Kapitel 1
Fritzi
Fritzi balancierte die Tasse mit dem Glühwein in der einen Hand, hielt die Lichterkette in der anderen, während sie sich auf dem Stuhl stehend in Richtung Gardinenstange reckte und im Takt zu Last Christmas wippte. Mit einer flinken Bewegung schleuderte sie die blinkenden Lichter über die Stange, streckte sich noch ein wenig mehr, um sie zurechtzurücken, und nahm schließlich zufrieden einen Schluck.
„Eines Tages wirst du dir bei deinen Turnereien noch den Hals brechen“, kommentierte Alina, ohne von der Zeitschrift aufzusehen.
„Das ist jahrelange Übung. Wie du weißt, bin ich ein Weihnachtsprofi.“ Fritzi lachte, stieg von dem Stuhl und ließ sich neben ihre Freundin auf das bequeme quietschgelbe Sofa plumpsen. Der Glühwein schwappte bedenklich hoch an den Tassenrand und Fritzi stellte ihn zur Sicherheit auf dem Beistelltisch ab. „Nebenan zieht jemand ein“, erzählte sie ihrer Mitbewohnerin von der Beobachtung, die sie von dem Stuhl aus gemacht hatte.
„Wirklich?“ Nun sah Alina doch von dem Artikel über die Rock- und Hosentrends des Winters auf.
„Unten hat eben ein Möbelwagen geparkt und die ersten Kartons stehen schon auf dem Gehweg.“
„Hmmm.“ Alina setzte sich auf. „Haben sie also endlich jemanden gefunden, der diese unverschämt hohe Miete bezahlen kann. Hat ja ’ne Weile gedauert.“
In der Tat hatte die Wohnung, deren Eingangstür genau gegenüber von ihrer lag, einige Monate leer gestanden. Während ihre Drei-Zimmer-WG bezahlbar war, dafür allerdings kaum Sonnenschein abbekam, da sie an der Rückseite des Hauses in Richtung Hang lag, trumpfte die Wohnung nebenan mit mehr Platz, einer großen Terrasse und einem unverschämt beeindruckenden Blick über die Stadt auf.
Fritzi seufzte und stellte sich vor, wie schön sich ein Weihnachtsbaum vor der breiten Fensterfront machen würde. Hier war nur Platz für den nach Plastik riechenden, künstlichen Weihnachtsbaum, der, wenn man seine Äste etwas nach oben drückte, gerade so in die Wohnzimmerecke neben den Fernseher passte. Nebenan würde sich eine prachtvolle zwei Meter Nordmannstanne ganz bestimmt herrlich im Wohnbereich machen.
Einmal war es Alina und ihr gelungen, sich heimlich reinzuschleichen, während ein Handwerker dort irgendeine Reparatur ausgeführt und etwas aus dem Auto geholt hatte. Die Neugier war einfach zu groß gewesen. Es war doch verständlich, dass man wissen wollte, was auf der anderen Seite des Zauns war. Und in diesem Fall war das Gras dort wirklich grüner. Und dichter. Und moosfrei auch noch. Gut, der Vergleich hinkte ein wenig, gestand sie sich ein, dennoch war die Nachbarwohnung ein wahrer Traum. Und ein ziemlich teurer noch dazu. „Nun sieh dir das an“, hatte Alina gerufen und Fritzi hatte ihre Freundin am Arm von der Aussicht wegziehen müssen, ehe sie beinahe erwischt worden wären.
„Wer dort wohl einzieht?“ Alina sprang auf und linste durch das Guckloch in der Tür. Rumpeln war im Hausflur zu hören. „Eine Umzugsfirma“, berichtete sie. „Man lässt schleppen und schleppt nicht selbst.“
Wer sich diese Aussicht leisten konnte, der hatte natürlich auch das Geld für professionelle Packer. Fritzi hingegen hatte all ihren Besitz erst aus der Wohnung im dritten Stock hinuntergeschleppt, die sie sich mit ihrem Ex-Freund geteilt hatte, alles in ihr klappriges Auto gepackt, war durch die Stadt gefahren und hatte es hier wieder heraufgeschleppt. Als sie auf halber Strecke im Treppenhaus beinahe mit dem großen Gummibaum festgesteckt hätte, hatte sie ihren Ex-Freund, die Hanglage, die ein Treppenhaus bei nur einem bewohnten Stockwerk überhaupt erst nötig machte, und den verflixten Baum verflucht und mit dem Gedanken gespielt, ihn einfach dort stehen zu lassen und zukünftig bei jedem Weg aus dem Haus oder wieder hinein eben einfach unter den Ästen durchzukrabbeln. Doch dann hätte ihr Alina, die sie damals erst wenige Tage kannte, vermutlich den Scheibenwischer gezeigt und sich die Sache mit der Untervermietung des Zimmers womöglich noch mal überlegt. Unter einem Baum kletterte man täglich höchstens für Freunde hindurch, mit denen man schon in den Kindergarten gegangen war, aber nicht für dahergelaufene neue WG-Mitbewohnerinnen, die man über die Kleinanzeigen gefunden hatte.
Ein vertrautes, einem Propellerflugzeug gleichendes Surren war zu hören und beförderte Fritzi schlagartig in die Gegenwart zurück, in der der Gummibaum seit inzwischen drei Jahren in ihrem Schlafzimmer stand. Sie duckte sich, während Alina hektisch ein Werbeprospekt von der Kommode bei der Tür griff und über ihren Kopf hielt. Aus den Augenwinkeln sah Fritzi etwas Blaues neben der Heizung unter dem Fenster zu Boden gehen und richtete sich auf, während Alina das Heftchen weglegte und rasch zu dem Bruchpiloten eilte. Ihre Mitbewohnerin bückte sich und hob Hansi mit beiden Händen auf, streichelte ihm mit dem Daumen über den Rücken und setzte ihn wieder an seinen angestammten Platz auf dem obersten Brett des Bücherregals neben dem Durchgang in den Flur.
Der Wellensittich knötterte etwas, stolzierte einige Schritte von der einen Seite seines Regalbretts zur anderen und hockte sich dann flach wie eine Flunder auf seinen geliebten grünen Waschlappen, der für Hansi wohl so etwas wie ein Vogelnest für Faule darstellte. Meist bewegte sich der alte Vogel kaum, nur hin und wieder setzte er todesmutig zum Flug an, schien dabei aber grundsätzlich zu vergessen, dass er dank seines Übergewichts nur nach unten und nicht nach oben segeln konnte. An guten Tagen schaffte Hansi es auf die Fensterbank, meist landete er allerdings unter oder neben der Heizung. Lenken konnte Hansi ebenso wenig wie nach oben fliegen, weshalb es regelmäßig zu Zusammenstößen mit ihm kam. Wirklich Leben kam jedoch nur dann in den Vogel, wenn gekocht wurde. Dann krakeelte er so lange auf seinem Waschlappen herum, bis Alina oder Fritzi ihn sich auf die Schulter setzten und Hansi Sicht auf das hatte, was in der kleinen Küche vor sich ging. Und natürlich forderte er seinen Anteil ein. Besonders Spaghetti hatten es dem Wellensittich angetan und einmal war er sogar ins Nudelsieb geplumpst.
Alina betrachtete den schon wieder auf dem Waschlappen ruhenden Vogel und nickte wohlwollend, ehe sie auf ihre Armbanduhr sah. „Herrje, ich muss dringend los!“
Fritzi griff nach der Tasse, schlürfte Glühwein und beobachtete amüsiert, wie Alina einem aufgescheuchten Huhn gleich durch die Wohnung rannte, etwas in ihre Handtasche stopfte, rasch den Lippenstift vor dem Spiegel neben der Garderobe auftrug, mit einer Knautschbewegung vergeblich versuchte, etwas Volumen in ihre dunklen, schulterlangen Wellen zu bringen, in den grauen Wintermantel schlüpfte und sich schließlich zu ihr umdrehte. „Geht das so?“, fragte sie und klang wenig zuversichtlich.
Lächelnd nickte Fritzi ihrer Freundin zu. „Der Kerl wird sein Glück nicht fassen können, dass eine Frau wie du ihre Zeit opfert, um mit ihm einen Kaffee zu trinken.“
Alina hätte auch in einem Sack gehen können und dennoch eine gute Figur gemacht. Ihrer mit einer seit eh und je und von Natur aus gegebenen Kleidergröße sechsunddreißig gesegneten Freundin stand einfach alles. Alina konnte auch essen, was immer sie wollte, während Fritzi erst gestern festgestellt hatte, dass sie ihre Lieblingsjeans kaum noch zu bekam. Aus ihrer Zweiundvierzig würde wohl bald eine Vierundvierzig werden, wenn sie nicht endlich etwas unternahm. Joggen oder so. Oder die Sache mit den zehntausend Schritten am Tag endlich mit etwas mehr Elan anging. Wenn das nicht nur so furchtbar anstrengend wäre.
Fritzi schielte zu Hansi, dessen Kopf auf den Waschlappen sank. Ihr ging es wie dem Vogel: Sie hasste Sport und liebte gutes Essen. Vermutlich half der Glühwein auch nicht gerade dabei, weiterhin in die Lieblingsjeans zu passen. Aber heute mussten ein oder zwei Tassen einfach sein, auch wenn erst Nachmittag war. Immerhin hatte der schönste Monat des Jahres vor ein paar Tagen Einzug gehalten, und da heute Samstag war, war es nun auch dringend an der Zeit, die Wohnung endlich festlich zu schmücken.
Fritzi beobachtete, wie Alina ihre langen Beine in schicke Stiefel packte, die ihre hochgewachsene Figur noch mehr betonten, was sie wieder zu ihrem Dilemma mit der drohenden Vierundvierzig zurückbrachte. Eigentlich war Fritzi nicht wirklich dick, das war ihr klar, nur eben leider zu klein. Wenn man nur knapp ein Meter sechzig war, dann wirkte man eben viel schneller moppelig. Das klang nach einer lahmen Ausrede und vermutlich war es auch eine. Fritzi griff nach der Tasse und trank schlürfend einen Schluck.
„Ich hoffe nur, er hat sein Profilbild nicht ebenso bearbeitet wie der letzte Kandidat.“ Alina verzog den geschminkten Mund und warf sich die Handtasche über die Schulter. „Wünsch mir Glück, ja?“
„Viel Glück.“ Fritzi machte eine Handbewegung zur Stirn, die einem Salutieren glich. Sie hatte keine Ahnung, warum sich Alina schon wieder auf ein Tinder-Date einließ. Es musste das zweite in dieser Woche sein. Oder das dritte? Vermutlich verlor ihre Mitbewohnerin schon selbst den Überblick. In ein paar Stunden würde Alina heimkommen und Fritzi bis ins kleinste Detail erzählen, wie es gelaufen war. Ob der Kerl seinem Profilbild ähnlichsah, ob er nur von sich sprach oder auch an ihr Interesse gezeigt hatte, ob die ganze Zeit ein Stückchen Salat zwischen seinen Zähnen gehangen oder er es mit dem Parfüm übertrieben hatte.
Alina hatte ein Händchen dafür, sich immerzu mit den falschen Kerlen zu verabreden. Die Ausdauer und Zuversicht ihrer Freundin, unter all den Blindgängern auf Tinder noch den Mann zu finden, war beeindruckend. Dennoch ließ Fritzi es sich nicht nehmen, sie ein ums andere Mal darauf hinzuweißen, dass Tinder vielleicht doch nicht der richtige Ort für ihre Männersuche sei. Dann zuckte Alina nur mit den Schultern und sagte stets: „Du weißt ja, im Notfall eben Plan B.“ Alina hatte nicht nur einen Plan A, der vorsah, den perfekten Kerl auf Tinder zu finden, sondern auch ein Back-up, falls daraus nichts werden sollte, ehe sie dreiunddreißig wurde. Dann würde sie sich einfach einen der Zahnärzte aus der Praxis angeln, in der sie in Basel arbeitete und dort als zahnmedizinische Prophylaxe-Assistentin mal locker mehr als doppelt so viel verdiente wie Fritzi im Kindergarten. Aber Fritzi putzte lieber in einer Tour kleine Rotznasen, als großen Menschen die Zähne zu reinigen.
Dreiunddreißig war deshalb die von Alina gewählte Schallwand, da man dann noch zwei Jahre hatte, um die Beziehung zu testen und zu heiraten, ehe es dann mit fünfunddreißig Zeit für das eine Kind wurde, das sie haben wollte. Vier Jahre hatte ihrer Freundin bis dahin noch und damit fünfhundertzwanzig Tinder-Dates, wenn Alina auch weiterhin bei ihren durchschnittlich zweieinhalb Verabredungen pro Woche blieb.
Mit einem „Na dann wollen wir mal sehen“, winkte Alina ihr zu, rauschte aus der Tür und überließ sie der im Hintergrund dudelnden Weihnachtsmusik.
Fritzi sah zu den beiden mit Deko vollgestopften Kisten, mithilfe derer sie die Wohnung heute noch in eine glitzernde Wunderwelt verwandeln wollte. Das war jedes Jahr Pflichtprogramm am ersten Wochenende im Dezember, auch wenn sie Alina damit zuverlässig zur Weißglut trieb. In zwei, drei Stunden würde diese heimkommen, darüber schimpfen, dass Fritzi es einmal mehr übertrieben hatte, und schließlich mit den Schultern zucken und sich dem Weihnachtswahnsinn ergeben. Der Deal war, dass Fritzi all den Kram, den sie heute noch in den Zimmern verteilen würde, spätestens am zweiten Januar wieder in die Kisten stopfte und für elf Monate in die Abstellkammer verbannte. Darauf hatten sie sich in ihrem ersten gemeinsamen Jahr hier geeinigt und mit dieser Abmachung konnten sie beide gut leben.
Fritzi summte und nahm den letzten Schluck, ehe sie die Schneemanntasse auf den Schneeflockenuntersetzer stellte. Ihr fiel ein, dass sie nachher noch Pinterest nach neuen weihnachtlichen Bastelideen für den Kindergarten durchsuchen musste. Auf keinen Fall wollte sie diese Rentiere aus Papptellern basteln, die ihre Kolleginnen wie jedes Jahr ganz sicher bei der Dienstbesprechung am Montag vorschlagen würden.
Seit die Leiterin vor Jahren bei einem Ausverkauf hunderte, wenn nicht gar tausende Pappteller zum Schnäppchenpreis erbeutet hatte, wurde zu jedem Fest irgendein Mist mit diesen Dingern gebastelt. Und wenn tatsächlich mal eine ihrer Kolleginnen eine andere Idee hatte, dann war es grundsätzlich irgendwas mit Toilettenpapierrollen. Anscheinend gehörte das Werken mit Papptellern und Klorollen zum Einmaleins der Erzieherinnenausbildung, doch für Fritzi kam das nicht in Frage. Sie wollte etwas Besonderes. Etwas Buntes, Glitzerndes und Spektakuläres. Etwas, das die Eltern nicht mit einem gequälten Lächeln in Empfang und bei der erstbesten Gelegenheit im heimischen Mülleimer entsorgen würden. Sie musste die richtige Idee nur noch finden und Pinterest war dafür immer eine gute Adresse. Doch nun war erst einmal die Wohnung an der Reihe. Heute Abend würde kein Zweifel daran herrschen, dass es endlich Dezember war.
Gerade, als Fritzi sich erneut über die Dekokisten beugte, klingelte ihr Handy. Ein Blick auf das Display verriet, dass es Alina war.
„Hast du was vergessen?“, fragte Fritzi und fischte ein mit einem Tannenbaum besticktes Kissen heraus, das sie mit einem gezielten Wurf auf das Sofa beförderte.
„Nein“, flüsterte es an ihr Ohr. „Hier wurde eben ein Namensschild an der Klingel angebracht.“
Fritzi richtete sich auf. „Stehst du etwa noch unten vor dem Eingang?“
„Ja“, zischte Alina. „Ich war schon fast um die Kurve, da habe ich gesehen, wie ein Mann sich an den Klingeln zu schaffen gemacht hat.“
Erneutes Rumpeln im Treppenhaus war zu hören und dann hallten Schritte durch den Flur. Fritzi schlurfte in Richtung Tür. „Und da bist du zurückgegangen, weil du einfach schrecklich neugierig bist, was?“
„So in etwa.“ Alina gluckste. „Ich habe zwar nur einen ganz kurzen Blick auf den Typ werfen können, aber ich glaube, der ist ’ne echte Schnitte. Groß, ganz bestimmt sportlich gebaut unter seiner Jacke, und er hat hohe Wangenknochen.“
„Ach ja?“ Fritzi rollte mit den Augen. Warum auch immer, fand Alina hohe Wangenknochen bei Männern heißer als jedes Sixpack. Fritzis Empfinden nach war beides nicht notwendig, um gut auszusehen. Aber nun hatte der neue Nachbar hohe Wangenknochen und Alina schmolz natürlich dahin. Ganz bestimmt würde sie gleich versuchen, den Kerl auf Tinder zu finden – während sie auf dem Weg zu einem Date mit einem anderen Kerl war. Fritzi gluckste amüsiert und linste, so wie Alina vorhin, durch den Spion. Zwei Männer, deren Jacken mit dem Logo sie als Mitarbeiter der Umzugsfirma auswiesen, trugen Kartons in die Wohnung nebenan. Ein weiterer Mann trat in ihr Sichtfeld und Fritzi drückte sich etwas näher an die Tür, in der Hoffnung, mehr erkennen zu können. Er stand einen Moment lang regungslos da, dann zog er die dunkle Wintermütze ab, fuhr sich durch die Haare und drehte sich um. Sein Blick wanderte über die Eingangstür der WG und Fritzi hielt ertappt die Luft an. Sie wollte sich schon lautlos von der Tür entfernen, als ihr etwas an ihm merkwürdig vertraut vorkam. Sie sah genauer hin und glaubte, ihr Blut rauschen zu hören. Diese Augen.
War er es wirklich? Bitte sei es nicht.
Sie wollte schlucken, doch ihr Hals war so trocken wie ein Brötchen von gestern. Er sah anders aus als damals. Natürlich, er ist älter geworden, so wie du ebenfalls. Fritzi legte sich eine Hand über den Mund, während sie weiterhin durch den Spion in sein Gesicht starrte, um nicht aus Versehen doch noch einen Mucks zu machen. Vielleicht bildete sie es sich ja nur ein? Sie betrachtete seine Haare, die einen frechen Schnitt hatten, aber durch die Mütze etwas verstrubbelt waren. Weder blond noch braun. Schon damals hatte Fritzi nicht gewusst, welche Haarfarbe er hatte. Es war weder das eine noch das andere, sondern ganz genau in der Mitte. Ebenso wie seine Iriden, die gleichzeitig grün und grau strahlten und sie vor langer Zeit einmal in ihren Bann gezogen hatten. Und das innerhalb nur weniger Tage. Weil sie eine dumme Nuss gewesen war.
Fritzi stemmte sich von der Tür weg und schnappte nach Luft. Wurde ihr schlecht? Hoffentlich kam ihr nicht der Glühwein hoch. Es war doch die erste Tasse des Jahres und die kotzte man nicht aus. Ganz sicher wäre das ein schlechtes Omen für die Weihnachtszeit. Und Wein machte schreckliche Flecken. Was, wenn sie es nicht rechtzeitig bis zur Toilette schaffte?
Noch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, was ein ausgekotzter Glühwein für Folgen hätte, lachte es an ihr Ohr. „Der Name passt wirklich, also unser neuer heißer Nachbar heißt …“
„Tilo Scheiße“, flüsterte Fritzi zu sich selbst.
„Tilo Schön“, hauchte Alina durchs Handy.
Verdammt.
Fritzi lehnte sich an die Wand. Er war es wirklich. „Nun geh schon endlich los, der Kerl wird nicht ewig auf dich warten“, murmelte sie und unternahm den Versuch, ihre Freundin loszuwerden, da sie kurz davor war, das Telefon fallenzulassen. Ihre Hände zitterten unkontrolliert. Gerade so klang ihre Stimme noch normal, zumindest hoffte Fritzi es.
„Bis nachher!“, rief Alina unbeschwert und schien in der Tat nichts gemerkt zu haben.
Fritzi legte das Handy auf die Ablage unter dem Spiegel. Dann blinzelte sie noch einmal durch das Guckloch, doch der Flur war leer, während Stimmen aus der offenen Tür der Nachbarwohnung drangen. Sie wandte sich um und ging zum Sofa zurück, wo sie sich der Länge nach auf dem Rücken liegend ausstreckte und an die Decke starrte. Hatte sie im letzten Jahr irgendetwas verbrochen, um das zu verdienen? Warum strafte das Schicksal sie derart? Was tat dieser Kerl ausgerechnet hier, in dieser Stadt, in diesem Haus? Und wie lange war es überhaupt her?
Fritzi runzelte die Stirn und versuchte, sich zu konzentrieren. „Dreizehn verdammte Jahre“, murmelte sie. Vor dreizehn Jahren hatte sie Tilo Scheiße zum Teufel gewünscht und heute war er einmal mehr ausgerechnet pünktlich zur Weihnachtszeit in ihr Leben geschneit.
***
Tilo
Tilo stand an der breiten Fensterfront und sah in den wolkenverhangenen Himmel hinaus. Selbst an einem so trüben und freudlosen Tag wie heute war die Aussicht packend. Und genau deshalb hatte er sich auch hinreißen lassen, die überteuerte Miete zu berappen. Doch es würde sich auszahlen, da war er sich sicher. Immerhin würde er hier nicht nur leben, sondern auch arbeiten.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete er die unzähligen Häuser, die sich über die Hänge erstreckten. Vor ihm breitete sich seine Geburtsstadt aus, in die er nun ganz offiziell zurückkehrte. Der Wohnungsschlüssel in seiner Hosentasche war der Beweis dafür, dass es tatsächlich so war. Lörrach. Ein kleines Nest im Vergleich zu den Städten, in denen er im vergangenen Jahrzehnt gelebt hatte, und das waren einige gewesen. Höchstens zwei Jahre hatte er es an einem Ort ausgehalten, dann hatten sich neue Gelegenheiten für seinen Job geboten. Ebenso lange, oder besser kurz, hatte er studiert, ehe er alles hingeschmissen hatte. Ingenieur. Tilo schmunzelte in sich hinein. Was hatte er sich damals nur gedacht?
„Ein ordentliches Studium, dann eine gute Arbeit und eine abgesicherte Zukunft.“ Beinahe glaubte er, die Stimme seines Vaters zu hören. Daraus war nichts geworden und Tilo hatte seinen alten Herrn mit dem Studienabbruch derart verärgert, dass sie Monate kein Wort miteinander getauscht hatten, nachdem sein Vater ihm prophezeite, dass er eines Tages pleite enden und diesen Schritt bereuen würde.
Tilos Mundwinkel zuckten. Er hatte es nicht einen Tag bereut, seiner Leidenschaft zu folgen, und wie sich zeigte, ließ es sich auf diese Weise tatsächlich überleben. Und das gar nicht so schlecht, wie die neue Wohnung anschaulich demonstrierte. Tilo nahm sich vor, Fotos zu machen, sobald alles eingerichtet und ausgepackt wäre, um sie seiner Mutter zu schicken. Sein Vater würde die Bilder brühwarm serviert bekommen und Tilo ein wenig Genugtuung, auch wenn er sich das Rechthabenwollen eigentlich versuchte abzugewöhnen, da es nicht zu seiner Lebenseinstellung passte. Manchmal tat es allerdings verdammt gut, seinen niederen Bedürfnissen zu folgen.
Die Aussicht löste die unguten Gedanken in ihm auf. Hier hatte er vor, es länger auszuhalten. Sich endlich dauerhaft etwas aufzubauen, auch wenn ihm das Leben in einer Großstadt ganz sicher fehlen würde. Viel zu bieten hatte Lörrach nicht, mal abgesehen von der Burg Rötteln, zu der er als Kind so gern gewandert war. Aber dafür war das Städtchen praktisch gelegen hier im Dreiländereck und man konnte vom Maienbühl, an dessen Hang das Haus lag, bis in die Schweiz und nach Frankreich blicken, doch ansonsten war Lörrach eben auch ziemlich unspektakulär. Trotzdem hatte Tilo den Entschluss, hier seine Zelte aufzuschlagen, bewusst getroffen. Viele kleine Dinge hatten schließlich den Ausschlag gegeben, dass er seine Sachen ein letztes Mal gepackt hatte.
Ein Scheppern ließ Tilo seine Aufmerksamkeit in Richtung der offenen Küche lenken.
„Sorry, ist mir aus der Hand gerutscht“, brummte einer der Möbelpacker und wuchtete den Karton, der dem Geräusch nach Tilos Töpfe und Pfannen enthielt, auf die Arbeitsplatte.
„Ist ja noch mal gutgegangen.“ Tilo kam sich unnütz vor, wie er hier herumstand und abwartete, bis sein Hab und Gut hinauftransportiert war. Doch als er eben unten hatte anpacken wollen, hatte einer der Möbelpacker etwas von „Versicherungsschutz“ und „Geht schon, ist ja nicht viel“ genuschelt und ihn aus dem Weg geschoben. Da nun immerhin schon einmal ein Teil der Küchenausstattung da war, konnte er diese auch gleich einräumen, anstatt weiterhin aus dem Fenster zu starren und darüber zu sinnieren, ob er wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Tilo ging zu der glänzenden weißen Arbeitsplatte der Kochinsel hinüber, auf die ein anderer Mann der Umzugsfirma in diesem Moment einen weiteren Karton schob, sich über die Stirn wischte und wieder verschwand. Tilo kramte den Hausschlüssel heraus und zerschnitt mit ihm das Klebeband. Vermutlich wäre es eine gute Idee gewesen, die Kisten zu beschriften, denn was mit dem zweiten Karton in der Küche gelandet war, waren die Schmutzmatte und einige seiner Turnschuhe, doch irgendwie hatte er es dieses Mal vergessen. Tilo schnappte sich das Teil, trug es in den Flur, kippte die Schuhe aus und stellte sie in einer Reihe entlang der Wand auf. Dann trat er hinaus in den Hausflur und legte die Schmutzmatte an ihren Platz. Dies war schon die dritte Wohnung, zu der er sie mitschleppte, was daran lag, dass sie bis sechzig Grad waschbar und damit langlebig und ökologisch sinnvoll war. Zwar hatte sie mindestens so viel gekostet wie sechs normale aus dem Möbelhaus, aber es ging ums Prinzip und Prinzipien waren manchmal eben teuer.
Er richtete sich auf und sah auf die Tür gegenüber, die ihm schon eben, beim ersten Betreten des Hauses, ins Auge gestochen war. Davor lag ebenfalls eine Matte, allerdings bunt bedruckt. Ein zwergartiges Geschöpf in einer Winterlandschaft hielt ein Schild hoch. „Hereingewichtelt“, las Tilo tonlos und unterdrückte ein Stöhnen. Nicht nur, dass jemand Geld für eine Fußmatte ausgab, die man nur ein Zwölftel des Jahres nutzen konnte, was weder ökologisch sinnvoll noch praktisch war, stellte der darüber hängende Türkranz aus pinken und roten Weihnachtskugeln auch noch geradezu einen stilistischen Affront dar.
Sicherlich wohnte dort eine ältere Dame mit zu viel Zeit. Wahrscheinlich hatte sie auch noch Katzen. Katzen passten zu einer Frau mit Wichtelmatte und solch einer Scheußlichkeit von Türkranz, fand er. Tilo konnte Katzen nicht leiden, was vor allem der Tatsache geschuldet war, dass seine Augen in ihrer Nähe zuschwollen und er alsbald nach Luft japste. Nein, hier wohnte keine Katze, beruhigte er sich. Im Mietvertrag hatte ausdrücklich gestanden, dass Haustiere untersagt waren.
Erleichtert machte er auf dem Absatz kehrt und ging wieder hinein. Eine Oma, die ihre Tür zu jeder Jahreszeit passend schmückte, würde schon zu ertragen sein. Vermutlich war das allemal besser als eine Familie mit Kindern, die schrecklich laut waren und ihn bei der Arbeit störten. Ältere Leute waren für gewöhnlich immerhin ruhig, dafür manchmal aber eben auch neugierig. Und vorhin hatte er in der Tat das merkwürdige Gefühl gehabt, durch den Türspion beobachtet zu werden. Sicherlich hatte er es sich nur eingebildet.
Tilo öffnete den Karton auf der Arbeitsplatte und räumte die Pfannen und Töpfe aus und in die Schubladen, die sich lautlos und scheinbar schwebend beinahe von allein öffneten und schlossen. Diese Küche war ein Traum. Er konnte es kaum erwarten, hier zu kochen. Zuletzt hob er den schweren Standmixer heraus und teilte ihm einen Platz neben der Spüle zu. Dann öffnete er den gewaltigen, silbern glänzenden Kühlschrank, der für nur eine Person deutlich überdimensioniert war und vermutlich viel zu viel Strom verbrauchte. Tilo drehte das Rädchen, das die Temperatur einstellte, von der kältesten Einstellung auf die mittlere.
„Haben sie da etwa Steine drin?“, stöhnte der Mann, der eben beinahe die Töpfe hatte fallen lassen, und stellte einen Karton mitten im offenen Wohnbereich ab.
„Das werden die Hanteln sein.“ Tilo lächelte ihn entschuldigend an.
„Aha.“ Der Mann warf ihm einen prüfenden Blick zu, als wollte er erkennen, ob sich die Schlepperei auch lohnte und Tilo die Hanteln überhaupt nutzte, doch seine dicke Winterjacke gab keinen Aufschluss darüber und der Mann schlurfte hinaus.
Tilo schob die Kiste an die Wand zu der Stelle, an der er das Regal für das Sportzubehör aufbauen wollte, und blickte sich in dem großen Raum um. Er war perfekt, nicht nur, was die Aussicht anging, sondern auch perfekt für das geschnitten, wofür Tilo ihn nutzen wollte und das ganze Tageslicht würde natürliche Aufnahmen sicherstellen, was mit Kunstlicht einfach nicht zu erreichen war. Die Kiste mit der Technik, den Kameras und dem Laptop hatte er zur Sicherheit im Zug transportiert. Nicht, dass diese ebenfalls jemandem aus der Hand rutschte. Sobald die Umzugsfirma verschwunden war, würde er auf sein Rad steigen, das inzwischen unten im Eingangsbereich stand, und zum Biomarkt fahren, um sich mit dem Notwendigsten einzudecken, da morgen Sonntag war. Sein Magen rumorte schon jetzt und verlangte allmählich mit Deutlichkeit nach Essen. Tilo griff in die Jackenrasche und zog einen Müsliriegel heraus. Das würde noch eine weitere Stunde überbrücken.
Den ersten Abend in der neuen Wohnung hatte Tilo damit verbracht, die Kartons auszupacken und das Bett aufzubauen. Wahrscheinlich war diese Bezeichnung übertrieben, denn er hatte den Lattenrost lediglich, wie auch schon zuvor, auf acht rote Backsteine gelegt und die Matratze darauf gewuchtet. Seine Schlafstätte machte optisch vielleicht nicht viel her, war aber dafür praktisch und schlicht – zwei Dinge, die Tilo zu schätzen wusste. Erst recht, wenn man regelmäßig umzog. Ob er sich nun endlich ein Bettgestell zulegen würde, da er vorhatte, länger hier zu wohnen, wusste er nicht. Aber eigentlich war die Konstruktion vollkommend ausreichend und hielt auch in gewissen Situationen stand, wie er bereits hier und da ausgiebig getestet hatte. Und der Staubsaugroboter passte haarscharf unten durch, was ein weiterer Vorteil war.
Tilo hängte die letzten Bügel mit Shirts und Hemden an die Kleiderstange aus Bambusholz, die einen Kleiderschrank ersetzte, und blickte sich zufrieden um. Die Nachttischlampe stand auf der alten Weinkiste, die er schon seit der kurzen Studienzeit als Nachttisch nutzte und die gerade genug Platz für die Ladegeräte seines Handys und der Smartwatch bot. Im Innenteil der aufrecht sehenden Kiste stapelten sich all die Bücher auf, die er aktuell las oder noch lesen wollte. Mehr brauchte er nicht. Zwar hing von der Decke bisher nur eine traurig wirkende, nackte Glühbirne, doch einen passenden Lampenschirm zu finden hatte noch Zeit. Und vielleicht sogar ein oder zwei Bilder für die kahlen weißen Wände. Alles in allem war er zufrieden mit dem Schlafzimmer, ebenso wie mit dem Wohnbereich nebenan.
Tilo ging hinüber und ließ sich auf die Couch fallen, die die Möbelpacker der breiten Fensterfront zugewandt aufgestellt hatten. Hinter der Terrasse bot sich nun ein Bild aus leuchtenden Punkten in der Dunkelheit. Die Lichter, die aus unzähligen Fenstern drangen, ließen in ihm für einen kurzen Moment ein seltenes Gefühl von Einsamkeit aufsteigen. Bekannte und Freunde hatte er in München, Berlin, Hamburg und Frankfurt, denn dort hatte er in genau dieser Reihenfolge gelebt. Die Freundschaften waren durch gemeinsame Interessen geprägt und dementsprechend praktisch gewesen. Und nun würde er sich einmal mehr einen neuen Kreis suchen müssen, wenn er diese Aussicht nicht andauernd allein genießen wollte.
Wobei es hier Menschen gab, die ihm mehr bedeuten als all die Kumpels der vergangenen zehn Jahre. Und mit Luis hatte sich für morgen schon der Erste angekündigt. Sein bester Freund aus Grundschulzeiten war nie aus Lörrach herausgekommen, überspielte diese Tatsache aber gekonnt mit seinem überdurchschnittlichen Selbstbewusstsein, das gelegentlich in Selbstverliebtheit abdriftete. Dennoch war Luis durch und durch ein Kumpel, auf den man sich verlassen konnte, und sie hatten es all die Zeit geschafft, sich jedes Jahr mindestens einmal zu sehen. In der Regel war Luis für ein Wochenende zu ihm gereist, zwei oder dreimal hatten sie sich auch für einen Kurzurlaub irgendwo in der Sonne getroffen, da es meist nicht teurer war, nach Gran Canaria oder sonst wo zu fliegen, anstatt mit der Deutschen Bahn von Süden nach Norden durch die ganze Republik zu tingeln. Was er damit seinem ökologischen Fußabdruck zugemutet hatte, wollte Tilo besser gar nicht so genau wissen. Immerhin hatte er Besserung gelobt und sich geschworen, nur noch in Ausnahmefällen zu fliegen. Und da Luis und er nun einmal mehr in der gleichen Stadt leben würden, gab es vorerst auch keinen Grund, einen Platz in einem Billigflieger zu buchen.
Während er da so saß und seinen Gedanken nachhing, waren im Hausflur klackernde Schritte zu hören. Tilo sah auf die Armbanduhr. Es war kurz nach neun und damit wohl höchste Eisenbahn für die ältere Nachbarin, ins Bett zu kommen. Er würde in der kommenden Woche Kekse besorgen und sich nebenan ordentlich vorstellen, so wie man das eben machte. Ein Schlüssel klimperte, dann war das gedämpfte Zufallen der Tür zu hören.
Einen Moment lang überlegte er, sich zur Feier des Tages noch ein Bier zu gönnen, doch dann rappelte er sich gähnend auf und ging in Richtung Badezimmer. Immerhin war er heute von Frankfurt inklusive Karton in einem überfüllten Zug gefahren und hatte bereits den Großteil seiner Dinge ausgepackt. Eine heiße Dusche und danach ein gutes Buch im Bett klang jetzt genau richtig.
***
Fritzi
„So ein Mistkerl“, fauchte Alina und warf die Tür zu. Hansi ließ ein erschrockenes Kreischen hören, döste jedoch gleich darauf wieder ein, wie er es schon den ganzen Abend tat.
Alina hängte den Mantel auf und beförderte die Handtasche auf die Ablage, dann sah sie sich überrascht um. „Wo ist denn das Winter Wonderland?“, fragte sie, ehe sie zu Fritzi sah und auf die halb aufgegessene Tafel Schokolade in ihrer Hand.
Schuldbewusst starrte Fritzi auf die Zahnabdrücke in dem Dunkelbraun und legte den Rest der Tafel auf den Beistelltisch. „Ich hatte irgendwie doch keine Lust, heute zu schmücken“, sagte sie und gab vor, auf dem Tablet auf ihrem Schoß ausgesprochen spannende Dinge zu betrachten.
„Du …“ Sie konnte Alinas stechenden Blick auf sich spüren. „Du und keine Lust auf Weihnachtsdeko?“ Ihre Freundin trat auf das Sofa zu und setzte sich neben sie. Alinas eiskalte Finger tasteten ihre Stirn ab und Fritzi wand sich aus der Untersuchung.
„Lass das, du Hobbykrankenschwester.“
„Hier stimmt doch was nicht. Wirst du etwa krank?“, fragte Alina.
Fritzi zuckte mit den Schultern. „Vielleicht“, antwortete sie ausweichend. Auf keinen Fall sollte Alina mitbekommen, was wirklich los war. Den ganzen Nachmittag und Abend schon versuchte sie, rauszufinden, was zum Teufel hier los war und was das mit ihr anstellte. Nachdem ihr endlich nicht mehr schlecht gewesen und der erste Schock verflogen war, hatte Fritzi sich erst einige Spaghetti mit Hansi geteilt und dann zur Schokolade gegriffen. Irgendetwas musste ihre Nerven ja beruhigen.
„Soll ich dir einen Tee machen?“, fragte Alina und rückte zur Sicherheit auf die andere Seite des Sofas. Ab sofort galt Fritzi immerhin als potentiell tödlich. Mindestens.
„Nein danke, es geht schon. Ich werde aber wohl früh ins Bett gehen.“ Sie musste ihre Freundin dringend von sich ablenken, ehe diese noch die Schwindelei bemerkte. „Wie war denn dein Date?“
„So ein Mistkerl“, wiederholte Alina ihren Satz von eben mit der gleichen Inbrunst und rollte die Augen. „Thomas, dreiunddreißig“, führte sie aus.
Bingo. Fritzi lehnte sich zurück und legte die Füße auf dem Beistelltisch auf. Und schon ging es nicht mehr um sie.
Alinas dunkelrot lackierte Fingernägel zupften einige Chipskrümel vom Sofa, für die Fritzi verantwortlich war. „Ich hatte diese Woche drei Dates. Zwei wollten schon beim ersten Treffen knutschen und einer kiffen.“ Sie seufzte.
„War der von heute der Kiffer?“
Alina schüttelte den Kopf. „Nein, der Kiffer hat immerhin noch so was wie Humor gehabt. Der heute wollte direkt mehr, dabei mache ich immer vorab klar, dass ich nicht an einem One-Night-Stand interessiert bin und habe bei Tinder auch LZB angegeben, nur das scheint die meisten Kerle ja nicht zu interessieren.“
LZB stand für Langzeitbeziehung, wie Fritzi dank Alinas Tinder-Abenteuer inzwischen wusste. Sie nickte und versuchte, mitfühlend zu gucken, während ihre Gedanken wieder zu der Wohnung nebenan abdrifteten. Wie war Tilo nur ausgerechnet in ihrem Haus gelandet?
„Dann wollte er auch noch die ganze Rechnung bezahlen, dabei habe ich beim Betreten der Bar deutlich gesagt, dass ich meinen Deckel selbst übernehmen werde. Als es dann so weit war, hat er mir ein schmieriges Grinsen zugeworfen und ‚alles zusammen‘ zur Bedienung gesagt.“ Alina schnaufte. „Ist es wirklich so schwer, die Selbstständigkeit einer Frau zu akzeptieren? Diese Typen glauben, wenn sie uns einladen, dann schulden wir ihnen etwas und sind leichter rumzukriegen. Aber nicht mit mir. Ich lasse mich nicht einladen.“
Fritzi nickte. Sie kannte diese Leier. Alina hatte ihr schon in der ersten Woche, in der sie hier zusammengewohnt hatten, eingebläut, dass sich eine Frau von heute nicht von Männern aushalten ließ. Dabei hatte Fritzi kaum Dates gehabt, seit sie hier wohnte, weshalb sie gar nicht in die Lage kam, eine Einladung ausschlagen zu müssen. Das hatte Alina nicht von einem Monolog über die Selbstständigkeit der Frau abgehalten. Grundsätzlich gab Fritzi ihr ja auch recht, aber manchmal wollte sie doch zu gern fragen, weshalb so eine selbstständige Frau wie Alina denn überhaupt so sehr nach einem Mann suchte. Kinder konnte man heute notfalls auch ohne Kerl bekommen, wie die lesbischen Mütter von Nils bewiesen, der in Fritzis Gruppe war. Kind zwei und drei waren dort gerade gleichzeitig unterwegs und beide Mütter schoben beachtliche Kugeln vor sich her. Wie genau sie das angestellt hatten, wusste Fritzi nicht und es ging sie natürlich auch nichts an, aber sie freute sich, war Nils doch einer ihrer heimlichen Lieblinge und mit etwas Glück wurden seine Geschwister ähnlich niedlich.
„Also folgte eine Diskussion, wer denn jetzt was bezahlt und weil er mich so genervt hat, habe ich der Bedienung einfach fünfzig Euro gegeben, was für die Drinks von uns beiden ausgereicht hat.“ Alina kicherte. „Du hättest mal sehen sollen, wie peinlich das dem Kerl war. Er war so rot wie eine Tomate. Ich habe ihm dann das Knie getätschelt und ‚geht auf mich, Schätzchen‘ gesagt.“ Nun gab es kein Halten mehr. Alina krümmte sich lachend und Fritzi erkannte Feuchtigkeit in ihren perfekt geschminkten Augen.
„Also kein weiteres Date mit Thomas, dreiunddreißig?“, fragte sie und schmunzelte.
„Er hatte unser Match schon aufgelöst, kaum dass ich im Bus saß“, prustete sie. Dann rappelte sich ihre Freundin auf. „Und was machst du so?“ Neugierig schielte sie aufs Tablet, was nicht so leicht war, ohne die Sicherheitszone zu verlassen, die Alina nun um Fritzi zog, um sich ja nicht anzustecken. Enttäuscht zog sie eine Schnute, weil dort nur Basteleien für Kinder zu sehen waren. „Es ist Samstag, Fritzi. Du wirst doch nicht den Samstagabend damit verbringen, Kindergartenzeugs zu recherchieren.“
„Doch, genau das habe ich gemacht. Und nun gehe ich mir die Zähne putzen und ins Bett.“ Sie stand auf, reckte sich, um nach Hansi sehen zu können, der auf seinem Waschlappen schlief, und ging dann auf die Badezimmertür zu.
„Es ist kurz nach neun an einem Samstag! Du bist eindeutig krank, wenn du jetzt schon ins Bett gehst. Stell deine Zahnbürste bloß nicht zu nah an meine, ja?“, rief Alina ihr nach und Fritzi war sich sicher, dass sie bereits das Handy gezückt hatte, um nach einem neuen Date zu suchen. So oft hatte Alina sie schon versucht zu überreden, sich ebenfalls bei Tinder anzumelden, und einmal sogar heimlich die App auf Fritzis Handy installiert. Fritzi, neunundzwanzig, mag lange Spaziergänge, nette Männer, Wein und Pizza – jedenfalls hatte Alina sie so beschrieben. Vermutlich stimmte es, überlegte Fritzi. Zumindest bis auf die langen Spaziergänge, die sie nicht wirklich freiwillig, sondern mehr aus schlechtem Gewissen ob ihrer Essgewohnheiten unternahm. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, welche Kurzbeschreibung zu ihr passte. Aktuell wäre es wohl eher etwas wie: Fritzi, neunundzwanzig, deprimierte Weihnachtsfee mit erneut aufkeimendem Jugendtrauma, futtert zu viel Schokolade, betrinkt sich gelegentlich, bekommt ihre Lieblingsjeans bald nicht mehr zu und misstraut Männern grundsätzlich.
Fritzi schaltete das viel zu helle Badezimmerlicht an und schloss die Tür hinter sich. Seufzend trat sie ans Waschbecken und betrachtete ihre fahle Gesichtshaut. Noch heute Morgen war sie voller Elan aus dem Bett gesprungen und hatte die Kisten mit der Deko noch vor dem ersten Kaffee aus der Abstellkammer herausgeschoben. Und nun war alle Euphorie verpufft und das erste Mal im Leben war ihr nicht nach Glitzer und Weihnachtsmusik. Weil nebenan der Mann eingezogen war, der ihr schon einmal ein Fest verdorben hatte. Und nun tat er es erneut.
Kapitel 2
Fritzi
Es schepperte, dann war ein Fluch zu hören. Fritzi setzte sich auf und blinzelte in ihr Zimmer hinein. Etwas Licht fiel durch die Schlitze in den Rollläden. Gähnend sah sie auf den Wecker und stellte fest, dass es schon fast halb zehn war. Wann hatte sie das letzte Mal zwölf Stunden geschlafen?
Fritzi hielt inne. Tilo. Deshalb war sie gestern so durch den Wind gewesen und früh ins Bett gegangen. Um nicht weiter über diesen Mistkerl nachdenken zu müssen. Und doch war er heute ihr erster Gedanke. Ein Murren drang aus ihr, als sie sich aufrappelte und die Rollläden hochzog. Hinter der Scheibe war in einigen Metern Entfernung der felsige Hang zu erkennen, mit seinen moosbewachsenen spitzen Steinen und einigen Grasbüscheln hier und da. Dieses Zimmer war immerzu dunkel und nie fiel auch nur ein Sonnenstrahl hinein. Es war geradezu ein Wunder, dass der Gummibaum überhaupt noch lebte. Immerhin wuchs er endlich nicht mehr. Ganz sicher war diese Bonzenwohnung nebenan lichtdurchflutet, in der Tilo Scheiße bestimmt gerade einen Latte Macchiato schlürfte und die Aussicht genoss.
„Was bist du denn so giftig?“, murmelte Fritzi zu sich selbst. Sie durfte es nicht zulassen, dass dieser Kerl ihr den Advent verdarb. Sie hatte sich gestern schrecklich gehen lassen, wenn sie ehrlich mit sich war. Plötzlich hatte sie sich wieder gefühlt wie damals mit sechzehn. Wie am Tage nach der Sache. Einsam und verletzt.
Fritzi schluckte das miese Gefühl hinunter, das sich in ihr auszubreiten drohte. Wieder war ein Schimpfen zu hören und sie schlüpfte in den Onesie, der über dem Stuhl am Schreibtisch hing. Dann eilte sie in den Wohnbereich, um nachzusehen, weshalb Alina derart Radau machte.
Ihre Freundin stand in Leggins und einem seidenen Spitzenschlafhemdchen an der Küchenzeile und rührte in einer Schüssel. Fritzi erkannte Mehlstaub auf der Arbeitsplatte und als sie näher kam, eigentlich so ziemlich überall. Hansi wackelte auf Alinas Schulter herum und spielte mit dem Schnabel in ihren Haaren. „So ein Mist.“ Alina schleuderte den Rührlöffel zur Seite und drehte sich um. Überrascht blickte sie Fritzi an. „Ah, du bist auf. Gut. Sehr gut. Dann kannst du mir mit diesen Bananenplätzchen helfen.“
Ehe Fritzi sich versah, hielt ihr Alina schon das Display ihres Handys vors Gesicht. Vanillekipferl. Fritzi nahm es ihr aus der Hand. Alina backte nicht. Niemals. Weil sie es nicht konnte. Darin war sie noch schlechter als beim Kochen und das hieß was. „Was tust du denn hier?“, fragte sie.
„Backen.“ Alina hielt ihr nun die Schale unter die Nase. „Sieht das richtig aus? Oder zumindest halbwegs passabel?“
Fritzi sah auf den klebrigen Klumpen, der freudlos in der Schüssel lag. „Das ist zu feucht. Da fehlt Mehl.“
„Ja, was das angeht … Wir hatten gerade noch genug da, aber dann ist es mir runtergefallen.“ Ihre Freundin deutete auf den Boden und runzelte die Stirn. „Du hast gestern Morgen gesaugt, oder nicht?“
Fritzi wusste nicht, was das jetzt mit zu wenig Mehl zu tun hatte, aber sie nickte.
„Dann geht’s, nehme ich an.“ Alina schnappte sich die Teigschüssel, kniete sich hin und begann, das Mehl auf dem Boden zu kleinen Häufchen aufzutürmen und dann mit beiden Händen in die Schale rieseln zu lassen.
„Das ist eklig“, befand Fritzi und schnupperte in die Luft. Es roch nach Kaffee und mit etwas Glück hatte Alina noch etwas übriggelassen. Sie machte einen großen Schritt über den mehlversauten Küchenboden, zwängte sich zwischen Alina und den Schränken hindurch und hob prüfend die Thermoskanne an. Immerhin. Rasch nahm sie eine Tasse heraus, füllte Kaffee ein und beugte sich dann über ihre Freundin, um den Kühlschrank zu erreichen. Gerade so gelang es ihr, an die Milchpackung zu kommen. Nach einem großen Schluck davon versenkte sie noch ein Stück Würfelzucker in der Tasse und gab einen Schuss Haselnusssirup hinzu. Fritzi rührte alles kräftig um, atmete verzückt den herrlichen Duft ein und nahm einen Schluck. Süß und heiß musste ein Kaffee sein, um gute Laune zu machen, und heute brauchte sie jede Unterstützung, um diese zu bekommen. Verdammt, sie war keine sechzehn mehr! Sie war eine selbstbewusste, erwachsene Frau, die eine Wohnung zu schmücken hatte. Und die es irgendwie schaffen musste, sich vor dem Kerl nebenan zu verstecken. Jedenfalls vorerst.
Hansi versuchte, an Alinas Hemdchen hinabzuklettern, verlor das Gleichgewicht und plumpste auf den bemehlten Boden. Augenblicklich probierte er, das weiße Zeug aufzupicken und ließ ein Knöttern hören, was wohl so viel wie schmeckt ja furchtbar bedeuten sollte.
Fritzi stellte den Kaffee beiseite, beugte sich hinunter und hob den Vogel auf. Dann trug sie ihn zu seinem Platz auf dem Regal und beobachtete, wie Alina aufstand und mit beiden Händen knetete.
„Also sag schon, warum backst du an einem Sonntagmorgen, wenn du da sonst eigentlich immer mindestens eine Stunde mit einem Hörbuch in der Badewanne liegst?“, fragte Fritzi und ging wieder zu ihrer Tasse zurück.
„Wir brauchen doch ein Willkommensgeschenk für unseren neuen Nachbarn“, murmelte Alina und pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während sie angestrengt knetete. „Und weil heute alle Geschäfte zu haben, dachte ich mir, so schwer können ein paar Plätzchen nicht sein und ich probiere einfach mein Glück.“
Alina wollte, dass sie beide Tilo Scheiße Plätzchen zum Einzug schenkten? Panisch starrte Fritzi auf den Teig. Das musste sie verhindern.
„Boah, klebt das.“ Ihre Freundin zupfte den Teig von ihren Fingern und leckte ein Stückchen auf. „Aber der Geschmack ist gar nicht so schlecht.“ Sie ging zum Waschbecken und stellte das Wasser an.
Ähnlich wie gestern glaubte Fritzi, keine Luft mehr zu bekommen. Sie musste wirklich etwas unternehmen. Und zwar schnell. Während Alina sich die Hände schrubbte, stellte Fritzi sich unauffällig neben die Schüssel und schielte auf die Tupperdose mit dem Salz. Ehe sie genauer darüber nachdenken konnte, griff sie schon danach und kippte eine ordentliche Menge hinein. „Das muss noch besser geknetet werden“, sagte sie und schnappte sich den Teigschaber, um das Salz einzuarbeiten, damit es nicht auffiel.
„Hätte ja nicht gedacht, dass ein paar Plätzchen so eine Arbeit machen. Na, immerhin ist der Typ süß. Habe gestern noch geschaut, ihn aber nicht bei Tinder gefunden. Vielleicht ist er dort mit einem anderen Namen.“ Alina zuckte mit den Schultern.
Mit aufeinandergepressten Lippen drückte Fritzi den Schaber in den Teig. „Nicht alle sind bei Tinder, Alina.“
„Die meisten schon. Nur du nicht, warum auch immer.“
Fritzi rollte mit den Augen. Nicht jedem ging es darum, mit aller Macht nach einem Partner zu suchen. Manche genügten sich auch selbst und waren zufrieden mit Freunden und einer Arbeit, die Spaß machte. Und mit einem flugunfähigen, von der Oma geerbten Wellensittich.
„Wir machen uns hübsch und stellen uns dann mit den Plätzchen in der Hand vor, ja?“ Alina wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern rauschte in Richtung Flur. „Ich bin schon mal im Bad, forme du doch diese Vanilledinger rasch, in Ordnung?“
Murrend holte Fritzi das Backblech hervor und breitete das Backpapier darauf aus. Dann pulte sie ein Stückchen von Alinas Pampe ab und rollte es zwischen den Handflächen. Wenn die Plätzchen versalzen waren, würde Alina hoffentlich davon absehen, nebenan zu klingeln. Fritzi blickte an sich hinab und murrte erneut. Nun hatte sie auch noch Teig an ihrem geliebten Onesie.
***
Tilo
Natürlich klingelte Luis nicht wie jeder normale Mensch einmal, sondern mindestens eine halbe Minute lang Sturm, bis Tilo in den Flur gehetzt war und auf den Öffner gedrückt hatte. An den Türrahmen gelehnt, wartete er ab und lauschte den Schritten.
„Da ist er ja!“ Mit einem breiten Grinsen und hochgestreckten Armen trat Luis wie der König von Lörrach aus dem Treppenaufgang heraus.
Tilo freute sich ehrlich, den Kerl endlich wiederzusehen, ging ihm entgegen und umarmte ihn. Augenblicklich stieg ihm das Rasierwasser seines Freundes in die Nase und eine Woge aus Vertrautheit schien ihn einzulullen.
Luis fuhr ihm durch die Haare, wie er es zu Tilos Missfallen stets tat, und schlug ihm etwas zu fest auf dem Rücken, ehe er ihn von sich wegdrückte und ansah. „Die Brüder sind wieder zusammen“, verkündete er und grinste erneut.
„Sieht ganz so aus.“ Mit dem Kopf deutete Tilo zur offenen Wohnungstür. „Na, komm schon rein.“
„Dann lass mal sehen.“ Luis dachte offenbar gar nicht daran, sich die Schuhe auszuziehen, und latschte direkt in den großen Wohnbereich, wo er sich vor der Fensterfront aufbaute. „Herrlich. Einfach herrlich“, befand er und nickte anerkennend. Nachdem er die Aussicht ausgiebig bewundert und die Partytauglichkeit der Terrasse verkündet hatte, drehte er sich um und warf eine Bäckertüte auf die Arbeitsplatte, während Tilo Kaffeepulver und Wasser in den kleinen Espressokocher füllte und ihn auf die Herdplatte stellte.
„Hast du das alte Teil etwa immer noch?“, beschwerte sich Luis. „Kauf dir doch endlich einen Vollautomaten.“
Tilo lachte leise. „Am besten noch so eine Kapselmaschine, oder was?“
„Die sind echt praktisch. Gibt’s mit vielen Geschmacksrichtungen und machen kaum Arbeit.“
Die einzige Geschmacksrichtung, die Tilo mochte, war schwarz und kräftig. Er verkniff sich einen Hinweis auf all den Müll, den diese Maschinen produzierten. So lange Luis und er sich kannten, so unterschiedlich waren sie in manchen Dingen auch.
Luis riss die Bäckertüte auf und es kamen mehrere unterschiedliche süße Teilchen zum Vorschein. Sein Freund frühstückte also noch immer wie ein Zehnjähriger, schloss Tilo daraus. Manche Dinge änderten sich eben nie.
Tilo beugte sich vor und zog die offene Tüte ein Stück von Luis weg. „Erst gibt es was Vernünftiges.“
„Das habe ich befürchtet“, seufzte Luis und beobachtete wenig begeistert, wie Tilo den Kühlschrank öffnete und alles herauskramte, was in einen anständigen grünen Smoothie gehörte. „Hast schon Sport gemacht, wie es aussieht“, kommentierte Luis Tilos Aufmachung aus kurzer Hose und atmungsaktivem Shirt.
„Ist doch schon der halbe Vormittag rum.“ Tilo griff nach dem großen Messer und dem Schneidebrett und zerteilte eine Gurke und eine Birne, die gleich darauf in den Mixer wanderten, ebenso wie eine Handvoll gefrorener Beeren, die den eigentlich grünen Smoothie kackbraun einfärben würden, aber dafür Unmengen an Antioxidantien enthielten.
„Nicht der Sellerie“, stöhnte es hinter ihm und Tilo stopfte lachend eine Stange in den Glasbehälter.
„Wird Zeit, dass wir dich wieder in Form bringen. Du bist kurz davor, einen Dad Bod zu bekommen und du hast weder Kinder noch eine Frau“, kommentierte er Luis’ Gejammer.
„Ich bin bestens in Form, nur dass du es weißt. Und außerdem sind Waschbrettbäuche jetzt out.“
„Dann ist gut, denn so einen wirst du mit deiner Ernährung nie bekommen.“
Luis kannte jeden Dönermann in Lörrach mit Vornamen, was eine Menge über die Lebensgewohnheiten seines Freundes aussagte. Dabei war Luis einst ein hervorragender Fußballer gewesen, jedenfalls bis ihm eine Knieverletzung jede Hoffnung auf eine zumindest kleine Karriere genommen hatte. Also hatte Luis studiert und eine eher größere als kleinere Karriere im Marketing bei mehreren wichtigen Firmen hingelegt. Was genau sein Freund eigentlich trieb, wusste Tilo nicht, aber wie auch er hatte Luis vor einigen Jahren den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt. Während Tilo aus Leidenschaft das tat, was er tat, machte Luis es, um ordentlich Geld zu verdienen und sich mit spätestens fünfzig zur Ruhe setzen zu können. Sein Freund sah sich vermutlich schon mit einem Cocktail in der Hand an einem weißen Sandstrand. Tilo schmunzelte in sich hinein und stopfte eine Handvoll Spinat in den Mixer, ehe er noch ein Stückchen Ingwer reinwarf und alles mit Wasser auffüllte.
Noch ehe er den Schalter auf die höchste Stufe stellte, hielt sich Luis die Ohren zu. „Verdammte Höllenmaschine!“, brüllte sein Freund über den Krach hinweg.
Tilo reihte zwei Bierkrüge vor dem Mixer auf und steckte in jeden eines der wiederverwendbaren Röhrchen, dann verstummte der Mixer und er goss den Smoothie ein.
Mit einem „Voila“ platzierte er ein Glas vor Luis, der wenig begeistert mit dem Röhrchen in der Flüssigkeit rührte und auf die diabetesversprechenden Zuckergussteilchen schielte.
„Die gibt’s gleich. Dann ist auch der Espresso fertig.“ Mit Luis kam er sich stets wie eine Mutter vor, die versuchte, ihr Kind dazu zu bringen, ausnahmsweise mal etwas anderes als Süßkram zu futtern.
Luis ergab sich und saugte mit leidender Miene am Röhrchen. Dabei schmeckte der Smoothie wirklich gut, wie Tilo fand. Der Ingwer riss es eindeutig raus. Und er schätzte eine Vitaminbombe nach dem Morgensport. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Sonntag war.
Während er den Smoothie trank, musterte er Luis unauffällig. Sie beide hatten in diesem Jahr die böse Drei-Null geknackt. Die Zwanziger waren unwiderruflich dahin und seitdem empfand Tilo ein merkwürdiges Bedürfnis nach etwas Sicherheit. Vermutlich war das mit ein Grund, warum er sich für den Umzug entschieden hatte, anstatt sich weiterhin durchs Leben und die Republik treiben zu lassen. Schließlich war Luis nicht der einzige Mensch in dieser Stadt, der ihm am Herzen lag.
Wie immer saß die Frisur seines Freundes perfekt. Die dunkelbraunen Haare zeigten weder ein graues Härchen noch eine lichte Stelle. Sie waren fast so dicht wie Luis’ Brusthaar. Es war wirklich kaum zu glauben, dass in diesem Kerl kein Tropfen türkisches oder italienisches Blut floss, sah Luis doch wie die perfekte Mischung daraus aus. Nur an der Körpermitte war die zunehmende Bequemlichkeit und das Alter seines Freundes zu erkennen, was den Adonis-Look ein wenig trübte. Noch vor Monaten, als Tilo das erste Mal bei einem ihrer Telefonate einen möglichen Umzug erwähnt hatte, hatte Luis mit „Perfekt, dann wirst du mein Personal Trainer!“ geantwortet und an sein Ohr gelacht. Die Begeisterung, mit der sein Kumpel in diesem Moment in das Plunderstück biss und den erst halb getrunkenen Smoothie ignorierte, ließ Tilo daran zweifeln, dass Luis sich noch an das Gespräch erinnerte. Oder es ernst gemeint hatte.
„Was macht eigentlich die Liebe?“, erkundigte er sich und stellte den leeren Bierkrug Schrägstrich Smoothiekrug zur Seite, um den Kaffeekocher vom Herd zu nehmen.
Luis zuckte mit den breiten Schultern. „Ach, hier was und da was. Nichts festes momentan.“ Plötzlich blitzten seine Augen auf. „Ich soll dich übrigens von Vali grüßen. Sie freut sich, dass du wieder hier lebst.“
Tilo unterdrückte ein Stöhnen. Valentina war Luis’ jüngere Schwester und irgendwie war sie schon seit der Grundschule, als sie in der vierten und Vali in der ersten Klasse gewesen waren, in ihn verschossen. Wochenlang war sie ihm auf dem Heimweg hinterhergedackelt, bis endlich die Kreuzung kam, an der sie in verschiedene Richtungen gehen mussten. Luis hatte das auch genervt, aber irgendwann, so mit Mitte zwanzig etwa, musste sich was geändert haben. Plötzlich hatte er regelrecht versucht, ihm Vali aufzuschwatzen. Ein Basarhändler war nichts gegen diesen Marketingfuzzi, wenn es darum ging, etwas an den Mann zu bringen – in diesem Fall eben die kleine Schwester, die natürlich längst nicht mehr klein war, sondern zu einer wahren Schönheit herangewachsen war. Die Guts machten einfach hübsche Kinder, daran gab es nichts zu rütteln. Trotzdem kam Vali Gut nicht als Partnerin in Frage, sah sie Luis doch so verflucht ähnlich, dass Tilo garantiert das Gefühl gehabt hätte, mit seinem besten Kumpel im Bett zu liegen. Er schüttelte sich unwillkürlich. Genau so hatte er es Luis auch irgendwann gesagt, in der Hoffnung, dass dieser dann endlich damit aufhören würde, seine Schwester anzupreisen. Luis hatte sich schlappgelacht, ihn einen Perversling genannt und gesagt, dass Tilos Kinder dann immerhin so gut wie er aussehen würden. Nein, Kinder, die Luis ähnlich sahen, waren keine Option.
„Richte Vali Grüße aus“, sagte er also möglichst ungerührt, um Luis nicht anzufeuern, und holte die Espressotassen aus dem Schrank.
„Vielleicht bucht sie dich und deine Leistungen ja mal“, nuschelte Luis mit vollem Mund.
Tilo schob ihm eine Tasse hin. „Das werde ich mit deiner Schwester nicht machen“, brummte er. „Das wäre so was wie ein Interessenkonflikt.“
„Gibt es das in deinem Job überhaupt?“ Luis’ rechte Augenbraue wanderte nach oben. „Ist ja nicht so, dass du Arzt wärst. Und sonst nimmst du doch jede Frau, die einen Termin will.“
„Ich werde auch hier und da von Männern gebucht, das ist dir schon klar, oder?“
„Du fasst Kerle weiß Gott wo an und lehnst Vali ab?“
„Das ist nun mal mein Job. Aber ganz sicher nicht, was deine Schwester angeht. Also sag Vali das, falls sie etwas in dieser Art erwähnen sollte.“
„Es würde ihr sicher guttun, sie ist in letzter Zeit immer so angespannt, weißt du. Ich glaube, das liegt daran, weil sie schon länger keinen Kerl mehr hatte.“ Luis grinste dreckig.
Tilo verschränkte die Arme vor der Brust. „Bist du sicher, dass du weißt, wie diese Großer-Bruder-Nummer überhaupt geht?“
Vorsichtig, wie es einem stattlichen Kerl wie Luis kaum zuzutrauen war, hob er die zierliche Espressotasse an und nahm einen Schluck, ehe er antwortete. „Ich bin ein moderner Bruder, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte, und mir geht das Wohlergehen meines Schwesterchens über alles. Und wenn das bedeutet, dass sie öfter mal Dampf ablassen sollte, dann ist das eben so.“
„Dann soll sie das tun, nur eben nicht hier“, murrte Tilo und trank ebenfalls. Wie verdammt gut diese Kaffeesorte doch schmeckte, stellte er einmal mehr fest. Fairtrade schmeckte man einfach heraus. Vielleicht war es auch nur das Wissen, keine Kinderarbeit zu unterstützen. Wie auch immer, der Espresso war eine Wucht. Der Preis zwar ebenfalls, aber den ignorierte Tilo geflissentlich, so wie die Kupplungsversuche seines Freundes.
„Also, was machen wir nun?“, fragte Luis und wischte sich die Hände an der dunkelblauen Jeans ab.
Tilo deutete nach hinten in den Raum. „Regal aufbauen.“
„Zum Glück hast du so wenig Zeug.“ Sein Kumpel seufzte und erhob sich. „Bei einer ganzen Schrankwand würde ich dir nicht helfen. Freundschaft hin oder her. Dann lass uns anfangen, damit wir nachher noch was unternehmen können.“
„Eine Runde Joggen, zum Beispiel.“ Tilo schlug ihm auf die Schulter.
„Das kannst du vergessen.“
Tilo lachte. Er würde Luis schon wieder in Form bringen. Sein Freund wusste es nur noch nicht.
***
Fritzi
Als Alina aus dem Bad kam, lag Fritzi auf dem Sofa, die Arme theatralisch von sich weggestreckt, und hustete absichtlich.
Alina blieb wie angenagelt stehen. „Wirst du doch noch krank?“, fragte sie und reckte sich ein wenig vor, um sie besser sehen zu können, ohne näher zu kommen. Wegen des Plätzchenabenteuers musste ihre Mitbewohnerin vergessen haben, dass um Fritzi eigentlich eine Sperrzone gehörte.
„Ich glaube schon“, röchelte Fritzi und nieste. Das war echt und kam wie gelegen.
Alina machte einen Schritt rückwärts und wäre beinahe gegen Hansis Regal gestoßen. „Hm. Bist auch ganz blass um die Nase“, stellte sie fest.
Das wollte Fritzi auch hoffen. Schließlich hatte sie sich etwas von dem Mehl ins Gesicht gerieben, um kränklich zu wirken, und musste seitdem immer wieder niesen. Immerhin machte dieser Umstand ihre Story glaubwürdiger. Und da Alina nichts so sehr fürchtete wie krankheitserregende Keime, würde sie auch nicht nahe genug kommen, um es herauszufinden. Fritzi wollte sich nicht allein auf die versalzenen Kipferl verlassen, am Ende würde Alina sie dennoch auf die andere Seite des Hausflurs zerren.
Ihre Freundin zupfte sich das knappe Top zurecht, für das es jetzt im Winter viel zu kalt war, und wirkte unentschlossen. „Sind denn die Plätzchen fertig?“, fragte sie.
„Müssten jeden Moment so weit sein“, antwortete Fritzi mit theatralisch dünner Stimme.
„Dann hole ich sie mal besser raus.“ Sich an der Wand entlangdrückend, ging Alina zur Küchenzeile. „Willst du dich nicht lieber in dein Zimmer legen? Ist doch im Bett bestimmt viel bequemer als hier auf der alten Couch.“
„Das geht schon“, antwortete Fritzi und wusste, dass sie Alina damit nervte. Kaum hustete sie mal, schickte ihre Mitbewohnerin sie zur Selbstisolierung in ihr Zimmer. Immer war es das Gleiche. „Aber vielleicht solltest du hierbleiben und nicht rübergehen und unseren neuen Nachbarn am Ende noch anstecken?“, überlegte sie laut.
Erschrocken sah ihre Freundin vom Backblech auf und ließ es mit einem Schimpfen auf den Herd fallen, ehe sie sich einen Finger in den Mund steckte. „Ich bin gesund, ganz sicher“, zischte sie mit dem Daumen in der Backe.
„In Ordnung. Dann koste doch mal die Kipferl, um zu sehen, ob sie als Willkommensgeschenk taugen.“
„Die werden schon gut sein.“ Alina griff nach dem Pfannenwender und beförderte die Plätzchen nacheinander auf einen Suppenteller.
Nun fühlte Fritzi sich wirklich nicht besonders. Alina wollte es in der Tat durchziehen und sich nebenan vorstellen. Sie wusste, dass es unsinnig war, sich vor Tilo verstecken zu wollen, würde sie ihm doch früher oder später gezwungenermaßen begegnen. Aber solange Fritzi keinen Plan hatte, wie sie sich dann verhalten wollte, konnte sie das Unausweichliche immerhin noch etwas aufschieben. Sollte Alina ihn jedoch toll finden, so würde sie ihn ganz bestimmt umgehend dazu bringen, mit ihr auf ein Date zu gehen. Und das durfte auf keinen Fall passieren. Tilo war ein Arsch und Alina zu gut für ihn. Jede Frau war zu gut für diesen Mistkerl. Höchstens Christina nicht, ihre nervige und viel zu unfreundliche Arbeitskollegin, die die Kinder immer anschnauzte, wenn sie zu laut waren. Die hätte ein wenig Tilo schon verdient.
„Bin ja echt gespannt, wie der so drauf ist“, plapperte Alina und betrachtete zufrieden ihr Werk.
„Er ist erst gestern eingezogen. Lass dem Mann lieber etwas Ruhe, ehe du ihn überfällst. Immerhin ist heute Sonntag.“ Fritzi unternahm einen letzten, halbherzigen Versuch, Alina aufzuhalten.
„Ach was, er wird sich freuen, jetzt so nette Nachbarinnen wie uns zu haben.“
Sie sollte es ihr sagen. Unbedingt. Einfach frei heraus ausspucken, was für ein schlechter Mensch der Kerl war, unabhängig von den hohen Wangenknochen. Doch dann würde Alina wissen wollen, warum und woher Fritzi ihn kannte. Sie konnte nicht darüber sprechen. Auch jetzt nach dreizehn Jahren nicht. Es war so schrecklich peinlich. Und dabei hatte Fritzi geglaubt, damit abgeschlossen zu haben. Es war nur eines dieser Gespenster aus der Jugendzeit, die man weit hinten im Schrank verbarg, hin und wieder aus der Ferne einen Blick darauf warf, den Kopf über sich selbst schüttelte und sich schwor, nie wieder so dämlich zu sein wie damals mit sechszehn. Jeder hatte solche Geschichten, richtig? Allerdings hatte sie dennoch hin und wieder an Tilo gedacht. Ach, es war zu verwirrend. Alles in ihrem Kopf schien sich zu drehen.
Ehe Fritzi weiter darüber nachdenken konnte, drückte sich Alina mit dem Teller in der Hand erneut an der Wand entlang bis zur Eingangstür und überprüfte ihre eben im Badezimmer kunstvoll hochgesteckte Frisur. Sie zog den Lippenstift nach, machte mehrmals eine Kussbewegung mit den Lippen und warf Fritzi einen Seitenblick zu. „Lüfte hier bitte ordentlich durch, während ich weg bin, und dann husch in dein Zimmer, ja?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schlüpfte sie schon durch die Tür und Fritzi hörte, wie sie nebenan klopfte.
Das war ein Albtraum. Sie fühlte sich wieder wie in der Pubertät. Etwas zu dick, mit etwas zu vielen Pickeln und einem unvorteilhaften Haarschnitt, zu dem ihre Mutter sie überredet hatte. Und Tilo Scheiße sah noch immer so gut aus wie damals, als er ohne Weiteres als Sänger einer Boyband auf das Cover der Bravo gepasst hätte. „Mist“, fluchte Fritzi und rappelte sich auf, um schon wieder von dem Mehl zu niesen, noch ehe sie das Fenster erreicht hatte.