Leseprobe Aller Anfang ist tödlich

Kapitel 1

»Ich hab gehört, Terry macht es für 80.«

Ruby fuhr herum. »Wie bitte?«

Ein etwa fünfzigjähriger Mann beäugte sie und ihren Koffer. »Willst du verreisen?«

Ruby sah sich um. Der Bus hatte am Busbahnhof in Paradise gehalten, und sie war mit ein paar Studenten ausgestiegen. Die Rucksacktouristen waren schwatzend in der Dunkelheit verschwunden, und seitdem lag die Straße wie ausgestorben da. In dem fahlen Licht der Straßenlaterne konnte sie den Mann kaum erkennen.

»Komm schon. Stell dich nicht so an.« Der Mann machte Anstalten, sie am Arm zu fassen, doch sie schlug seine Hand weg. »Steve hat gesagt, er kriegt es billiger«, maulte er.

Bevor Ruby etwas antworten konnte, preschte ein alter Volvo Kombi mit rasselndem Motor um die Ecke und kam direkt vor ihr zum Stehen. Ruby traute ihren Augen kaum. Dass es dieses Auto noch gab! Sie schnupperte. Es lag ein Geruch von Sonnenblumenöl in der Luft. Genau wie früher bei ihren Eltern. Die Fahrertür öffnete sich.

Morgan stieg aus dem Auto und nickte dem Mann zu. »Grady.«

Grady starrte zwischen Morgan und Ruby hin und her. Ruby ging auf ihre Schwester zu, die die Arme ausgebreitet hatte. Ihre Zunge fühlte sich plötzlich an, als wäre sie mit Karamell an ihren Gaumen geklebt. Es war merkwürdig, Morgan nach so langer Zeit wiederzusehen. Früher waren sie unzertrennlich gewesen, doch nach dem Tod ihrer Eltern hatte sich alles geändert. Sie hatten kaum noch gesprochen, immerhin noch die obligatorischen Weihnachts- und Geburtstagskarten ausgetauscht, aber auch durch die Pandemie waren mittlerweile Jahre vergangen, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Dennoch war ihr Morgans Äußeres so vertraut wie eh und je. Mit ihren offenen, lockigen Haaren, die mit einem bunten Tuch aus dem Gesicht gebunden waren, und der Cargohose wirkte sie, als wäre sie einem Outdoorkatalog entsprungen.

Morgan zog Ruby in die Arme und strich ihr über den Kopf. Ein paar Haare lösten sich aus Rubys tief liegendem Pferdeschwanz. Sie atmete den leichten Vanilleduft ein, der von Morgans Shampoo stammte, das sie früher schon benutzt hatte. Ruby befreite sich aus der Umarmung und strich sich die Strähne hinters Ohr. Grady stierte die beiden Schwestern immer noch an.

Morgan ging zum Kofferraum und öffnete ihn. »Noch nie Zwillinge gesehen?«

»Ihr seht komplett gleich aus.« Grady griff nach Rubys Koffer.

»Ich kann das allein.« Ruby schob seine Hände unsanft vom Koffergriff.

Doch er ließ sich nicht so leicht abwimmeln und umschlang ihre Hände auf dem Griff. Ruby versuchte, ihn mit dem Ellenbogen wegzudrängen. Doch das war schwieriger, als sie angenommen hatte. Sie riss den Koffer mit einem Ruck nach oben.

Überrascht von der plötzlichen Bewegung ließ Grady tatsächlich los. Doch Rubys Freude darüber verblasste schnell, als sie plötzlich das Gewicht des Koffers spürte, den sie jetzt allein trug. Er war schwerer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie schwankte, rutschte dabei mit ihren High Heels vom Bordstein und fiel auf Morgan zu, die immer noch vor dem geöffneten Kofferraum stand. Der Griff glitt ihr aus den Händen, und der Koffer rutschte auf den Boden.

»Au!« Morgan zog ihren rechten Fuß unter dem umgefallenen Koffer heraus und stützte sich am Auto ab.

»Ich hab deiner Schwester gerade erzählt, dass Terry es für 80 macht.« Grady kam auf sie zu und half ihr, sich auf eine Bank zu setzen.

»Quatsch!« Morgan zog behutsam den Turnschuh aus. »Hat Steve das behauptet? Der redet viel, wenn das Bier nicht versiegt.«

Grady warf Ruby ein breites Lächeln zu. »Macht ihr es ab jetzt gemeinsam?«

Ruby sah ihre Schwester an. »Ich dachte, du hast dir hier eine Existenz aufgebaut.«

»… hat sie doch«, warf Grady ein.

Morgan betastete ihren Fuß und verzog ihr Gesicht schmerzhaft. »Mein Preis ist und bleibt 100.«

»Aber Terry …«, begann Grady erneut.

»Wenn du mich willst, kostet es 100.«

Grady stand auf und deutete auf Morgans Fuß. »Kommst du damit überhaupt um mein Bett rum?«

»Ich bin gelenkig wie eine Brezel.« Zum Beweis vollführte Morgan eine Art Schulterrollen.

Grady lachte. »Das will ich sehen. Aber jetzt muss ich los, wichtiger Termin.« Er verschwand in der Dunkelheit.

Während Ruby ihren Koffer ins Auto wuchtete, zog Morgan ihren Schuh wieder an und humpelte los.

»Warte, ich helfe dir«, bot Ruby an.

Doch Morgan ignorierte das Angebot, setzte sich umständlich auf den Fahrersitz und knallte die Tür zu. Ruby öffnete die Beifahrertür und lugte ins Innere. »Soll ich nicht lieber fahren?«

»Ist kein Automatikwagen.«

Auch wenn Ruby froh war, dass sie jetzt nicht fahren musste, nervte es sie, dass Morgan mal wieder bestimmte, wie etwas gemacht wurde. Nur weil sie fünfzehn Minuten älter war, traute sie Ruby nichts zu. Das war schon früher so gewesen und einer der Gründe, warum Ruby an die Ostküste geflohen war.

Ruby schlüpfte auf den Beifahrersitz, und Morgan fuhr los. Nach zwei Ampeln hatten sie den kleinen Ort vor den Toren des Rocky Mountain National Parks schon hinter sich gelassen, und Ruby sah dunkle Kiefernwälder an sich vorbeiziehen. Unglaublich, wie stockdunkel es hier vor 19 Uhr schon war.

»Seit wann verkaufst du deine Dienste?« Ruby vermied es, Morgan anzusehen.

»Mehr oder minder seit ich hergezogen bin.«

»Du hast in Berkeley Medizin studiert!«

»Ich hab das Studium geschmissen«, erinnerte Morgan sie.

»Und wofür? Damit du dich hier als … als …« Ruby schüttelte sich kurz.

»Ich bin glücklich. Ich verdiene so viel, wie ich zum Leben brauche. Wenn ich genug für den Monat habe, schlage ich Anfragen auch aus.«

»Wenn Mama und Papa dich so sehen könnten …«

»… wären sie stolz auf mich.«

»… wären sie entsetzt, dass du deinen Körper verkaufst!«

Morgan stellte das Radio an, startete den Sendersuchlauf und stoppte bei einer Nachrichtensendung. »Das klingt, als wäre ich eine Prostituierte.«

»Wie nennst du dich denn? Hostess? Callgirl? Liebesdienerin?«

Morgan riss das Steuer rum und hielt so abrupt am Straßenrand an, dass Ruby sich am Handschuhfach abstützen musste, um nicht in die Frontscheibe geschleudert zu werden. »Spinnst du?« Sie richtete sich langsam wieder auf.

»Was denkst du eigentlich von mir?« Morgan sah sie stirnrunzelnd an.

»Ist Prostitution in Colorado überhaupt legal?« Ruby hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. So hatte sie sich das Wiedersehen nicht vorgestellt.

»Du meinst, ich hätte das Zeug zu einer Hure?« Morgan strich sich übertrieben über Brust, Taille und Hüfte.

Ruby deutete über ihre Schulter zurück in den Ort. »Terry macht es billiger«, äffte sie Grady nach.

Morgans Lachen übertönte den Nachrichtensprecher. Ruby verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in die Dunkelheit. Nach dem Skandal in New York hatte ihr Chef ihr geraten, sich für ein paar Wochen rarzumachen, bis die Wogen sich geglättet hätten. Das hatte sie sich nicht zweimal sagen lassen. Sie war es als Journalistin gewohnt, die Fragen zu stellen, aber nicht im Mittelpunkt der Geschichte zu stehen. Plötzlich erschien ihr der längst überfällige Besuch bei ihrer Schwester wie die beste Idee seit Langem. Ruby hatte also spontan den nächstbesten Flug nach Denver gebucht. Und dabei selbst die Tatsache ignoriert, dass für sie als Großstadtpflanze schon der Gedanke an Orte mit weniger als eine Million Einwohnern und Natur ohne Ende ihr so erstrebenswert wie eine Wurzelbehandlung vorkamen. Aber Morgan war die einzige Familie, die sie noch hatte.

Morgan setzte den Blinker und fuhr wieder auf die Straße. »Ich putze. Bei Grady bin ich einmal die Woche. Für 100 Dollar wasche ich eine Ladung Wäsche, putze sein Bad, sauge und wechsle sein Bettzeug.«

»Das klang in meinen Ohren anders«, gab Ruby zu.

»Du hast früher schon gern immer vorschnelle Schlüsse gezogen.« Morgan bog von der Straße auf eine staubige Einfahrt ab.

»Du hast aber auch nie gesagt, was du hier machst.«

»Du hast auch nie gefragt.« Morgan hielt an und stellte den Motor ab. »Aber was dachtest du denn, als ich gesagt hab, ich hab mich mit Healthy Homes selbstständig gemacht?«

»Dass du bettlägerige Leute zu Hause betreust. Vielleicht Verbände wechselst, für sie einkaufen gehst oder so.«

»Du und deine Fantasie.«

»Mit meiner Fantasie hätte ich deinem Unternehmen einen eindeutigeren Namen verpasst. So was wie Morgans Mop and Shine oder Dust Busters.«

Morgan lachte. »Wie ist es in New York?«

»Weniger grün, mehr Menschen.«

»Hektisch, laut und gefährlich, verstehe.« Morgan öffnete die Tür und stieg vorsichtig aus dem Auto.

Wieso musste ihre Schwester immer das letzte Wort haben? Auch daran schien sich nichts geändert zu haben. Aber sie waren keine Kinder mehr, Ruby war erwachsen, und das musste Morgan auch endlich verstehen. »Gefährlich wird es immer dann, wenn Menschen zusammenleben. Idylle gibt es nirgends.«

Morgan winkte ab. »Das hier ist Paradise. Hier ist alles friedlich. Keine Verbrechen.« Sie ging auf das kleine Haus zu.

Ruby wuchtete ihren Koffer aus dem Kofferraum. »Verbrechen lauern überall.«

Kapitel 2

»Ich weiß nicht, ob der noch gut ist, der sieht merkwürdig aus.« Ruby stellte eine Tasse mit schwarzem Tee auf den Tisch, als ihre Schwester am nächsten Morgen in die Küche humpelte. Nachdem sie beide zu Schulzeiten mal eine Teeplantage besucht hatten, war Morgan dem Getränk regelrecht verfallen.

»Ist eine Spezialmischung – schwarzer Tee mit Mate. Stammt von einer Firma in Boulder.« Morgan ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Wann beseitigst du das Chaos?«

»Welches Chaos?«

Morgan machte eine ausladende Armbewegung. »Im Gästezimmer, im Bad, hier in der Küche.«

Ruby sah sich um. Auf der Arbeitsplatte neben der Spüle standen drei Teedosen, die sie im Hängeschrank darüber gefunden hatte. Die Schranktür war noch geöffnet ebenso wie die Tür daneben, wo sie die Tassen gefunden hatte. »Ich hab Kaffee gesucht. Was macht dein Fuß?«

»Deine gestrige Kofferattacke hat ihn stark anschwellen lassen. Kannst du mir einen Kühlpack reichen?« Morgan deutete auf das kleine Gefrierfach unterm Kühlschrank.

Ruby nahm schweigend die Kühlmanschette heraus und gab sie Morgan. Dann stellte sie die Teedosen zurück in den Schrank und schloss beide Schranktüren geräuschvoll. »Besser?«

»Erst wenn du auch im Bad und Gästezimmer deinen Kram aufgeräumt hast.« Morgan legte den Kühlakku auf ihren Fuß.

»Was soll ich denn da aufräumen?«

»Im Waschbecken sind Haare, irgendwelche Cremedöschen liegen überall verteilt, deine Bürste klemmt am Handtuchhalter …« Morgan umschloss die Teetasse mit den Händen.

»Ich hab gestern das rausgenommen, was ich brauchte.«

»… und nicht wieder zurückgepackt«, ergänzte Morgan.

»Ist dein Ordnungsfimmel schlimmer geworden, seit du bei anderen Menschen putzt?«

Morgan kniff die Lippen aufeinander. Ruby lehnte an der Arbeitsplatte und starrte auf ihre Füße. Warum spielte sich Morgan ihr gegenüber immer so auf? Allen anderen begegnete sie mit ihrem Leitspruch ›Jedem Persönchen sein Krönchen‹, doch was Ruby anging, war Morgans Messlatte eindeutig nach oben verrutscht. Morgan strich sich über die Wade ihres hochgelegten Fußes, und sofort wurde Ruby wieder von ihrem schlechten Gewissen überrollt.

»Vielleicht sollte sich mal ein Arzt deinen Fuß angucken?«

Morgan winkte ab. »Ich hab lang genug Medizin studiert, um zu wissen, dass ich den Fuß nur ein wenig schonen muss, dann wird das schon wieder. Aber es wäre schön, wenn du mir ein bisschen unter die Arme greifen könntest, bis ich wieder fit bin.«

Ruby hatte sich ihre Auszeit zwar anders ausgemalt, aber irgendwie war sie ja auch schuld an Morgans Unfall. »Soll ich was einkaufen?«

»Heute steht Grady auf dem Plan.«

Ruby runzelte die Stirn. »Der Typ von gestern?«

Morgan nickte. »Bad, saugen, Wäsche und Bettzeug. Kein Hexenwerk. Das solltest sogar du hinbekommen.«

»Ich soll bei dem Kerl putzen?«

»Ja.«

Ruby dachte an ihr Einzimmerappartement in New York, wo ihre Putzperle Oksana alle zwei Wochen einmal durchwirbelte.

»Du solltest dich umziehen.« Morgan deutete auf Rubys hellgraues Kostüm mit den passenden Pumps.

»Ich hätte noch eins in Dunkelblau.«

Morgan rollte mit den Augen. »Weniger Schickimicki, mehr praktisch. Jeans, Leggings, Jogginghose?«

Mit jedem Wort hatte Ruby das Gefühl, wie Alice durch ein Kaninchenloch in ein anderes Universum zu fallen.

»Hast du wenigstens andere Schuhe mit?«

»Ich hab Turnschuhe zum Joggen dabei.«

»Perfekt. Trag einfach deine Sportklamotten.«

»Ich soll in meinen Lululemon-Sachen putzen gehen?«

Morgan fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Linke Seite in meinem Schrank, kannst dir eine Hose und einen Sweater nehmen. Aber zieh deine Turnschuhe an.« Sie stand auf, deutete Ruby an, ihr zu folgen, und humpelte in ein kleines Nachbarzimmer, das Ruby für eine Art begehbare Speisekammer gehalten hatte. Das war es früher offenbar auch mal gewesen, doch jetzt waren in den deckenhohen Regalen links und rechts keine Konserven, sondern Putzmittel gelagert. Auf der rechten Seite standen zahlreiche bunte Plastikboxen, die mit Namenlabels beklebt waren.

Morgan zeigte auf eine dunkelblaue Box, auf der Ruby Gradys Namen lesen konnte. »Da ist alles drin, was du brauchst.«

»Du hast für jeden deiner Kunden eine eigene Putzbox?« Ruby hätte es nicht gewundert, wenn sie die Grinsekatze oder den Hutmacher in einer Ecke entdeckt hätte.

»Nur für Stammkunden. So muss ich nicht jedes Mal die Sachen einzeln zusammensuchen. Ich hab sofort alles, was ich in dem Haus brauchen werde. Das nenne ich Organisation.«

»Das nenne ich Kontrollfreak«, brummelte Ruby, während sie Gradys Box aus dem Regal zog.

***

»Ohne Kaffee kann ich aber nicht los«, protestierte Ruby, nachdem sie die Box in den Kofferraum des Volvos gestellt hatte.

Aus dem Haus war ein Telefonklingeln zu hören.

»Geh zu Ryder.« Morgan machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung Straße und schloss die Haustür.

Ruby ging die staubige Einfahrt hinunter. Sollte sie wirklich einfach beim Nachbarn klingeln und nach einem Kaffee fragen? In diesen Klamotten? Im Gegensatz zu ihren sonst so figurbetonten Kostümen fühlte Ruby sich, als wenn sie ein Zelt tragen würde. Allerdings musste sie zugeben, dass die großen Taschen an der Hose durchaus praktisch waren, denn so hatte sie wenigstens ihre Designerhandtasche nicht mitnehmen müssen. Außerdem war die Hose von innen angenehm weich und kniff nicht zwischen den Beinen wie die Feinstrumpfhose, die sie vorher getragen hatte. Das Hupen eines herannahenden Lastwagens riss sie aus ihren Gedanken. Gerade noch rechtzeitig sprang sie ein Stück zurück, bevor er auf der Straße an ihr vorbeidonnerte.

Wie hielt Morgan es hier bloß aus? Ruby war sich sicher, dass allein in ihrer Straße in New York mehr Menschen lebten als in Paradise. Und dann wohnte Morgan auch noch außerhalb des Orts. Ja, es waren nur fünf Minuten mit dem Auto vom Busparklatz zu Morgans kleinem Haus gewesen. Aber das Haus stand dennoch mitten im gefühlten Nichts. Kein Bürgersteig weit und breit, lediglich ein staubiger Seitenstreifen an der Landstraße, von der vereinzelt Einfahrten zu Häusern führten. Sie warf erneut einen sehnsuchtsvollen Blick auf das Nachbarhaus. Ihr Körper sehnte sich nach einer Portion Koffein, aber war der Drang tatsächlich so groß, dass sie bei einem wildfremden Menschen klingeln würde? Zögernd sah sie sich um und bemerkte ein buntes Schild die Straße runter.

Sie kniff die Augen zusammen, konnte es jedoch nicht lesen. Sie machte ein paar vorsichtige Schritte am Seitenstreifen entlang, darauf achtgebend, dass sie nicht vom nächsten Trucker von der Straße gefegt werden würde.

»The Bond«, las sie beim Näherkommen.

Ob Morgan vielleicht gar nicht ihren Nachbarn, sondern ein Geschäft gemeint hatte? Ruby schaute an sich hinunter und bereute den Blick sofort. Dieser Sweater und diese Hose waren wirklich nichts, womit sie sich in New York in die Öffentlichkeit getraut hätte. Aber dies war nicht New York, und sie brauchte dringend ihren morgendlichen Kaffee.

Entschlossen betrat sie das alte Gebäude. Doch die betörende Kaffeewolke, die sie sonst in ihrem Coffeeshop in New York umhüllte, blieb hier leider aus. Auch gab es hier keine lange Schlange, in der die Kunden auf ihre Handys starrten oder mit geradezu unsichtbaren Kopfhörern mit ihren Wall Street Brokern telefonierten. Am Fenster saß ein Pärchen in voller Wanderausrüstung über eine Karte gebeugt und am Tresen ein älterer Mann mit einer Zeitung. Anstelle der sonst so typischen Jazz- oder Klassikmusik lief hier ein lokaler Rocksender. Hinterm Tresen konnte Ruby den hinuntergebeugten Rücken des scheinbar einzigen Angestellten sehen.

»Ziehen die Chiefs die Patriots heute ab?«, sprach der ältere Mann Ruby an.

Freundlichen Small Talk war Ruby aus ihrem New Yorker Coffeeshop auch nicht gewohnt. Abgesehen davon interessierte sie sich auch nicht für American Football. »Vielleicht.«

Mit einem Ruck kam der Angestellte hoch, und Ruby stellte fest, dass er größer und athletischer war, als sie angenommen hatte. In seinen kurzen Haaren sah sie vereinzelt auch ein paar graue, und auch einzelne Falten um die Augen ließen ihn nicht mehr wie einen Mittzwanziger aussehen. Ruby schätzte ihn daher jenseits der vierzig ein.

Er starrte sie schweigend an, wobei seine Augen immer wieder zu ihren Haaren wanderten.

»Einen Latte macchiato, bitte. Mit Hafermilch. Ohne Zucker, aber mit einem Schuss Agavensirup und Zimt obendrauf.« Ruby strich sich über den Kopf, um sich zu vergewissern, dass alle Haare straff an ihrem Platz lagen. Sie warf ihm ihr bestes Lächeln zu, das sie ohne morgendliches Koffein hinbekam. »Zum Mitnehmen.«

Seine Mundwinkel verzogen sich fast unmerklich nach oben. Dann drehte er ihr den Rücken zu und hantierte herum. Er gehörte offenbar nicht zu den gesprächigen Menschen, oder vielleicht war er auch nur ein Morgenmuffel. Letztlich war es Ruby egal, denn er würde ihr gleich den nötigen Koffeinkick verschaffen. Um einem weiteren Gespräch mit dem älteren Mann zu entgehen, wandte Ruby sich ab und schaute sich um. The Bond war kein klassischer Coffeeshop mit dunklen Wänden, gediegenen Holzmöbeln und einer großen Kreidetafel, die lauter Kaffeeköstlichkeiten verkündete. Aber auch kein typisches Diner mit Plastikbänken aus den 60ern und Burgerangebot. Die Einrichtung wirkte mit den uneinheitlichen Stühlen, Sesseln und Tischen und ein paar modernen Barhockern am Tresen eher rustikal-gemütlich. Die übersichtliche Tageskarte mit zwei Suppen und zwei Sandwichangeboten war zwar auf einer Kreidetafel über dem Tresen aufgelistet, aber bei Weitem nicht so kunstvoll geschrieben und verziert wie in einem New Yorker Coffeeshop. Einzig ein paar Gebäckstücke unter einer Glasglocke auf dem Tresen erinnerten Ruby entfernt an New York.

Sie studierte die Ankündigungen, die an einer Pinnwand an der Wand hingen. Veranstaltungen wie Wolken beobachten, das monatliche Treffen der Ameisenfarmer und der Wettbewerb der Pokémon-Schnitzer klangen in Rubys Ohren wie das Vorzimmer zur Hölle. Erneut fragte sie sich, warum Morgan es gerade hierher verschlagen hatte.

»Hier.« Der Angestellte hatte einen Pappbecher auf den Tresen gestellt.

Da Ruby bisher keine Preistafel hatte entdecken können, legte sie einen Fünfdollarschein auf den Tisch. »Das reicht, oder?«

Zögernd nahm der Angestellte den Schein, und Ruby wich seinem bohrenden Blick aus. Sie griff nach dem Becher. »Danke. Ich komme sicherlich wieder.«

»Natürlich.« Der ältere Kunde lachte und winkte ihr zu.

Mit dem Becher in der Hand lief sie zurück zum Auto, machte es sich auf dem Fahrersitz bequem und führte das Getränk vorsichtig zum Mund. Mit dem ersten Schluck riss sie die Wagentür auf und spuckte in die Einfahrt.

Sie fuhr sich mit der Hand über den Mund. Nicht nur, dass es sich um schnöden, schwarzen Tee handelte und von Koffein, aufgeschäumter Hafermilch, Agavensirup und Zimt keine Spur war, dies war mit Abstand der schlimmste schwarze Tee, den sie je probiert hatte. Hatte er gleich drei Beutel in dem Wasser versenkt, oder warum war der Tee so verdammt stark?

Hatte er sie missverstanden? Tee, Kaffee klang schon ähnlich. Aber wer würde denn einen Tee Latte mit dem ganzen Kram bestellen, den sie in ihrem Latte macchiato so liebte? Sollte sie zurückgehen und den Kaffee einfordern, den sie bestellt hatte? Ihr Blick fiel auf die Uhr. Morgan hatte ihr gesagt, sie müsse spätestens um zehn Uhr bei Grady sein. Mittlerweile war es viertel vor zehn, und laut der Wegbeschreibung auf Rubys Telefon würde sie jetzt schon zu spät kommen. Frustriert stellte sie den Becher in die Mittelkonsole, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Wagen.

Nach ein paar vergeblichen Versuchen, bei denen sie zuerst vergaß, die Kupplung zu treten, und sie dann kommen ließ, ohne einen Gang eingelegt zu haben, rollte sie langsam auf die Straße. Vorsichtig, aber stetig ruckelte sie die Landstraße entlang, der Volvo röhrte entweder untertourig oder in höchster Drehzahl. Selten war Ruby so froh gewesen, fern von anderen Menschen zu sein.

Kapitel 3

Gradys Haus lag am Ende eines langen Sandwegs, der von der Landstraße tief ins Innere eines Kiefernwalds geführt hatte. Nachdem sie fünf Minuten über die unebene Piste geholpert war und schon befürchtet hatte, dass der Volvo auseinanderfallen würde, hatte sie angehalten und sich auf ihrem Handy vergewissert, dass dies der richtige Weg war. Er war es. Und nach weiteren fünf Minuten eröffnete sich eine kleine Lichtung mit Gradys Haus darauf.

Jetzt wurde Ruby klar, warum die örtliche Müllabfuhr darauf bestand, dass Grady seinen Müll an die Landstraße brachte und nicht wie die anderen einfach vors Haus stellen durfte. Morgan hatte ihr aufgetragen, seinen Recyclingmüll mitzubringen, damit sie ihn an ihrem Abholtag vors Haus stellen konnte. Auf Rubys Frage hin, was mit dem Restmüll passieren würde, hatte Morgan nur geantwortet: »Den verbrennt er im Winter.«

Ruby parkte hinter Gradys Truck und musterte das Haus. Im Gegensatz zu Morgans eher rustikalem Holzhaus wohnte Grady in einem zweistöckigen Flachdachhaus. Architektonisch war das sicherlich in den 70ern der Hit gewesen, doch jetzt versprühte es so viel Charme wie eine Packung Spülmaschinentabs.

Sie klopfte an die Tür, doch nichts geschah. Ruby griff an den Türknauf, drehte ihn, und die Tür schwang auf.

»Hallo?« Sie schaute sich im Eingangsbereich um, während sie eintrat.

»Bring zuerst den Müll zum Auto, damit du ihn nicht vergisst. Er trainiert morgens immer, macht aber um kurz nach zehn eine Pause, um seinen Eiweißshake zu trinken. In der Zeit saugst du unten alle Räume inklusive des Arbeitszimmers. Dann gehst du nach oben, beziehst das Bett neu, schmeißt eine Maschine Wäsche an und putzt das Bad«, waren Morgans Anweisungen gewesen.

Ruby zuckte mit den Schultern, als sie auch nach dem dritten Mal Rufen keine Antwort erhielt. Sie ging in die Küche, die gleich rechts vom Eingang abging. Unter der Spüle fand sie zwei Recyclingboxen – eine für Papier und eine andere für die restlichen Recyclingverpackungen. Als sie mit der Papierbox zur Eingangstür trat, hielt sie inne. Es war mittlerweile nach zehn Uhr, also müsste Grady nach Morgans Anweisungen seine Pause machen.

Sie stellte die Box auf den Boden und öffnete eine Tür an der linken Seite. Ein Gäste-WC. Dann folgte die Treppe nach oben, und auf der rechten Seite lag die Küche. Dahinter eröffnete sich ein großzügig geschnittener Wohn- und Esszimmerbereich. Die weiten Flügeltüren in den Garten waren geschlossen, und niemand war auf der Terrasse zu sehen. Wo steckte Grady?

Auf einem Regal neben dem Fernseher stand ein kleines Aquarium, in dem ein Fisch seine einsamen Runden drehte. Ruby verstand nichts von Fischen, aber sie war sich sicher, dass die Alleinhaltung in einem Rundglas allgemein verpönt war.

»Wo ist denn dein …« Ruby wollte Herrchen sagen, aber das klang bei einem Fisch albern. Warum hatten Menschen überhaupt Fische als Haustiere? Grady konnte ihn nicht wegen der angeblich beruhigenden Wirkung, wenn man in das Aquarium starrte, haben, denn das einsame Kreisen des Fischs war verstörend und aufwühlend.

Ruby wandte sich ab. Wo war Grady? Noch in seinem Fitnessraum? Zur linken Seite kam ein kurzer Flur, an dessen Ende sich zwei Türen befanden. Eine stand auf – der Fitnessraum. Eine Wand war komplett verspiegelt, doch außer unzähligen Kardiogeräten und diversen Gewichten spiegelte nur Ruby selbst sich darin.

»Grady? Ich bin’s, Ruby. Morgans Schwester.« Sie öffnete die zweite Tür und stand in seinem Büro. Mannshohe Regale, die nur mit ein paar Trophäen geschmückt waren, verbargen die Wände, am Fenster stand ein Schreibtisch. Der Laptop darauf war zugeklappt, und überhaupt wirkte es nicht so, als wenn hier viel gearbeitet wurde.

Ruby betrachtete die Trophäen. Die Anzahl der Auszeichnungen deutete auf Gradys recht erfolgreiche Karriere als Skisprungtrainer hin.

Aber wo war er jetzt? Sein Auto stand vor der Tür. Morgan hatte nicht davon gesprochen, dass er während seiner Pause einen Spaziergang machen würde.

Ruby blickte sich um und sah einen Papierkorb unter dem Schreibtisch stehen. Sie schnappte sich den Müll, leerte ihn im Flur in die Papierbox und brachte diese zum Volvo. Dann zog sie die zweite Box unter der Spüle hervor. Zwischen vielen Plastikflaschen, Getränkedosen und Konserven fiel Ruby eine Plastiktüte ins Auge. Mit spitzen Fingern öffnete sie die Tüte und sah, dass es sich um Scherben handelte. Allerdings nicht um Glas-, sondern um Porzellanscherben. Den einzelnen Teilen und dem farbigen Muster nach zu urteilen war Grady eine hässliche Blumenvase kaputtgegangen. In New York wurde neben Plastik, Metall und Papier nur Glas gesammelt und verwertet, aber Ruby hatte keine Ahnung, ob Porzellan in Colorado zum Recycling oder Restmüll gehörte. Sie stellte die Tüte neben das Papier in den Kofferraum. Sollte Morgan sich doch darum Gedanken machen.

Auf dem Rückweg nahm sie den Staubsauger aus dem Auto mit und begann, die unteren Räume zu saugen. Hinter Gradys Bürostuhl rasselte es, als etwas durch den Staubsaugerschlauch rauschte. Ruby trat schnell mit dem Fuß auf die Stopptaste und besah den Teppich. Es hatte geklungen, als wenn sie Büroklammern oder Ähnliches aufgesaugt hatte. Aber sie konnte nichts weiter erkennen. Nachdem sie den Staubsauger wieder angestellt hatte, klimperte es noch ein paar Mal, dann war nur das saugende Geräusch zu hören.

Auf dem Weg ins obere Stockwerk blieb Ruby auf der Treppe stehen. Von einem Fenster auf halber Höhe hatte man einen guten Blick in den Kiefernwald. Doch Grady war nirgends zu sehen.

Was soll’s. Ruby war ohnehin nicht scharf darauf gewesen, ihn heute wiederzutreffen. Oben angekommen, öffnete sie die erste Tür. Das Bad. Hinter der zweiten Tür verbarg sich die Waschmaschine, auf der platzsparend ein Wäschetrockner platziert war. Ruby öffnete die Flügeltür am Ende des Gangs und erwartete ein ungemachtes Bett.

Doch das Bettzeug war fein säuberlich über das Bett gezogen und wirkte so perfekt wie in einem Hotel. Weniger perfekt war Grady, der mitten im Raum auf dem Boden lag, das eine Bein seltsam verdreht.

»Haben Sie sich wehgetan?« Ruby ging auf ihn zu und beugte sich hinunter. Gradys Gesicht wirkte fahl, seine Augen waren geschlossen.

Ruby berührte seinen Arm und zuckte zusammen. Sie sprang auf, wich zurück und lehnte sich an den Türrahmen. Ihr Herzschlag galoppierte plötzlich davon wie ein mitreißender Refrain von Queen. Heftig atmend griff sie in die Hosentasche und war dankbar, dass Morgan ihr die unförmige Hose geliehen hatte, denn sonst wäre ihr Handy jetzt vermutlich in ihrer Handtasche im Wagen. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer ihrer Schwester.

»Ich hab mich schon gefragt, wann du anrufen wirst, weil du nicht weißt, wie man die Waschmaschine bedient«, begrüßte Morgan sie.

»Falsch vermutet.«

»Kriegst du den Spiegel nicht sauber?«

»Das hier ist ein eher seltenes Problem.«

»Glaub ich nicht. Es gibt nichts, was ich noch nicht hatte.«

»Okay. Wie entsorgt man eine Leiche?«