Vorschuss von 500,00 Euro auf mein Erstlingswerk gezahlt, die mit den verkauften Exemplaren verrechnet wurden. Parallel zur Arbeit am Buch habe ich andere Schreibjobs im Bereich Ghostwriting und Werbetexting angenommen. Ich war 26 und hatte gelernt, bescheiden zu leben. Jede Rechnung in meinem Poststapel erinnert mich bis heute daran, wie es sich angefühlt hat, Briefe zu öffnen, die mit: Es tut uns leid, aber …, begonnen haben, um gleich danach Umschläge in den Händen zu halten, bei denen das Wort „Mahnung“ durch das behördengraue Papier schimmerte. 80 Absagen. Sie liegen in einem hübschen Karton archiviert auf dem Sideboard im Flur, direkt neben einem Schälchen aus Perlmutt, in das ich meine Wohnungsschlüssel lege, wenn ich nach Hause komme. Ein unangenehmes Kribbeln steigt in mir auf und ich hole mich zurück ins Hier und Jetzt.

Dass die Bank meine Zahlungsfähigkeit genauer überprüft, ist völlig normal, oder? Ich bin Autorin, mein neues Vorhaben ist kostspielig und das hat nicht zu bedeuten, dass ich meine regulären Rechnungen nicht bezahlen kann, rede ich mir gut zu und plötzlich fällt mir ein, was ich vergessen habe – ich habe die Maklerin in Griechenland nicht zurückgerufen, um nach einer Verlängerung der Reservierungsfrist zu fragen. Ich beschließe, ihr auf dem Weg ins Restaurant eine Mail zu schicken. Was kann ich dafür, wenn die Bank ewig braucht, um ein paar Zahlen zusammen zu rechnen?

Ich steige aus der Dusche, creme mich flott ein und greife nach einem Set schwarzer, schlichter Unterwäsche, die ich dann doch wieder zurücklege. Es ist zwar nur ein Montagabend und ein Businesstreffen mit einem Anwalt, aber unterschwellig macht es etwas mit einem, wenn man sich in spezielle Kleidung schmeißt, anstatt den Baumwollschlüpfer überzuziehen, richtig? Mein Blick schweift über die milchgrau verglaste Wäschekommode und erhascht eine strahlende Marilyn Monroe, die sich ein Tröpfchen No. 5 auf den Hals legt.

„Was würdest du mir raten?“, frage ich die Fotografie in schwarz-weiß und schließe die Augen. Ich rieche Bergamotte, etwas Pudrig-Blumiges und die feuchte Luft aus dem Badezimmer. Vogelgezwitscher dringt aus dem Innenhof in meine Wohnung. Jemand lässt den Deckel der Mülltonne fallen, das Tickertickerticker eines Fahrrades entfernt sich durch die Einfahrt in Richtung Vorderhaus.

Ich habe ein Ziel und meine Aufgabe ist es, diesen Anwalt davon zu überzeugen, dass er mir den Vertrag super erklärt und alle meine Fragen beantwortet hat, sodass wir uns spätestens um 20:00 Uhr voneinander verabschieden können. Ich will an meinem Standing keine Zweifel aufkommen lassen und selbstbewusst auftreten, und zwar mit jeder Faser meines Körpers … also doch die schwarze Chantelle Spitzenwäsche. Ich öffne meine Augen, ziehe Slip und Bra über, streife dann ein seidenes Unterkleid darüber und schlüpfe in ein ebenso schwarzes Ralph Lauren Daydress, langärmelig, mit V-Ausschnitt und goldener Schnalle an der Taille. Dazu meine schwarzen, ungetragenen Wildlederpumps von Aquazurra und die schwarze Prada Business Bag. Im Flur bändige ich meine feuchten Haare mit etwas Haaröl, lege Wimperntusche und Lipgloss auf – fertig!

Danke, Marilyn. Auf dich ist Verlass.

Es ist ein spätsommerlicher Abend. Berlin riecht nach der Wärme auf dem Asphalt, nach Sonnencreme und Radler. Der Fahrer setzt mich an der Friedrichstraße ab und ich stöckle die Stufen runter zum Eingang des Restaurants, das direkt an der Spree liegt. Ich werde zu unserem Tisch begleitet, wir sitzen nicht direkt am Fenster, sondern etwas versteckt hinter einer der verchromt-verspiegelten Säulen, die sich wie Sichtschutzpfeiler durch das Restaurant ziehen.

„Ihr Termin ist schon da. Darf es ein Aperitif sein, vielleicht ein Glas Champagner?“, werde ich gefragt.

„Das ist sehr aufmerksam David. Bringen Sie gern die Getränkekarte“, sage ich und muss mir ein Schmunzeln verkneifen, als ich meinen Anwalt entdecke, der, als er mich aus dem Augenwinkel erspäht hat, schnell den ersten Teil meines Bestsellers schließt und auf den zweiten Band legt, der vor ihm auf dem Tisch liegt. Gelbe Zettel lugen aus den Seiten hervor. Daneben liegt ein dicht befüllter Aktenordner. Louis erhebt sich und kommt um den Tisch herum, um mich zu begrüßen. Mein Blick streift eine Nanosekunde über ihn und seinen entspannten Businesslook. Sehr viel länger brauche ich nicht, um zu verstehen, dass ihm Creme und Weiß genauso gut stehen, wie der dunkelblaue Anzug am Freitag. Ein wohliger Schauer jagt mir über den Rücken und ich zwinge mich, ihn nicht anzustrahlen, wie eine Dreizehnjährige auf Zuckerschock. Huch. Wo kommt das Bedürfnis überhaupt her, frage ich mich, habe jetzt aber keine Zeit, meinen stolpernden Emotionen nachzuforschen. Stattdessen schlage ich die Augen nieder, in der Hoffnung, dass er von meinem Check-Blick nichts mitbekommen hat. Und ich bleibe dabei: Irgendwie kommt er mir bekannt vor.

„Möchten Sie auf der Bank sitzen?“, fragt er. Ich winke ab und ziehe mir einen der gepolsterten Stühle vom Tisch.

Louis

Sie sieht göttlich aus. Ihre erdbeerblonden Haare sind spiegelglatt und reichen ihr bis zu den Nippeln. Das hautenge, schwarze Kleid zeigt nichts und lässt dennoch Spielraum für Interpretationen. Es schlingt sich wie eine Kletterpflanze um ihren Körper, um ihre schlanke Taille, den runden Busen, der definitiv mehr als eine Handvoll zu bieten hat, und ihren sexy Po. Das Klackern ihrer Highheels konnte ich schon von weitem hören. Sie greift zur Begrüßung nach meiner Hand und zieht sich den Stuhl vom Tisch, wir sitzen einander gegenüber. Unser Kellner bringt die Getränkekarte und ich atme mein Herzrasen weg. Es gibt keinen Grund, besorgt zu sein. Ich habe das Wochenende genutzt, um mich auf dieses Abendessen vorzubereiten. Stundenlang habe ich das Internet auf der Suche nach den Plagiatsvorwürfen durchforstet und bin von einer heftigen Schlagzeile und von einem wirren Forenchat in den nächsten gestolpert. Es gibt kein Gesicht zu den Vorwürfen, es ist, als hätte die Story keinen Ursprung und kein Ende, aber irgendwann waren die Headlines da:

Isa Phillips geklaute Worte.

Das wird teuer!

Star-Autorin soll geklaut haben.

Zu viele Ähnlichkeiten?

Isa Phillips schweigt.

Die Presse hat das Thema nicht nur aufgegriffen, sondern fast zu Tode geritten. Im August ging es besonders heiß her. Fangruppen, Zeitungsartikel und Buch-Communitys auf TikTok haben sich zu dem Thema schwindelig geredet. Ich bin kein Profi in Sachen Bücher-Communitys, aber ich bin nach diesem Wochenende um zwei Erkenntnisse schlauer. Erstens: Isa Phillips hat eine riesige Fanbase. Das Lager ihrer Unterstützer – in erster Linie sind es junge Frauen – ist gigantisch groß. Allein auf TikTok gibt es unter dem Hashtag #isaphillipsbooks rund zwei Millionen Einträge. Sie hat in den letzten fünf Jahren drei Trilogien rausgebracht, die miteinander zusammenhängen, außerdem eine Dilogie, die nicht ganz so erfolgreich war, wie die neun Bücher zuvor, es aber trotzdem auf die Bestsellerliste geschafft hat. Zweitens: Unter die Stimmen ihrer treuen Fans mischen sich nach und nach auch kritische Meinungen. Teilweise wurde unter der Gürtellinie argumentiert und in nicht wenigen Foren wurden die Kommentarleisten wegen Verstößen gegen die Communityrichtlinien geschlossen. Wilde Spekulationen über ihr angeblich nicht vorhandenes Privatleben mixten sich mit absurden Theorien rund um ihre Karriere. Verdammt, wie sehr ich die Presse hasse. Sie finden keine Fotos aus dem Skiurlaub, das Insta-Profil ist sauber und Isa Phillips wurde auch noch nie volltrunken auf dem Oktoberfest gesichtet? Was hat sie nur zu verbergen?! Jetzt ebbt das Gerede langsam ab. War das der Sommerflaute zuzurechnen? Vielleicht gab es in den letzten Wochen, in denen Königshäuser, A-Prominenz und Co. im Mittelmeer ihren Sommerferien frönten, nichts Spannenderes, als das Gerücht in die Welt zu setzen, dass die erfolgreiche Romanautorin Isa Phillips plagiiert haben könnte? Ich werde sie fragen. Sie muss die Karten auf den Tisch legen. Nur so kann ich unsere Reise nach New York professionell begleiten.

„Isa, wonach steht Ihnen der Sinn? Darf ich uns einen Belsazar als Aperitif bestellen? Auf Eis mit Orange?“, frage ich und blicke über die Karte hinweg. Sie hat ihre gar nicht in der Hand. Sie schaut zu mir herüber und es könnte sein, dass ich ein fröhliches Zucken an ihrem Mundwinkel entdeckt habe. Jedenfalls ist sie besser drauf als am Freitag.

„Ich trinke nie, wenn ich arbeite“, sagt sie und faltet die Hände im Schoß. Ich stutze und lege die Karte bei Seite. Ich winke den Kellner heran.

„Noch einmal herzlich willkommen und was darf ich Ihnen Gutes tun?“, fragt er und verschränkt die Arme hinter dem Rücken. Er wendet sich Isa zu, die ihn anstrahlt, wie eine angeknipste Nachttischlampe. Ach, Madame kann auch freundlich?

„Einen doppelten Espresso und eine geschlossene Flasche Wasser, still. Danke“, sagt sie und blickt mich auffordernd an.

„Darf es wenigstens ein Dessert zum Kaffee sein?“, frage ich, lache und schließe die Speisekarte. Isa schüttelt den Kopf. Was ist mit ihr? Diät? Wichtigtuerei? Bin ich vielleicht schon das zweite Abendessen an diesem Montag?

„Für mich ein Glas Weißwein, 0,2 ml reichen. Trocken. Vielen Dank“, sage ich und reiche dem Kellner sowohl die Getränke- als auch die Speisekarten über den Tisch. Gut, dass die Reservierung auf ihren Namen läuft. Den Tisch für ein Glas Weißwein und einen Espresso zu blockieren, geht somit auf ihr Karma-Konto. Und ich werde mir zu Hause doch noch die selbst gemachten Linguine mit Filetspitzen aufwärmen. Reste von gestern, falls noch welche übrig sind.

Nachdem ich dieses unerwartete Momentum habe sacken lassen, beschließe ich, mir lediglich die Infos zu holen, die ich brauche, um in New York abzuliefern. Danach kann sie in ihre abgedunkelte Science-Fiction-Welt rauschen und wir sehen uns morgen im Flieger. Ich räuspere mich und nehme den roten Faden, der mich hoffentlich in die Mitte dieses Mandats vordringen lässt, auf. „Danke, dass Sie den Vertrag am Freitag so zügig geschickt haben. Ein ziemlicher Wälzer, aber bevor wir in die Details einsteigen, hätte ich –“

„Sie haben zwei Bücher à 600 Seiten an nur einem Wochenende gelesen?“, unterbricht sie mich. Ich unterdrücke ein Knurren in der Kehle. Verdammt. Das werde ich ihr noch abgewöhnen.

„Nein. Ich war mit dem Vertrag beschäftigt. Die Bücher sind von meiner Verlobten. Die Markierungen auch. Sie ist ein Fan Ihrer Romane und markiert sich eindrucksvolle Dialoge und andere Stellen. Keine Ahnung, was sie davon hat. Würden Sie die Bücher für sie signieren? Das wollte ich eigentlich nicht vor dem Dessert zur Sprache bringen, aber so, wie es aussieht …“, sage ich und muss den Satz nicht zu Ende bringen. Sie schnappt sich die Bücher, greift nach dem Stift, der oben in meinem Aktenordner steckt und signiert ins Innere.

„Ziemlich viele Markierungen. Hat Ihre Verlobte alle Teile gelesen?“, fragt sie und schiebt sowohl die Bücher als auch den Stift zurück über den Tisch. Der Kellner bringt unsere Getränke.

„Frau Phillips, für Sie, wie immer, ohne Keks und Zucker“, sagt er und zwinkert ihr zu. Ach, so ist das. Isa trinkt ihren Espresso gern in einem der sagenumwobensten Restaurants dieser Stadt.

„Also“, sagt sie, nachdem sie einen Schluck von ihrem Kaffee genommen hat, „wie sieht meine Position im Vertrag aus? Ich brauche keine Details. Ich will nur wissen, ob es Regelungen gibt, die mich über das deutsche Recht hinausgehend knebeln und wie hart sind die Regeln zu den Passagen, die ich überarbeiten muss?“

Isa ist keine Anfängerin. Sie legt ihren rot manikürten Finger in die richtigen Wunden und ich liebe es, wie selbstverständlich sie das Wort knebeln benutzt.

„Wie Sie sehen, habe auch ich ein Faible für Markierungen im Text“, sage ich und schlage den Aktenordner auf. Der Vertrag liegt oben auf. Unser Rechtsreferendar Timo hat mir noch am Freitag eine zweisprachige Synopse erstellt. Der Ärmste war erst kurz vor Mitternacht aus der Kanzlei raus, was mir die Arbeit mit Isa allerdings ungemein erleichtert. Sie schielt über den Tisch.

„Aber bevor wir hier eintauchen“, sage ich und schlage den Ordner geräuschvoll wieder zu, woraufhin Isa aufblickt, wie ein erschrockenes Reh im Scheinwerferlicht, „will ich etwas zu den Plagiatsvorwürfen hören.“

Endlich liegen die Karten auf dem Tisch und ich nehme einen Schluck Wein. Dann greife ich nach der Wasserflasche und fülle ihr Glas ungefragt auf. Jetzt hat sie wieder diese reglose Maske auf. Sie mimt das drapierte Püppchen und schiebt ihre vollen Lippen zu einer Schnute nach vorn.

„Und ich dachte, sie hätten das Wochenende genutzt, um sich vorzubereiten“, sagt sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Gut, dass sie keine Anwältin ist. Diese Frau will ich nicht auf der Gegenseite treffen.

„Das habe ich. Und ich möchte Ihre Variante hören.“

„Wofür? Ich stehe nicht vor Gericht. Ich möchte meine Vertragspartner in New York kennenlernen“, sagt sie und verschränkt die Arme vor der Brust. Taktikwechsel. Wer fragt, der führt. Ich muss ihr die Skepsis nehmen und sie davon überzeugen, dass ich an ihrer Seite stehe. Ich bin ihr Anwalt, verdammt. Warum ist sie hier, wenn alles an ihr danach schreit, dass sie eigentlich keinen Anwalt will?

„Es könnte sein, dass die Plagiatsvorwürfe in New York angesprochen werden. Ich kann Sie am besten unterstützen, wenn ich weiß, was los ist“, sage ich.

Sie zieht die Brauen zusammen und ich sehe, dass es in ihr arbeitet. Sie ist nicht überzeugt. Sie kaut gedanklich auf etwas herum und ich muss herausfinden, was es ist.

Hannah

Wie meint er das? Mich in New York unterstützen? Ich wünschte, ich hätte eine Kristallkugel und auch ein Glas Wein. Das Ganze hier sollte viel unkomplizierter vonstattengehen. Ich wollte die harten Fakten in einer Espressolänge klären und wieder nach Hause an den PC verschwinden. Aber „mein Anwalt“ macht es unnötig kompliziert. Zu allem Unmut kommt er jetzt auch noch mit diesem Plagiatsblödsinn um die Ecke. Ich werde mich sicher nicht dafür rechtfertigen, Stunden über Stunden, Tage und Monate - ach, was rede ich! Ich habe die letzten fünf Jahre meines Lebens allein vor dem Computer verbracht und die Welt, von der irgendein Irrer behauptet, ich hätte abgekupfert, aus eigener Kraft erfunden. Mit keinem einzigen Wort werde ich mich zu diesem Bullshit äußern. Ich lecke mir über die Lippen und denke an meinen Vorsatz, den meine schwarze Spitzenunterwäsche und ich vorhin so selbstbewusst gefasst haben. Es geht hier um mich, ich will diesen Vertragsabschluss, ich will meine Freiheit und ich werde einen Teufel tun und jedem Stöckchen hinterherspringen, das die Presse einem hinhält.

„Machen wir es kurz: alles Blödsinn. Mehr müssen Sie nicht wissen.“

„Ich bin Ihr Anwalt. Ich sollte alles, und damit meine ich wirklich alles wissen“, sagt er und lässt meinen Blick nicht los.

„Würde ich jedem Gerücht, das in den letzten fünf Jahren über mich verbreitet wurde, hinterherjagen, würde ich sehr viel Zeit verlieren, die ich lieber in das hier investiere“, sage ich und zeige auf die beiden Romane, die neben dem Aktenordner liegen.

„Das verstehe ich. Und dennoch ist das ein sehr kleiner Fetzen, mit dem Sie mich in die Verhandlungen schicken“, antwortet er.

„Wie bitte?“, sage ich und werde den Verdacht nicht los, dass er in die Gespräche eingebunden werden will. „Soweit ich weiß, ist keine Telefonschalte mit unseren Anwälten vorgesehen.“ Jetzt zieht er ein blödes Gesicht, lehnt sich vor und stützt seine Hände auf dem Tisch ab. „Sie wissen es gar nicht?“

„Was weiß ich nicht?“, frage ich, während meine Fußsohlen zu kribbeln beginnen.

„Ich komme mit nach New York. Wieso wissen Sie nichts davon?“, sagt er.

Ich schlucke und sortiere meine Gedanken. Ich will lospoltern und den Verdacht, der sich tief in meiner Körpermitte regt, ausspucken und vor uns auf dem Tisch ausbreiten, wie eine Pfütze aus Wahrheit, die jemand anderes aufwischen darf. Aber ich kann nicht unprofessionell werden.

„Spulen wir noch mal zurück. Ich habe Ihnen am Freitag gesagt, dass ich am Dienstag nach New York fliege. Ich habe Sie nie gebeten, mitzukommen“, stelle ich klar.

„Ich habe erst nach unserem Termin davon erfahren. Offenbar wurde die Info nicht an Sie weitergegeben?“, fragt er mehr, als er sagt.

„Was heißt, Sie wurden informiert? Von wem?“

„Ihr Verlag hat mir Freitagabend die Flugtickets und die Hotelreservierung zukommen lassen, ich kann Ihnen die Bestätigung zeigen“, sagt Louis und zieht sein Smartphone aus der Hosentasche.

Ich winke ab, schließe kurz die Augen und beiße mir so fest auf die Zungenspitze, ich könnte schwören, dass es blutet. In meinem Schoß balle ich die Hände zu Fäusten und drücke mir die Fingernägel ins Fleisch, bis es schmerzt.

„Entschuldige mich“, sage ich, stehe auf und gehe auf die Toilette, um meinen Schlachtplan zu sortieren. Dort angekommen halte ich meine Handgelenke unter das eiskalte Wasser und versuche, die tanzenden Sterne vor meinen Augen zu ignorieren. In meinem Kopf dreht sich ein Karussell, der Espresso kickt, und ich habe heute definitiv zu wenig gegessen. DAS war so nicht geplant. Richard, dieser nazistische Kontrollfreak! Geschickt eingefädelt, du alter Sack! Unter dem Deckmantel des besorgten Verlegers hat er mich erst dazu überredet, in der Kanzlei seines Vertrauens ein Beratungsgespräch in Anspruch zu nehmen. Rein zufällig hat die Anwältin, die ich angefragt habe, keine Kapazitäten und Schwupps, wird aus dem Beratungsgespräch mit dem einzig freien Rechtsverdreher ein Babysitter namens Anwalt, der mich zu den Vertragsgesprächen nach New York begleiten soll. Ich könnte kotzen! Hätte ich bloß darauf bestanden, mir eine unabhängige Kanzlei zu suchen. Aber das hat Richard über seine Sekretärin abgewiegelt, die mir unmissverständlich zu verstehen gegeben hat, dass es Sinn macht, die Sache von der Kanzlei betreuen zu lassen, die Richards Verlag schon jahrelang kennt. Ein weiterer Anwalt könnte alles unnötig kompliziert machen. Ob ich denn nicht an einer zügigen Vertragsunterzeichnung mit New York interessiert sei, säuselte sie durchs Telefon. In dem Moment war ich nicht schlagfertig genug, um souverän zu kontern. So sitze ich nun hier und muss überlegen, wie ich aus der Nummer rauskomme, ohne mein Ziel zu gefährden oder Verdachtsmomente zu erregen. Sortiere dich, Hannah, rede ich mir zu. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um hysterisch zu werden. Der Termin am Mittwoch muss glattlaufen, Babysitter hin oder her! Ich habe zu hart dafür gearbeitet, um jetzt die verletzten Eitelkeiten meines Verlegers Richard Zuckerman vor meine Karriere in Übersee zu stellen. Ich gehe meine Möglichkeiten durch.

Als Autorin bin ich in der Lage, meine Charaktere in ungeahnte Schwierigkeiten zu stürzen, um ihnen dann Optionen aufzuzeigen, anhand derer sie sich aus dem Dilemma befreien können. Also, echtes Leben: Welche Optionen bietest du mir? Ich könnte mein Handy zücken und Richard eine Standpauke darüber halten, was ihm einfällt, mir einen Anwalt, den er mir quasi aufgezwungen hat, an die Fersen zu heften. Ich könnte ihm damit drohen, unsere abgekaute Affäre in Richtung seiner Frau durchsickern zu lassen, sollte er es wagen, mich weiter zu bevormunden. Aber das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Eine wutentbrannte Autorin, die, angesichts der Termine in New York statt auf Wolke sieben zu schweben, ihrem Verleger durchs Telefon steigt? Ich könnte mir gleich ein Schild umbinden, auf dem das Wort „Verräterin“ prangt. Nein. Das wäre zu auffällig. Aus der Nummer komme ich nur raus, wenn ich die Gleichgültige spiele und es schaffe, Louis anwaltliches Können zu hundert Prozent für mich zu gewinnen. Er vertritt mich, nicht den Verlag. Oder wie läuft das? Die Vollmacht, schießt es mir durch den Kopf. Sie liegt noch immer zu Hause auf meinem Schreibtisch, ich habe vergessen, sie zu unterzeichnen. Aber ich erinnere mich, dass mein Name im Mandantenfeld eingetragen war – mit keinem Wort wird der Verlag erwähnt. Ich werde die Vollmacht unterschreiben und ihm morgen im Flieger in die Hand drücken. Damit ist er mein Anwalt. Was er im Laufe der Vertragsgespräche daraus macht, ist seine Sache. Fein.

Ich trockne meine Hände, rücke das Kleid zurecht und pushe meine Möpse weiter in den V-Ausschnitt. Fünf Jahre vor dem Computer. Keine Urlaube, keine Freunde, nur wenig Freizeit und von meinem Liebesleben will ich gar nicht erst anfangen. Bis auf die bescheidene Affäre mit Richard, der mich zwischen unseren Terminen auf diversen Buchmessen in grau-braunen Hotelzimmern wundgeleckt hat, kann ich nichts vorweisen. Alles, was ich habe, steckt in meinen Büchern und in der Hoffnung auf den Deal mit dem US-Verlag. Ich werde mich nie wieder wochenlang von Reis mit Buttergemüse ernähren. Mir wird keiner dazwischenfunken!

Ich drücke die Schultern durch und blicke siegessicher in den Spiegel. Vielleicht denke ich mir alles zu einfach. Vielleicht übersehe ich auch etwas. Mag sein. Aber darüber mache ich mir erst Gedanken, wenn sich „das Gefühl“, das in solchen Momenten Oberhand gewinnen will, als Realität erweist. Meinen Gehirngespinsten und Angstgedanken hinterherzujagen, dafür habe ich jetzt keine Zeit. Denn im Grill Royal sitzt noch immer mein Anwalt, der offenbar darauf angesetzt wurde, mich nach New York zu begleiten.

Louis

Sie sieht aus, als hätte sie auf der Toilette eine Runde gegen Sandsäcke geboxt. Das ehemals spiegelglatte Haar wirft sie mit der rechten Hand über den Kopf nach hinten, als sie an den Tisch zurückkommt. Ihre Wangen sind gerötet, der Blick glasig, sie zupft an ihrem Kleid, das beim Laufen weit über die Knie in Richtung Schritt gerutscht ist. Ihre Beine sind so weiß, als hätte sie diesen Sommer keine einzige Sekunde in der Sonne verbracht. Juicy sieht sie aus, würde mir mein kleiner Bruder Matthies in solch einem Moment zuraunen. Anstatt sich wieder auf den Stuhl zu setzen, schmiegt sie sich über Eck zu meiner Linken auf die Sitzbank und reicht mir die Hand.

„Hannah“, sagt sie und strahlt über beide Wangen. Ihre Zähne sind so weiß wie Bergkuppen nach dem ersten Schneefall. Sie bietet mir das Du an? Was ist auf der Toilette passiert? Ist sie plötzlich schockverliebt? Oder ist sie eine eiskalte Taktikerin, die mich ruhigstellen will, damit ich ihr in New York nicht auf den Sack gehe? Egal warum. New York ist nicht nur für unsere Eisprinzessin eine wichtige Sache. Auch ich kann es mir nicht leisten, erfolglos nach Berlin zurückzukehren. Also treffen wir uns in der Mitte und schauen, was passiert? Meine störrische Mandantin, ich als ihr Anwalt und ein Deal in New York, der mich mein Erbe kosten könnte? Ich nehme ihre eiskalte Hand in meine, umschließe den Handschlag und lege meine linke noch obendrauf, um das Du und den unausgesprochenen Deal, der zwischen uns im Raum steht, zu bekräftigen.

„Louis“, sage ich und zücke mein charmantestes Lächeln. Wir blicken uns lange in die Augen. Für ein eben noch übertrieben unterkühltes Gespräch zwischen einem Rechtsanwalt und seiner Mandantin einen Hauch zu lange. Sie befreit sich aus meinen Händen und winkt den Kellner heran.

„Ein Glas davon bitte“, sagt sie und zeigt auf meinen Wein, „für dich auch noch einen? Also zwei. Und die Speisekarte“, fordert sie und überschlägt die Beine von links nach rechts.