Leseprobe Agnes Munro und der letzte Akt

3. Szene

Sie hatten das letzte der sechs Gästezimmer im Obergeschoss des renovierten Farmhauses erreicht. Wie die übrigen war der Raum schlicht und geschmackvoll eingerichtet. Ein Doppelbett, das sich bei Bedarf auseinanderschieben ließ, eine zartblaue Tagesdecke, hübsche cremefarbene Kissen mit Blütenmuster und Vorhänge im selben Stoff. Ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl und ein geräumiger Kleiderschrank sowie eine Kommode, auf der ein Tablett mit Utensilien zum Zubereiten von Tee und Kaffee stand. Der Blick aus dem Fenster ging seitlich zum Garten hinaus. Durch die Zweige der Bäume konnte man in der Ferne noch einen Streifen Wasser erkennen. Das Apartmenthotel lag auf einer Anhöhe über der Bucht von Tobermory, ganz in der Nähe des Golfplatzes und des Crown & Thistle Hotels, das ebenfalls McNiven gehörte. Eine traumhafte Lage, die nach vorn einen unbezahlbaren Panoramablick über die gesamte Bucht bis zu den Hügeln von Morvern bot. Die Zimmerpreise würden astronomisch werden. Umso dankbarer war Agnes für Henrys Angebot, die Mad Bad Thespians für die Dauer ihres Gastspiels zum Freundschaftspreis hier unterzubringen.

»Es ist fantastisch geworden! Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, dass Iain und seine Truppe hier wohnen dürfen. Der Preis ist ein Witz, Henry. Sind Sie sicher, dass Sie sich damit nicht ruinieren?«

Mit einer Handbewegung wischte er ihren Einwand weg. »Unsinn. Das Hotel ist schließlich noch nicht offiziell eröffnet. Eine Neueröffnung im Herbst finde ich wenig sinnvoll. Wenn ich es Ihren Theaterfreunden nicht überlassen würde, stünde es leer, bis wir im Frühling mit dem Betrieb starten. Ich nehme das als Testlauf. Wollen wir gleich zur Hauptattraktion schreiten? Sind Sie bereit, Ihr neues Zuhause zu begutachten?«

»Absolut!«, rief Agnes aufgeregt, rückte den kleinen smaragdgrünen Fascinator-Kamm mit der Blüte zurecht, mit dem sie zu diesem feierlichen Anlass ihr aschblondes Haar hochgesteckt hatte, und zupfte noch einmal an ihrem Rocksaum. »Die Frisur sitzt, es kann losgehen.«

Das winzige Cottage aus grobem Sandstein lag, vom Hauptgebäude halb verdeckt, am hinteren Ende des Gartens, in dem zwischen Sonnenblumen, Goldrute und Herbstkrokussen noch die letzten Rosen und Hortensien blühten. Haustür und Fensterläden waren im selben kräftigen Grün gestrichen. Efeu und wilder Knöterich rankten über die geweißte Fassade bis zum Dach, und in den hölzernen Blumenkästen unter den Fenstern blühten Herbstastern und Chrysanthemen.

»Wie hübsch! Das ist ja ein richtiges Hexenhäuschen!«, rief Agnes begeistert und folgte Henry über den Rasen und durch den Eingang.

Von einem kleinen Vorraum führten zwei Türen rechts zur Küche und links zum Wohnzimmer. Die Einrichtung war modern und zweckmäßig und überwiegend in Cremeweiß gehalten, die Möbel waren aus hellem Holz. Schlicht und praktisch ließen sie genug Raum, um mit entsprechenden Dekorationsobjekten einen individuellen Touch zu verleihen. Im Kopf machte Agnes bereits Pläne. Das Wohnzimmer verfügte sogar über einen kleinen Kaminofen und ein Erkerfenster, das zum Garten hinausging. Im Schlafzimmer gab es ein breites Doppelbett, sodass Übernachtungsbesuchen von Andrew nichts im Wege stand. Kurzum, es war einfach perfekt.

»Gefällt es Ihnen?«

»Gefallen ist überhaupt kein Ausdruck, Henry! Es ist traumhaft. Kneifen Sie mich mal.«

Es war Henry anzusehen, dass er mit ihrer Reaktion äußerst zufrieden war. Lächelnd hielt er ein Schlüsselbund hoch, an dem drei Schlüssel hingen.

»Der hier ist für die Haustür vom Cottage, der für den Briefkasten und der hier ist der Generalschlüssel für drüben. Er passt sowohl in die Haustür als auch auf sämtliche Zimmertüren. Ich gebe Ihnen gleich auch noch den Schlüssel für den Gartenschuppen. Das Gewächshaus ist nicht verschlossen. Wir nutzen es, um darin Pflanzen zu überwintern und vorzuziehen. Aber um den Garten müssen Sie sich nicht kümmern. Der Gärtner kommt einmal die Woche zum Rasenmähen und sieht dann, was noch so ansteht. Sie können die Beete hier am Cottage natürlich gern selbst bepflanzen.«

»Gärtner, Reinigungsdienst … als hätte ich das Internat nie verlassen. Hervorragend. Und ich soll wirklich nur Frühstück machen?« Agnes dachte daran, dass Andrews Wunschtraum von einem gemeinsamen Leben im Pfarrhaus in noch weitere Ferne gerückt war. Hier würde sie so schnell nicht wieder ausziehen wollen.

»Richtig, zumindest für die Gäste, die sich nicht selbst verpflegen. Und es wäre eben schön, wenn Sie dafür sorgen, dass sie sich hier heimisch fühlen. Wenn sie sich hin und wieder mit in den Gemeinschaftsraum setzen und ein wenig plaudern oder den Gästen Tipps geben, was sie sich ansehen können und so weiter und so fort. So als gute Seele im Haus.«

»Gute Seele. Das kriege ich hin.« Agnes grinste.

»Ich könnte mir niemanden vorstellen, der besser geeignet wäre«, bestätigte Henry. »Wann reisen Ihre Theaterleute denn an? Schaffen Sie es bis dahin rechtzeitig mit dem Umzug?«

»Anfang Oktober, in vier Wochen. Für den Umzug werde ich nicht lange brauchen. Der Großteil meiner Sachen ist noch in Edinburgh geblieben. Es ist hauptsächlich Kleidung. Der Kleiderschrank wird allerdings nicht reichen, fürchte ich.« Sie zwinkerte und fuhr mit den Händen an ihrer Silhouette entlang, als ob sie ihr Outfit einem Publikum präsentierte. »Irgendein Laster haben wir wohl alle. Aber das ist kein Problem. Die Frühjahrs- und Sommergarderobe werde ich im Atelier unterbringen.«

»Wenn Sie noch Hilfe brauchen, sagen Sie Bescheid. Sie bekommen ja bald eine Menge zu tun, nicht wahr?«

»Richtig. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue. Endlich kommt hier mal wieder ein bisschen Schwung auf die Insel.«

4. Szene

»Iain! Wie schön, dich wiederzusehen. Am besten, ihr stellt die Koffer erst einmal hier ab und geht durch in die Küche. Ich habe Tee gemacht.« Agnes begrüßte ihren ehemaligen Schüler mit zwei angedeuteten Küsschen auf die Wange. »Dann kannst du mir alle vorstellen und wir können die Zimmeraufteilung besprechen. Die Schlüssel habe ich heute Morgen schon im Crown & Thistle abgeholt.«

Agnes hatte in den letzten Tagen die Unterkunft für den Besuch aus Edinburgh vorbereitet. Gerade heute Morgen war sie noch einmal durch alle Zimmer gegangen und hatte überprüft, ob alles in Ordnung war. Lediglich die Schubladen der Nachttische klemmten ein wenig, ansonsten war alles tipptopp und wartete nur darauf, dass ihre Gäste einziehen würden.

Nachdem alle ihr Gepäck in der Eingangshalle abgestellt hatten, saß die bunte Truppe schließlich um den langen Esstisch in der geräumigen Gemeinschaftsküche und ließ sich Tee und Früchtebrot schmecken, während Iain die anderen vorstellte. Agnes hatte arrangiert, dass in Craignure zwei Mietwagen auf die Truppe warteten. Darin hatten jeweils sechs Personen Platz, sodass die Gäste mobil waren und problemlos zum Theater kommen konnten.

»Mandisa, Kenny, Geraldine, Tommy und Dougie kennst du ja bereits. Das dort drüben ist Daniel Phan, unser Regisseur und Mädchen für alles« Er deutete auf einen Mann mit schwarzen Haaren und mandelförmigen braunen Augen, den Agnes auf etwa vierzig schätzte. Die Haare hatte er mit Gel zu einem kurzen, strengen Zopf zusammengefasst und ein ordentlich gestutzter Vollbart bedeckte seine untere Gesichtshälfte.

Agnes nannte ebenfalls ihren Namen und schüttelte der Reihe nach die Hände der Personen, die Iain vorstellte. Direkt neben Daniel saß ein rundlicher Mann mit rotblonden Haaren und einer Menge Sommersprossen, in dem Agnes den Darsteller des Antonio Poloni erkannte und den Iain als Robert Cruickshank vorstellte. Die sehr attraktive junge Frau mit den glänzenden schwarzen Haaren, die neben ihm saß, hatte auf der Bühne die Ophelia gegeben und hieß im wahren Leben Mishti Gupta. Daneben saß eine rundliche Blondine mit traumhaften Ringellocken, die ihr an der Stirn tief in die Augen fielen und Agnes an einen dieser wuscheligen Hirtenhunde denken ließen. Agnes konnte sie spontan keiner Rolle zuordnen, was sich bald erklärte, als Iain sie vorstellte. Blythe Donaldson war bei den Mad Bad Thespians für Maske und Kostüme zuständig.

»Puh! Ich werde eine Weile brauchen, bis ich mir alle Namen gemerkt habe«, kommentierte Agnes. »Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Anreise, und ich freue mich riesig, dass es so spontan mit dem Gastspiel geklappt hat. Ich habe auch ordentlich die Werbetrommel gerührt. Alle Vorstellungen sind bereits seit zwei Wochen ausverkauft.«

»Wow! Damit hätte ich nicht gerechnet.« Kenny Bell nickte anerkennend. »Ich dachte, das wäre hier eher was für launiges Provinztheater.«

»Es gibt hier eine sehr aktive Kunst- und Kulturszene. Natürlich nicht zu vergleichen mit Edinburgh«, erklärte Agnes, »aber durchaus nicht zu verachten.« Sie schnitt den Rest Früchtebrot auf und legte ihn auf den Teller.

»Das ist wirklich lecker«, lobte Geraldine und nahm noch eine Scheibe.

»Freut mich, dass es euch schmeckt. Lasst mich schnell etwas zu den Zimmern sagen. Es gibt sechs Gästezimmer mit jeweils zwei Betten. Es müssen also immer zwei zusammen auf ein Zimmer. Ich dachte mir, das teilt ihr am besten selbst ein. Wenn sich also immer zwei zusammenfinden, gebe ich euch den Schlüssel und die Zimmernummer. Vier Zimmer befinden sich im oberen Stockwerk, zwei hier unten. Oben gibt es ein großes Badezimmer mit Dusche und Badewanne und ein WC und hier unten noch einmal ein kleines Duschbad mit WC. Später zeige ich euch noch den Gemeinschaftsraum. Morgen früh fahren wir dann raus zum Theater. Es liegt etwa drei Meilen außerhalb an der Straße nach Salen.«

»Vielen Dank, Agnes. Du bist ein Schatz!«, rief Mandisa. »Du hast dir so viel Mühe gegeben. Können wir noch irgendetwas helfen?«

Wieder einmal dachte Agnes, wie umwerfend schön und charismatisch sie Mandisa fand. Außerdem war sie Agnes, was die Vorliebe für kräftige Farben anging, nicht ganz unähnlich. Heute trug sie ein figurbetontes Strickkleid in Limettengrün, das im Kontrast zu der dunklen Haut noch kräftiger leuchtete und ihr ausgezeichnet stand.

»Nein, danke. Ihr richtet euch erst einmal in aller Ruhe ein und erholt euch von der Fahrt, und ich kümmere mich in der Zeit um das Abendessen. Für morgen Abend habe ich im Macgochans für uns reserviert. Das ist ein gemütlicher Pub am anderen Ende der Bucht. Von hier sind es etwa fünfzehn Minuten Fußweg, wunderschön am Hafen entlang, es wird euch gefallen, und das Essen ist wirklich lecker. Tolle Burger, aber auch Vegetarisches und Veganes.«

»Das klingt ausgezeichnet«, sagte Douglas. »Ich sehe schon, verhungern werden wir hier nicht.«

»Nein, das ganz bestimmt nicht.« Agnes freute sich, dass ihr Vorschlag Anklang fand. »Jedenfalls nicht, wenn ich es verhindern kann. Ich habe euch dieses Gastspiel eingebrockt und fühle mich dafür verantwortlich, euren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.«

Nachdem Agnes den Gästen die Räumlichkeiten gezeigt hatte, wurden die Zimmer aufgeteilt, und alle machten sich daran, sich in ihrem temporären Zuhause einzurichten. Derweil kümmerte sich Agnes um das Essen.

Durch das geöffnete Küchenfenster hörte sie Stimmen und sah auf. Tommy Cox, der Requisiteur, Kenny Bell, dessen Freundin Geraldine und Robert Cruickshank hatten sich draußen an dem kleinen Picknicktisch eingefunden, auf dem für die Raucher ein Aschenbecher bereitstand.

»Das Essen braucht noch eine Weile«, rief sie hinaus, und legte den Deckel auf den Topf, in dem die Kürbissuppe leise vor sich hin köchelte. Sie drehte die Kochplatte auf die niedrigste Stufe, dann streifte sie die Hände an der Schürze ab und gesellte sich zu den Gästen nach draußen. »Ich hoffe, ihr seid mit den Zimmern so weit zufrieden und habt alles gefunden?«, fragte sie.

»Danke, alles bestens. Die Zimmer sind gemütlich«, entgegnete Robert. »Ich hoffe bloß, Iain schnarcht nicht.«

»Wie eine Horde besoffener Russen«, warf Tommy ein, zog eine Zigarette aus dem Päckchen und steckte sie an. Kenny fingerte ebenfalls in seiner Jackentasche, kramte ein flaches, schwarzes Metalletui mit einem roten Adlerkopf hervor, nahm einen Zigarillo und steckte ihn zwischen die Lippen. Dann holte er ein Benzinfeuerzeug heraus, ließ es mit einer Hand aufschnappen und schnipste mit den Fingern der anderen gegen das Rädchen, bis die Flamme aufflackerte.

»Verfluchter Poser«, murmelte Tommy mit einem amüsierten Ausdruck und beobachtete Kenny aufmerksam, während der den Zigarillo an die Flamme brachte und zu ziehen begann.

Agnes schrie auf und riss instinktiv die Hände über den Kopf, als es plötzlich blitzte und laut krachte.

Sie brauchte eine Weile, um sich zu orientieren und zu begreifen, was passiert war. Auch die anderen hatten sich instinktiv weggeduckt und sahen entgeistert in die Runde.

Kenny hatte den Zigarillo fallen lassen und starrte eine Schrecksekunde lang auf seine Hände, während Tommy in lautes Lachen ausbrach.

Die Schadenfreude währte allerdings nicht lang, denn Kenny stürzte vor und packte den schmächtigen Tommy am Ausschnitt seines T-Shirts. »Das. Ist. Nicht. Witzig«, presste er hervor, wobei er jedes einzelne Wort betonte. »Du Arschloch! Ich hätte blind sein können oder weiß der Geier. Du hast doch wohl nicht mehr alle Latten am Zaun.« Heftig stieß er den Requisiteur nach hinten, sodass dieser strauchelte und zu Boden ging.

Tommy brauchte eine Weile, um sich zu berappeln, lachte dann aber weiter. »Alter! Dein Gesicht hättest du sehen müssen.«

»Nicht! Witzig!«, wiederholte Kenny. Seine Stimme rutschte bedrohlich eine halbe Oktave tiefer, und er machte mit erhobener Faust einen Schritt auf den am Boden sitzenden Tommy zu.

Der hob beschwichtigend die Hände. »Hey! Ruhig, Brauner. Chill deine Nippel. Das war nur ein winziger Knallfrosch, vollkommen harmlos. Ich weiß, was ich tue, ich bin Profi.«

»Profi. Von wegen. Ein Wichser bist du! Und vollkommen irre. Mach so einen Scheiß nie wieder, sonst polier ich dir deine blöde Fresse, dass dich deine Mutter nicht wiedererkennt.« Kenny zog das Etui mit den Zigarillos aus der Jackentasche und schleuderte es in Tommys Richtung. »Hier, die kannst du selber rauchen, du Idiot!«

Tommy konnte sich gerade noch zur Seite wegducken, sodass die Dose scheppernd zu Boden fiel.

»Das war wirklich nicht besonders lustig, Tommy«, mischte sich nun Robert ein. »Das hätte auch ins Auge gehen können, im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Hätte es nicht. Es war vollkommen harmlos. Das knallt, blitzt und stinkt ein bisschen. Puff, peng, zisch, mehr nicht.« Tommy rappelte sich hoch und klopfte den Dreck von der Hose.

»Ihr seid einfach nur peinlich«, schimpfte Geraldine. »Werdet endlich erwachsen und hört mit diesem Platzhirschgehabe auf.« Sie verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf und stapfte in Richtung Haustür davon.

»Da muss ich Geraldine recht geben«, sagte Agnes in ihrem besten Lehrerinnenton. »Das ist nicht nur kindisch, sondern obendrein gefährlich, und ich bin nicht bereit …«

»Okay, schon gut. Wird nicht wieder vorkommen, versprochen. Dieses Mal habe ich mit meinen Tricks vielleicht wirklich ein bisschen übertrieben. Ich wollte dem alten Wichtigtuer bloß mal einen Dämpfer verpassen.« Tommy streckte Kenny die Hand hin. »Tut mir leid, Mann. Ich kauf dir ne neue Packung.«

»Nein, danke«, knurrte Kenny, ergriff dann aber die Hand und drückte sie.

Offenbar etwas zu kräftig, denn Tommy zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Aaah! Verdammt! Du musst sie mir nicht gleich brechen.« Er lachte und klopfte Kenny auf die Schulter. »Nichts für ungut, du Sack. Wir sind okay?«

»Wir sind okay«, grummelte Kenny. »Aber an deiner Stelle würd ich nur noch mit offenen Augen schlafen. Verdammt, du Penner!«

Beide lachten.

»Wie die Kinder!« Agnes sah die beiden streng an.

»Gib’s zu, du bist bloß immer noch sauer, dass ich mir Geraldine klargemacht habe.«

»Fang doch nicht wieder mit dem Scheiß an. Das sind alte Kamellen.« Tommy klopfte eine Zigarette aus seinem Päckchen und hielt sie Kenny hin.

»Nee, Junge, lass mal!« Kenny grinste. »Für heute reicht es mir. Ich geh rein.« Damit drehte er sich um und folgte Geraldine ins Haus.

»Siehst du? Ich tu noch was für deine Gesundheit«, rief Tommy ihm hinterher.

»Ich werde wohl auch mal besser nach der Suppe sehen«, sagte Agnes. Ein Spruch ihrer Mutter fiel ihr ein. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Kopfschüttelnd ging sie ins Haus.

Nach dem Essen stellte Agnes die Spülmaschine an und wischte noch einmal über die Arbeitsfläche. Mandisa, Dougie und Robert hatten ihr beim Abräumen geholfen, und sie hatte die drei hinausgeschickt, um den Rest allein zu erledigen. Schließlich hatte sie es sich zum Ziel gemacht, dass die Thespians ihren Aufenthalt auf der Insel genießen sollten.

Agnes schloss die Küchentür und steckte den Kopf durch den Türspalt in den Gemeinschaftsraum. »Braucht ihr noch etwas?«

»Nein danke, Agnes. Wir sind wunschlos glücklich«, entgegnete Mandisa und schwenkte zur Unterstreichung ein Glas Rotwein in der Hand.

»Prima. Dann gehe ich schnell noch einmal raus. Iain hat meine Nummer, falls etwas sein sollte.«

»Kein Problem, wir kommen schon klar«, meinte Kenny, der sich in dem altmodischen Ohrensessel in der Ecke herumlümmelte und in einer Zeitschrift blätterte.

»Dann schlaft später gut«, wünschte Agnes. Sie kam sich vor, als machte sie ihre Abendrunde im Internat, und musste schmunzeln. Schließlich handelte es sich bei ihren Gästen – zumindest theoretisch – um Erwachsene.

In der Eingangshalle traf sie auf Geraldine. Sie stand mitten im Raum und betrachtete die zwei großformatigen Landschaftsaufnahmen in Schwarz-Weiß, die über dem Sideboard hingen.

»Die sind wahnsinnig schön«, sagte sie, als sie Agnes bemerkte. »Sind die von hier?«

»Ja, das hier ist drüben in der Salen Bay aufgenommen und das andere in Calgary. Bella McAulay hat sie gemacht, sie hat eine Galerie unten am Hafen. Direkt an der Hauptstraße. Da solltest du unbedingt einmal reinschauen.«

»Das werde ich. Die sind toll. Sie hat wohl ein Händchen für Licht und Schatten. Gehst du noch raus?«

»Ja, ich wollte noch bei Andrew vorbeischauen. Er fühlt sich sonst noch vernachlässigt.«

Geraldine pustete geräuschvoll eine Haarsträhne aus der Stirn. »Kerle! Wir nehmen viel zu viel Rücksicht auf ihre Befindlichkeiten. Immer soll sich alles nach ihnen richten, und wenn nicht, sind sie beleidigt.«

»O nein, nein.« Sie winkte abwehrend ab. »Andrew ist nicht so. Er ist wirklich … aufmerksam und verständnisvoll.« Sie wunderte sich selbst, warum die Worte so zögerlich über ihre Lippen kamen. »Es läuft gerade nicht so gut zwischen dir und Kenny, nicht?«, fragte sie.

Geraldine zog die Schultern hoch. »Kenny ist eben Kenny.« Leiser, beinahe mehr zu sich selbst, setzte sie hinzu: »Ich wusste ja, worauf ich mich einlasse.« Als sie sich zu Agnes umwandte, lächelte sie. »Mach dir keine Gedanken. Es ist alles in Ordnung. Wir raufen uns immer wieder zusammen. Das ist so eine dieser Beziehungen, weißt du? Je leidenschaftlicher man liebt, desto tiefer kann man einander verletzen.«

»Ich weiß, was du meinst«, Agnes nickte. »Ich mach mich dann jetzt auf den Weg.«

»Mach das. Schönen Abend. Grüß Andrew von mir und erzähl ihm nicht, dass ich gelästert habe.«

»Bestimmt nicht.«

Agnes trat vor die Tür. Für Anfang Oktober war es tagsüber noch erstaunlich warm. Jetzt am Abend, als die Sonne verschwunden war und der Wind auffrischte, war sie allerdings froh, dass sie den gefütterten Mantel angezogen hatte. Sie wandte sich von der Küste ab nach Westen und lief an den Tennisplätzen und gepflegten kleinen Gärtchen entlang, bis sie in die Erray Road abbog.

Am anderen Ende der Straße lag die kleine Polizeiwache, in der Matthew Jarvis und Fiona McKinnon über die Sicherheit der Bürger wachten. Im vergangenen Jahr hatte sie diesen Weg öfter angetreten, als ihr lieb gewesen war. Noch immer steckten ihr die Ereignisse in den Knochen, und sie musste an Effy denken. Sie konnte ihre Freundin nur bewundern. Beide Kinder kurz hintereinander auf so tragische Weise zu verlieren, hätte Agnes um den Verstand gebracht. Es war erstaunlich, wie tapfer sich Effy und Charlie gemeinsam zurück ins Leben kämpften.

Sie passierte die modernen weißen Häuser mit ihren geometrisch akkurat angelegten Gärten, die für sie perfekt die kleinbürgerliche Spießigkeit illustrierten, die sie davon abgehalten hatte, ihr Herz vollends an die Insel zu verlieren. Doch das Gefühl verflog gleich wieder, als die Straße einen Knick machte und den Blick auf die Bucht freigab, über der gerade noch der allerletzte Schimmer Abendsonne zu erkennen war, der sich in unzähligen Schattierungen von Pink und Orange über das Schwarzblau des Meeres ergoss. Silbergrau schimmernde Wolken, von unten rötlich angestrahlt, segelten über den Nachthimmel, in dessen kräftigem Tintenblau schon einige Sterne blinkten.

Sie blieb einen Augenblick stehen und ließ die Szene auf sich wirken. In solchen Momenten war es schwer, sich nicht in die überwältigende Schönheit der kleinen Küstenstadt mit ihrem Bilderbuchcharme, den Spielzeughäuschen und wippenden Fischerbooten auf der Bucht zu verlieben. Sie musste an ihr kurzes Gespräch mit Geraldine denken. Hatte sie recht? Passten Frauen sich in Beziehungen nur allzu bereitwillig ihren Partnern an? Natürlich drängte Andrew sie nicht, ebenso wenig wie John sie gedrängt hatte. Und doch fand sie sich nun zum zweiten Mal in ihrem Leben hier in Tobermory, der Liebe wegen. Sie musste an das Gespräch in Edinburgh wegen der Wohnung denken. Sie wusste, dass es zu seiner Vorstellung von gemeinsamem Glück gehörte, unter einem Dach zu leben und alles miteinander zu teilen. Jedoch war sie dazu nicht bereit, so gern sie ihn auch hatte. Edinburgh zu verlassen, um hier zu leben, war ihr Kompromiss. Mehr war sie nicht in der Lage zu geben. Das wurde ihr in diesem Augenblick klar, und sie fürchtete sich ein wenig davor, es Andrew beibringen zu müssen. Nicht jetzt. Nicht heute Abend, dachte sie und schob die Gedanken beiseite.

Sie passierte die Tobermory High School, ihre ehemalige Wirkungsstätte, und lief vorbei am Tobar Arts Centre auf das kleine Pfarrhaus zu, das in der Nähe der Tobermory Parish Church lag.

»Agnes!«

Der leise Groll, der sich eben noch in ihr geregt hatte, verflog augenblicklich, als sie Andrews erfreuten Ausdruck sah und er sie zur Begrüßung in den Arm nahm und küsste.

»Ich hatte heute überhaupt nicht mit dir gerechnet. Ich dachte, du hast sicher alle Hände voll zu tun mit deinen Gästen.«

»Ich wollte nur kurz vorbeischauen«, entgegnete sie und strich sanft über seinen Rücken.

Andrew sah hinaus und zog die Augenbrauen zusammen. »Ich fahr dich später schnell mit dem Morris rüber.«

»Ach was, das kurze Stück kann ich laufen. Ich habe extra die Taschenlampe eingesteckt. Dafür müssen wir doch nicht die Umwelt verpesten.«

»Mir wäre es aber lieber, wenn du nicht allein durch die Nacht läufst.«

»Andrew! Das ist Tobermory, nicht Tollcross. Hier passiert nie et…« Sie unterbrach sich selbst. »Na ja, es ist unwahrscheinlich, dass in so kurzer Zeit noch einmal so etwas Schreckliches geschieht.« Die Erinnerung an Hazel Thorburns Ermordung und die dramatischen Ereignisse des letzten Jahres hatte sie wieder einmal eingeholt. Es war, als hätte das beschauliche Küstenstädtchen, das als Kulisse für eine zuckergussbunte TV-Kinderserie diente, ein Stück seiner Unschuld eingebüßt.

»Statistisch betrachtet dürfte so schnell kein schlimmes Verbrechen mehr passieren«, wiederholte sie, jedoch mit weniger innerer Überzeugung. »Gut, dann fahr mich später rum.«

Als Agnes sich eine Stunde später von Andrew verabschiedete und aus dem Wagen stieg, brannte nur noch im oberen Stockwerk der Farmhouse Apartments Licht. Offenbar hatten die Gäste sich bereits auf ihre Zimmer zurückgezogen.

Als sie sich ihrem Cottage näherte, sah sie das Display eines Handys aufleuchten. Anscheinend saß jemand auf der Gartenbank beim Schuppen. Sie knipste die Taschenlampe an. »Hallo?«, fragte sie leise in die Dunkelheit.

»Ich bins, Iain. Ich kann noch nicht schlafen.«

Mit der Taschenlampe leuchtete Agnes sich den Weg und nahm neben Iain auf der Bank Platz.

»Ist ein komisches Gefühl, wieder hier zu sein.« Iain ließ das Handy in seine Jackentasche gleiten. »Ich kann die Nummer noch auswendig.«

»Du hast deine Eltern angerufen?«

»Nein. Ich habe kurz überlegt, ob ich es tun soll«, entgegnete Iain. »Mum zuliebe. Aber was soll das bringen? Es würde nichts ändern.«

»Sie ist immer noch deine Mutter«, gab Agnes zu bedenken. »Weißt du, ich würde vielleicht anders darüber denken, wenn nicht … Hast du von Neil und Hazel Thorburn gehört?«

»Ja, ich hab übers Internet noch ab und zu Kontakt zu ein paar Leuten aus der Schule. Ich konnte es überhaupt nicht glauben. Erst Neils Autounfall und dann … Ermordet! Krass.«

»Effy und Charly hatten zu Neil auch nicht immer das beste Verhältnis. Was Effy am meisten bereut ist, dass sie Neil viel zu selten gesagt hat, wie sehr sie ihn liebt und wie stolz sie auf ihn war. Weißt du, ich hatte immer den Eindruck, dass deine Mum dich auch sehr liebt.«

»Nicht genug, um bei meinem Alten mal den Rücken gerade zu machen. Sie hat sich all die Jahre von ihm tyrannisieren lassen und zugelassen, dass er dasselbe mit mir tut. Nein, Agnes, ich bin fertig mit der Geschichte.«

»Schmeiß die Tür noch nicht zu, Iain«, riet Agnes. »Überlege es dir noch einmal.« Sie strich ihm kurz aufmunternd über den Unterarm. »Es muss ja nicht unbedingt heute Abend sein, aber denk darüber nach, ja? Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Agnes.«

5. Szene

Am nächsten Morgen machten sich die Thespians und Agnes auf zum Mull Theatre. Es lag etwas über zwei Meilen außerhalb von Tobermory in Richtung Salen kurz hinter Aros Park etwa auf Höhe von Calven Island und überblickte den Sound of Mull. In der Ferne konnte man das gegenüberliegende Festland erkennen. Das Gebäude war weit weniger malerisch als der Ausblick und erinnerte mit seiner Bretterverkleidung aus dunklen Zementbauplatten eher an ein Möbellager als an ein Kulturzentrum. Der äußere Eindruck allerdings trügte, denn das Gebäude verfügte über Bühne, Zuschauerraum, Proberäume, Produktionsbüros für den Stagemanager und die Techniker und einen Backstagebereich mit Garderoben für die Künstler. Natürlich war es kein Vergleich zu einem großen Haus, es versprühte eher den Charme einer Kammerspielbühne, doch für einen Ort wie Tobermory mit gerade einmal tausend Einwohnern war das Theater ein Schmuckstück. Die ansässige Schauspieltruppe tourte gerade auf dem Festland, sodass sie die Räumlichkeiten uneingeschränkt nutzen konnten und ihnen Techniker und Stage Manager der Truppe zur Verfügung standen.

»Jetzt wird’s ernst«, kommentierte Daniel scherzhaft. »Mal sehen, ob das, was ich mir überlegt habe, bei den räumlichen Gegebenheiten auch wirklich funktioniert.«

»Sonst wirst du gefeuert und wir suchen uns einen neuen Regisseur«, flachste Geraldine.

»Sehr beruhigend. Ich weiß eure Loyalität zu schätzen.« Daniel grinste, fuhr sich durch die lackschwarzen Haare und sah skeptisch an der dunklen Bretterfassade hinauf.

»Ich weiß«, sagte Agnes nur. »Es sieht ein bisschen nach Lagerhalle aus, aber von innen ist es wirklich nett.«

Der Zuschauerraum fasste nur etwa sechzig Personen, ein wesentlich intimeres Setting, als es die Thespians von ihren Aufführungen in Edinburgh kannten, aber Daniel schien mit den Räumlichkeiten durchaus zufrieden. »Ihr könnt euch schon einmal ein bisschen auf den Bühnenraum eingrooven«, schlug er vor. »Ihr habt eure Textbücher dabei?«

»Das ist ein echter Spleen von dir!« Geraldine stemmte eine Hand in die Seite. »Ich habe mein blödes Textbuch seit der Premiere nicht mehr angerührt. Das ist alles da drin.« Mit dem Zeigefinger der anderen Hand deutete sie auf ihren Kopf.

»Ich finde nun einmal, es gehört zu eurer Ausrüstung, und ihr solltet zwischendrin immer noch einmal hineinsehen. Sonst schleift ihr …«

» … jede Änderung durch und verfälscht den Text«, äffte Geraldine. »Das macht es doch gerade lebendig.«

Daniel hob resigniert die Hände. »Egal, wie auch immer. Ich finde, ihr könntet schon mal mit der Probe anfangen, um euch ein bisschen in den Raum hier einzufühlen. Akt zwei, Szene zwei und dann noch die erste Szene vom dritten Akt, dann sind alle auf der Bühne.«

Agnes fand es ungemein spannend, einen so exklusiven Blick hinter die Kulissen einer Theaterproduktion werfen zu können, und nahm im Zuschauerraum Platz, während die Darsteller sich auf der Bühne bereit machten. Es war interessant zu verfolgen, wie sie nach und nach den Bühnenraum eroberten, die Szene unter Daniels Anleitung immer wieder veränderten und an die Bedingungen des kleinen Theaters anpassten. Hier auf der Bühne waren sie offenbar ein eingespieltes Team, und die leisen, unterschwelligen Animositäten schienen in den Hintergrund zu treten. Dabei fiel Agnes auf, dass gerade Robert und Iain es verstanden, Harmonie in die bunte Truppe mit ihren unterschiedlichen Temperamenten zu bringen. Der etwas rundliche, rotblonde Robert erinnerte Agnes an einen ehemaligen Schüler aus dem Internat, der mit seiner ruhigen, unaufgeregten Art auch oft dazu beigetragen hatte, die Dynamiken innerhalb der Klasse in Balance zu halten.

Es war faszinierend zu beobachten, wie unterschiedlich die Darsteller in ihrem Wesen waren. Geraldine, intensiv und oftmals ruppig mit ihrer beißenden Schlagfertigkeit, Kenny mit dem breitbeinigen Selbstbewusstsein eines selbst erklärten Alphatiers und Mandisa schwungvoll, lebhaft und warm, jedoch auch mit einem schnell entzündlichen Temperament gesegnet, bildeten eine dynamische und gewiss auch explosive Mischung. Douglas strahlte die Autorität der Erfahrung aus und reagierte oft ungehalten auf die Haltung der jüngeren Kollegen. Die volatile Energie wurde von Iains charmant-verbindlicher Art und Roberts Gemütsruhe gut ausbalanciert. Nur Mishti konnte Agnes schwer einordnen. Sie wirkte duldsam und sanft, was gewiss auch ihrer zierlichen Statur und zarten Stimme geschuldet war. Erst beim Eintauchen in ihre Bühnenrolle offenbarten sich verborgene Kraft und Leidenschaft, und Agnes mutmaßte, dass sie jemand war, der es nicht nur auf der Bühne gewohnt war, Masken überzustreifen und abzulegen.

Schließlich traf auch das Bühnentechnikteam des Theaters ein, um vor Ort die Details des vorab besprochenen Konzepts zu klären. Zum Glück war das Bühnenbild schon bei der Produktion auf der großen Bühne in Edinburgh minimalistisch gewesen, hatte allerdings auf die hiesigen Gegebenheiten angepasst werden müssen. Agnes verfolgte interessiert, wie Daniel und die Schauspieler gemeinsam mit den Bühnentechnikern die fertigen Kulissenteile begutachteten und über Laufwege, Spiel- und Bewegungsräume diskutierten. Sie war ein bisschen stolz darauf, wie sich ihre verrückte Idee Stück für Stück zusammengefügt hatte und nun auf der Bühne greifbar wurde. Auch den Schauspielern schien die Planung Vergnügen zu bereiten. Vermutlich waren sie für gewöhnlich nicht in die technischen Abläufe hinter den Kulissen involviert.

Schließlich waren für alle Herausforderungen auf der wesentlich kleineren Bühne zufriedenstellende Lösungen gefunden und Absprachen für die erste Probe am folgenden Tag getroffen.

Agnes hatte die Gäste mit ausführlichen Informationen über Tobermory und Umgebung versorgt, und so zerstreute sich die Truppe nach der Probe bald, um in kleinen Grüppchen den hübschen Fischerort zu erkunden, der sich entlang des Hafens mit seinen bunten Häuschen an den waldigen Hang schmiegte. Diese Postkartenidylle gehörte zu den Dingen, die Agnes an ihrer neuen alten Heimat ins Herz geschlossen hatte. Sie liebte den Pier mit den aufgestapelten Hummerfallen und Netzen, den allgegenwärtigen jodgetränkten Duft des Meeres, den entzückenden kleinen Uhrenturm am Hafen, das geschäftige Hin und Her der vielen Sport- und Fischerboote, die gemütlichen Pubs und kleinen Geschäfte. Sie hatte eine Schwäche für die Veilchenpralinen mit dunkler Schokolade, die es bei Tobermory Chocolate gab, und musste sich oft zwingen, an dem blauen Haus mit der weiß gestrichenen Tür vorbeizugehen. Am meisten haderte sie wohl mit der Beengtheit, dem fest gewobenen sozialen Netz, in dem jeder jeden kannte und man kaum je etwas unbemerkt tun konnte. Dieser enge Zusammenhalt der Bewohner bot Sicherheit und Geborgenheit, so wie die Gemeinschaft Effy und Charly nach dem tragischen Verlust beider Kinder aufgefangen hatte, doch sie ließ auch wenig Raum für Individualismus und das Bedürfnis, sich in der Masse verstecken zu können. Im Jargon der modernen Medien hätte Agnes ihre Beziehung zu Tobermory wohl als »Es ist kompliziert« beschreiben müssen.

Den Tag verbrachte Agnes im Atelier und traf sich am Abend mit Andrew vor dem Pfarrhaus, um gemeinsam zum Macgochans zu laufen. Um die Gäste musste sie sich nicht sorgen, denn die hatten mit Iain einen Ortskundigen in ihrer Gruppe und würden den Weg allein finden.

Die Stimmung im Pub war ausgelassen und die Schauspieler euphorisch. Die erste Besichtigung des Theaters hatte sie kribbelig gemacht.

»Ich kann die Premiere kaum abwarten«, schwärmte Douglas. »Das Theater ist toll. Es hat eine ganz besondere intime Atmosphäre.«

»Hört, hört, intim«, flachste Tommy, fuhr sich mit den Händen am Körper entlang und summte Stripteasemusik.

»Ach, halt die Klappe, du Banause.« Iain lachte. »Du wirst wohl nie aus der Pubertät herauskommen. Dougie hat recht. In so einem kleinen Raum kann man viel direkter zum Publikum spielen. Die Reaktionen sind unmittelbar, greifbarer. Also, ich freu mich drauf.«

Bester Laune ließen sich alle in friedlicher Eintracht ihre Burger und das Bier schmecken. Nur Geraldine erschien seltsam gedrückt und schweigsam.

»He! Gerry! Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«, rief Tommy in seiner Holzhammerart. »Wieder Zoff mit Kenny? Wenn du endgültig die Schnauze voll hast von dem Vogel, weißt du ja, wo du mich findest.« Er keuchte, als Kenny ihm einen Rippenstoß mit dem Ellenbogen verpasste.

»Haha, sehr witzig, Tommy«, gab Geraldine zurück. »Du hättest Komiker werden sollen.« Einen Augenblick schien sie zu zögern, dann setzte sie mit ernster Miene hinzu: »Ich hab nach der Probe wieder so einen Brief gefunden.«

Teller klirrten, als einige ihr Besteck fallen ließen, und alle Blicke richteten sich auf Geraldine.

»Du meinst, von diesem Stalker?«, versicherte sich Mandisa. »Hier?«

Geraldine nickte. »Ich hatte gedacht, hier hätte ich Ruhe vor dem kranken Typ. Langsam wird mir die Sache auch unheimlich.«

»Das ist ja furchtbar!«, rief Mishti. »Du musst schreckliche Angst haben, Gerry. Was, wenn der Typ dich verfolgt und dir irgendwo auflauert oder so?«

»Nun mach sie nicht noch mehr verrückt«, warf Mandisa ein. »Wo hast du den Brief gefunden, Gerry?«

»Er lag in der Eingangshalle auf dem Fußboden, direkt hinter der Haustür. Jemand muss ihn durch den Briefschlitz gesteckt haben. Robert und ich haben ihn gefunden, als ihr noch draußen bei den Autos wart.«

»Und warum habt ihr nichts gesagt? Das ist ja wohl verdammt noch mal etwas, das wir alle wissen sollten!« Wütend blickte Daniel zwischen Robert und Geraldine hin und her.

»Ja, ich weiß. Ich habe Robert gebeten, erst einmal nichts zu sagen. Ich muss das doch selbst erst mal klarkriegen. Ich wollte nicht, dass alle Paranoia schieben und dieser Mist uns den Aufenthalt verdirbt.«

»Du solltest wirklich zur Polizei gehen«, warf Agnes ein. »Ich kenne Sergeant Jarvis und Constable McKinnon persönlich. Ich kann sie später anrufen, wenn du möchtest.«

»Okay, wenn ihr meint …«

»Ja, meinen wir«, betonte Kenny. »Wenn dir dieser Irre hierher gefolgt ist, ist die Sache kein blöder Scherz mehr. Das ist doch krank.«

»Vielleicht …«, begann Dougie. »Na ja, bitte versteht das nicht falsch, aber vielleicht ist es kein anonymer Irrer, der Gerry diese Dinger schickt, sondern jemand hier am Tisch.«

Das betretene Schweigen und die verunsicherten, Blicke der anderen verrieten, dass Dougie damit etwas ausgesprochen hatte, was ihnen ebenfalls im Kopf herumgegangen war.

»Aber wer von uns sollte Gerry so etwas antun?« Mishti blickte erschrocken in die Runde.

»Na ja, der eine oder andere hier hat ja schon einen etwas kranken Sinn für Humor«, knurrte Kenny mit einem provozierend direkten Blick auf Tommy.

»Was willst du damit sagen, du Sack?«, giftete der.

»Hört auf! Hört sofort auf!« Geraldine ließ die geballte Faust auf die Tischplatte krachen, dass Besteck und Gläser klirrten. »Genau deswegen wollte ich es euch nicht erzählen, versteht ihr? Jetzt geht es los. Jetzt fangen alle an, sich gegenseitig zu zerfleischen und zu verdächtigen. Ich gehe morgen direkt nach der Probe zur Polizei, und bis dahin will ich nichts mehr von der Sache hören, verstanden?«

Während die Thespians am nächsten Morgen bei den Proben waren, lief Agnes hinunter zum Hafen, um bei Norman Willies in dem kleinen Supermarkt noch ein paar Lebensmittel einzukaufen. Es war deutlich kühler geworden und ein feiner Sprühregen hatte eingesetzt. Agnes war froh, einen Schirm mitgenommen zu haben. Wahrscheinlich waren die schönen Tage vorüber und der Herbst hielt endgültig Einzug.

Auf dem Weg begegnete ihr Effy, die gerade die kleine Clydesdale-Filiale am Hafen verließ, in der Hazel gearbeitet hatte.

»Hallo, Agnes! Na? Hast du dich inzwischen im Cottage eingelebt?«

»Morgen, Effy. Ja, es ist fabelhaft. Besser hätte ich es gar nicht treffen können. Warst du bei der Bank?«

»Genau. Und du? Unterwegs zum Einkaufen?«

»Richtig, ich habe doch gerade Gäste und muss sehen, dass genug zu essen im Haus ist. Ich bestelle bei Norman und lasse später liefern.«

»Ist es dir denn nicht zu viel Arbeit, dich um die Gäste zu kümmern? Du wolltest dich doch eigentlich zur Ruhe setzen und dich deiner Kunst widmen.«

»Das tue ich doch auch. Aber du kennst mich, ich muss immer in Aktion sein. Es macht mir nichts aus. Außerdem ist das jetzt eine Ausnahmesituation. Die Theatergruppe habe ich schließlich selbst eingeladen, deswegen fühle ich mich verantwortlich, mich um sie zu kümmern. Ich erzähle dir alles demnächst noch einmal in Ruhe.«

»Ach du Schreck!«, raunte Agnes ihrer Freundin zu, als sie die nur allzu bekannte dünne Gestalt in einer übergroßen taubengrauen Strickjacke auf sich zukommen sah. Die dürren Beine waren in schwarze Leggings mit Steg gehüllt und steckten in knallroten knöchelhohen Stiefeletten. Das faltige Gesicht unter den wirr abstehenden Haaren wirkte mit der riesigen, rot gerahmten Brille wie das einer Gottesanbeterin. »Schnell. Erzähl mir irgendetwas und sieh bloß nicht hin, da kommt Dotty Doris.«

Rasch begann Effy ein improvisiertes Gespräch über Charlie und die vielen unerledigten Dinge im Haus der Thorburns. Agnes hörte gebannt zu, als lauschte sie einem Thriller, und versuchte krampfhaft, nicht in die Richtung zu sehen, aus der sich Doris Beaton näherte. Doch vergebens. Doris hatte sie erspäht und deutete mit einem knochigen Zeigefinger in ihre Richtung.

»Fie! Schämen sollet ihr euch! Glaub nicht, dass ich nicht sehe, wie ihr tuschelt, ihr Lästermäuler.« Ihre Stimme klang, als würden eine Kreissäge und eine Küchenreibe ein Kind miteinander zeugen. »Aus meinem Haus vertreiben wolltet ihr mich. Und glaub nicht, ich weiß nicht, dass du deine Finger im Spiel hattest. Du, der Pope und der unfähige Möchtegernsheriff Jarvis. Diese Witzfigur!«

»Hör zu, Doris«, versuchte Agnes, die Keifende zu beruhigen. »Es war nur zu deinem Besten. Nachdem du beinahe das Haus angezündet …«

»Ich! Ich mein Haus angezündet. Ein Mordanschlag war das. Ein feiger Mordanschlag. Aber natürlich. Die alte Doris soll raus aus ihrem Haus. Hat ja nicht mehr alle Latten am Zaun.«

»Doris, bitte. Wir haben uns eben Sorgen gemacht und dachten, es sei besser, wenn deine Nichte in Soroba sich um dich kümmern könnte. So hattest du doch wenigstens Gesellschaft.«

»Pah! Gesellschaft!« Der Ausruf verursachte einen feinen Spuckeregen. Wütend funkelte Doris sie an. »Als ob es ein Vergnügen wäre, bei diesem Flittchen zu wohnen. Die kann es doch gar nicht abwarten, bis ich unter der Erde liege und sie das Haus verkaufen kann. Nach Soroba ziehen! Aufs verfluchte Festland! Wo es nur Mord und Totschlag und lauter Fremde von Gottweißnichtwo gibt. Ich geh hier nicht weg! Ihr müsst mich schon mit den Füßen voran aus meinem Haus tragen.«

»Schon gut, Doris. Niemand möchte dich aus deinem Haus vertreiben«, sprang Effy Agnes zur Seite.

»Und diese Typen, die jetzt oben bei dir wohnen. Das sind auch so welche. Aus Edinburgh. Hab’s in der Zeitung gelesen. Zirkusvolk!«, schimpfte Doris.

»Schauspieler, Doris. Ganz nette Leute. Iain Stewart ist dabei. Der stammt von hier. Vielleicht kennst du ihn noch. Er hat einen Theaterpreis bekommen.«

»Zirkusvolk!«, wiederholte Doris nur und wackelte mit dem Kopf wie eine Bobblehead-Figur. »Hab heute einen davon gesehen. Lauter Metalschrott im Gesicht und überall tätowiert. Bestimmt frisch aus dem Knast! Zirkusvolk.«

»Ja, äh, Doris. Wir müssen dann mal weiter. Einen schönen Tag noch«, sagte Agnes und zog Effy am Arm mit sich.

»Puh! Was war das denn?« Effy lachte. »Die alte Doris hat sich wohl auf dich eingeschossen, wie?«

»Das kannst du laut sagen. Sie hat irgendwie spitzgekriegt, dass es Matthew und ich waren, die ihrer Nichte in Soroba vorgeschlagen haben, sie ganz zu sich zu nehmen. Seitdem bepöbelt sie mich, wenn sie mich sieht. Ich versuche ihr immer zu erklären, dass es nur zu ihrem eigenen Schutz war, aber sie lässt nicht locker.«

»Mit rationalen Erklärungen dringst du zu Doris nicht durch. Das weißt du doch. Sie hat ihren letzten Funken Verstand schon vor zwanzig Jahren auf dem Boden einer Whiskyflasche verloren. Es wäre wahrscheinlich für alle besser, wenn sie zu ihrer Nichte zieht.«

»Außer für ihre Nichte«, sagte Agnes lachend. »Eigentlich ist sie ja eine tragische Figur, aber es fällt schwer, ernst zu bleiben, wenn sie einmal mit ihren Verschwörungstheorien anfängt.«

»Zirkusvolk!«, äffte Effy und musste ebenfalls lachen. »Aber irgendwie ist sie auch eine Institution hier. Und ich kann verstehen, dass sie aus Tobermory nicht wegmöchte. Wer einmal hier Wurzeln geschlagen hat …« Effy lächelte selbstzufrieden. Sie liebte es, Agnes bei jeder Gelegenheit aufs Brot zu schmieren, dass sie recht behalten hatte. Agnes war in den fünfundzwanzig langen Jahren, die sie hier zugebracht hatte, längst ein Mulloch geworden, widerstrebend, aber doch verwurzelt mit Mull, seinen Menschen, dem Meer und der Abgeschiedenheit.

Sie verabschiedete sich von Effy und setzte den Weg zum Supermarkt fort. Unterwegs traf sie noch Bella McAulay und Clara Anderson. Sie würde sich erst wieder daran gewöhnen müssen, in einem Ort zu leben, in dem man keinen Schritt tun konnte, ohne jemandem zu begegnen, den man kannte. In der Gemüseabteilung des kleinen Supermarkts traf sie auch prompt auf Constable McKinnon.

»Fiona! Guten Morgen. Wie schön, dich mal wiederzusehen. Wie geht es dir?«

»Gut, vielen Dank. Ich wollte mir schnell noch etwas Obst für die Mittagspause besorgen. Bin spät dran.«

»Hör mal, ich wollte dich schon einmal vorwarnen. Ihr bekommt später Besuch von einem meiner Gäste aus Edinburgh.«

»Oh! Ist etwas passiert? Ist jemand bestohlen worden?«

»Nicht ganz. Eine der Schauspielerinnen erhält seit einiger Zeit merkwürdige Drohbriefe und Telefonanrufe. Sie hat es für einen dummen Streich gehalten und es auf die leichte Schulter genommen, aber jetzt hat sie auch hier einen Brief gefunden. Die Briefe kamen nicht mit der Post. Auch dieser nicht.«

»Klingt, als wäre es jemand aus der Truppe, nicht?«, schloss Fiona gleich. »Hat sie sich bei den Kollegen irgendwie unbeliebt gemacht?«

»Soweit ich im Bilde bin, nicht. Auch wenn ich den Eindruck habe, dass da unter der Oberfläche schon einiges gärt«, erklärte Agnes. »Wenn es allerdings tatsächlich ein Fremder wäre, der die Briefe schickt …«

» … und er ihr hier raus gefolgt wäre«, setzte Fiona den Gedanken fort. »Dann hätten wir es vermutlich mit einem ziemlich kranken Individuum zu tun. Schick sie bitte so schnell wie möglich zu uns. Sie soll den Brief nicht weiter anfassen … oder nein, am besten wir kommen später zu euch raus. Ist sie da?«

»Noch sind sie bei der Probe. Aber sie müssten in zwei Stunden zum Essen im Hotel zurück sein. Ansonsten melde ich mich noch einmal bei euch. Danke, Fiona. Wie geht es übrigens Matt? Hab ihn länger nicht gesprochen.«

»Ganz gut so weit, denke ich«, entgegnete Fiona gehetzt. »Aber ich muss wirklich los.«

Agnes sah ihr stirnrunzelnd nach. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass es nicht nur Zeitdruck war, der sie zur Eile angetrieben hatte. Auf die Frage nach Matthew hatte sie ungewöhnlich ausweichend reagiert. Ob zwischen den beiden dicke Luft herrschte? Jetzt, da sie es sich richtig überlegte, hatte sie die beiden schon lange nicht mehr zusammen gesehen. Vor einiger Zeit waren sie und Andrew ihnen noch häufiger in der Bar vom Mishnish Hotel oder bei ihrem Lieblingsinder in der Nähe des Fähranlegers begegnet. Merkwürdig. Nun, vielleicht hatten sie festgestellt, dass sie doch nicht zueinanderpassten. Es kam schließlich nicht selten vor, dass es bei aller Sympathie mit der Liebe dann doch nicht klappte. Es ging sie ja auch nichts an. Wenn sie nur nicht so neugierig wäre.

Als sie gerade dabei war, Äpfel auszusuchen, hörte sie plötzlich eine dünne, vorsichtige Stimme hinter sich.

»Mrs Munro?«

Sie wandte sich um und erkannte Mary Anne Stewart, Iains Mutter.

»Mrs Stewart! Wie geht es Ihnen?«

»Danke«, die schmale ältere Frau mit den hängenden Schultern und dem huschenden Blick nickte eilig. »Ich – in der Zeitung hab ich gelesen, dass Iain am Wochenende im Tobermory Theatre auftritt. Ich hatte gedacht, er meldet sich vielleicht, wenn er mal in Tobermory ist, aber Sie wissen ja … Unser Verhältnis ist nicht das beste.« Aus Mrs Stewarts großen, graugrünen Augen sprach Hilflosigkeit.

Sie tat Agnes in diesem Augenblick schrecklich leid. »Hören Sie, wenn Sie möchten, dass ich noch einmal mit ihm spreche … Vielleicht kann ich ihn überzeugen, sich doch noch einmal …«

»Das würden Sie tun?«, stieß Mrs Stewart hervor und ergriff ihren Unterarm. »Es würde mir so viel bedeuten, wenn er sich wenigstens kurz bei mir meldet. Ich habe natürlich eine Karte für die Aufführung bestellt, aber ich weiß nicht, ob ich hingehen soll. Möglicherweise wäre es ihm gar nicht recht.«

»Ich kann natürlich nichts versprechen«, warf Agnes ein. Sie wollte nach dem Gespräch mit Iain bei seiner Mutter keine Erwartungen schüren, die sie später enttäuschen musste. »Aber ich werde sehen, was ich erreichen kann.«

Mrs Stewarts Gesicht hellte sich merklich auf. »Vielen Dank, Mrs Munro. Ich weiß, dass Iain Sie immer sehr respektiert hat. Vielen, vielen Dank.«

»Nicht doch«, wehrte Agnes ab. Es war ihr unangenehm, wie Mrs Stewart sich an die Hoffnung klammerte, ihr gutes Zureden könnte bei Iain etwas erreichen. Sie wirkte so verloren und gebeugt, was letztlich kein Wunder war, wenn man die näheren Umstände etwas kannte.

Agnes konnte nicht begreifen, warum eine erwachsene Frau jahrelang freiwillig Geringschätzung und Bevormundung durch ihren Ehemann ertrug, nur um vordergründig einem gesellschaftlichen Idealbild zu entsprechen.

Nachdenklich verließ Agnes einige Zeit später mit ihren Einkäufen das Geschäft. Sie hatte sich in eine unangenehme Zwickmühle manövrieren lassen, indem sie Mary Anne Stewart versprochen hatte, bei Iain ein gutes Wort für sie einzulegen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, Iains Entscheidung zu respektieren und ihn nicht weiter zu drängen. Doch was hätte sie Mary Anne sagen sollen? Sie hatte so zerbrechlich und erbarmungswürdig ausgesehen. Wie mochte es sich anfühlen, erst aus der Zeitung zu erfahren, dass der eigene Sohn in die Heimat zurückgekehrt war?

Gegen Mittag erschienen Matthew und Fiona, um den Brief zu begutachten und Geraldine und die übrigen Mitglieder der Mad Bad Thespians zu befragen. Der Anblick der beiden nebeneinander zauberte Agnes immer wieder ein leichtes Lächeln ins Gesicht. Sie gaben in den schwarzen Uniformen und den Mützen mit dem Schachbrettmusterrand ein witziges Paar ab. Fiona reichte dem langen, schlanken Matthew gerade bis zur Schulter und wirkte neben ihm noch zierlicher, als sie es ohnehin war, ein Eindruck, den ihr junges, sommersprossiges Gesicht mit der Stupsnase noch unterstrich. Die tief in die Stirn gezogene Polizeimütze betonte Matthews leicht abstehende Ohren und sein langes, ovales Gesicht noch zusätzlich.

»Ich fürchte, wie die Dinge jetzt stehen, werden wir nicht viel unternehmen können«, sagte Matthew schließlich, nachdem er sich die Aussagen angehört und den Brief untersucht hatte. »Sieh dich vor, Schlampe! Pass nur auf, ich beobachte dich! Ich krieg dich, du Hure! Solche Briefe sind alles andere als schön, aber – na ja, ich weiß, das klingt zynisch, aber die Drohungen sind sehr vage. Um strafrechtlich relevant zu sein, müsste ein konkretes Verbrechen angedroht werden. Wenn jemand etwa schreibt: Ich schlag dich tot!, ist es strafrechtlich eine Bedrohung.«

»Verstehe.« Geraldine nickte. »Das heißt, Sie werden nichts unternehmen.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, entgegnete Matthew. »Aber dafür muss ich den Brief den Kollegen auf dem Festland schicken. Für Laboruntersuchungen sind wir hier in Tobermory nicht ausgerüstet. Wir haben es gewöhnlich nur mit geringfügigen Verstößen gegen Recht und Ordnung zu tun: Plünderung der geschützten Adlergelege, Wilderei, Diebstähle, Schlägereien, seltener mit Einbruch.«

»Und dann?«, fragte Geraldine. »Was geschieht dann?«

»Vielleicht untersuchen die Kollegen auf Fingerabdrücke und oberflächliche Spuren. Da aber kein dringender Verdacht besteht, dass Gefahr im Verzug ist, werden sie nicht viel mehr unternehmen.«

»Schon klar. Sie werden also erst tätig, wenn was passiert.« Geraldine verzog den Mund zu einem sarkastischen Lächeln.

»Nicht direkt. Ich werde den Vorfall zu Protokoll nehmen und Sie passen bitte auf, ob Sie irgendetwas Verdächtiges bemerken. Wenn Ihnen irgendetwas unheimlich ist oder sie noch einmal so eine Botschaft erhalten, melden Sie sich bitte umgehend.«

»Ich weiß, das ist ein ganz dummes Gefühl.« Fiona legte Geraldine vorsichtig die Hand auf den Unterarm. »Wahrscheinlich ist es einfach ein schlechter Scherz. Da möchte Ihnen einfach jemand Angst machen. Seien Sie trotzdem vorsichtig. Am besten vermeiden Sie es vorerst, allein aus dem Haus zu gehen.«

»Na prima!«, stöhnte Geraldine. »Wenn ich die Ratte erwische …«

»Es tut mir leid, dass wir nicht viel mehr tun können«, entschuldigte sich Matthew. »Passen Sie auf sich auf, ja?«

»Ich werd mein Bestes tun.« Geraldine grinste schief. »Trotzdem danke.«

Nach dem Besuch der Polizei verliefen die Tage bis zur Premiere allerdings ziemlich ereignislos und Geraldine erhielt keine weiteren Botschaften. Agnes vermutete, dass es sich tatsächlich um einen fehlgeleiteten Streich handelte und das Auftauchen der Polizisten den Scherzbold zur Räson gebracht hatte. Sie mochte es keinem der Mad Bad Thespians konkret zutrauen, Geraldine mit solchen geschmacklosen Briefen über Monate zu belästigen. Wer allerdings Zigarillos mit Knallfröschen präparierte, lag mit seinem Humor schließlich auch etwas außerhalb der Norm.

Am Vorabend der Premiere traf Agnes Iain allein im Garten an und beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, um ihn wegen seiner Mutter anzusprechen. Sie kam direkt zum Punkt. »Gut, dass ich dich hier treffe. Ich wollte noch etwas mit dir besprechen.«

Iain hob abwartend die Augenbrauen. Er schien zu ahnen, worum es gehen würde.

»Ich habe deine Mum getroffen. Sie sagte mir, sie hätte in der Zeitung von eurem Gastspiel gelesen, und sie überlegt, morgen zu kommen.«

»Bitte. Ich kann sie kaum davon abhalten«, gab Iain kühl zurück. »Und er? Wird er auch da sein?«

Agnes schüttelte den Kopf. »Davon hat sie nichts gesagt. Ich nehme es nicht an. Iain, ich weiß, wie du dazu stehst, aber sie wirkte ehrlich verzweifelt. Möchtest du nicht doch wenigstens mit ihr sprechen? Es würde ihr eine Menge bedeuten.«

Ärgerlich stieß Iain Luft aus. »Als ob. Wahrscheinlich ist es ihr nur peinlich, was die Leute denken würden, wenn sie nicht käme oder sie feststellen, dass wir nicht mehr miteinander sprechen.«

»Das glaube ich nicht. Ich hatte den Eindruck, es ist ihr ernst. Sie ist trotz allem deine Mutter, und ich bin sicher, auf ihre Weise liebt sie dich.«

Er machte eine unwirsche Handbewegung. »Darauf kann ich verzichten. Soll sie zur Premiere kommen oder es lassen. Solange sie bei ihm bleibt, kann ich sie einfach nicht respektieren. Wenn sie mich wirklich liebt, hätte sie nicht zugelassen, dass er uns über all die Jahre tyrannisiert und demütigt.«

»Okay.« Agnes gab sich geschlagen. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter darüber zu sprechen. Möglicherweise würde er seine Meinung ändern, jedoch gewiss nicht, wenn sie ihn bedrängte.

Am Freitagabend war es schließlich so weit: »Hamlets letzter Monolog« feierte seine Inselpremiere. Der Zuschauerraum war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Iains Erfolg hatte sich natürlich herumgesprochen, und alle waren kollektiv ein wenig stolz auf diesen Sohn ihrer Heimat. Agnes hatte das Stück zwar schon gesehen, doch hier auf der kleinen Bühne, so dicht am Publikum, wirkte es noch einmal ganz anders. Gebannt verfolgte sie, wie sich das Netz aus Intrigen wob, Hamlet zwischen Loyalität, Moral und dem Bedürfnis nach Rache zerrissen und immer tiefer in einen Strudel schicksalhafter Ereignisse gezogen wurde.

Schließlich gipfelt das Stück im tragischen Finale: Hamlets Mutter Trudy trinkt auf das Wohl ihres Sohnes, nicht wissend, dass Claudio den Drink, der Hamlet zugedacht war, mit Gift präpariert hat. Es kommt zum Showdown: Iain und Kenny als Hamlet und Leonardo. Die entsicherte Pistole, von Leonardo manipuliert, auf dem Tisch. Ein tödliches, von Kokain befeuertes russisches Roulette. Draußen lauern die Killer des verfeindeten Clans. Leonardos Spiel geht nach hinten los, er erschießt sich selbst. Sterbend verrät er Claudios Plan, Hamlet schießt, doch Claudio zieht im selben Augenblick. Beide sinken nieder. Auch Trudy taumelt, bricht sterbend zusammen. Rotes Licht ergießt sich über die Sterbenden, die noch zucken, dann Totenstille und die dünne, kratzige Geigenmelodie von Nearer, My God, to Thee! Einige Herzschläge lang Stille, nur ein leises Röcheln ist zu vernehmen. Leonardo liegt noch immer in Todeszuckungen, so realistisch, dass es Agnes die Gänsehaut über die Arme treibt. Schließlich Maschinengewehrfeuer. Dann wieder Stille. Der Vorhang fällt. Einen Augenblick herrscht Schweigen im Publikum. Dann brandet Applaus auf. Standing Ovations.

Agnes klatschte mit Hingabe. Die Schlussszene hatte sie heute noch mehr ergriffen als in Edinburgh. Das Entsetzen war greifbar gewesen. Begeistert klatschte und pfiff das Publikum und wartete darauf, dass der Vorhang sich noch einmal öffnen und die Schauspieler sich verbeugen würden. Doch der Vorhang blieb geschlossen. Es kam Agnes eigenartig lang vor. Nach und nach ebbte der Applaus ein wenig ab. Die Leute sahen sich verwundert um, fragten sich offensichtlich, ob sie bereits gehen sollten. In diesem Augenblick schob sich der Vorhang auseinander und ein entsetzlich blasser Iain trat hinaus auf die Bühne. Er legte die Hände zum Trichter geformt an den Mund. Allmählich verstummte das Publikum. Gehörte dies zum Stück?

»Ein Arzt? Ist ein Arzt anwesend? Wir brauchen einen Arzt!«

In der dritten Reihe hob Dr. McInnes die Hand. »Hier!«

»Bitte, kommen Sie schnell. Es ist ein Notfall.«