Kapitel 1
Lucy
Dreizehn Tage vor Connors Entführung
Es ist wieder da. Das Auto. Klein und weiß und fremd hier. Es parkt unter einer der Buchen, die über unsere Straße wachen und uns ein Gefühl der Sicherheit geben.
Wer ist das?
In dieser Gegend wohnen Familien. Die meisten unserer Nachbarn haben Geländewagen, Doppelgaragen und auf den ordentlich gepflasterten Einfahrten genug Stellfläche für die Autos ihrer Gäste. Niemand parkt auf der Straße.
„Warum steht der da einfach so?“, frage ich Aidan, während er aus unserer Einfahrt auf die Straße abbiegt. „Es ist diese Woche schon das dritte Mal.“ Wieder parkt der Wagen zu weit weg, als dass ich die schattenhafte Gestalt darin erkennen könnte, jedoch nah genug, dass der Fahrer unser Haus beobachten kann, und ich habe das Gefühl, dass sein Interesse unserem Zuhause gilt.
Meiner Familie.
Ich schirme mit der Hand die Augen vor den grellen Sonnenstrahlen ab, die schräg durch die Windschutzscheibe fallen.
„Findest du das nicht auch komisch?“
„Gibt es nicht Wichtigeres, worüber wir uns Sorgen machen müssen?“, fragt Aidan müde. Ich verkneife mir eine Antwort, als ich sein graues Gesicht wahrnehme und bemerke, wie verkrampft seine Hände das Lenkrad umklammern. Er macht sich zu Recht Sorgen. Wir beide tun es. Heute steht viel auf dem Spiel.
„Ist alles in Ordnung?“ Ich drehe mich auf meinem Sitz um.
„Ja.“ Kieron lächelt mich erschöpft an. Er ist schon so an die Aufenthalte im Krankenhaus gewöhnt, dass sie ihm nichts mehr ausmachen, obwohl ich ihm klargemacht habe, dass es diesmal was anderes ist. Ich habe ihm erklärt, worum ich beim heutigen Termin bitten werde, und er hat nur genickt. Er erwartete es schon.
Wir alle.
Aidan fährt zu schnell. Auf der Fahrt durch die Stadt herrscht unangenehmes Schweigen, das ich versuche, mit Unterhaltung zu füllen, wobei ich meine Worte sorgfältig wähle. Ich möchte die Aufmerksamkeit nicht auf Dinge lenken, die Kieron versäumt. Er wurde erst vor ein paar Tagen nach einer besonders ernsten Infektion aus dem Krankenhaus entlassen und wird morgen zu Beginn des Schuljahrs fehlen.
„Glaubst du, dass unser neuer Klassenlehrer mir auch Hausaufgaben schicken wird?“ Die Schule beschäftigt auch ihn.
„Das denke ich schon. Sie wollen nicht, dass du den Anschluss verlierst.“ Nicht nur seine Schulbildung bereitet mir Sorgen. Er hat wegen der häufigen bakteriellen Entzündungen, die mit seiner Krankheit einhergehen, schon früher Unterricht verpasst. Die Tatsache, dass er von so manchen gemeinschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen wird, macht mich traurig. Er kann nicht immer mit seinen Freunden draußen spielen. Manchmal hat er nicht die Kraft, um in den Schwimmverein zu gehen. Aidan und ich versuchen, ihn genau gleich zu behandeln wie Connor, doch in Wahrheit ist er anders als sein Bruder. Genauso unterscheidet er sich von anderen Dreizehnjährigen.
Seit bei ihm vor fünf Jahren PSC – Primäre Sklerosierende Cholangitis, eine chronische Lebererkrankung – festgestellt
wurde, wächst er nicht mehr so schnell wie andere Kinder seines Alters. Seitdem lebt er kaum mehr, auch wenn ich jetzt wieder übertreibe. Wenn Sie Kieron fragen, würde er sagen, dass er glücklich ist, und das stimmt auch. Er lebt wie die meisten Kinder von Tag zu Tag. Oft geht es ihm gut und zum Glück hat er nur selten Schmerzen. Die Nebenwirkungen seiner Medikamente sind größtenteils beherrschbar. Doch seine immer wieder aufflammenden Infektionen und Gelbsuchtanfälle sind erschreckend.
Ich bin erleichtert, als wir vor dem Eingang der Kinderstation halten. Aidan setzt uns ab, bevor er sein Glück versucht, indem er auf dem kleinen Parkplatz Runden dreht und nach jemandem Ausschau hält, der mit den Schlüsseln in der Hand zu seinem Auto zurückkehrt.
Früher, als wir noch zusammenhielten, hätte ich auf ihn gewartet.
Stattdessen gehen wir ohne ihn hinein.
Krankenhäuser haben ihren eigenen Geruch. Einen Geschmack, der im Rachen brennt. Viele Leute sagen, sie könnten ihn nicht ausstehen, aber ich bin wohl mehr an Krankenhausstationen gewöhnt als die meisten anderen Menschen. Ich fühle mich inmitten des geschäftigen Trubels wohl. In diesem roten Backsteingebäude werden Leben verändert. Gerettet.
„Da wären wir!“ Ich drücke mich durch die Schwingtüren und trage uns am Touchscreen des Anmeldesystems ein. Wir hocken auf harten, orangefarbenen Plastikstühlen im engen Wartezimmer. Es ist so heiß hier drin, dass meine Haut klebrig wird.
Ich wippe vor Nervosität mit dem Knie. Alle paar Sekunden schaue ich zur Tür und hoffe, dass Aidan kommt, bevor wir aufgerufen werden.
„Ich habe PSC“, höre ich Kieron zu dem kleinen Mädchen sagen, das mit seiner Lockenkopfpuppe auf dem Schoß neben ihm sitzt.
„Was ist das?“, fragt die Kleine.
„Früher hat meine Haut ständig gejuckt, aber jetzt nicht mehr“, erklärt Kieron kurz und knapp, aber es ist viel mehr als das.
PSC – drei Buchstaben mit einem Berg von Implikationen. Der eventuelle Gallengangkrebs ist die, die mir häufig durch den Kopf geht. Die Ursache ist unbekannt – das ist das Frustrierende daran. Die Krankheit kann durch eine Entzündung ausgelöst werden, eine Autoimmunerkrankung bedeuten oder genetisch bedingt sein. Sie kann auch durch etwas ganz anderes verursacht werden. Keiner weiß es genau. Sie ist nicht heilbar.
„Kieron?“, spricht die Krankenschwester, die uns abholt, ihn direkt an. Kieron steht auf und folgt ihr. Ich werfe einen letzten Blick über die Schulter, bevor ich Dr. Peters’ Sprechzimmer betrete.
„Wie geht es Ihnen heute, junger Mann?“, fragt der Arzt. „Gut.“ Kieron hebt die Hand und Dr. Peters gibt ihm ein High-Five.
„Das stimmt nicht“, unterbreche ich ihn in einem schärferen Ton, als beabsichtigt. „Es geht ihm nicht gut, meine ich. Er hat abgenommen. Er hat kaum Appetit und ist ständig erschöpft. Letzte Woche war er wieder stationär …“
„Ich schau es mir mal an, ja?“ Dr. Peters untersucht Kierons Augen und seine Haut. „Wir haben die Ergebnisse der Blutuntersuchung und des letzten Scans.“ Kieron wird alle drei bis sechs Monate untersucht. „Es gibt ein paar Veränderungen, aber insgesamt …“ Er verstummt, als ein atemloser Aidan mit geröteten Wangen und feuchten Haarsträhnen auf der Stirn in den Raum stürmt und uns entschuldigend ansieht.
„Ich denke, es ist an der Zeit“, sage ich leise. Dr. Peters kritzelt etwas in Kierons Unterlagen. Das Warten auf seine Antwort ist unerträglich. Mein Herz hämmert gegen den Brustkorb. Die Entscheidung, dass mein jüngster Sohn eine Lebertransplantation haben soll, ist keine, die ich leichtfertig getroffen habe. Wir wussten alle, dass sie wahrscheinlich notwendig würde, aber wir haben gebetet, dass es nicht so weit kommt. PSC ist normalerweise eine langsam fortschreitende Krankheit. Statistisch gesehen hätte Kieron nach fünf Jahren sein jetziges Stadium noch nicht erreicht und dennoch befindet er sich jetzt an diesem Punkt. Anscheinend ist Dr. Peters jedoch anderer Meinung als ich.
„Ich werde Kierons Medikamente anpassen.“
„Er war in den letzten zwei Monaten dreimal im Krankenhaus. Er wird immer schwächer.“
„Sein Zustand ist nicht ideal, aber ich bin nicht übermäßig beunruhigt, Mrs Walsh. Sie wissen ja, dass dreißig Prozent der Kinder mit PSC etwa zehn Jahre nach der Diagnose eine neue Leber benötigen. Kieron ist nicht krank genug, um auf die Warteliste für eine Transplantation gesetzt zu werden. Mir ist klar, dass es für Sie beängstigend ist, doch sein Zustand dürfte sich nicht plötzlich so verschlechtern, dass …“
„Aber …“ Ich schlucke meinen Ärger hinunter. „Dr. Peters … Kieron sollte diese Krankheit überhaupt nicht haben. Punkt. Sie ist bei Kindern in seinem Alter ungewöhnlich, und man kann nicht vorhersagen … Sie können nicht garantieren …“
„Mrs Walsh, keiner kann versprechen …“
Aber ich will ein Versprechen. Das Versprechen, dass er eine Zukunft hat.
„Sehen Sie“, sage ich, „wenn wir noch lange warten, ist Kieron womöglich zu krank für eine größere Operation. Es zeigt sich immer mehr, dass seine Leber nur eine begrenzte Lebensdauer hat. Und nein, seine PSC hätte sich nicht so schnell verschlimmern dürfen, aber so selten ist das nicht, und jetzt ist es passiert. Wenn Kierons Leber am Anfang einer fortschreitenden Verschlechterung steht, ist es besser, jetzt etwas dagegen zu tun, als zu warten.“ Ich bemühe mich, ruhig und besonnen zu klingen, nicht wie eine hysterische Mutter, auch wenn ich mich so fühle. Hinter meinen Augäpfeln brennen heiße Tränen. Ich blinzele sie weg.
„Es ist ein schmaler Grat, Mrs Walsh. Natürlich wollen wir nicht warten, bis Kieron nicht mehr genug Kraft hat, um sich einer OP zu unterziehen, doch ich sehe hier nicht unbedingt den Beginn eines Leberversagens …“
„Aber ich weiß, wie …“
Eine Andeutung von Verärgerung schwingt in Dr. Peters’ Stimme mit, als er sagt: „Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir es wissen, und dann …“
„Es gab einen Fall, bei dem sich der Zustand eines jungen Mädchens ohne Vorwarnung so schnell verschlechtert hat …“ Ich bin mir bewusst, dass Kieron im selben Raum ist, und daher beende ich den Satz nicht, aber das muss ich auch nicht.
„Das kommt extrem selten vor, Mrs Walsh.“
„Das weiß ich. Die Krankheit ist selten, aber es gibt sie.“ Ich rede zu schnell. „Bei uns kommt sie vor. Und ich will bloß … ich möchte nur, dass es Kieron gut geht und …“
„Ich bin okay, Mum.“ Kieron legt seine Hand in meine und drückt sie. Mein Junge ist so tapfer.
„Wir werden ihn noch engmaschiger im Auge behalten.“ Der Arzt tippt auf der Tastatur seines Computers herum. „Die Antibiotika behalten wir bei. Dann sehen wir uns in zwei Wochen wieder. Passt es Ihnen am 19.?“
„Aber …“
„Lucy, wenn Kieron keine Operation braucht, ist das gut.“
Aidan holt sein Handy heraus und öffnet die Kalender-App. „Ich habe am 19. eine Konferenz, aber Lucy kann …“
„Aber irgendwann wird er operiert werden müssen. Wir können nicht so tun, als wäre das nicht der Fall.“ Einen Moment lang starre ich Dr. Peters bewusst an, damit er mir in die Augen sieht. Um mit mir als Gleichgestellte zu sprechen nicht als Elternteil. Ich kann nicht glauben, dass Aidan alles hinnimmt, was man ihm sagt. Ich kann nicht einfach blind auf irgendjemanden im weißen Kittel mit Namensschild vertrauen, doch die Art, wie der Arzt die Kiefer aufeinander presst, zeigt mir, dass es sinnlos ist, mit ihm zu diskutieren. Ich kann sehen, dass er noch nie die Angst eines Vaters oder einer Mutter mit einem kranken Kind gespürt hat. Da ich Kieron nicht beunruhigen will, packe ich meine Tasche, meine Zweifel und meine Ängste zusammen. Dann gehen wir.
Auf dem Heimweg döst Kieron. Ich rede nicht mit Aidan. Ich kann nicht ausdrücken, was ich sagen will, weil ich schon alle Worte – all meine Hoffnung – im Krankenhaus zurückgelassen habe.
Ich unterdrücke wieder ein Gähnen, während wir schweigend in unsere Straße einbiegen. Der Platz unter der Buche ist leer. Das weiße Auto ist weg, doch das vermindert nicht mein Gefühl, dass unser Haus beobachtet wird.
Dass ich beobachtet werde.
„Lass mich die Tür aufschließen, bevor wir Kieron wecken“, sage ich zu Aidan und steige aus dem Auto.
Ich gehe zum Hauseingang, doch bevor ich den Schlüssel ins Schloss stecken kann, entdecke ich ihn.
Den toten Vogel auf unserer Türschwelle.
Seine schwarzen Federn glänzen und die Eingeweide ergießen sich über den Beton. Wie auf einer Achterbahn drückt es meinen Magen nach unten und mir wird schlecht, während ich das tote Tier voller Ekel und Entsetzen anstarre.
„Ich bringe ihn weg, bevor die Jungs ihn sehen können“, sagt Aidan hinter mir.
„Aber …“ Ich schlucke schwer. „Wie ist er hier hingekommen?“ Am liebsten würde ich fragen, wer ihn dort abgelegt hat, doch ich suche verzweifelt nach einer rationalen Erklärung, an der ich mich festhalten kann.
Jemand beobachtet mich.
„Wahrscheinlich das Geschenk einer Katze“, sagt Aidan.
Aber wir haben keine Katze.
Und unsere Nachbarn auch nicht.
Nicht nur die unbekannte Zukunft lastet auf meinen Schultern, sondern auch die Vergangenheit.
Und jetzt holt sie mich ein.
Schuld ist ein Seil, das sich abnutzt lautet ein altes Sprichwort.
Ich kann fast spüren, wie es sich um meinen Hals zusammenzieht.
Kapitel 3
Connor
Connor presst seine Fingerspitzen in die Kopfhaut und wünscht sich, das Shampoo würde die wütenden Gedanken wegwaschen, die in seinem Kopf herumschwirren. Er drückt immer stärker zu, bis seine Knöchel schmerzen und sich die Knochen anfühlen, als würden sie gleich brechen. Dann nimmt er den Druck auf seinen Kopf weg, dreht am Temperaturregler und zwingt sich, still zu stehen, während Tausende glühend heißer Wassertropfen wie Rasierklingen in seine Haut schneiden. Seine Muskeln spannen sich an und er beißt die Zähne zusammen, um den Schmerzensschrei zu unterdrücken, der sich tief in seinem Bauch aufbaut. Schmerz ist das Einzige, womit er seine Gedanken stoppen kann. Schon bald fängt er an zu schwanken; schwarze Flecken tanzen vor seinen Augen. Kurz bevor er ohnmächtig wird, dreht er den Regler in die andere Richtung. Das eiskalte Wasser ist ein Schlag in die Magengrube, der ihm die Luft abdrückt. Statt seine Haut zu kühlen, schmerzt es, und das gefällt ihm. Es ist genau das, was er verdient hat.
Nun stellt er das Wasser wieder auf warm. Spotify streamt auf seinem Handy „AM“ in Dauerschleife und er weiß nicht, wie lange er schon unter der Dusche steht. Es fühlt sich an wie seine eigene Zeitmaschine. Er träumt davon, zum letzten Ostern zurückzukehren und alles ungeschehen zu machen. An manchen Tagen holt ihn das Klopfen seiner Mum oder seines Dads an der Tür wieder in die Gegenwart zurück. Dann wird ihm bewusst, dass er schon über eine halbe Stunde unter dem Wasserstrahl steht und das Minz-Duschgel um seine Füße schäumt.
„Weißt du eigentlich, wie hoch unsere Wasserrechnungen sind?“, beschwert sich sein Vater dann.
„Lass ihn in Ruhe, er holt die vielen Jahre nach, die er auf dem Badewannenrand saß und nur so tat, als würde er sich waschen.“ Seine Mum lächelt ihn an.
Früher war Dad witzig und gut drauf. Heute sind sie beide gestresst, nur kann Mum es besser verbergen. Sie denkt, Connor würde die dunklen Halbmonde nicht bemerken, die wie blaue Flecken unter ihren Augen hängen. Sie glaubt, ihr gekünsteltes Lächeln, bei dem sich ihre Lippen nicht kräuseln und ihr Mund so steif und starr bleibt wie der von Mr Potato Head, mit dem Kieron und er früher gespielt haben, könne Connor täuschen. Manchmal, wenn sie vorgibt zu grinsen, würde er am liebsten ihren Mund berühren und ihn wieder in die dünne, gerade Linie ziehen, die er heute immer ist. Du lieber Himmel, es ist kein Wunder, dass er nicht über seine Gefühle reden kann! Keiner in dieser Familie spricht über irgendetwas Wichtiges. Stattdessen fragt Ryans Vater Fergus Connor manchmal, ob es ihm gut geht und ob er darüber reden will. Aber Ryans Vater Fergus war an dem Tag auch dabei und hat aufgepasst, also fühlt sich Fergus vielleicht in gewisser Weise verantwortlich, auch wenn er es nicht war. Connors eigene Eltern tun hingegen so, als wäre es gar nicht passiert, aber das ist es, und wegen ihm ist alles noch tausend Mal schlimmer als vorher.
Unvorstellbar.
Nicht wiedergutzumachen.
Zögernd dreht er das Wasser ab und eine Dampfwolke steigt auf, als er die Tür der Duschkabine aufstößt. Er trocknet sich hastig ab, bevor er in sein Zimmer tapst, und verspürt Wut, als er sieht, dass sich seine Mum über seinen Computer beugt und mit der Maus scrollt.
„Was zum Teufel …“ Er geht mit großen Schritten zu seinem Schreibtisch und knallt den Laptopdeckel zu, wobei er sich fast die Finger einklemmt.
„Connor, ich …“ Ihre Wangen erröten. „Ich wollte nicht … herumspionieren. Ich bin gegen den Schreibtisch gestoßen, als ich das Fenster aufgemacht habe, und da ging dein Laptop an.“
„Ja, klar.“
„Bist du für morgen bereit?“ Kurz lässt sie ihr Mr-Potato-Head-Lächeln aufblitzen, bevor es wieder verschwindet. „Die Schule?“, fügt sie hinzu, als hätte er es vergessen.
Wie könnte er das?
„Ich möchte nicht hingehen.“
„Aber es ist das letzte Jahr. Dein Abitur.“
„Ich hab zu viel verpasst.“
„Aber …“
„Hör mir doch mal zu!“ Die Vorstellung, seinen Mitschülern, seinen Lehrern gegenüberzutreten, ruft glühende Panik in ihm hervor, die als Wut getarnt seinem Mund entschlüpft.
Seine Mum nickt kaum merklich und ringt nervös die Hände.
Connor senkt die Stimme. Seine Wut soll nicht den Treppenabsatz hinunter bis in Kierons Zimmer dringen. „Ich will weg. Eine Lehre machen.“
„Worin denn? Du hast doch einen Traum, Connor. Den kannst du jetzt nicht einfach aufgeben.“
Traurigkeit breitet sich in ihm aus, als er sich daran erinnert, wofür er so hart gearbeitet hat. Sie ist weg, die Leidenschaft, die er früher hatte. Er wollte Medizinwissenschaftler werden – kein Arzt, der Symptome wie die von Kieron behandelt, sondern jemand, der vielleicht ein Heilmittel für PSC und andere Krankheiten findet.
Jetzt kommt es ihm falsch vor, weiterhin seine Ziele erreichen zu wollen. Es fühlt sich an, als hätte er keinen Anspruch auf ein erfülltes und glückliches Leben mehr.
Seine Mutter spricht weiter. „Du willst doch zur Uni …“
„Will ich nicht.“ Er schreit nicht mehr.
„Kieron würde alles dafür geben, morgen wieder zur Schule gehen zu können.“ Sobald ihr die Wörter entschlüpft sind, hält sie sich den Mund zu. Connor starrt sie wütend an, doch als er sieht, dass sie sich selbst genug für sie beide hasst, verfliegt sein Ärger.
Er würde sie so gern nicht ausstehen können – und zugleich liebt er sie. Er will, dass sie leidet, und auch wieder nicht. Am liebsten würde er sie wegstoßen, aber er braucht dringend eine Umarmung.
In den letzten Monaten kann sie sich immer weniger zusammenreißen, und egal, wie oft sie Connor sagt, dass es nicht seine Schuld war, kann er ihr nicht in die Augen sehen und ihr das Gleiche sagen, auch wenn er weiß, dass sie es verzweifelt von ihm hören will. Es von ihm hören muss. Trotzdem sticht er immer wieder – und heftiger als nötig – die spitze Nadel der Schuld in ihre Brust, so wie er einmal versucht hatte, den Schwanz an dem Papieresel zu befestigen, den sie so sorgfältig für seine Geburtstagsparty gezeichnet hatte.
Sie wirkt so klein. So müde.
„Wie lief es im Krankenhaus?“ Seine Worte sind eine Friedensfahne.
Ihre Glieder erschlaffen – wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen ist. Diesmal ist ihr kurzes Lächeln echt. Dankbar, dass Connor sich nicht mit ihr streiten will.
„Es war …“ Sie sieht ihn hilflos an.
„Mum, ich bin kein Kind mehr. Erzähl mir, was passiert ist.“
„Dr. Peters sagt, dass Kieron noch nicht das Stadium erreicht hat, in dem er eine Transplantation braucht.“
„Und du?“, fragt Connor. „Was denkst du?“ Er bemerkt die Überraschung auf ihrem Gesicht und das Zögern, bevor sie antwortet, so als würde sie das sagen, was von ihr erwartet wird, statt ihre tatsächlichen Gedanken preizugeben.
„Vielleicht übertreibe ich und es ist wirklich noch ein bisschen früh.“
„Aber … nur noch vier Jahre, Mum.“ Die Bedeutung dieses Satzes schwebt wie ein Damoklesschwert über ihnen.
„Vielleicht. Dazu wird es nicht kommen. Dr. Peters ist sich sicher und wir müssen ihm vertrauen. Er ist schließlich der Fachmann.“
„Aber du bist …“
„Ich mache jetzt das Abendessen. Kieron möchte, dass du zu ihm kommst, okay?“ Sie blickt aus dem Fenster und kaut nervös auf ihrer Lippe, bevor sie das Zimmer verlässt.
„Hey.“ Connor steckt den Kopf durch Kierons Tür.
„Connor!“ Die Freude in Kierons Stimme ist deutlich herauszuhören. Connor weiß, dass er in den Augen seines jüngeren Bruders der Weihnachtsmann, Luke Skywalker und James Bond in einer Person ist. Er nimmt seinem Bruder das Taschenbuch ab. „Ich lese dir ein bisschen vor.“ Er setzt sich auf die Bettkante und schwingt die Beine hoch. Dann räuspert er sich, um sich auf die verschiedenen Stimmen für jede der Romanfiguren vorzubereiten. Doch bevor er anfängt, fragt er nach: „Bist du sicher, dass ich dir aus diesem Buch vorlesen soll? Wir kennen die Geschichte schon beide auswendig.“
„Aber ich liebe das Buch.“
„Sicher, dass du nicht nur Jennifer Lawrence liebst?“ Connor zieht die Augenbrauen hoch und neigt den Kopf zum Poster, auf dem Katniss Everdeen mit einer Armbrust in der Hand abgebildet ist.
„Na ja, ein bisschen.“ Kieron wird rot. „Wie ist es so?“
„Wie ist was?“
„Du weißt schon …“ Kierons Blick huscht zur offenen Tür, um sich zu vergewissern, dass ihre Mum nicht auf dem Treppenabsatz herumlungert, wie sie es manchmal tut. „Küssen und so.“ Er senkt die Stimme und flüstert: „Sex.“
„Boah!“ Connor streckt abwehrend die Hände hoch. „Nicht so schnell.“
„Sag’s mir.“
„Wie kommst du darauf, dass ich was über … Sex weiß?“
„Du weißt doch alles.“ Da ist wieder dieses unerschütterliche, fehlgeleitete Vertrauen in ihn.
„Das wirst du bald genug selber rausfinden, Kieron.“ „Vielleicht nicht.“ Kierons Optimismus gleitet mit der Bettdecke von ihm ab, als er sich aufsetzt. „Vielleicht lebe ich ja nicht so lange.“
„Sei nicht so melodramatisch, du Idiot“, entgegnet Connor und hofft, dass Kieron seine eigene Angst nicht heraushört. Er setzt an, die Worte zu wiederholen, die er immer wieder bei Google gelesen hat. „Deine Prognose ist …“
„Connor. Lass das. Hör auf damit.“
Connor nimmt die Hand seines Bruders und ihre Finger verschränken sich. Kieron ist immer voller Hoffnung und ohne Selbstmitleid. Connor fragt sich, ob das seine grundsätzliche Lebenseinstellung ist oder ob auch er eine Maske trägt. Ein tapferes Gesicht aufsetzt. Er sollte niemandem was vorspielen müssen.
Connor ist traurig und wütend und hilflos.
Schon wieder fühlt er sich so wie vor der Dusche. Er kann nicht anders, als zurückzuweichen und aufzustehen.
„Bitte geh nicht. Sag mir, wie es war … mit Hailey.“
Bei der Erwähnung ihres Namens kneift sich Connor in den Arm; gräbt seine Fingernägel in die Haut und akzeptiert den Schmerz.
Seine Strafe.
„Connor?“, hakt Kieron nach.
„Ich … ein anderes Mal?“
Blitzartig tauchen Bilder vor seinem geistigen Auge auf. Haileys blasses, besorgtes Gesicht. Ryan und Tyler, die sie weiter drängen. Der flehende Blick in ihren Augen, als sie sich zu ihm umdreht. Seine Unentschlossenheit – seine Freundin oder seine Freunde – dann nickt er. Alles wird gut.
Doch nichts wurde gut.
Nichts ist gut.
„Ich … ich muss gehen.“ Er dreht seinem Bruder den Rücken zu und geht mit steifen Schritten zum Treppenabsatz, doch die Erinnerungen kann er nicht hinter sich lassen.
Als er wieder in seinem Zimmer ist, klappt er noch einmal den Laptop auf und betrachtet ihre Facebook-Seite. Die Fotos von ihnen zusammen, auf denen er den Arm unbeholfen um ihre Schultern gelegt hat. In ihren Augen leuchtet die Unerfahrenheit und Hoffnung. Er klickt auf Messenger und schickt vier Worte ab:
Es tut mir leid
Wie alle seine Nachrichten bleibt auch diese ungelesen.