Leseprobe Agnes Munro und der verräterische Brief

7

Bella McAulay trat aus der Haustür und schloss für einen Moment die Augen. Die Morgensonne wärmte ihr Gesicht, und gierig sog sie die würzige Seeluft ein. Seit Lachlan in die Vorschule der Tobermory High School ging, hatte sie gelernt, diese freien Stunden zu genießen. Sie liebte ihren Kleinen und war gerne Mutter, aber bisweilen vermisste sie ihr altes Leben, die Galerie, ihre ausgiebigen Fotostreifzüge, ihr ehrenamtliches Engagement für den Umweltschutz. Es kostete viel Kraft und benötigte gute Organisation, all das unter einen Hut zu bringen. Doch Bella fand, dass sie es sich und ihrem Sohn schuldig war, es zu versuchen. Sie brauchte noch Kleingeld und folgte der Straße bergab Richtung Hafen, um bei der Bank welches zu holen. Die kleine Clydesdale-Filiale, in der auch ihre Freundin Hazel arbeitete, befand sich in einem malerischen viktorianischen Sandstein-Gebäude mit Türmchen und Erkern direkt an der Uferstraße.

Im Kassenraum entdeckte sie den Filialleiter Hugh Petrie, Hazels Chef, und Chloe Cameron, die gerade dabei war, der Auszubildenden Christie etwas zu erklären. Hier in Tobermory kannte man so gut wie jeden persönlich und wurde auf der Post, in der Bank und beim Einkaufen mit Namen begrüßt. So ging es auch an diesem Morgen. Hugh Petrie sah auf und hob die Hand. »Morgen, Bella! Geht es Ihnen gut?« Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Ein sehr attraktiver Mann, allerdings überhaupt nicht Bellas Typ. Für sie war er das Abziehbild eines Bankers und hätte hervorragend in jeden Werbekatalog für Finanzdienstleistungen gepasst. Bella war ein Mann wie ihr Michael hundertmal lieber. Michael war mehr der handfeste Typ, ein echtes Inselgewächs. Hugh Petrie mochte im Anzug eine bessere Figur machen, dafür wäre er sicher keine große Hilfe beim Beschneiden der Obstbäume oder beim Unkrautzupfen. Bei der Vorstellung musste Bella grinsen.

»Na klar. Ich bin auf dem Weg in die Galerie. Und wie geht es Ihnen? Bei Hannah alles in Ordnung mit dem Baby? Ich hoffe, ihr ist nicht mehr dauernd übel«

»Alles bestens, danke. Hannah geht es inzwischen deutlich besser. Ich kann auch nicht klagen, allerdings …« Hugh machte eine Pause und schien zu überlegen, ob er weitersprechen sollte. »Ehrlich gesagt mache ich mir etwas Sorgen um Hazel. Ich hatte ihr angeboten, sie könne noch bis zum Ende der Woche zu Hause bleiben, aber sie bestand darauf, heute wieder zur Arbeit zu kommen. Doch dann ist sie am Morgen nicht erschienen, ohne sich noch einmal zu melden. Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich.«

Bella runzelte die Stirn. Das klang tatsächlich nicht nach ihrer Freundin. Hazel war stets sehr zuverlässig. »Vielleicht hat sie es sich anders überlegt? Haben Sie versucht, sie anzurufen?«

»Selbstverständlich«, antwortete Hugh. »Aber sie geht nicht ans Telefon. Ich habe es auf der Festnetznummer und auf dem Handy versucht. Effy und Charlie möchte ich jetzt nicht zusätzlich beunruhigen. Ich dachte, vielleicht wissen Sie, was mit ihr los ist. Natürlich habe ich volles Verständnis. Der Unfall ihres Bruders war ein harter Schlag, und ich würde es ihr nicht übelnehmen, wenn sie sich ein paar Tage freinehmen möchte. Aber dass sie sich gar nicht meldet, ist ungewöhnlich. Ich hoffe, es geht ihr gut. Hat sie mit Ihnen gesprochen?«

Bella verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. »Nein, ich weiß von nichts. Allerdings finde ich es auch merkwürdig, dass sie nicht anruft. Wenn Hazel sich anders entschieden hat und doch zu Hause bleiben möchte, hätte sie doch anrufen und Bescheid sagen können. Sich einfach nicht zu melden, sieht ihr gar nicht ähnlich.«

Hugh zog die Brauen zusammen und kratzte sich am Ohr. Auch er sah besorgt aus. »Das ist es ja. Auf Hazel kann ich mich immer hundertprozentig verlassen. Na ja, allerdings hat sie gerade auch viel zu verkraften. Vielleicht hat Neils Tod sie doch mehr mitgenommen als sie zugeben möchte. In der Mittagspause werde ich jedenfalls mal nach ihr sehen.«

»Ich kann auch schnell bei ihr reinspringen, bevor ich zur Galerie gehe. Das ist überhaupt kein Problem. Ich bin früh dran heute. Ich sage ihr dann, sie soll anrufen«, bot Bella an.

»Das wäre sehr hilfreich. Was kann ich denn sonst für Sie tun? Das Übliche?«

»Genau.« Bella trat an den Schalter, um sich das Kleingeld auszahlen zu lassen. Sie verstaute es in einer Geldtasche, die sie in die Handtasche steckte, und verabschiedete sich. Auf dem Weg in Richtung Victoria Street machte sich ein Gefühl der Unruhe in Bella breit. Es war ganz und gar untypisch für ihre Freundin, einfach nicht zur Arbeit zu gehen, ohne sich wenigstens abzumelden. Sie hatte erzählt, dass sie mit Einschlafschwierigkeiten zu kämpfen hatte. Möglicherweise hatte sie etwas eingenommen und schlief tief und fest. Auf dem Weg wählte Bella mehrfach auf dem Handy Hazels Nummern. Doch weder zu Hause noch auf dem Handy war sie zu erreichen. Eine Mailbox hatte sie nicht eingerichtet.

In Gedanken wälzte Bella weitere Szenarien. Vielleicht war sie auch krank, lag im Bett und hatte das Telefon nicht gehört. Oder sie war zu schlapp, um aufzustehen. Was, wenn sie gestürzt war und sich etwas gebrochen hatte? Oder hatte sie einfach nur vergessen, auf der Arbeit anzurufen, weil sie wegen Neils Tod noch so durcheinander war? Bellas Herz schlug schneller, als das niedrige, hellblau gestrichene Häuschen in Sicht kam. Sie klopfte, erhielt jedoch keine Antwort. Vielleicht hatte Hazel sie nicht gehört. Eine Türklingel gab es nicht. Bella klopfte noch einmal. Dieses Mal etwas lauter. Drinnen rührte sich nichts. Zögerlich drehte Bella den Türknauf und drückte die Haustür auf. Sie steckte den Kopf durch den Spalt und rief in den Flur. »Hazel? Bist du da?«

Das Haus antwortete mit Stille. Entschlossen trat Bella ein und sah sich um. Auf den ersten Blick konnte sie nichts Ungewöhnliches erkennen. »Hazel? Alles in Ordnung? Ich bin es, Bella.«

Hazels Jacke hing an der Garderobe. Doch das musste nichts bedeuten. Selbst früh am Morgen war es nicht besonders kalt, vielleicht war sie ohne aus dem Haus gegangen. Das Auto hatte nicht vor dem Haus gestanden, doch auch das war nicht weiter verwunderlich. Hazel parkte den Wagen oft bei ihren Eltern, weil dort mehr Platz war. Im Ort kam man schließlich wunderbar zu Fuß oder per Fahrrad zurecht. Ein Auto brauchte man nur für weitere Strecken. Einer plötzlichen Eingebung folgend öffnete Bella die Schublade der Kommode im Flur. Ein Gefühl der Übelkeit überfiel sie, als sie dort Hazels Schlüsselbund und ihr Portemonnaie vorfand. Dann hatte Hazel das Haus wohl doch nicht verlassen. Aber warum antwortete sie dann nicht? »Hazel?!«, rief Bella noch einmal. Ihre Stimme klang eigenartig schrill in ihren Ohren. Sie lief ins Wohnzimmer, konnte Hazel aber nirgends sehen. Sie sah sich in der Küche und im Arbeitszimmer um und hetzte dann atemlos ins Schlafzimmer. Hazels Bett war unberührt. Bella runzelte die Stirn. Hatte die Freundin etwa die Nacht nicht zu Hause verbracht? Aber wo sollte sie hingegangen sein – ohne Schlüssel und ohne Geld? Einen Freund, bei dem sie die Nacht hätte verbringen können, hatte sie, soweit Bella wusste, nicht. Außerdem hätte sie doch dann den Schlüssel mitgenommen. Panik stieg in Bella auf, als sie in den Flur stürzte und die Badezimmertür aufriss. Ein metallischer Geruch schlug ihr entgegen, und instinktiv musste sie würgen. Das erste, was Bella sah, war das kalkweiße, bläulich angelaufene Gesicht ihrer Freundin, die unnatürlich steif und verdreht in der Wanne lag. Glasige Augen starrten an die Decke. Bella riss die Hände vors Gesicht. Sie schrie, ohne sich dessen bewusst zu sein. Das Geräusch klang schrill und fremd in ihren Ohren. Das Wasser hatte sich rostrot verfärbt, die Fliesen hinter der Wanne waren blutbesudelt. Hazels rechter Arm baumelte über den Rand der Wanne hinab. Daneben auf dem Boden lag ein großes Küchenmesser.

»O mein Gott, o mein Gott, o mein Gott!«, stieß Bella mantraartig hervor, während sie rückwärts aus der Tür stolperte und diese hinter sich zuschlug. Mit zittrigen Fingern suchte sie in der Tasche nach ihrem Handy. Sie musste die Polizei rufen. Sie musste … Doch die Übelkeit übermannte sie. Sie stürzte nach draußen und musste sich an die Hauswand gestützt übergeben. Noch eine ganze Weile stand sie da und würgte immer wieder, bis ihr Magen schließlich nichts mehr hergeben wollte.

Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und holte noch einmal tief Luft. Mit zittrigen Fingern tippte sie schließlich die Notrufnummer in ihr Handy.

8

Agnes nahm gerade die frisch gerösteten Brotscheiben aus dem Toaster, als Effy die Treppe herunterkam. »Hm, das riecht schon gut. Vielen Dank, dass du dich ums Frühstück gekümmert hast. Bei mir hätte es nur Frühstücksflocken gegeben. Ich muss aber zugeben, dass ich richtig hungrig bin, und es riecht fantastisch.«

»Das ist ein gutes Zeichen, Effy. Du musst schließlich wieder zu Kräften kommen. Setz dich. Ich hole nur schnell noch den Tee.«

»Ich habe deinen Koffer im Flur gesehen. Willst du denn wirklich schon jetzt wieder abreisen? Ich meine, du hast doch jetzt Zeit. Gönn dir einen Urlaub, wir unternehmen etwas zusammen. Hazel würde sich sicher auch freuen.«

Agnes versuchte, dem bittenden Blick ihrer Freundin auszuweichen. »Ich habe Susan gesagt, ich bin spätestens in zwei Wochen wieder zurück. Sie versorgt die Blumen und holt die Post rein. Sie rechnet doch mit mir. Und euch kann ich doch auch nicht länger zur Last fallen.«

Effy holte hörbar Luft. »Nie um eine Ausrede verlegen. Du kannst es einfach nicht abwarten, zurück nach Edinburgh zu kommen, nicht wahr? Es war dir hier ja immer schon zu piefig.«

»Sei nicht unfair, Effy. Du weißt, wie schwer es mir immer noch fällt, hier zu sein.«

»Ich verstehe dich ja. Du fehlst mir bloß so. Niemand kann die beste Freundin so leicht ersetzen. Früher habe ich mir immer ausgemalt, wie wir hier zusammen alt werden. Du, ich, Charlie und John. Ich weiß, dass es dir nicht leichtfällt, hier zu sein mit all den Erinnerungen. Aber es ist jedes Mal schön, dich zu sehen, und ich genieße jeden Tag.«

»Hör bloß auf, ich fange gleich an zu heulen und sehe dann aus wie ein Panda.« Vorsichtig wischte Agnes sich mit dem kleinen Finger unter dem Auge entlang. »Du fehlst mir doch auch. Aber ohne John ist es einfach nicht mehr dasselbe. Mull war immer mehr sein Zuhause als meines. Vielleicht habe ich nie wirklich hierhergehört. Das ist doch ein ganz anderer Menschenschlag hier.«

Effy schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass das nicht wahr ist. Über die Jahre hast auch du hier Wurzeln geschlagen, Agnes, ob du willst oder nicht.«

»Ich weiß nicht. Mein Zuhause ist jetzt Edinburgh. Ich habe dort noch einmal von vorne angefangen, mir etwas aufgebaut. Es hat sich so viel verändert. Nur in Tobermory scheint die Zeit irgendwie stillzustehen.«

»Du hast recht, manchmal kommt es mir auch so vor. Hier läuft alles ein bisschen langsamer, aber das hat doch auch sein Gutes. Die Leute halten zusammen, man hilft einander. So eine Gemeinschaft findest du in der Stadt nicht so schnell.«

Agnes lächelte. »Du hättest in die Politik gehen sollen.«

Charlie steckte den Kopf durch den Türspalt in die Küche und schnupperte. »Hm … hier duftet es ja ganz köstlich. Habt ihr für mich auch noch etwas übrig?«

»Natürlich, Charlie, komm und setz dich.« Agnes goss Tee in seine Tasse. »Ich habe Toast, Speck, Eier, Bohnen, Tomaten …«

»Hast du schon gehört? Agnes will uns wieder verlassen.«

Agnes versuchte, den beleidigten Unterton in Effys Stimme zu überhören.

»Wirklich? Das ist aber schade, Agnes. Du kannst gerne bleiben, solange du willst. Und das sage ich nicht nur, weil du uns mit Frühstück bestichst.« Charlie grinste und holte sich einen Teller aus dem Schrank.

»Ich weiß. Das ist lieb, ihr zwei. Aber ich muss wirklich wieder nach Hause. Ich hatte vor, den Bus um halb eins zu nehmen. Dann bin ich rechtzeitig in Craignure, um die Zwei-Uhr-Fähre zu erreichen.«

»Ich kann dich auch fahren«, bot Charlie an.

»Nicht nötig, Charlie. Danke dir. Ich kann ganz bequem mit dem Bus fahren.«

»Willst du nicht wenigstens warten, bis Hazel von der Arbeit zurück ist? Sie wäre extrem traurig, wenn sie sich nicht von dir verabschieden könnte.«

»Ich werde gleich noch schnell bei der Bank vorbeigehen, um ihr auf Wiedersehen zu sagen.«

»Komisch, dass sie sich gestern Abend nicht mehr gemeldet hat. Eigentlich hatte sie gesagt, sie würde noch anrufen. Na ja, wahrscheinlich war sie zu müde. Die letzten Tage waren verflucht anstrengend für uns alle.« Charlie stellte den gefüllten Teller auf dem Tisch ab und nahm einen Schluck von seinem Tee.

Es klingelte.

»Vielleicht ist sie das«, meinte Agnes.

»Nein. Sie wird längst bei der Arbeit sein. Außerdem würde Hazel nicht klingeln, sie würde einfach reinkommen.«

Agnes lachte. »Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen, dass niemand hier seine Tür abschließt.«

»Siehst du? Mein Reden, nicht alles besser in der Großstadt«, konterte Effy und wollte aufstehen.

»Lass nur, ich geh schon. Ich stehe doch ohnehin.« Agnes ging in den Flur und öffnete die Haustür. Verwundert blickte sie in das Gesicht von Matthew Jarvis, dem Inselpolizisten. Im Kontrast zu seiner schwarzen Polizeiuniform wirkte er unnatürlich blass. Die Dienstmütze mit dem Schachbrettmuster-Band hatte er abgenommen und drehte sie unablässig in den Händen. Agnes beschlich ein ungutes Gefühl, das sich vom Magen in ihre Kehle hocharbeitete. »Himmel, Matthew. Ist etwas passiert? Du siehst ja ganz verstört aus.«

Matthews Adamsapfel trat deutlich sichtbar hervor, als er schluckte. Er öffnete den Mund, zunächst ohne einen Ton hervorzubringen. Dann räusperte er sich. »Ich muss mit Effy und Charlie sprechen. Es geht um Hazel.«

Agnes fühlte sich, als hätte sich der Boden unter ihr in Bewegung gesetzt. Ihr Herz pochte so laut und schnell, dass sie glaubte, Matthew müsse es hören. »Um Hazel? Um Himmels Willen, Matthew. Ist ihr etwas passiert?«

Der junge Police Sergeant presste die Lippen aufeinander und Agnes sah Tränen in seinen Augen schimmern. Sie brauchte seine Antwort nicht abzuwarten. Matthews Zähne bearbeiteten seine Unterlippe. »Ich … ähm, ich würde wirklich lieber zuerst mit Effy und Charlie sprechen«, sagte er schließlich. Er war sichtlich mitgenommen und Agnes wusste, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Sie war sich nicht sicher, ob er so leise gesprochen hatte oder ob es an ihrer Wahrnehmung lag, dass sie seine Worte kaum verstanden hatte. Sie hatte das Gefühl, als habe sich plötzlich eine Glasglocke über sie gestülpt. Alle Eindrücke drangen nur gedämpft zu ihr durch, was der Situation etwas Unwirkliches verlieh. »Natürlich. Komm herein«, sagte sie beinahe mechanisch, schloss die Tür hinter Matthew und folgte ihm in die Küche.

Effy und Charlie blickten freundlich zur Tür, als Matthew eintrat, doch das Lächeln erstarb, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkten. Matt hatte den Blick fest auf die Mütze in seiner Hand gerichtet, die er noch immer unablässig drehte. Für einen Augenblick, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam, hörte Agnes nur das Pochen und Rauschen in ihren Ohren und das Ticken der Küchenuhr, bis Matthew schließlich den Mund öffnete und die Worte gepresst aus seinem Mund fielen, so als sei es eine unglaubliche Kraftanstrengung. »Es tut mir schrecklich leid, euch diese Nachricht überbringen zu müssen – gerade jetzt. Es … äh … es geht um Hazel. Sie … ist tot.«

»Wie bitte, was?« Effy sah aus, als wolle sie laut loslachen. »Unsinn! Matthew, was redest du denn da?«

Matthews Augenbrauen zogen sich zusammen, seine Zähne gruben sich erneut in seine Unterlippe, während er verzweifelt nach den richtigen Worten suchte. »Ich weiß nicht, wie ich euch das sagen soll. Sie … Bella hat sie heute Morgen in ihrer Badewanne gefunden.« Matthew machte erneut eine Pause. Der junge Polizist schluckte schwer, bevor er weitersprechen konnte. »Wir gehen vorerst davon aus, dass sie sich das Leben genommen hat. Es wirkte alles so, als habe sie sich die Pulsadern aufgeschnitten. Es tut mir wirklich so leid. Gerade nach allem … Natürlich können wir noch nichts mit Gewissheit sagen. Wir müssen die rechtsmedizinische Untersuchung abwarten, aber bisher deutet alles darauf hin, dass sie sich selbst das Leben genommen hat.« Mit dem Handrücken wischte er sich über die Augen. Er sah vollkommen hilflos aus und schaute betreten zu Boden.

Effy starrte Matthew immer noch mit einer Mischung aus Spott und Unglauben an, doch ihre Lippen zitterten, und die Farbe schien aus ihrem Gesicht zu weichen. Sie pendelte gefährlich auf ihrem Stuhl, so dass Agnes fürchtete, sie würde zu Boden stürzen. Sie machte einen Schritt an Matthew vorbei und legte ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter, um sie im Notfall stützen zu können, als Effy plötzlich begann, laut zu lachen. Ein unheimlicheres Geräusch hatte Agnes in ihrem Leben noch nicht gehört. Das Lachen schien nicht zu Effy zu gehören, es klang fremd und entrückt. Effy schüttelte vehement den Kopf. »Nein, Matthew. Nein! Das ist nicht wahr! Das kann überhaupt nicht sein«, sagte sie schließlich und begann mit grimmiger Entschlossenheit, den Frühstückstisch abzudecken.

Charlie starrte Effy an, die sich die Schürze umgebunden und begonnen hatte, Wasser in die Spüle zu lassen, während sie unablässig murmelte. »So ein Unsinn. Nicht Hazel. Das kann überhaupt nicht sein.«

Charlie rührte sich nicht und wirkte hilflos wie ein trockenes Blatt in einem Wasserstrudel. Schließlich entrang sich seiner Kehle ein Geräusch, das Agnes an einen verwundeten Bären erinnerte. Er sprang auf und fegte dabei mit einer kraftvollen Armbewegung das verbliebene Geschirr vom Tisch. Effys geliebte Wedgwood Teekanne zerschellte mit einem Knall, und Tee ergoss sich über den Fliesenboden.

Matthew war unwillkürlich einen Schritt zurückgewichen und hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen, als rechnete er damit, dass Charlie sich jeden Augenblick auf ihn stürzen könnte. Charlie allerdings starrte nur mit verdutzter Miene auf die Scherben und die braune Pfütze am Boden, so als fragte er sich, wie sie dorthin gekommen waren. Effy stand über die Spüle gebeugt, wusch das Frühstücksgeschirr ab und wirkte dabei wie ein Montageroboter in einem Autowerk.

Agnes sah verzweifelt zu Matthew hinüber. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Es wirkte alles so surreal, dass ein Teil von ihr einfach nur hoffte, sie möge endlich aus diesem skurrilen Alptraum aufwachen.

Als Charlie sich schließlich an Matthew wandte, klang er ruhig, doch seine fahrigen Bewegungen und das Zittern, das seinen Körper durchlief, entlarvten ihn. »Du sagst, Bella hat sie gefunden? Wie lange … wann ist sie … ich möchte alles wissen, Matthew, alles.«

Matthew machte einen zögerlichen Schritt ihn zu. »Es tut mir leid. Im Augenblick können wir nur abwarten. Die Spurensicherung war noch nicht da. Wir haben ein Team vom Festland angefordert. Wenn die hier mit der Spurensicherung und allem fertig sind, werden sie Hazel zur rechtsmedizinischen Untersuchung nach Craignure bringen, wo die Todesursache und -umstände näher geklärt werden.«

»Können wir dann zu ihr? Sie sehen?« Charlies Stimme klang heiser und kraftlos.

Matthew nickte stumm und sah betreten zu Effy, die sich nun das Handtuch genommen hatte und Teller und Tassen trocknete, als hinge ihr Überleben davon ab.

Charlie fuhr herum. In einem plötzlichen Anflug von Zorn packte er Effys Schultern und schüttelte sie. »Verdammt, Effy! Hör auf damit! Hast du nicht gehört, was Matthew gesagt hat?«

Effys schmale Gestalt wurde von einem heftigen Schluchzen erschüttert, das wie das verzweifelte Japsen einer Ertrinkenden klang. Der Teller, den sie gerade abgetrocknet hatte, glitt aus ihren Händen und zersprang, während die Beine unter ihr zusammensackten und Charlie sie auffangen musste. Effys Atem flatterte, flach, viel zu schnell, während sie schluchzte und japste und am ganzen Körper zitterte.

Matthew sah deutlich überfordert aus. Agnes überlegte, ob er es auch gewesen war, der die Nachricht von Neils Unfall hatte überbringen müssen. Es gab keine abgebrühte, dienstmäßige Routine, ihm war anzusehen, wie ihm all das unter die Haut ging. Die Szene, die sich ihnen bot, konnte einem nur das Herz zerreißen: Charlie Thorburn, verzweifelt seine unkontrollierbar schluchzende Frau an sich pressend, inmitten der Scherben.

»Ich werde Dr. McInnes anrufen«, sagte Agnes schließlich, um etwas tun zu können.

»Ja. Das ist eine gute Idee. Ich schicke dann Fiona mit dem Wagen.« Matt sah zu Charlie hinüber, der gerade vorsichtig versuchte, Effy ins Wohnzimmer zu dirigieren. »Sie fährt die beiden dann nach Craignure – wenn sie in der Verfassung dazu sind.«

Agnes nickte. »Vielen Dank. Ich sehe, dass dir das auch nicht leichtfällt, Matt. Komm, ich bringe dich noch zur Tür.«

Als Matthew sich auf der Türschwelle noch einmal umdrehte, stellte Agnes die Frage, die ihr bereits die ganze Zeit im Hirn herumspukte. »Warum, Matthew? Warum sollte sie …« Sie fand nicht die richtigen Worte. »Glaubst du, es war wegen Neil? Ich meine, es hat sie mitgenommen, aber sie wirkte nicht … sie hätte doch nie … Matthew, du hast sie doch auch gekannt. Hattest du etwa den Eindruck, sie könnte einen Selbstmord planen?«

Matthew verzog das Gesicht und hatte dabei ein wenig Ähnlichkeit mit einem schuldbewussten Dackel. »Es tut mir leid, ich darf zu den laufenden Ermittlungen wirklich nichts sagen. Ich werde die Thorburns auf dem Laufenden halten, so gut ich kann, das verspreche ich. Bis die Ergebnisse der rechtsmedizinischen Untersuchung vorliegen, möchte ich mich mit Mutmaßungen lieber zurückhalten. Allerdings …« Er wischte sich mit der Hand über den Nacken. »Na ja, ich meine, eigentlich darf ich gar keine Auskunft geben, aber … es sieht so aus, als habe sie einen Abschiedsbrief hinterlassen. Darin erwähnt sie auch den Unfall. Bitte sag Effy und Charlie noch nichts. Ich möchte mir keinen Ärger einhandeln. Aber wenn du mich fragst, nicht zuletzt wegen dieses Briefs, glaube ich schon, dass es etwas mit Neil und seinem Unfall zu tun hatte.« Matthew fuhr sich mit der Hand durch die streichholzkurzen, braunen Haare. »Verflucht, nach der Ausbildung glaubt man, auf solche Situationen vorbereitet zu sein. Und dann stellt man fest, dass man es überhaupt nicht ist. Na ja, aber vielleicht ist das auch gut so. Ich möchte niemals so abgebrüht werden, dass mir so etwas nicht nahegeht.«

»Du hast Hazel auch sehr gemocht, nicht?«

Matthew blickte erschrocken auf. Dann lächelte er kurz, während seine Augen sich gleichzeitig mit Tränen füllten. »Es war ziemlich offensichtlich, was?«

»Es war schwer, sie nicht zu mögen.« Agnes schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. »Gerade habe ich das Gefühl, in einem bösen Traum gefangen zu sein, aus dem ich nur aufwachen muss. Aber es ist keiner, nicht wahr?«

Der junge Sergeant rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, um seine Tränen zurückzudrängen. Er schüttelte lediglich den Kopf.

»Sie kümmern sich um Charlie und Effy? Ich denke, es kann nicht schaden, wenn Doktor McInnes ihnen etwas zur Beruhigung gibt.«

Agnes nickte.

»Ich schicke Fiona … also Police Constable Mackinnon, sobald ich mehr weiß.«

»Danke, Matthew.«

9

Agnes stellte sich immer und immer wieder dieselben Fragen und fand einfach keine Erklärung. Wie konnte sie sich so getäuscht haben? Hazel war ihr nicht verzweifelt vorgekommen. Traurig, erschüttert, verwirrt, ja. Aber doch nicht so, dass man annehmen musste, sie könne sich etwas antun! Hätte sie die Zeichen erkennen müssen? Hätte sie Hazel helfen, sie von ihrem Plan abbringen können? Hätte man es ahnen können, wenn man nur genauer hingesehen hätte? Die Fragen wirbelten beständig durch ihren Kopf. Sie konnte einfach nicht stillsitzen. Um sich von ihren Gedanken abzulenken, hatte sie damit begonnen, die Küche aufzuräumen und zu putzen. Sie war gerade dabei, die Fronten mit einem Lappen abzuwaschen, als sie Schritte auf dem Gehweg vor dem Haus hörte. Als sie aus dem Fenster sah, erkannte sie draußen die kräftige Gestalt und die dicken dunkelbraunen Locken von Hazels Freundin Bella McAulay. Sie wischte sich die Hände an Effys geblümter Küchenschürze trocken, als es bereits an der Haustür klopfte. »Komm herein«, rief sie.

Durch das halb geöffnete Fenster würde Bella sie hören, also musste sie nicht zur Tür gehen. Die offenen Haustüren waren eines der Dinge, die Agnes am Leben auf der Insel vermisste. Als sie in den Flur kam, trat Bella bereits ein. Ihr Gesicht war blass und ihre Nase rot und verquollen. Agnes überlegte, dass sie selbst wahrscheinlich einen ebenso erbärmlichen Eindruck machte. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit hatte sie heute Morgen noch nicht einmal die Kraft aufbringen können, sich zu schminken.

Bella zupfte ein zerknülltes Taschentuch aus der Jackentasche, tupfte sich damit die Nase ab und lächelte Agnes kurz zu. »Guten Morgen, Mrs Munro. Entschuldigen Sie meinen jämmerlichen Aufzug. Ich kann einfach nicht aufhören zu heulen. Darf ich bleiben?«

Agnes machte einen Schritt auf die junge Frau zu und half ihr aus der Jacke. »Natürlich, kommen Sie herein. Ich stehe auch noch vollkommen unter Schock. Es ist so furchtbar. Soll ich uns einen Tee machen?«

Bella nickte dankbar. »Mir gehen die Bilder nicht aus dem Kopf. Ich sehe sie immer wieder vor mir. Gleichzeitig denke ich, das kann doch alles nicht real sein. Ich weiß gar nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Wie muss sich Effy erst fühlen? Ich begreife das alles nicht.«

»Es geht mir nicht anders. Ich fasse es auch nicht.« Agnes hängte Bellas Jacke an die Garderobe und ging in die Küche, um Tee zu machen. Bella folgte ihr.

»Sie war meine beste Freundin. Und Lachie war vernarrt in seine Patentante. Ich hatte bisher nicht den Mumm, es ihm zu sagen. Ich weiß einfach nicht, wie. Also drücke ich mich davor. Armselig, oder?«

Agnes schüttelte den Kopf. »Nein. Überhaupt nicht. Wie soll man einem kleinen Jungen erklären, was man selbst kaum fassen kann?« Agnes gab ihr Bestes, um der Stabilitätsanker zu sein, den sie alle, und vor allem die Thorburns, nun bitter nötig hatten.

»Lachie ist in der Vorschule. Ich wollte sehen, ob ich Ihnen und den Thorburns mit irgendetwas helfen kann. Eigentlich hätte ich heute einen Termin gehabt, aber das schaffe ich noch nicht. Bloß zu Hause kann ich nicht aufhören zu grübeln. Gibt es Neues von Effy?«

»Ihr Zustand ist unverändert. Man hat sie von Craignure in die Akut- und Notfallpsychiatrie nach Lochgilphead gebracht. Charlie war nur kurz hier, um ihre Sachen zu holen und ist sofort wieder gefahren. Er wird vorerst bei ihr bleiben und hat mich gebeten, mich hier um alles zu kümmern.«

»Die Ärmsten! Ich kann mir das kaum vorstellen. Beide Kinder in so kurzer Zeit … wenn ich mich nicht um Lachlan kümmern müsste, hätte es mir auch den Boden unter den Füßen weggezogen. Den Anblick werde ich nie in meinem Leben vergessen. Wie sie in der Wanne lag, alles voller Blut … es ist wie ein Albtraum, der nicht aufhören will, nicht wahr, Mrs Munro?«

»Agnes.«

»Agnes«, wiederholte Bella und lächelte kurz.

Agnes deutete auf ihre Schürze und die Spuren ihrer Beschäftigungstherapie in der Küche. »Ich komme mir auch vor wie eine Schlafwandlerin. Ich versuche, mich mit Arbeit abzulenken. Dabei ist Effys Küche eigentlich ordentlicher als meine daheim und hätte es überhaupt nicht nötig.«

Bella nickte. »Man hält sich irgendwie beschäftigt, nicht? Konnte Effy … hat sie Hazel noch einmal sehen können?«

»Ich fürchte, das hat den Zusammenbruch erst ausgelöst.« Agnes band die Schürze ab und wies mit der Hand in Richtung Wohnzimmer. »Setzen Sie sich doch, Bella. Ich setze das Teewasser auf und bin gleich bei Ihnen.«

Nachdem Agnes den Tee eingegossen hatte, zog sie den Sessel heran und setzte sich zu Bella. Die hockte ungelenk auf der Sofakante, hatte das Kinn auf die geballten Fäuste gestützt, und schien einen Punkt auf dem Teppich zu fixieren. »Die arme Effy, wie schrecklich!«, murmelte sie und wandte sich Agnes zu. »Danke für den Tee.« Sie griff nach der Tasse und legte die Hände darum, als ob sie sie wärmen wollte. »Und die Polizei glaubt wirklich, dass sie … ich meine, dass Hazel es selbst getan hat?«

Agnes nickte. »Matthew sagte, ein Team aus Oban habe die Ermittlungen übernommen. Die Chefermittlerin habe ich kurz kennengelernt, als ich bei der Polizei meine Aussage gemacht habe. Ziemlich nassforsch, aber vielleicht bringt das der Job mit sich. Jedenfalls nicht besonders einfühlsam. Sinclair hieß sie, wenn ich mich richtig erinnere. Sie haben mich zu Hazels Gemütszustand befragt und ob sie Suizidgedanken geäußert hätte.« Agnes hielt inne und schüttelte vehement den Kopf. »Suizidgedanken! Hazel! Ich habe ihnen gesagt, dass ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen kann. Sie wirkte so stark, so kämpferisch.« Wieder musste Agnes sich unterbrechen. Mit dem Fingerknöchel wischte sie eine Träne aus dem Auge.

»Nicht wahr? Genau das habe ich mir auch wieder und wieder gesagt. Jeder, aber nicht Hazel«, stimmte Bella zu. »Sie war eine Kämpfernatur. So schnell hätte sie nicht aufgegeben. Und sie wollte für ihre Eltern da sein. Das hat sie auf der Beerdigung immer wieder gesagt.«

»Nun, die Ermittler scheinen fest davon auszugehen. Es soll einen Abschiedsbrief gegeben haben. Er lag in der Küche neben einem Glas und einer leeren Flasche. Charlie hat Hazels Handschrift auch eindeutig identifiziert. Zur Sicherheit haben sie den Brief offenbar noch an einen Graphologen weitergeleitet. Matthew sagt, er darf über die Details erst sprechen, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, aber bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass es irgendetwas anderes als ein Selbstmord war.«

Bella hatte die Zähne in ihrer Unterlippe vergraben und knetete ihre Nasenwurzel mit den Fingern. »Genau das ist ja das Verrückte. Ich kann nicht glauben, dass Hazel Selbstmord begangen haben soll. Aber wenn es kein Selbstmord war, würde es bedeuten, dass sie jemand töten wollte. Und das wäre doch noch viel undenkbarer. Ich meine … wer? Und wieso? Hazel hat nie jemandem etwas zuleide getan. Wer hätte ihr etwas antun sollen? Können Sie sich das etwa vorstellen?« Bella schluchzte auf.

»Wollen wir nicht vielleicht Du sagen?«, bot Agnes an und Bella nickte. »Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Und um die Frage zu beantworten, nein. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer sie hätte töten wollen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne so gut wie jeden hier im Ort. Die meisten schon seit der Kindheit. Niemandem hier würde ich zutrauen, dass er oder sie …«

Bella öffnete den Mund, als wollte sie etwas dazu sagen, schloss ihn dann aber gleich wieder und machte eine abwehrende Geste mit der Hand. »Nein. Das würde ich nicht einmal McNiven zutrauen. Du hast recht, so etwas würde ich niemandem hier zutrauen. Auch wenn McNiven Hazel gegenüber schon übel ausfällig geworden ist.« Sie holte tief Luft. »Ich nehme an, die Beerdigung wird warten müssen, bis die Polizei ihre Untersuchung abgeschlossen hat. Glaubst du, dass Effy bis dahin wieder nach Hause kann? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie die Beerdigung verkraften soll. Mein Gott, die Ärmste! Wenn ich mir vorstelle, meinen Sohn … nein, darüber darf ich gar nicht erst nachdenken. Und Charlie. Er und Hazel standen sich so nah. Es ist von vorne bis hinten eine einzige Tragödie, und ich weiß nicht, wie wir das je überwinden sollen.«

»Ich habe leider keine Ahnung, wann Effy wieder nach Hause darf, Bella. Die Ärzte konnten noch nichts Genaues sagen. Ich fühle mich schrecklich hilflos. Und Charlie … na ja, du kennst ihn ja auch. Er versucht, Fels in der Brandung zu spielen, während er innerlich zerbricht. Ich kann das nur schwer mit ansehen.«

»Kann ich irgendetwas Sinnvolles tun?«, fragte Bella. »Vielleicht im Garten. Ich könnte doch zum Beispiel den Rasen mähen.«

»Ja, das ist tatsächlich keine schlechte Idee. Charlie hat einen alten Benzinrasenmäher, und ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie man mit so einem Ungetüm umgeht«, entgegnete Agnes. Eigentlich hatte der Rasen es noch nicht so dringend nötig, aber sie wollte Bella das Gefühl geben, etwas tun zu können. Agnes ließ sich Zeit damit, die Küche aufzuräumen. Ihr graute vor der Aufgabe, die sie sich für den Vormittag vorgenommen hatte. Schließlich jedoch fasste sie sich ein Herz, setzte sich an den Schreibtisch und begann damit, einige Verwandte und Freunde aus Effys Adressbuch anzurufen, um sie über die schlimmen Ereignisse zu unterrichten. Es war keine Aufgabe, die man gerne übernahm, doch wie viel schrecklicher musste es erst für Effy und Charlie sein? So hatte Agnes wenigstens das Gefühl, etwas Hilfreiches zu tun. Als sie die wichtigsten Einträge in dem kleinen, ledergebundenen Büchlein durchtelefoniert hatte, wählte sie die Nummer der Polizeiwache. »Guten Tag, Constable Mackinnon. Hier ist Agnes Munro. Könnte ich bitte mit Matthew sprechen?«

»Sie haben Glück, Mrs Munro. Der Chef ist gerade zur Tür hereingekommen. Einen Augenblick. Ich hole ihn an den Apparat.« Es raschelte im Hörer und kurze Zeit später hörte Agnes Matthews Stimme am anderen Ende.

»Mrs Munro. Hallo, wie schön, dass Sie anrufen. Ich nehme an, Sie wollen hören, ob es Neues gibt. Ich komme gerade von einem Briefing. Ich kann Ihnen natürlich keine Details weitergeben. Nur so viel: Detective Chief Inspector Sinclair – Sie wissen schon, meine Vorgesetzte von der Kriminalpolizei in Oban, mit der Sie gesprochen haben – na ja, DCI Sinclair ist ziemlich sicher, dass es Selbstmord war. Der Obduktionsbericht scheint das auch zu bestätigen. Es weist nichts darauf hin, dass etwa ein Kampf stattgefunden hätte. Das Team wird die Ermittlungen sicher bald abschließen. Ich kann es selbst nicht fassen, doch inzwischen glaube ich auch, dass sie es wirklich selbst getan hat.«

Obwohl Matthew es nicht sehen konnte, schüttelte Agnes den Kopf. »Nein, Matthew. Das will ich nicht glauben. Es passt überhaupt nicht zu Hazel. Sicher, sie hat um Neil getrauert und fühlte sich schuldig, weil sie glaubte, ihn nicht genug unterstützt zu haben, aber … so wie ich sie erlebt habe, kann ich mir einfach nicht vorstellen …«

»Mir geht es doch ganz genauso«, unterbrach Matthew sie. »Allerdings wäre es nicht das erste Mal, dass Freunde und Verwandte nichts bemerken. Man steckt eben nicht drin. Manchmal treffen Menschen so eine Entscheidung ja auch ganz plötzlich. Die Indizien sprechen jedenfalls alle dafür, und ich finde keine andere überzeugende Erklärung. So schwer es mir fällt, es zu glauben, muss ich DCI Sinclair recht geben. Höchstwahrscheinlich war es Selbsttötung.« Eine Weile blieb es still im Hörer, dann hörte Agnes, wie Matthew mit der Zunge schnalzte. »Wie dem auch sei, der endgültige Bericht ist noch nicht geschrieben. Warten wir also ab, zu welchem Schluss DCI Sinclair und ihr Team letztlich kommen.«

Aus der Richtung des Hausflurs waren Klopfen und Rufen zu hören. »Agnes? Bist du zu Hause?«

Agnes war noch nicht ganz überzeugt, aber vermutlich hatte die Kriminalkommissarin aus Oban recht. Wenn alles für einen Selbstmord sprach und es keine andere plausible Erklärung gab, was sollte dann sonst geschehen sein? »Ich fürchte, ich muss auflegen, Matthew. Da ist jemand an der Tür. Du hältst mich auf dem Laufenden?«

»Selbstverständlich. Und wenn Sie mit Charlie telefonieren, grüßen Sie ihn und Effy von mir. Ich denke ständig an die beiden. Hoffentlich kommt Effy bald wieder auf die Beine. Es tut mir so schrecklich leid.«

»Danke, Matthew. Ich werde es ausrichten. Hoffen wir das Beste. Bis bald.« Agnes legte auf und stellte fest, dass sie wütend war. Es war eine verzweifelte Wut auf sich selbst und auf Matthew, dass sie beide bereit waren ohne Widerrede zu akzeptieren, dass Hazel ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Matthew hatte sie doch auch gekannt. Viel mehr noch, er war heimlich in sie verliebt gewesen. Ein Selbstmord passte nicht zu Hazel, ganz gleich, was DCI Sinclair und die Rechtsmediziner in Craignure dazu zu sagen hatten. Hazel hätte das Charlie und Effy nicht angetan, nicht, nachdem sie schon Neil verloren hatten. Es konnte und durfte einfach nicht sein. Sie war absolut nicht bereit, diese Erklärung zu akzeptieren.

Agnes öffnete die Tür, doch da war niemand. Sie steckte den Kopf durch den Spalt und spähte den Gehweg entlang, wo sie Andrew Fletcher entdeckte, der sich, einen bunten Strauß Sommerblumen in der Hand, Richtung Pfarrhaus auf den Weg machte. Sie seufzte tief. Eigentlich hatte sie seine Weigerung, ihr in der Sache mit Johns Asche zu helfen, noch nicht ganz verdaut. Noch hatte sie keine Lust, ihm zu verzeihen, doch es war unglaublich nett von ihm, vorbeizuschauen. Und es würde guttun, mit ihm zu sprechen. Andrew hatte die Gabe, auch den dunkelsten Stunden noch einen Lichtschimmer abtrotzen zu können. »Andrew!«, rief sie, und der Pfarrer drehte sich um. Er winkte und nickte ihr zu. »Ich war gerade am Telefon, als du geklopft hast und konnte nicht sofort öffnen«, erklärte Agnes.

Andrew kam näher, legte eine Hand an ihre Schulter und überreichte ihr mit der anderen den Blumenstrauß. »Die sind frisch aus dem Garten. Ich finde, Blumen bringen immer etwas Licht und Leben ins Haus. Ich hoffe, damit kann ich dich ein wenig aufmuntern. Es ist wirklich nett von dir, dass du geblieben bist und den Thorburns hier im Haus unter die Arme greifst. Die beiden können jetzt jede Unterstützung gebrauchen.«

»Die Blumen sind wunderhübsch.« Agnes drehte den üppigen Strauß und betrachtete ihn von allen Seiten. »Rosen, Allium, Astern, Steppensalbei, Frauenmantel … wirklich zauberhaft. Vielen Dank, Andrew. Komm doch kurz herein. Möchtest du vielleicht etwas trinken? Ich könnte uns einen Tee machen.«

»Nein, danke. Ich bin bereits von Phyllis reichlich mit Tee und Ingwerkeksen versorgt worden. Ich wollte einfach nur nach dir sehen und mit dir sprechen.«

Sie traten in den Hausflur, und Agnes dirigierte Andrew ins Wohnzimmer, während sie eine Vase aus dem Schrank unter der Treppe hervorkramte. Den Blumenstrauß stellte sie auf den Couchtisch. Dann setzte sich zu Andrew. »Die sind wirklich traumhaft schön. Und sie duften auch noch so herrlich.« Agnes deutete auf die Blumen. Sie holte tief Luft. »Fast möchte man es ihnen verbieten. Die bunten Farben, den Duft … das erscheint so unpassend angesichts der Ereignisse.«

Andrew nickte verständnisvoll und musterte Agnes mit einem besorgten Blick. »Wie geht es dir?«

Sie schluckte. Wie ging es ihr? Ehrlich gesagt, konnte sie darauf keine gute Antwort geben. »Ich weiß es gar nicht so genau. Den Umständen entsprechend gut, denke ich. Solange ich mich beschäftige und nicht anfange, nachzudenken. Es ist eine solche Tragödie, und ich weiß nicht, wie ich Effy und Charly darüber hinweghelfen kann. Aber das geht uns wohl allen so. Man ist einfach hilflos.«

Andrew nahm ihre Hand zwischen seine Handflächen. Sie fühlten sich angenehm trocken und warm an, und die Berührung tat Agnes gut.

»Bella war heute Morgen hier und hat für mich den Rasen gemäht. Alle sind unheimlich lieb und hilfsbereit. Sie machen sich große Sorgen um Effy und Charlie. Es ist schön, dass sie so viel Rückhalt und Hilfe haben. Das ist wenigstens ein kleiner Trost.«

»Hast du Neuigkeiten?«, fragte Andrew. »Wie geht es den beiden?«

»Nicht wirklich. Effys Zustand ist unverändert, und die Ärzte können noch nicht viel sagen. Matthew ließ durchblicken, dass die polizeilichen Ermittlungen bald beendet werden könnten. Sie glauben an Selbstmord, aber ich …« Agnes atmete hörbar aus und presste die Lippen aufeinander. Sie sah Andrew an. »Warum tut er so etwas?«

Andrew runzelte die Stirn, dann schien er zu verstehen. »Du meinst Gott?«

Agnes nickte. »Zuerst Neil, jetzt Hazel. Was hat Effy denn Schlimmes getan, dass er ihr so etwas aufbürdet? Schön, sie ist nicht besonders religiös, aber sie war immer gut zu allen, hilfsbereit, offen und großherzig. Und Charlie. Packt immer mit an, wenn irgendjemand Hilfe braucht, herzlich, warm …«

Andrew lächelte verlegen und rieb sich den Nacken. »Ja, du hast recht. Gott macht es mir manchmal ganz und gar nicht leicht, sein Botschafter zu sein. Es gibt so viel Elend und Not auf der Welt und so vieles, das mir rätselhaft erscheint, und doch bin ich mir sicher, dass Gott uns liebt und sich um uns sorgt. Wenn wir diese Liebe weitergeben, bringen wir Licht in die Welt. Nur darauf kommt es an.«

»Aber es ist doch nicht gerecht, dass Effy und Charlie so leiden müssen!« Agnes merkte, dass sie zunehmend wütend wurde. Auf Andrew, auf Matthew und auf einen unbarmherzigen Gott, der ihrer Freundin die Kinder nahm und der sie viel zu früh von ihrem geliebten Seelenpartner getrennt hatte.

»Für mich habe ich diese Erklärung gefunden: Leid gehört zum menschlichen Leben ebenso wie das Glück. Es prüft und verändert uns. Viele der besten menschlichen Eigenschaften zeigen sich gerade in den schlechtesten Zeiten. Und gerade dann ist uns Gott oft am nächsten. Es muss das Dunkle geben, damit wir das Licht sehen können. Auch wenn uns manches willkürlich und ungerecht erscheint, gehört es wohl einfach zu den menschlichen Erfahrungen, immer wieder tiefe Täler durchqueren zu müssen. Und da ist es doch gut, Gott an unserer Seite zu wissen, oder nicht?«

»Womöglich ist da etwas Wahres dran. Trotzdem bin ich einfach verdammt wütend auf deinen Boss!«

Andrew drückte ihre Hand und lächelte. »Ich weiß. Und er weiß es auch, aber er versteht und er verzeiht es. Das ist es ja gerade, was ihn so besonders macht. Er liebt uns wie seine Kinder und hat Verständnis für uns. Eltern möchten ihre Kinder auch am liebsten vor allem Leid und jeder schlechten Erfahrung bewahren, aber das können sie nicht. All das gehört zum Leben. Und so ist es wohl auch mit Gott und den Menschen.«

Während Agnes im Kopf die Ereignisse der letzten Tage und die Gespräche Revue passieren ließ, schälte sich ein Gedanke immer klarer aus dem Chaos der widerstreitenden Stimmen in ihrem Kopf. »Du hast wahrscheinlich recht, aber eines steht für mich fest: Sie hat es nicht getan. Hazel hat sich nicht umgebracht. Sie hätte ihren Eltern keinen weiteren Schmerz zugefügt. Alles in mir sträubt sich dagegen, das zu glauben, Andrew. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich mir vorstellen, dass Hazel dazu fähig gewesen wäre.«

Andrew Fletcher zog die Brauen zusammen und ließ für einen Augenblick ihre Hand los. Stattdessen suchte er ihren Blick und hielt ihn fest. »Als Pfarrer habe ich mich leider schon häufiger mit diesem Thema befassen müssen. Es ist immer schwer zu akzeptieren, dass jemand so etwas tut. Nicht nur Hazel lässt Angehörige zurück, die sich fragen, ob sie es hätten verhindern können. Natürlich gebe ich dir recht, dass Hazel ihren Eltern bewusst kein weiteres Leid zugefügt hätte, aber in diesen Situationen handeln die Menschen nicht rational.« Andrew fuhr sich mit der Hand über die hohe, mit Sommersprossen gesprenkelte Stirn.

»Nein, Andrew. Nicht Hazel, da bin ich mir ganz sicher. Sie hat es nicht getan! Das habe ich einfach im Gefühl.«

»Aber wer soll es denn sonst getan haben?« Andrew sah schockiert aus. »Traust du etwa jemandem hier zu, ein eiskalter Mörder zu sein? Abgesehen davon: Welchen Grund sollte jemand haben, Hazel etwas anzutun? Es gab sicher den einen oder anderen, der sich mal über sie geärgert hat, aber das bedeutet noch lange nicht, dass jemand ein Motiv gehabt hätte, sie zu töten.«

Agnes verschränkte zornig die Arme vor der Brust. »Ich weiß. Es ist unvorstellbar. Aber eines der beiden Szenarien ist zwangsläufig die Wahrheit. Und mir erscheint die Möglichkeit, dass sie sich selbst umgebracht haben soll, einfach noch viel verrückter als die, dass hier ein Mörder herumläuft. Natürlich macht es Hazel auch nicht wieder lebendig, aber … Wenn es so wäre, würdest du wollen, dass dieser Mörder ungeschoren davonkommt?«

»Agnes! Die Polizei hat sicher nicht zum ersten Mal mit so einem Fall zu tun.« Andrew hatte die Stirn in Falten gelegt und sah besorgt aus, was Agnes noch wütender machte. Offensichtlich zweifelte er an ihrem Verstand. »Wenn die Ermittlungen ergeben, dass es ein Selbstmord war, werden wir das akzeptieren müssen. Das sind Spezialisten. Die wissen schon, was sie tun und haben ganz andere Möglichkeiten als wir Laien. Rechtsmedizin, Forensik, Spurenauswertung, die machen so etwas doch jeden Tag.«

»Auch Spezialisten können sich irren«, beharrte Agnes trotzig. »Ich bin nicht verrückt, Andrew. Sie hat es nicht getan, da bin ich ganz sicher, und ich habe auch keine Angst, es DCI Sinclair in aller Deutlichkeit ins Gesicht zu sagen. Ich bin fest überzeugt, dass sie sich irren muss. Sie sieht nur die Indizien. Sie kennt Hazel doch überhaupt nicht.«

Andrews mitleidsvoller Ausdruck regte Agnes nur noch mehr auf.

»Andrew, ich bin nicht verrückt!«, wiederholte sie noch eine Spur lauter, so als müsse sie sich selbst davon überzeugen, und reckte trotzig das Kinn vor.

»Das weiß ich doch, Agnes. Du warst Hazels Patentante, ihr standet euch nah. Da ist es nur allzu verständlich, dass es dir schwerfällt, die Tatsachen zu akzeptieren. Ich verstehe doch, wie schrecklich all das ist und wie unvorstellbar. Dennoch sollte man den ermittelnden Behörden ein wenig Vertrauen entgegenbringen.«

Ein unangenehmes Kribbeln zog Agnes vom Nacken bis zu ihren Schläfen. Sie hatte Andrew immer gerngehabt, vielleicht sogar mehr als das. Er war ihr in den schwersten Stunden ein wahrer Freund gewesen, doch jetzt machten seine Beschwichtigungsversuche sie rasend. Genau wie Matthew, wie diese Ermittlerin aus Oban und wie Gott, der all das zuließ. Gleichzeitig wusste sie, dass sie sich furchtbar ungerecht verhielt. Doch in ihrem Herzen war sie felsenfest überzeugt, dass sie alle sich irrten, sich irren mussten. Hazel hatte es nicht getan. Das war vollkommen unmöglich. Und wenn die Polizei es nicht sehen wollte, würde sie es notfalls selbst beweisen. »Von Tatsachen kann hier noch keine Rede sein«, entgegnete sie kühl. »Ich werde jedenfalls nicht so schnell aufgeben.«