Kapitel 1
Kari Lürsen stand am Hafen von Wyk auf Föhr und blickte der Fähre entgegen, die sich aus Richtung Dagebüll näherte. Sie wurde schnell größer. Es war der zweite Montag im Mai, der dieses Jahr angenehm mild begonnen hatte. Innerhalb der letzten Woche war es spürbar wärmer geworden. Der Tag heute war dazu geeignet, Pullover gegen T-Shirts auszutauschen. Entsprechend bunt war das Bild, das sich ihr bot. Das Summen der Stimmen derjenigen, die am Anleger warteten, lag in der Luft. Die Stadt vibrierte, die Touristensaison hatte schon vor einiger Zeit begonnen. Sie brachte, wie jedes Jahr, Menschenmassen und Trubel auf die Insel. Die Fähre hatte den Hafen jetzt fast erreicht und stampfte auf den letzten Metern durch die schaumgekrönten Wellen. Die Menge vor Kari geriet in Bewegung, hin zu dem blauen Bogen, auf dem Auf Wiedersehen auf Föhr zu lesen stand. Kari schaute über das graue Wasser zum Horizont und atmete tief die salzige Luft ein. An diesem Abend würde sie zurück sein in Berlin. Nach etlichen Wochen, die sie seit Februar hier auf der Insel verbracht hatte. Gewartet hatte, zu erfahren, wie es beruflich mit ihr weitergehen würde. Konnte sie wieder in ihren alten Job beim BKA einsteigen? Oder musste sie sich darauf vorbereiten, in den kommenden Wochen und Monaten im Innendienst zu schmoren? War sie gar gänzlich gefeuert? Das Tuten der Fähre riss sie aus ihren Überlegungen. Das Schiff legte an. Kari beugte sich nach unten und hob ihre Reisetasche an. Im selben Moment vibrierte das Handy in ihrer Jackentasche. Sie nahm das Gespräch an, ohne auf die Anruferkennung zu achten. Als sie die Stimme ihres Vorgesetzten hörte, strafften sich ihre Schultern automatisch.
»Kari? Bist du noch auf Föhr?«, wollte er wissen, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
Nicht mehr lange, dachte sie, bejahte aber.
»Ich brauche deine Hilfe.« Er klang auf die übliche Weise sachlich, gleichzeitig hörte sie etwas anderes heraus, das nicht zu ihm passte und das sie nicht einordnen konnte.
»Du hast mich suspendiert«, erinnerte sie ihn bitter.
»Jetzt gebe ich dir die Chance, zurückzukommen.«
Hatte sie sich verhört? Hatte er das eben wirklich gesagt?
An der Fähre herrschte emsiges Treiben. Die ersten PKW rollten heraus, gleichzeitig strebten vereinzelte Passagiere eilig der Bushaltestelle oder dem Taxistand zu, sofern sie nicht abgeholt wurden.
»Worum geht es?« Sein Anruf machte sie mehr als neugierig.
»Wir haben ein Schutzhaus auf der Insel.« Jo Weinheimers Stimme wurde tiefer.
Die Information kam überraschend für sie. Aber das war ja immer so. Wer nicht direkt involviert war, hatte keine Ahnung.
»Zwei Personen sind dort untergebracht«, fuhr Jo fort. »Meine Abteilung hat den Auftrag, diese in den Zeugenschutz zu begleiten. Einer der beiden Personenschützer ist ausgefallen. Herzinfarkt.«
»Dann schick Ersatz«, schlug sie ihm vor.
Jo senkte die Stimme. Er räusperte sich, ehe er fortfuhr. »Das geht nicht so schnell. Ich muss erst jemanden finden. Bis diejenige Person vor Ort sein kann, dauert es. Und du bist schon da. Kennst dich aus. Es geht lediglich um drei Tage.«
Sie wusste, das konnte nicht alles sein.
»Dann soll ich überbrücken? Aber ich bin seit einer Weile nicht mehr …«
»Aber du warst mal«, unterbrach er sie. »Lange genug, um Bescheid zu wissen und einen solchen Auftrag übernehmen zu können.«
»Und danach bin ich wieder raus?«
»Nein.« Seine Antwort kam schnell und energisch.
»Du reaktivierst mich?«
»Sage ich doch. Ich gebe dir eine Chance, in den Dienst zurückzukehren.«
Obwohl es genau das war, was sie sich seit Wochen ausmalte und wünschte, verschlug es ihr einen Moment lang die Sprache. Aus reiner Nächstenliebe tat er das nicht, davon war sie überzeugt. Sie und Jo hatten sich immer gut verstanden – bis ihr ein Fehler unterlaufen war. Ein schwerwiegender noch dazu: Eine Zielperson, auf die sie angesetzt gewesen war, war trotz ihrer Überwachung spurlos verschwunden. Bis heute hatte man den Mann nicht mehr ausfindig gemacht. Eine Blamage, die darüber hinaus die Frage aufgeworfen hatte, ob sie mit dem Feind gemeinsame Sache gemacht hatte. Sie schwieg. So lange, bis Jo sich bequemte fortzufahren.
»Ich weiß im Moment nicht, wem ich hier noch trauen kann.« Seine Stimme klang leise und ein bisschen traurig.
»Und mir traust du? Nach allem, was war?«
»Ich habe dir immer vertraut. Sonst würden wir hier nicht über eine Suspendierung mit anschließender möglicher Versetzung in den Innendienst diskutieren, sondern ganz andere, viel weitgreifendere Maßnahmen. Das ist dir hoffentlich bewusst.«
Es stimmte. Er gehörte nicht zu denjenigen, die in den Gängen üble Dinge über Kari geflüstert hatten. Sein gutes Verhältnis zu seinen Mitarbeitern war legendär. Die Vorstellung, dass einer davon ihn hinterging, musste schmerzhaft sein.
»Was ist geschehen?« Kari trat von einem Fuß auf den anderen. Etwas an dem, was Jo sagte, machte sie nervös.
»Wir haben einen hochkarätigen Zeugen in dieser Angelegenheit verloren.« Das konnte nur bedeuten, dass diese Person liquidiert worden war. Jo bestätigte Karis Befürchtung. »Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Und das muss strikt unter uns bleiben. Zu keinem ein Wort«, fuhr Jo fort. Jetzt so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. Auf einmal fror sie, als hätte sich ihr Blut in Eis verwandelt. Der Schock verstärkte sich, als Jo fortfuhr.
»Ich fürchte, wir haben hier einen Maulwurf.«
Vorne an der Gangway zur Fähre sprang die Ampel auf Grün. Das Zeichen dafür, dass sämtliche Gäste von Dagebüll kommend das Schiff verlassen hatten. Der Pulk der Abreisenden setzte sich erneut in Bewegung.
»Du willst mich unter dem Radar fliegen lassen?« Alles andere würde keinen Sinn ergeben.
Jo bejahte.
»Was ist mit dem kranken Kollegen?«
»Keiner weiß, dass er auf einem Einsatz war. Wir haben es so aussehen lassen, als sei der Zusammenbruch in seinem Heimatort geschehen. Ich kann ihn auch nicht nach Berlin zurückholen, ohne das Risiko einzugehen, dass mehr darüber durchsickert, als mir lieb ist.«
Kari verstand. Sie war der ideale Ersatz. Niemand wusste, dass sie auf Föhr war. Niemand hatte sie auf dem Schirm. Inzwischen waren fast alle Fahrgäste im Aufgang zur Fähre verschwunden, ein paar Nachzügler hasteten über den Platz. In wenigen Minuten würde das Schiff ablegen.
»Wer ist die andere Person vor Ort?«
»Das ist eine Kollegin. Noch nicht lange dabei. Aber ich vertraue ihr. Du kannst dich auf sie verlassen.« Er redete, als habe sie bereits zugesagt.
»Wenn ich das übernehme, bin ich wieder drin?«
»Sage ich doch. Neue Chance. Du müsstest bloß vorerst allein auf mich und mein Wort vertrauen. Es gibt keinen offiziellen Einsatz. Und du berichtest nur mir direkt.«
Die letzten beiden Fahrgäste verschwanden im Inneren der Fähre. Kari stellte ihre Tasche ab.
»In Ordnung«, sagte sie. »Ich bleibe hier und helfe dir.«
Kapitel 2
»Moin«, grüßte die Taxifahrerin. Sie nahm Kari die Reisetasche ab und verstaute sie im Kofferraum. »Wohin geht die Fahrt?«
»Utersum«, instruierte Kari sie, das Handy mit der noch offenen Verbindung gegen die Brust gedrückt. Sie öffnete die Tür und setzte sich in den Fond des Wagens. Dort nahm sie das Gespräch wieder auf. Während der folgenden fünfzehn Minuten briefte Jo sie für den Einsatz. Die beiden zu schützenden Personen waren Mutter und Tochter. Sie sollten am Donnerstag nach Hamburg zurückkehren, wo die Aussage der Mutter bei einem Prozess erwartet wurde.
»Die Frau ist unsere Kronzeugin. Sie geht mit der fünfzehnjährigen Tochter danach in den Zeugenschutz. Wir müssen sie bis dahin vor dem Zugriff des Angeklagten bewahren.« Jo gab ihr am Ende die Koordinaten des Schutzhauses durch. Sie beendeten das Gespräch, als das Taxi in den Ort einfuhr. Kari stieg in Utersum-Mitte aus. Sie lief die wenigen Meter durch die verwinkelten Straßen zu Fuß bis zu dem ebenerdigen, reetgedeckten Haus mit der blauen Tür und den ebensolchen Schlagläden, das ihr von ihrem Großvater Hein vererbt worden war. Hier hatte sie die letzten Wochen verbracht. Sie warf die Reisetasche auf das Bett und packte die meisten Sachen wieder aus. Eine zweite Jeans, einige T-Shirts, einen leichten Pullover, Nachtkleidung und ihren Kulturbeutel ließ sie drin, legte eine Baumwolljacke dazu. Anschließend holte sie ihr Rad aus dem Schuppen im hinteren Teil des Gartens und machte sich auf den Weg. Es war nicht weit. Das fragliche Gebäude lag unterhalb von Witsum in der Nähe der Godelniederung. Ein ehemaliger Hof, der schon lange verlassen war. Das einsam stehende Haus inmitten eines großen und übersichtlichen Geländes war ein ideales Versteck im Nirgendwo, dem sich ungesehen so schnell niemand nähern konnte.
Eine Stunde später nahm eine jüngere Beamtin, die sich ihr als Marlies Pietschmann vorstellte, Kari in Empfang. Sie verglich ihr Aussehen sorgfältig mit dem, was Jo ihr in der Zwischenzeit geschickt hatte – vermutlich Foto und Personenbeschreibung. Schließlich nickte sie und ließ Kari ein.
Die sah sich gleich darauf der erwachsenen Zeugin gegenüber. Sandrine Leonhardt, genannt Sandra, war eine der Frauen, die aufgrund ihrer Zierlichkeit und ihres Aussehens – nicht im landläufigen Sinne attraktiv, aber apart – bei Männern Beschützerinstinkte und bei ihren Geschlechtsgenossinnen zwiespältige Gefühle auslösten. Sie trug das lange dunkle Haar offen. Ihre moosgrünen Augen blickten den beiden Beamtinnen streng und misstrauisch entgegen, als sie den Wohnraum betraten. Sie stand dort gegen einen Tisch gelehnt, ganz in Schwarz gekleidet, die Hände vor der Brust verschränkt.
»Die Mutter ist schwer zu deuten, die Tochter angefressen. Sie ist oben, verlässt ihr Zimmer kaum«, hatte Marlies kurz zuvor gemurmelt.
Kari hatte diese knappe Beschreibung schweigend aufgenommen. Jetzt musterte sie die Frau im Wohnzimmer. Sie wirkte keineswegs nervös, eher so, als halte sie all das, was hier stattfand, für eine Zumutung. Dabei diente es einzig und allein ihrem Schutz. Klarer noch: dem Schutz ihres Lebens. Das war, um mit den Worten zu sprechen, die Jo benutzt hatte, keinen Pfifferling wert, seit sie beschlossen hatte, ihren eigenen Ehemann der Justiz auszuliefern. Als Kronzeugin gegen ihn auszusagen und damit einen der einflussreichsten und gewieftesten Drogenpaten Hamburgs hochgehen zulassen. Warum sie sich nach sechzehn Jahren Ehe und einer gemeinsamen Tochter dazu entschieden hatte, war Kari nicht bekannt. Ihr Job war es, zusammen mit Marlies dafür zu sorgen, dass Gereon Leonhardt seine Frau nicht vor dem Prozess aufspüren und liquidieren ließ. So wie mutmaßlich den früheren Zeugen.
Leonhardt war skrupellos. Nachdem einer seiner führenden Mitarbeiter über eine Geldwaschanlage gestolpert war und sich, im Gegenzug für eine Strafmilderung, als Kronzeuge gegen seinen Chef angeboten hatte, saß der in Untersuchungshaft. Sein offizielles Gewerbe umfasste eine Importgesellschaft für Lebensmittel und eine Spedition mit Niederlassungen in Süd- und Ostdeutschland. Dazu kamen, neben der Hamburger Villa, Wohnsitze auf Formentera und in der Schweiz. Ein Mann so glatt wie ein Aal. Man warf ihm Drogenschmuggel in großem Stil, Geldwäsche und Bestechung vor. Jedes Mal wenn die Behörden bisher gedacht hatten, sie könnten ihn festnageln, hatte er sich mithilfe eines teuren Anwaltsteams wieder herausgewunden. Beweise waren bislang zerpflückt worden oder auf nicht mehr zu klärende Weise verschwunden. Zudem wurde er verdächtigt, den Mord an einem bekannten Enthüllungsjournalisten in Auftrag gegeben zu haben. Der Mann hatte sich mit seinen Artikeln über das organisierte Verbrechen einen Namen gemacht. In diesen Berichten war er Leonhardt sehr nahe gekommen. Man sprach von Insiderwissen. Bevor er alles, was er wusste, publik machen konnte, war er am helllichten Tag vor seinem Haus in einem Hamburger Vorort erschossen worden. Ein Fall, der für Aufsehen gesorgt hatte, selbst in die bis dahin weitgehend ahnungslose Öffentlichkeit hinein. Zeigte er doch, wie sicher sich der Drogenpate der Hansestadt – wie ihn der Journalist getauft hatte, ohne ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen – fühlte. Eine Ansage auch an Polizei und Justiz. Ich habe hier das Sagen, sollte die Tat ausdrücken.
Natürlich hatten Kari und ihre Kollegen im BKA sofort gewusst, wer hinter dem Anschlag steckte. Nachweisen konnten sie Leonhardt jedoch nichts. Der Frust hing damals in den Fluren der Dienststelle wie dicker Sirup. Und jetzt kam Sandra, liebende Ehefrau und Mutter von Leonhardts einzigem bekannten Kind, und gab an, über Beweise zu verfügen, die ausreichen würden, ihrem Gatten endlich den Prozess machen zu können. Zeugenschutz für sich und die gemeinsame Tochter hatte sie verlangt. Es musste das ganz große Besteck ausgepackt werden, das war allen klar. Denn schon allein aufgrund von Sandrines Aussehen – einer Mischung aus den Genen ihres marokkanischen Vaters und ihrer südfranzösischen Mutter – und der Tatsache, dass sie in Begleitung ihrer fünfzehnjährigen Tochter Beatrice, genannt Bea, reiste, würde es schwierig sein, die beiden dauerhaft zu verstecken.
Nicht allein unser Bier, hatte Jo gesagt. Sandra war reich. Sie würde sich ein Leben weit weg von Europa einrichten können. Besonders, wenn ihr Mann im Kittchen saß.
»Sind Sie der Ersatz?« Es waren die ersten Worte, die Sandra an Kari richtete. Die Frage der Frau klang wie eine Beleidigung. Kari ließ es an sich abprallen.
»Ich springe für den Kollegen ein«, erklärte sie knapp. Ihr fiel ein, dass sie gar nicht wusste, ob der Grund für ihre Anwesenheit den beiden zu schützenden Personen bekannt war, und hielt sich an ihre Regel, so wenig wie möglich preiszugeben.
»Sind wir hier überhaupt sicher?«, fuhr Sandra fort und Kari verstand, was sie wirklich damit sagen wollte. Sind wir hier mit Ihnen sicher.
»Dieses Haus ist unbedenklich«, antwortete sie. Sandra starrte einige Augenblicke dumpf vor sich hin, dann warf sie mit einem Ruck ihr Haar nach hinten und stieg gemächlich die Treppe ins obere Geschoss hinauf. Gleich darauf fiel eine Tür dort laut ins Schloss. Marlies seufzte und gab Kari mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass sie ihr in die Küche folgen sollte.
»Sie benimmt sich, als wären wir ihre Bediensteten«, bemerkte sie. »Reich und verwöhnt. Ich bin froh, wenn ich diesen Auftrag hinter mir habe.«
Das konnte ja heiter werden, dachte Kari. Ihre Laune besserte sich auch nicht, als Marlies ihr verriet, dass es erst ihr zweiter Einsatz war.
»Was ist mit deinem Kollegen passiert?« Kari checkte ihr Gegenüber, während sie auf Antwort wartete. Marlies wirkte sportlich. Lange Beine steckten in dunklen Leggins. Als sie sich eine Strähne ihres kurzen hellblonden Haars aus der Stirn strich, zeigten sich unter ihrem Halbarm-Shirt durchtrainierte Oberarme.
Marlies zog die Unterlippe zwischen die Zähne und schüttelte in einer hilflosen Geste den Kopf.
»Es war unser erster Tag hier. Er kam vom Joggen zurück. Brach zusammen. Gott sei Dank habe ich es vom Küchenfenster aus gesehen und bin ihm gleich zu Hilfe gekommen.«
»Von hier aus?« Kari zog zweifelnd die Brauen hoch. Die Küche lag nach hinten raus und erlaubte keinen Blick auf den Weg, der durch die Salzwiesen bis zum Damm führte.
Marlies bejahte. »Er war schon zurück und wollte abkühlen, trabte ums Haus.«
»Wie schlimm ist es?«
»Nicht so übel, dass er in Lebensgefahr schwebt. Aber es war undenkbar, dass er hier weitermacht.« Die Erleichterung darüber, dass es für ihren Kollegen nicht tödlich ausgegangen war, war Marlies anzusehen.
»Im BKA hat Jo es so aussehen lassen, als sei das Ganze an Tobias’ Heimatort geschehen.« Sie schob ihre Hände in die Hosentaschen und blickte aus dem Fenster. Ihre Dienstwaffe trug sie an der Hüfte, was Kari zu der Frage veranlasste, wie man sie ausrüsten würde.
»Jo hat nichts gesagt«, antwortete Marlies zögerlich.
»Ohne Waffe, das geht nicht«, meinte Kari mehr zu sich selbst. »Wo ist die deines Kollegen? Die könnte ich doch nehmen.« Sie hatten ihn ja wohl kaum mit einer Pistole ins Krankenhaus geschafft.
»Ich werde Jo fragen.«
»Das kann ich selbst tun«, erwiderte Kari.
»Leider nein.« Marlies baute sich vor ihr auf. Ihre dunkelbraunen Augen fixierten ihr Gegenüber. »Du weißt ja, dass du ein privates Handy hier nicht benutzen kannst.«
Sie streckte ihr auffordernd die Hand entgegen. Kari, einen Moment lang überrascht vom energischen Auftreten der Jüngeren, zögerte. Aber sie hatte recht. Kari zückte ihr Mobiltelefon, schaltete es aus, entnahm SIM-Karte und Akku und reichte alles ihrer Kollegin. Die würde es in einem besonderen Behältnis verstauen, damit nichts geortet werden konnte.
»Ich hoffe, du warst bei den Zeuginnen ebenso gründlich.«
Marlies zögerte kaum wahrnehmbar. »Das waren wir«, erwiderte sie knapp.
Keine Waffe, kein Handy, kein Dienstausweis. Kein offizieller Auftrag. Einen Moment lang ärgerte sich Kari darüber, dass sie sich in einer Situation befand, in der sie sich auf eine wesentlich unerfahrenere Kollegin verlassen musste. Bevor dieser Gedanke ihr schlechte Laune machen konnte, rief sie sich jedoch ins Gedächtnis, warum sie das alles tat. Um in den Dienst zurückzukehren. Wieder aufgenommen zu werden. Ohne Wenn und Aber. Sie schluckte daher eine etwas scharfe Erwiderung runter und ging zur Tagesordnung über.
Zunächst einmal machte sich Kari mit den Örtlichkeiten vertraut. Das zweistöckige Haus selbst befand sich auf einem weiträumigen Wiesengrundstück, das von einem massiven Holzzaun umgeben war. Vom ehemaligen Hof existierte nur noch das Haupthaus mit einem Anbau. Sämtliche anderen Gebäude waren abgerissen worden. Die einzige Zufahrt zweigte von der Dorfstraße in Witsum als befahrbarer Feldweg ab und führte direkt zum Grundstück. Ein Fußweg ging hinauf in Richtung Deich. Dahinter begann das Naturschutzgebiet Godelniederung. Von einer großen Scheune im hinteren Bereich des Geländes standen nur noch wenige Zentimeter hohe Fragmente einer Mauer, schon fast gänzlich überwuchert von Gras und Unkraut. Angebaut ans Hauptgebäude hatte man irgendwann ein zweites, wesentlich kleineres Holzkonstrukt. Hinter dem massiven Tor dieses Schuppens, das mit einem dicken Schloss gesichert war, stand ein schwarzer SUV geparkt, daneben ein blauer Corsa.
Auf jeder Seite des rechteckigen Baus waren, unter dem Reetdach kaum zu sehen, Kameras angebracht, die mit Bewegungsmeldern verbunden waren. Es gab einen Haupteingang ins Haus, der in einen Flur führte, davon gingen die Küche und ein Wohnzimmer ab. Von der Küche aus ging eine Hintertür in den Bereich des Geländes, der früher, noch sichtbar durch steinerne Beetumrandungen, als Gemüsegarten genutzt worden war. Das Haus verfügte neben dem Wohnraum über fünf weitere Zimmer. In je einem davon waren Sandra und ihre Tochter untergebracht, in zwei weiteren Kari und Marlies. Der fünfte Schlafraum war frei. Die Küche bot, wie in alten Bauernhäusern üblich, mehreren Personen Platz. Es war kaum anzunehmen, dass die vier Frauen jemals gemeinsam essen würden. Aber egal wie, Kari musste Sandra und ihre Tochter zunächst einmal kennenlernen. Sie bedeutete Marlies, unten zu bleiben, und stieg selbst in den ersten Stock hinauf.
Kapitel 3
Sandra Leonhardt antwortete auf Karis Klopfen mit einem scharfen »Ja!«, das sich wie ein Nein anhörte.
»Wir werden die kommenden drei Tage miteinander verbringen. Da finde ich es sinnvoll, sich ein bisschen kennenzulernen«, begann Kari das Gespräch. Die Frau von Gereon Leonhardt stand am Fenster und starrte hinaus.
»Und eine der wichtigsten Regeln überhaupt hier lautet, dass Sie sich nicht am Fenster zeigen.«
Sandra drehte sich so schnell um, dass ihre Haare ihr wie Schnüre um den Kopf flogen. Lange, dichte Wellen, um die Kari, deren kinnlanges, haselnussbraunes Haar eher glatt war und in letzter Zeit etwas dünn wirkte, die Frau kurz beneidete.
»Hier ist doch niemand!«, schnaubte sie und breitete in einer theatralischen Geste die Arme aus.
»Dass Sie niemanden sehen, heißt noch lange nicht, dass hier keiner ist.« Kari ging an ihr vorbei, wobei der schwere Duft eines orientalischen Parfüms ihre Nase streifte, und zog die Gardinen zu. »Auf Düfte sollten Sie ebenfalls verzichten«, informierte sie die andere. Die zog die Brauen so hoch, dass sie fast den Haaransatz berührten.
»Was fällt Ihnen ein, ich mache …«, weiter kam sie nicht, denn Kari schnitt ihr das Wort ab.
»Sie machen die nächsten drei Tage genau das, was meine Kollegin und ich Ihnen sagen. Wir sind verantwortlich für Ihr Leben. Und für das Ihrer Tochter. Wir wissen, was wir tun.« Den letzten Satz sprach sie betont energisch. »Und wenn, was wir alle nicht hoffen, jemand ins Haus eindringt, bringen wir Sie in Sicherheit. Da ist eine Duftspur, die man von hier noch bis ans Nordkap riechen kann, nicht gerade hilfreich.«
Sandras Mund klappte zu. Ihr Blick flackerte kurz. Dann ließ sie ein lautes »Pfff« hören.
»Also schlage ich vor, dass Sie sich das Zeug abwaschen. Und zwar am besten jetzt gleich.«
Eigentlich war sie gekommen, um mit der Frau über andere Dinge zu reden. Das konnte sie jetzt knicken.
Sandra Leonhardt funkelte Kari böse an, erfreulicherweise kam es jedoch zu keinem weiteren Widerspruch.
»Wir reden später.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Kari. Beim Hinausgehen zog sie die Tür sanft hinter sich zu.
Bea hockte im Zimmer nebenan mit angezogenen Beinen auf dem Bett. Ihr Kopf lag auf den Knien. Sie schaute genauso finster drein wie ihre Mutter. Das Mädchen hatte von Sandra Leonhardt lediglich das intensive dunkle Grün der Augen geerbt, ansonsten kam es mit dem flächigen Gesicht und der leicht untersetzten Statur eher nach dem Vater. Bea wirkte noch sehr kindlich und deutlich jünger als fünfzehn. Ihr dunkelblondes Haar reichte bis zur Taille und es schien, als hülle sie sich darin ein.
»Hi Bea«, sagte Kari. »Kann ich mich zu dir setzen?«
Die Antwort bestand aus einem waidwunden Blick, einem Schniefen und einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Bea rutschte ein paar Zentimeter weiter, als Kari neben ihr auf dem Bett Platz nahm. Sie schaute stur geradeaus.
»Ich kann mir denken, dass das für dich hier jetzt ein merkwürdiger Zustand ist«, begann Kari. »Es sind nur noch drei Tage bis zum Beginn des Prozesses. Und sobald deine Mutter ausgesagt hat, wird man eine andere Lösung für euch finden.« Bea sagte nichts und rührte sich nicht. »Wir wollen euch schützen. Das ist dir klar, oder?«
Endlich wandte die junge Frau Kari ihr Gesicht zu. Sie mochte äußerlich ihrem Vater ähneln. Ihre Gefühlswelt schien eine andere zu sein. Sie wirkte verängstigt und verletzlich. »Vor meinem Vater braucht mich niemand zu schützen«, entgegnete sie leise.
Kari, die sie eines Besseren hätte belehren können, schwieg. Leonhardt war eiskalt und skrupellos. Die Verbrechen, die ihm zur Last gelegt wurden, konnte man allesamt im Bereich der Schwerkriminalität verorten. Er war Drahtzieher und Nutznießer eines großen Teils des Drogenumschlags in der Hansestadt. Getarnt als Geschäftsmann hatte man ihn lange nicht auf dem Schirm gehabt. Das BKA war bereits eine Weile an seiner Bande und ihm dran. Ergebnislos. Sämtliche Zeugen, die jemals gegen ihn hätten aussagen können, hatten sich eines Besseren besonnen. Oder waren gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Der Einzige, der überhaupt noch an Leonhardt dran gewesen war, war der ermordete Journalist. Das Material, das er zusammengetragen hatte, war unauffindbar. Leonhardt hatte sich nie zu der Geschichte geäußert, obwohl er in der Presse damit in Verbindung gebracht wurde. Der Mann machte sich überhaupt gerne unsichtbar. Aus der Öffentlichkeit hatte er sich vor Jahren zurückgezogen. Er schirmte sich ab und lebte gut geschützt in einer Luxusvilla oder im Ausland. Vielleicht hatte Sandra genau das gestört. Sie war wesentlich jünger als ihr Mann und hatte ganz bestimmt nicht vor, den Rest ihres Lebens hinter Mauern und Alarmanlagen zu verbringen. Trotzdem war Kari mehr als überrascht gewesen zu hören, dass sie gegen den eigenen Ehemann aussagen wollte.
»Du hängst an deinem Vater.« Kari legte Bea kurz die Hand auf den Arm. »Das kann ich verstehen. Mir ging es genauso mit meinem.« Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu. »Ich hing mehr an ihm als an meiner Mutter.« Was sie sagte, stimmte. Bea schien das zu spüren. Endlich sah sie Kari an.
»Du sagst es so, als würde er nicht mehr leben.«
Kari seufzte. Noch immer schmerzte der Verlust. »Stimmt. Er ist gestorben. Dennoch fühle ich mich ihm oft sehr nah.«
Sie lächelte Bea aufmunternd an.
Das Mädchen schnaufte vernehmbar. »Mein Vater lebt. Und auf einmal sagt mir meine Mutter, wir könnten nie wieder zu ihm zurück.«
Jetzt kam der schwierige Teil.
»Bea. Deinem Vater wird der Prozess gemacht. Er ist angeklagt, Dinge getan zu haben, die ihn für Jahre hinter Gitter bringen können.« Sie ließ ihre Worte kurz wirken, bevor sie fortfuhr. »Schlimme Dinge. Ihm wird Anstiftung zum Mord vorgeworfen. Wenn das stimmt, dann ist zu erwarten, dass er verurteilt wird.«
»Nur weil sie das sagt.« Beas Worte klangen wie ausgespuckt. »Diese Bitch.« Der Kopf lag jetzt wieder auf den Knien, die Haare flossen der jungen Frau bis zu den Füßen.
»Ich hasse sie. Ich hoffe, er findet sie und bringt sie um.«