Leseprobe Auf Umwegen ins Glück

Die Stimme von George Clooney

Manche Leute kriegen echt nichts mit. Ich meine, an Professor Engelbrechts Tür steht groß und breit:

Sprechzeiten Mittwoch und Donnerstag von 3.00 Uhr bis 16.00 Uhr.

Und was war heute? Dienstag. Und wer kam da gerade den Flur entlanggeschlurft im erdbraunen Wollrock, dazu eine Art Schal um den Leib gewickelt wie eine Nomadin in der Wüste, die hennaroten Haare mit knubbeligen Flechtzöpfchen durchwirkt? Juliane Schmieder, größte Öko-Schnepfe vor dem Herrn und Studentin der Soziologie, Anglistik und Erziehungswissenschaften im gefühlten 24. Semester. Sie war bestimmt fast so alt wie ich, Ende zwanzig, wir waren jedenfalls beide schon seit sechs Jahren an der Uni. Ich als Sekretärin von Professor David Engelbrecht, dem klügsten, charmantesten und mit vierzig Jahren auch definitiv jüngsten Spezialisten für altenglische Literatur – der nebenbei gesagt auch noch als Model hätte durchgehen können –, und Juliane als Studentin. Professor Engelbrecht, der gerade aus seiner Tür schräg gegenüber trat, wedelte bei ihrem Anblick abwehrend mit den Händen und verschwand sofort wieder. Halt mir bloß diese Schlaftablette vom Leib, bedeutete das, und ich wusste, was ich zu tun hatte.

»Der Professor ist nicht da«, rief ich Juliane schon von weitem zu, damit sie gar nicht erst auf die Idee kam, sich hier häuslich niederzulassen.

»Ach nee, echt?«, sagte sie verwundert. »Das ist aber jetzt blöd. Ich hab da nämlich echt ein Problem mit meiner Magisterarbeit.«

»Tja, das ist echt blöd«, erwiderte ich und schielte auf meine Uhr. Ich hatte gleich Mittagspause. Meine Freundin Charlie wartete auf mich, sie wollte unbedingt mit mir ins Koketto gehen, diesen tollen neuen Klamottenladen, von dem wir so viel gehört hatten. »Da müssten Sie zu den Sprechzeiten wiederkommen.«

»Ach Mann, was mach ich denn jetzt? Sie sind doch seine Sekretärin?« Juliane ließ sich nicht abwimmeln. Sie fixierte die Tür von Professor Engelbrecht wie die Schlange das Kaninchen. Hoffentlich blieb er noch ein Weilchen, wo er war. »Wissen Sie vielleicht, wie oft man die Magisterarbeit verlängern darf? Ich schaff das echt nicht. Und ich glaube, das Thema liegt mir auch nicht so richtig. Der Streit der Eule und der Nachtigall in der frühmittelenglischen Literatur. Das ist so …« Sie zupfte bekümmert an ihrem Zeltgewand herum. »So vogellastig irgendwie. Ich meine, ich mag ja Vögel«, setzte sie hastig hinterher. »Ich bin Veganerin, ich liebe alle Tiere, aber eben echt nicht diese Nachtigallen im Mittelalter …«

Sie seufzte.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich es. Die Türklinke senkte sich. In wenigen Sekunden würde Professor Engelbrecht mit dieser schrecklichen Person zusammenprallen, sie würde ihre Krakenarme nach ihm ausstrecken und ihn in einen lähmenden Monolog über die fünfzehnte Verlängerung ihrer Magisterarbeit und über Geflügel im Mittelalter verwickeln. Zeit für meinen Einsatz.

»Der Professor ist leider erst morgen wieder da«, sagte ich laut.

Juliane zuckte zusammen und die Klinke hielt inne. Sie sah mich beleidigt an. »Na, dann muss ich wohl morgen noch mal kommen. Weiß echt nicht, ob ich das schaffe.«

Ich sah ihr nach, wie sie davonschlurfte. Zwei Sekunden später huschte Professor Engelbrecht aus seinem Zimmer.

»Ach, Frau Stein, wenn ich Sie nicht hätte!« Er zwinkerte mir zu, und wie immer grinste ich automatisch zurück. Ich konnte gar nicht anders.

»Wie kann ich das nur je wiedergutmachen?«

Oh, ich wüsste da eine ganze Menge, dachte ich. Du könntest endlich aufhören, mich »Frau Stein« zu nennen. Ich nenne dich ja auch David. In Gedanken jedenfalls. Du könntest mich auf einen Drink einladen, du könntest dich dabei zurücklehnen und die Arme hinter dem Kopf verschränken, wie du es immer tust, wenn du jemandem interessiert zuhörst, und mich aus deinen braunen Augen ansehen und mir was Nettes sagen. Was richtig Nettes. Zum Beispiel …

»Was lesen Sie denn da?« Er beugte sich neugierig vor.

Mist! In letzter Sekunde konnte ich meine Handtasche auf das rot-goldene Buch auf meinem Schreibtisch schieben. Nicht auszumalen, was David von mir denken würde, wenn er Das Geheimnis der Pesthure in meinem Besitz entdeckte.

»Darf das keiner wissen?« Er lächelte verschwörerisch und ließ sich auf dem Stuhl in der Zimmerecke nieder. »Für so was sollen E-Reader praktisch sein, hab ich gehört.«

Für so was? Ach du lieber Himmel, glaubte er etwa, dass ich Pornos las?

»Ich lese …« Warum fiel mir jetzt nichts Gescheites ein? Irgendwas Intellektuelles, Ernsthaftes und gleichzeitig natürlich Ungewöhnliches? Ich lese die Biografie der ersten nigerianischen Polarforscherin? Ich lese eine kritische Analyse unseres Zeitalters von Vladimir Irmskusk, einem russischen Immigrantensprössling in den USA und Mitglied von CIA, KGB und Taliban gleichzeitig? Ich lese … Panisch hetzte mein Blick durch den Raum und blieb an dem Poster neben Davids Tür hängen. Beowulf ein altenglisches Heldenepos. In meinem Gehirn verbanden sich offenbar bei diesem Anblick zwei Drähte zu einem neurologischen Kurzschluss, denn anders kann ich mir nicht erklären, warum ich »Nein, nein, ich lese gerade den Beowulf«, sagte.

»Sie lesen den Beowulf?« David zog beeindruckt die Augenbrauen hoch. »Na, Sie sind mir ja eine. Was haben Sie denn noch für Geheimnisse?« Er krempelte sich die Hemdsärmel hoch, strich sich kurz über das dunkle Haar, verschränkte die Arme hinter dem Kopf (sag ich doch!) und lächelte mich an. »Und? Wie finden Sie ihn?«

Ich betrachtete sein Kinn mit dem lässigen Dreitagebart und seine braunen Augen hinter der silbernen Brille. »Total umwerfend«, flüsterte ich.

»Umwerfend? Den Beowulf? Also das habe ich auch noch nie gehört. Was genau finden Sie denn da so umwerfend?«

»Alles«, antwortete ich rasch. »Ganz umwerfend. Schon so … alt. Und dennoch so … umwerfend.« Ich stockte.

»Hört«, zitierte er mit geschlossenen Augen. »Hört – denkwürdiger Taten von Dänenhelden! Ward uns fürwahr aus der Vorzeit berichtet …« Er öffnete die Augen. »Na, wie geht es weiter? Helfen Sie mir auf die Sprünge, Frau Stein.«

Testete er mich? Ich tat, als ob ich nachdachte, als ob mir die dreitausend Zeilen dieses Machwerks so gegenwärtig wären wie der Wetterbericht im Radio heute Morgen. David wartete immer noch, ich musste etwas sagen. Gestern erst hatte jemand seine Seminararbeit darüber abgegeben, worum war es da gleich gegangen?

»Im Dänenreich. Im … so … alten … und kalten …«, begann ich verzweifelt. Mein Handy klingelte. Gott sei Dank.

»Sorry«, formte mein Mund in seine Richtung.

»Lucie, Süße, was ist denn jetzt mit shoppen, wo bleibst du? Ich steh mir hier schon die Beine in den Bauch wie eine Nu…«

»Ich bin gerade in einer Besprechung mit Professor Engelbrecht«, ging ich laut dazwischen. Charlie. Meine beste Freundin. Konnte sie vielleicht mal normal laut reden?

»Mann, lass den Alten seine Bücher doch alleine entstauben und komm endlich. Meine Pause ist gleich um!«

Professor Engelbrecht zog leicht die Augenbrauen hoch. Hatte er etwa gehört, wie Charlie ihn gerade bezeichnet hatte? Fragend sah er mich an.

»Die Buchhandlung«, sagte ich schnell. »Sie haben endlich die … äh … vergriffene Shakespeare-Biografie bekommen, die ich bestellt habe. Die mit Fotos von ihm.« Oh Gott, was faselte ich da. Ich schnappte meine Handtasche samt Pesthure und machte mich eilig davon.

»Er ist nicht alt«, verteidigte ich Professor Engelbrecht wenige Minuten später gegenüber Charlie. »Er hat noch kein einziges graues Haar.«

»Garantiert gefärbt«, versetzte Charlie ungerührt. »So eitel wie der ist. Er hat einen Spiegel an seiner Wand, das habe ich gesehen, als ich das letzte Mal bei dir im Büro war. Welcher Mann guckt dauernd in den Spiegel, hm? Oliver hat nie in den Spiegel geguckt.«

»So sah er auch aus.«

Wir lachten beide laut auf bei der Erinnerung an Charlies Ex, der sich immer anzog, als ob er plötzlich erblindet wäre und hilflos im Dunkeln die erstbesten Sachen vom Boden aufgeklaubt hätte.

»Wo hast du übrigens geparkt?«, fragte Charlie.

»Geparkt?« Ich blieb stehen.

»Wir kommen am schnellsten mit dem Auto zum Koketto. Das ist nicht in der Innenstadt, sondern in der Kreuzstraße. Das ist Südvorstadt. Mit der U-Bahn müssen wir mindestens viermal umsteigen, mit dem Auto dauert es nur zehn Minuten.«

Das stimmte garantiert nicht. Charlie hasste einfach öffentliche Verkehrsmittel. Fischkonserven nannte sie die, weil die Leute da immer so eng standen. Lieber fuhr sie im Auto überallhin. Mit meinem Auto, versteht sich, denn Charlie besaß trotz ihrer Macke weder Auto noch Führerschein. Sie wollte so lange warten, bis es fahrerlose Elektroautos gab.

Allerdings musste ich zugeben, dass ich bei dieser geradezu sommerlichen Wärme heute auch keine besonders große Lust verspürte, mich in die U-Bahn zu quetschen, um dann an einer Halteschlaufe zu baumeln und die Achselhöhle von jemandem ins Gesicht gepresst zu kriegen.

»Na gut«, sagte ich lahm. »Aber in einer Stunde muss ich spätestens wieder da sein.«

»Ich doch auch, ich doch auch. Und wenn Professor Engelchen mal selbst was tippen muss, wird er es auch überleben.«

»Er hat viel zu tun!«

Charlie grunzte nur und riss kurz darauf die Beifahrertür meines Polos auf. Sie wusste, wie sehr ich in David verknallt war, und fand, dass er mich ausnutzte, aber Charlie hatte keine Vorstellung davon, wie schwer es war, Nein zu sagen, wenn er mich über den Brillenrand hinweg so charmant ansah. Oder wie hilflos er manchmal war. Ohne mich, meine ich. Da kriegte er gar nichts auf die Reihe, er brauchte mich einfach. Und außerdem arbeitete Charlie in einer Werbeagentur und hatte eine Frau zur Chefin, einen Hungerhaken um die fünfzig mit aufgespritzten Schlauchbootlippen, die nach Büroschluss – so Charlies Verdacht, denn wozu sonst hatte sie eine Schlafcouch im Büro – immer ihren jugendlichen Lover empfing und daher niemanden Überstunden machen ließ. Wie einfach war es da, mit einem Grinsen und einem heiteren »Schönen Feierabend« die Tür hinter sich ins Schloss krachen zu lassen!

»Kreuzstraße in der Südvorstadt«, murmelte ich, als ich mich angeschnallt hatte. »Wie genau komme ich da hin?«

»Du findest das schon, mein Schatz«, erklärte Charlie großzügig. Sie zündete sich eine Zigarette an, stieß genüsslich den Rauch aus und schloss die Augen. »Oder mach einfach dein Navi an.«

»Ich habe keins, das weißt du doch.«

»Ach so, ja. Warum eigentlich nicht?«

»Weil ich keins brauche. Hab bis jetzt noch alles im Leben gefunden.«

Fast alles. Außer dieser blöden Kreuzstraße, wie ich wenig später feststellen musste. Na ja, und so einigen anderen Orten. Im Grunde fast allen anderen Orten. Doch diesmal war es nicht meine Schuld, sondern die von hinterlistigen Bauarbeitern in Orange, die gerade auf der Hauptstraße Richtung Südvorstadt irgendwelche mit Sicherheit nutzlosen Straßenbauarbeiten starteten. Umleitung, na prima. Wenn ich da den Weg nicht fand, konnte ich auch nichts dafür. Und vor allem nicht, wenn die Umleitungsschilder plötzlich spurlos verschwanden und nichts und niemand mehr auf der Straße zu sehen war, außer einem alten Mütterchen mit Pudel. Entnervt hielt ich an.

»Entschuldigung?«, rief ich in ihre Richtung. »Wir suchen die Kreuzstraße?«

Die Frau wackelte mit dem Kopf. »Die Heustraße?«, krächzte sie.

»Kreuzstraße«, rief ich laut.

»Was soll es denn da geben?«

»Das Koketta.«

Die alte Frau blinzelte und zog die Stirn kraus. Sie dachte nach.

»Ein Laden für Klamotten«, half Charlie ihr auf die Sprünge.

»Karotten?«

»Klamotten!«, rief Charlie lauter.

»Karotten gibt's beim Lidl.«

»Klamotten!«, brüllte ich verzweifelt. Der Pudel fing als Antwort an zu bellen. Das hatte keinen Sinn hier. Meine Pause war in vierzig Minuten zu Ende.

»Danke«, rief ich über das Gekläff hinweg und fuhr weiter. Durch die Wilhelminenstraße, die Sieglindenstraße, die Hertastraße, die Amalienstraße, und gerade als ich einen leichten Hass auf Frauennamen zu entwickeln begann, rief Charlie »Da!« und zeigte aufgeregt nach vorn, wo ein blassblaues ramponiertes Straßenschild hing, auf dem man mit Mühe noch das Wort »Kreuz« ausmachen konnte.

»Hier soll das sein?«, fragte ich und sah mich ungläubig um. Ein alter Mann mit Gehwägelchen schob sich vor einem Bäckerladen in Zeitlupe vorwärts. Daneben gab es eine alte Kohlenhandlung, weiter nichts.

»Ja doch. Das ist die Kreuz…«, Charlie reckte ihren Hals, »…gasse«, endete sie lahm. »Shit.«

In der Tat. Denn nachdem ich endlich zurück auf die Hauptstraße zu den Presslufthammertypen und einen Passanten im Besitz seiner Hörkraft gefunden hatte, stellte sich heraus, dass die Kreuz Straße in der Nordvorstadt lag.

»Das schaffen wir nicht mehr«, musste selbst Charlie einsehen. »Komm, wir trinken wenigstens noch einen Kaffee. Und vorher gehen wir zu Media-Markt da drüben, und du kaufst dir ein Navi!«

»Das nützt mir auch nichts, wenn du dir die falsche Adresse aufschreibst!«

»Okay, eins zu null für dich«, sagte Charlie und kicherte vergnügt. »Aber dann kannst du alles auf das Navi schieben, und wir müssen uns nicht streiten.«

Ich schüttelte den Kopf, musste aber trotzdem lachen und folgte ihr in das Geschäft. Ich hatte überhaupt keine Lust, mir so ein Ding zuzulegen – und schon gar nicht, wenn es fast fünfhundert Euro kostete, ein Schnäppchen, wie uns ein junger Verkäufer im Anzug entgegenkrähte, nachdem wir den Laden betreten und uns den Navis genähert hatten.

»Wir suchen eher was Schlichteres«, sagte Charlie zu ihm und knuffte mich leicht in die Seite. Neudeutsch für Billigeres.

»Also ohne Touchscreen?«, fragte der Typ entsetzt. Anscheinend waren wir gerade in der »Lohnt-sich-nett-zu-denen-zu-sein«-Kategorie fünfhundert Euro nach unten gerutscht.

»Nee, das brauchen wir nicht«, antwortete Charlie für mich.

»Etwa auch ohne Bluetooth?«, fragte er, die Augen ungläubig aufgerissen. Er musterte uns schockiert. Offenbar gehörten wir für ihn nun zu der bedauernswerten Spezies, die ihren Weg noch anhand des Standes der Sonne fand und sich Nachrichten zutrommelte. Und offenbar hielt er uns für blöde Tussen, die ein elektrisches Gerät nach der Farbe auswählten, denn er sagte: »Na, in dem Fall haben wir sehr schöne Modelle in Pink da drüben, wenn Sie mal schauen wollen?«

»Nein«, wehrte ich mich rasch. Wollten wir nicht. Weder in Pink noch in Buttergelb. Eine Schnapsidee, hier reinzugehen. »Ich brauche eigentlich kein Navi, ich mag diese Quäkstimmen ohnehin nicht.«

»Ah!« Jetzt hellte sich sein Gesicht wieder auf. »Da hätte ich was für Sie. Haben wir ganz neu reinbekommen.« Er senkte geheimnisvoll die Stimme. »Die Hollywood-Serie.«

»Die Hollywood-Serie?«, fragte Charlie jetzt mit echtem Interesse, obwohl ich unauffällig an ihrem Arm zog. Sie ist so was von Promi-fixiert, weil sie nicht weiß, wer ihr Vater war. Ihre Mutter hüllt sich auch nach 28 Jahren noch in vornehmes Schweigen, und Charlie glaubt und hofft, dass es jemand Berühmtes war.

Der Typ lächelte. »So ist es. In der Hollywood-Serie weist Ihnen die Crème de la Crème von Hollywood den Weg. Zum Beispiel«, er musterte mich unverfroren und schätzte offenbar mein Alter, »das Modell Daniel Brühl.«

»Der ist doch nicht in Hollywood«, erwiderte ich und zog weiter an Charlies Arm.

»Und im Gegensatz zu mir steht sie sowieso auf ältere Männer«, erklärte Charlie ungefragt und lächelte den Verkäufer mit einem Augenaufschlag an. »Zum Beispiel ihren Che…«

»Charlie!« Ich riss ihr förmlich den Arm ab. Für einen Flirt war ihr echt jeder recht. Wirklich jeder! Selbst dieser Elektromarkt-Wichtigtuer mit Seitenscheitel!

»Aha, dann also das Modell George Clooney«, rief der Verkäufer triumphierend. Er grinste selig in Charlies Richtung.

»Wie meinen Sie das?«, fragte sie.

Der Verkäufer bedeutete uns mit einem albernen geheimnisvollen Winken, ihm zu folgen, und Charlie rannte ihm prompt hinterher. Ich stöhnte leise auf. In fünfzehn Minuten musste ich wieder im Büro sein!

Der Verkäufer spitzte die Lippen, hob den Zeigefinger wie meine alte Musiklehrerin damals, wenn sie den Startschuss für den blökenden Schulchor gab, und drückte entzückt auf den Bildschirm eines Navis.

»Willst du mal wieder nach Vegas? Sag Ja oder Nein. Dann fahr jetzt links ab. Und dann erste Ausfahrt rechts auf die A3«, schallte es plötzlich durch den Raum.

»Haha!«, machte Charlie.

»Was war denn das?«, fragte ich entgeistert.

»Das ist George Clooney. Mit einem Zitat aus Ocean's Eleven, falls Ihnen das was sagen sollte.« Der Verkäufer lachte herzlich bei dieser Vorstellung. »Alle Fahranweisungen des Navis sind von George Clooney. Großartig, nicht?«

»Oh Lucie, das musst du kaufen!« Charlie klatschte in die Hände.

Also manchmal könnte ich Charlie echt in den Hintern treten.

»Wie kann denn das die Stimme von George Clooney sein«, sagte ich langsam, »wenn der gute Mann gar kein Deutsch spricht?« Ich Spielverderber. Charlies Miene wurde augenblicklich lang.

Der Verkäufer lächelte immer noch, wenn auch etwas verkniffen. »Es ist natürlich seine deutsche Synchronstimme. Aber mit Zitaten aus seinen Filmen!«

»Aber dann müsste es doch, rein technisch gesehen«, ich betonte genüsslich das Wort technisch, »zum Beispiel das Modell Martin Umbach sein. So heißt einer seiner deutschen Synchronsprecher, wenn ich mich recht erinnere.« Ich lächelte ebenfalls.

»Nun gehen Sie vielleicht ein bisschen zu weit.« Der Verkäufer fixierte mich aus schmalen Augen.

Ich starrte gnadenlos zurück. »Finden Sie?«

»Kaffee«, piepste Charlie unsicher. »Wir wollten doch noch Kaffee trinken gehen.«

Dafür war es jetzt zu spät, dachte ich grimmig. Meine kostbare Pause war um. Und wenn ich mir überhaupt jemals im Leben so ein Ding kaufen würde, dann nur mit einer Stimme. Das Modell Professor David Engelbrecht.

24 Karat Gold

»Du brauchst endlich einen neuen Kerl«, meinte Charlie, als wir ein paar Tage später abends in einer der Strandbars am Fluss saßen, um unsere verpatzte Mittagspause nachzuholen. Jetzt war Anfang Oktober, und in den letzten Tagen hatte das Wetter sich noch von seiner besten Seite gezeigt. »Damit du nicht pausenlos deinen Prof anhimmelst.«

»Danke, aber ich bin solo ganz glücklich«, behauptete ich und betrachtete die Kübelpalme neben mir, die mit einer Lichterkette geschmückt war. Ich konnte mir nicht helfen, das Ganze hier hatte was von Weihnachten in der Südsee, aber vielleicht war es auch nur der komische Drink, den Charlie uns bestellt hatte. Sangria Laguna, irgendwie mit Nelken, und das schmeckte wie übrig gebliebener kalter Glühwein, in dem lasche Zitronenscheiben wie erschöpfte Seesterne herumschwammen.

»So etwas gibt es nicht«, behauptete Charlie. »Ich bin solo nur unglücklich. Und das schon zwei Wochen lang. Ich halte das nicht mehr aus. Ich verstehe nicht, wie du schon eine halbe Ewigkeit ohne Mann auskommst. Wie lange ist das mit Sebastian her? Zwei Jahre?« Sie schüttelte sich, als ob ihr die Vorstellung alleine das kalte Grauen bescherte.

»Es geht besser, als du denkst«, antwortete ich. »Und das mit Sebastian war ohnehin nie so richtig toll.« Sebastian war mittlerweile verheiratet, das erzählte ich ihr lieber nicht, ich wusste es auch erst seit drei Wochen. Es machte mir ja auch fast nichts aus. Nur ein ganz, ganz kleines bisschen. Eigentlich nur, weil ich mir damals, als ich mit ihm zusammen war, einen Brautkleidkatalog bestellt hatte. Einfach so eben, weil … Na ja. Den er blöderweise entdeckt hatte.

»Nee, echt jetzt – du willst so heiraten?«, hatte er mit abschätzigem Blick auf ein champagnerfarbenes Seidenkleid ausgerufen, wobei er das »Soooooo« in die Länge zog wie Kaugummi, und bescheuert gelacht. »Das ist doch total spießig. Vielleicht noch Porzellanscherben kehren und deinen Onkel Joachim eine Rede halten lassen und sämtliche Uralt-Tanten einladen? So einen Quatsch brauchen wir nicht, glaub’s mir. Wir sind nicht so.«

Er war aber nun offenbar doch so, denn das Hochzeitsfoto im Internet zeigte ihn blöde grinsend, von Konfetti bestäubt, mit etlichen noch blöder grinsenden Verwandten im Hintergrund. Seine frischgebackene Frau trug als Kleid eine Art gigantischen Schneeball in jungfräulichem Weiß. So viel zu dem Thema.

»Du sollst ja auch nicht gleich jemanden heiraten«, riss Charlie mich aus meinen Gedanken, die sie offenbar lesen konnte. »Nimm dir einfach ab und zu mal irgendeinen Kerl, nur so zum Spaß! Für die Hormone und so.«

»Ich will aber nicht irgendeinen, weder für die Hormone noch für so zum Spaß«, versuchte ich ihr zu erklären. »Ich will die echte, große Liebe. Da warte ich auch auf …« David, hätte ich beinahe gesagt. »… den Richtigen«, endete ich leise.

Charlie verdrehte die Augen. »Kleine«, sagte sie, obwohl sie ein Jahr jünger ist als ich, »manchmal ist der so zum Spaß vielleicht auch der Richtige. Oder er wird es nach einer Weile, weil du keinen Bock mehr hast, jeden Abend alleine bis zum Sendeschluss fernzusehen und zu viele Chips zu essen oder im Internet rumzulungern und Katzenvideos anzuschauen oder auf Dating-Sites mit dem evolutionären Schrott dieser Welt zu chatten oder einfach nur alleine im Bett zu liegen, wenn du Fieber und Grippe hast und keiner dir einen kühlen Umschlag macht, wenn deine Stirn ganz heiß ist. Oder wenn du generell alleine im Bett liegst und ganz heiß bist, schau mal die da hinten«, fügte sie übergangslos hinzu und zeigte auf drei Typen, die aus ihren Strandkörben zu uns herüberwinkten. »Kennst du die?«

»Nie gesehen.« Hoffentlich waren es keine Studenten von David, die sich von mir Prüfungsfragen erschleimen wollten. War alles schon vorgekommen.

Ich ignorierte die winkenden Typen und nippte an meinem vorweihnachtlichen Eisdrink. »Das schmeckt irgendwie seltsam, findest du nicht? Wollen wir was anderes bestellen?«

»Nein, auf gar keinen Fall. Wir trinken das jetzt aus oder kipp deins meinetwegen in die Palme, und dann sehen die da drüben, dass unsere Gläser leer sind und … na du weißt schon.« Sie verrenkte sich den Hals. »Ich hätte jedenfalls nichts gegen den Blonden dort, auch wenn es nur so zum Spaß ist.« Sie kicherte.

Die drei merkten, dass wir uns über sie unterhielten, und fingen an, sich aufzuplustern. Als eine Frisbeescheibe in ihre Nähe flog, hob einer sie auf und warf sie mit olympiaverdächtigem Schwung zurück, woraufhin sie auf Nimmerwiedersehen am Horizont verschwand und wahrscheinlich in der alten Spinnerei am Fluss irgendeine Scheibe ein schlug. Sie lachten albern, klatschten sich ab und stießen mit ihren Biergläsern an, nicht ohne vorher noch mal in unsere Richtung zu sehen und uns zuzuprosten.

Ich hätte in diesem Moment gehen sollen. Nach Hause zu meinem Buch. Zu Marie, der Pesthure wider Willen und zu Jakob, dem Bäckergesellen, der ihre wahre Liebe verkörperte. Der sie vor dem Pranger und genereller Ächtung und Demütigung retten würde, weil das damals so üblich war, dass Männer alles machten, um eine Frau zu erobern. Deshalb mochte ich historische Romane – ich litt mit, wenn die unschuldige Marte wegen böser Intrigen nicht das Weingut ihres Vaters erben konnte, und war glücklich, wenn Ritter Johann, der sie sieben Jahre lang aus der Ferne angebetet hatte, später im Buch im Vorbeireiten den Kopf ihres Widersachers absäbelte, nur um Marte glücklich zu machen. Und auch, weil in der Welt von früher alles möglich gewesen zu sein schien. Man glaubte an Schicksal, an Magie, an Wunder. So was gab es heutzutage einfach nicht mehr. Die Welt von heute war nüchtern und technikbestimmt, und die Beziehungen von heute hatten jeglichen Zauber verloren, daran konnte auch die Schwemme süßlicher Valentinskarten an jedem 14. Februar nichts ändern. Heute hieß es nur noch: »Ey, was trinkst’n du?« oder »Total heiß hier drin, wollen wir mal vor die Tür?« oder »Um die Uhrzeit gehörst du ins Bett! In mein Bett!« oder …

»Ey, was trinkt 'n ihr?« Das Dreiergespann stand plötzlich vor uns und grinste.

Und damit fügte sich eins zum anderen: ein weiterer Krug Sangria, an dem Charlie irgendwie Gefallen fand, ein paar Hefeweizen, eine Weißweinschorle nach der anderen, und die Sache war geklärt: Charlie war unmerklich immer näher an den Blonden gerutscht, der ohne Sinn und Verstand und hauptsächlich mit ihrem Ausschnitt kommunizierte, und ich saß zwischen den beiden anderen eingequetscht, von denen sich einer nach einer Weile diskret verdrückte und mich mit Nico zurückließ, der dies zum Anlass nahm, mir detailliert alles über seine letzte kaputtgegangene Beziehung zu erzählen.

»… und dann hab ich der Dani die Kette von meiner Oma geschenkt. Und was macht die damit? Verkauft sie auf dem Flohmarkt. Auf dem Flohmarkt! Das war ein Familienerbstück, verdammt noch mal. Ich hab ja da noch gedacht, dass ich die Dani heirate, aber die wollte ja nicht. Die wollte nur die Kette von meiner Oma, garantiert. Echtes Gold. Ich will nicht wissen, was die dafür gekriegt hat. Wenn ich sie geheiratet hätte, wäre die Kette ja noch in meinem Besitz geblieben, wenn du verstehst, was ich meine. So hatte ich das ja geplant, ich hab dafür das alte Auto von ihrem Bruder bekommen.«

»Heiraten wird völlig überbewertet«, gelang es mir zu sagen. Da redete er schon weiter.

»Ich will die aber nicht mehr heiraten. Ich will nur meine Kette zurück. 24 Karat Gold! Ich wette, du würdest so was nicht machen.«

»Was? Heiraten?«, fragte ich perplex.

»Nein! Ketten klauen.« Er rückte zu mir auf, und ich spürte seinen heißen Atem in meinem Nacken.

»Ich klaue generell nichts«, sagte ich und zog die Weihnachtspalme ein Stück heran. Wenn er noch mehr trank und ich die Palme immer weiterrückte, würde er irgendwann mit der Palme reden und gar nicht merken, dass ich nicht mehr dasaß.

»Ich bin total der Dumme. Ich hab ihr die Kette gegeben und 24 Karat Gold verloren. Aber – wenn ich die Kette zurückverlange, dann muss ich vielleicht das Auto zurückgeben. Und das brauche ich doch, ich bin auf Montage. Ich bin immer der Dumme, egal, was ich mache.«

»Damit könntest du recht haben«, sagte ich und schob die Palme diskret zwischen uns. »Ich komme gleich wieder.« Ich stand auf und entdeckte Charlie, die mittlerweile in einem der Strandkörbe hingebungsvoll mit dem Blonden knutschte. Ihre Handtasche stand noch bei mir, sie wusste ja, dass ich im Gegensatz zu ihr nie mit irgendeinem Typen auf und davon ging und dass ich auf ihre Sachen aufpasste. Jetzt aber hatte ich plötzlich einfach keine Lust mehr darauf. Kurzentschlossen schnappte ich die Handtasche, ging zu Charlie und stellte sie neben dem Strandkorb auf den Boden. Sie sah nicht mal hoch.

Der 24-Karat-Gold-Typ redete bereits mit einer anderen jungen Frau. Ich sah, wie er fachmännisch ihre Halskette begutachtete. Und tschüss, dachte ich. Aber er hatte mich auf eine Idee gebracht. Ich war schon ewig nicht mehr auf dem Flohmarkt gewesen. Morgen war Samstag, und wie es aussah, würde Charlie ohnehin vor Sonntag nicht zu sprechen sein. Warum nicht mal wieder einen Bummel über den Flohmarkt machen? In einem Café frühstücken und dann den Ramsch anderer Leute betrachten. Und vielleicht eine Perle in dem ganzen Plunder finden. Ein schönes altes Buch, irgendeine Erstausgabe. Vielleicht sogar auf Englisch. Irgendwas, worüber David sich freuen würde, wenn ich ihn am Montag damit überraschte.

Kleine Schätze

Auf dem Flohmarkt war morgens um neun erstaunlich viel los. Ich schlenderte umher und atmete die frische Morgenluft ein. An einem Stand mit altem Trödel blieb ich stehen. Zuckerdosen mit Röschen darauf, eine Vase mit abgeblättertem Gold, milchige Glasschüsseln, altes graues Silberbesteck, das garantiert einen stumpfen Geschmack im Mund hinterließ. Wer kaufte so etwas? Liebevoll restaurierte Stühle am nächsten Stand, die schon eher was für mich, aber leider viel zu teuer waren. Unbekleidete Puppen wieder einen Stand weiter, die irgendwie gruslig in einem Eimer lagen und neben einer Kiste Legosteinen auf ihre neuen Besitzer warteten. Aus den Augenwinkeln nahm ich auf einmal wahr, dass jemand hinter mir stand. Ich trat zur Seite, um Platz zu machen, doch als ich mich umdrehte, war da keiner. Nur die vielen vorbeischlendernden Flohmarktbesucher mit ihren Kinderwagen und Einkaufstüten. Komisch. Wahrscheinlich war ich noch verkatert von gestern. Oder? Ich sah mich suchend um. Direkt neben mir verkaufte eine junge Frau selbstgenähte Röcke. Herrliche, altmodisch lange Röcke wie aus dem letzten Jahrhundert – aber wann sollte ich die anziehen? Zur Arbeit? Wohl kaum. Ein kleiner Hund rannte durch die Menschenmassen, Kinder verfolgten lachend einen Ball, ein Biobäcker pries lautstark sein frisches Brot an. Ich schloss einen Moment lang die Augen. Man konnte sich fast vorstellen, in einem anderen Zeitalter zu leben. Der Verkehrslärm aus der Innenstadt war hier im Park nicht mehr zu hören, und im Moment klingelte auch kein Handy, nicht mal Musik schallte von irgendwoher.

»Ich glaube, dein Freund sucht dich«, sagte die junge Frau mit den Röcken plötzlich zu mir.

»Wie bitte?« Ich sah mich überrascht um.

»Na, so was.« Sie zuckte mit den Schultern. »Jetzt ist er auf einmal weg. Dieser Mann in dem langen roten Mantel.«

»Kenne ich nicht.«

Sie blinzelte verwirrt. »Der hat dir aber so ein Zeichen gemacht.«

»Muss ’ne Verwechslung sein.«

»Wahrscheinlich. Nur fünfzig Euro, die Röcke«, sagte sie. »Ist Handarbeit, so was findest du nirgendwo, alles Unikate.«

»Danke, heute nicht.« Ich lächelte ihr entschuldigend zu und ging weiter. Was hatte sie da eben gesagt? Ich sah mich vorsichtshalber noch einmal um. Ich konnte es nicht genau definieren, aber ich hatte das Gefühl, als ob mich jemand beobachtete. Jemand in einem roten Mantel? An so einem milden Herbsttag? Ein Bademantel vielleicht? Ein Verrückter, der aus dem Krankenhaus abgehauen war? Mein Onkel Joachim hatte immer einen rostroten Bademantel getragen, fiel mir jetzt ein. Meine Schwester Romy und ich hatten deswegen als Kinder geglaubt, dass er mit dem Weihnachtsmann verwandt war, und waren als Teenager überzeugt gewesen, dass er irgendwie in der Pornoindustrie arbeitete. Als Erwachsene wurde uns dann klar, dass er den labberigen Bademantel als Protest gegen den Klamottenkaufrausch meiner Tante trug. Aber Onkel Joachim hier auf dem Flohmarkt? Absurd. Nach letztem Stand der Dinge war er frühpensioniert, hatte Angst vor einer Invasion der Außerirdischen und verließ kaum noch das Haus.

Wahrscheinlich irgendein durchgeknallter Hippie. Als ich mich umsah, stellte ich nämlich fest, dass ich mich von den Vasen und Schüsseln, gebrauchten Babysitzen und Kinderwagen, Münzen und Briefmarken, russischen Offiziersmützen und alten CDs wegbewegt hatte und mich nun vollends in dem Bereich des Marktes befand, in dem es Klamotten und exzentrische Ohrringe und Lavendelsäckchen und selbstgemachte Seife gab, eine Kartenlegerin, die sich gerade eine Marlboro aus der Packung schüttelte, und einen jungen Mann, der hölzerne Marionetten verkaufte. Aber warum zum Teufel hatte ich immer noch das Gefühl, dass mich jemand beobachtete?

»Lucie! Na, so was.«

Ich blieb abrupt stehen. Beinahe wäre ich in das Paar hineingelaufen. Sebastian. Mit seiner Frischvermählten.

»Hallöchen«, sagte diese und strahlte mich an.

»Hallo«, erwiderte ich verdattert.

»Na, so was, Mensch. Das gibt es doch nicht, was um alles in der Welt machst du denn hier?«, fragte Sebastian, als ob es irgendwie komplett abartig wäre, mich hier zu treffen. Mir fiel in diesem Moment ein, dass ich ihn seit unserer Trennung nur ein einziges Mal gesehen hatte. Im Baumarkt, und er hatte es mit einem Stapel Regalbretter unwahrscheinlich eilig gehabt.

»Das ist…«, begann er.

»Lucie, ich weiß«, sagte seine Frau fröhlich. »Hab dich gleich vom Foto erkannt. Die Ex.« Sie lachte ein bisschen zu laut.

Ich betrachtete die beiden – sie trugen identische blaue T-Shirts, auf denen »Just married« stand, ihres spannte, seines schlackerte. Ich stellte fest, dass er mir wirklich, wirklich egal war.

»Glückwunsch.«

»Danke.« Er lächelte geschmeichelt. »Und du? Auch in festen Händen? Mit, wie hieß er doch gleich …«

Als ob Sebastian sich nicht an Davids Namen erinnern konnte! Dabei war er der Grund für unsere Trennung gewesen. Weil ich die beiden angeblich dauernd miteinander verglichen hatte. Wahrscheinlich hatte Sebastian ja recht. Aber an David kam nun mal niemand heran. »Professor David Engelbrecht«, sagte ich mit fester Stimme und beließ es dabei. Mehr gab es nicht zu berichten. Leider.

Sebastian durchschaute mich sofort. Er grinste.

»Der Basti und ich …«, setzte seine Frau an, aber ich schnitt ihr das Wort ab, denn in diesem Moment entdeckte ich etwas in Sebastians Hand. Etwas Rotes. War das eine Jacke? Ein Mantel?

»Lauft ihr mir schon eine Weile hinterher?«

»Nee«, sagte Sebastian. »Wir haben dich eben erst entdeckt.«

»Ich hab gerade zu Basti gesagt, dass man auf dem Flohmarkt ’ne Menge Geld sparen kann, wenn man richtig sucht, und dann haben wir dich getroffen. Suchst du was Bestimmtes? Da hinten haben sie total schöne Jugendstil-Kacheln, die werden wir kaufen, für unser Haus, also wenn wir dann mal unser Haus ausgebaut haben und dann …«

Ich hörte nicht mehr zu, denn in diesem Moment sah ich den Stand. Ich konnte nicht genau erkennen, was dort verkauft wurde, aber der Mann hinter dem Stand trug einen langen rostroten Mantel mit schwarzem Kragen, hatte einen Hut auf und eine Pfeife im Mund und zwinkerte mir zu. Dann winkte er mir mit dem Finger. Komm näher. Wer war der Typ? Ich hatte ihn noch nie zuvor in meinem Leben gesehen, aber er sah aus, als wäre er einem meiner historischen Romane entsprungen. Wie ferngesteuert setzte ich mich in Bewegung.

»Also, tschüss dann«, rief Sebastians Frau mir nach. Sie schien überzeugt, dass ich sie beneidete, und grinste mich mitleidig an.

»Tschüss.« Ich lächelte, bis ich fast einen Krampf bekam.

Als die beiden weitergingen, sah ich, dass auf Sebastians Rücken »Bräutigam« und auf dem seiner Frau »Braut« stand. Wahrscheinlich, damit man sie nicht verwechselte. Egal, sollten sie glücklich werden. Ich ging auf den Mann im Mantel zu.

»Einen schönen guten Morgen«, begrüßte er mich. »Ich glaube, ich habe, wonach du suchst.«

»Wonach suche ich denn?«, fragte ich verblüfft. Von nahem sah er viel älter aus, mindestens … fünfzig. Oder sechzig? Es war schwer zu sagen. Wieso duzte er mich? War das der Mann, der mich beobachtet hatte? »Sind Sie mir eben irgendwie gefolgt?«, fragte ich gleich hinterher.

»Aber keine Spur.« Für den Bruchteil einer Sekunde sah er aus, als ob er sich amüsierte. »Ich kann doch meine kleinen Schätze nicht alleine lassen.«

Seine Schätze … Ich betrachtete den merkwürdigen Krimskrams auf seinem Tisch. Was auf den ersten Blick aussah wie Ramsch, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als wahre Fundgrube. Da war ja so eine Kaffeemühle, wie ich sie schon immer haben wollte! Und so schöne altmodische Lederhandschuhe mit Knöpfchen. Und eine wunderschöne goldene Kette. Vielleicht die vom 24-Karat-Typen? Ich musste unwillkürlich grinsen.

»Gefällt sie dir?«, fragte der Mann. »24 Karat Gold. Ein Familienerbstück.«

Was? Was war das eben? Ich starrte ihn an.

»Oder ein schönes Buch?« Er blätterte in einem alten Buch mit blauem Einband. »Die Geschichte der Angelsachsen. Erstausgabe von 1692. Mit Kupferstichen. Was für Sammler oder Akademiker.«

Ich schluckte. Was ging hier vor sich? Würde gleich jemand hinter einer der Imbissbuden hervorspringen und »Willkommen bei Verstehen Sie Spaß!« rufen?

»Sicher viel zu teuer«, stammelte ich.

»Ich mach dir einen guten Preis. Du magst doch historische Bücher, stimmt's?« Da war so ein Funkeln in seinen Augen. »Hier ist auch eine gut erhaltene englische Ausgabe von Beowulf aus dem Jahr 1942. Eine kleine, feine Rarität. Zum Selberlesen oder Verschenken. Aber nur an Leute, die es auch zu schätzen wissen.« Er lächelte freundlich.

Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich überlegte, was ich heute früh gegessen und getrunken hatte. Nichts Besonderes – Cappuccino und Croissant. Nichts, was Halluzinationen hervorrief. Das hier konnte kein Zufall sein. Das hier musste ein Zufall sein!

»Ke… kennen wir uns?«, stotterte ich, um einen neutralen Tonfall bemüht.

»Noch nicht.« Wieder das Lächeln. »Also kein Buch heute? Gut. Dann vielleicht lieber …«, er ließ den Blick suchend über seinen Tisch schweifen, »… das hier?« Er hielt etwas hoch. Ein Kästchen. Ein … Navi?

Ich schnappte nach Luft, dann fing ich an zu lachen. »Das ist nicht wahr, oder?«, fragte ich. »Okay, wo ist die versteckte Kamera? Soll das hier irgendwie ein Witz sein? Ist das Navi etwa das Modell George Clooney?«

Der Mann wirkte verwundert. »George wer? Nie gehört. Das hier …«, er drehte das Navi um und blickte auf die Rückseite, »… ist das Modell Ellstein. Es ist auch nicht neu, hat schon vielen Leuten gute Dienste erwiesen.«

Jetzt kam ich mir ziemlich blöd vor. Natürlich war das ein ganz großer Zufall, was denn sonst? Wie sollte dieser Mensch irgendetwas von mir wissen? Dinge, die niemand außer mir selber wusste, zum Beispiel diese alberne Sache mit dem Beowulf. Die hatte ich schließlich niemandem erzählt! Der Typ hier war skurril, aber harmlos und verkaufte ein Sammelsurium von Dingen, die zufällig meinen Nerv trafen.

Und darum und um die Sache jetzt irgendwie zu beenden, sagte ich: »Ich nehme das Navi, wenn es nicht zu teuer ist. Ich hätte mir schon längst mal eins anschaffen sollen.«

»Gute Entscheidung. Es ist nicht zu teuer, ist ja schon ein paar Jährchen alt, zehn Euro.« Er sah sich kurz um und senkte dann die Stimme. »Und ich glaube, von allen Leuten hier brauchst du das Navi am meisten.«

Was für eine ulkige Bemerkung. Ich reichte ihm das Geld und nahm das Navi in Empfang.

»Möge es dich an dein Ziel bringen«, sagte der Mann noch und hatte wieder das Funkeln in den Augen. Ich lächelte höflich, bedankte mich und schlenderte weiter. Wie gesagt, ein bisschen schrullig, der Gute, aber liebenswert. Auf jeden Fall kein Abzocker. Vorausgesetzt natürlich, das Ding funktionierte überhaupt. Mist, wie hatte ich so gutgläubig sein können? Secondhand-Sachen konnten völliger Schrott sein! Ein paar Stände weiter blieb ich stehen und begutachtete hastig meinen Neuerwerb.

»Na? Was Schönes gekauft?«, fragte eine Frau neben mir, die selbstgestrickte Mützen verkaufte. »Hier gibt's auch was Hübsches. Der nächste Winter kommt bestimmt.«

Ihre Stimme rauschte an mir vorbei. Ich blickte auf das harmlose kleine Kästchen in meiner Hand. Metallisch grau und so gar nicht zu den anderen Dingen am Stand dieses Mannes passend, obwohl, wenn ich es mir recht überlegte, nichts irgendwie zueinander gepasst hatte. Es gab keinen Zusammenhang. Es sei denn … Es sei denn, man hieß Lucie Stein. Und man schaute auf die Rückseite des Navis und las: Modell L. Stein.

»Spinn ich jetzt?«, flüsterte ich. Ich drehte mich um. Der Mann und sein Stand waren nicht mehr zu sehen.