Jenseits der Welt
Es ist traurige Gewissheit – nach dem Absturz des Flugzeugs von Popstar Kevin Jordan Sky gibt es keine Überlebenden. Die Cessna war am Montag der vorherigen Woche kurz vor Sonnenuntergang bei einem Flug von Chicago nach Detroit über einem Feld abgestürzt. Neben dem Piloten Trevor Swanson und seiner langjährigen Managerin Angelina Brady war auch der Sänger an Bord der Maschine. Der 45-jährige Engländer war mit Brady und seinen Bandmitgliedern auf einer Werbetour gewesen. Der Rest der Band Skylane Avenue hielt sich bereits in Detroit auf. Schuld an dem Unglück soll ein Defekt an der Maschine gewesen sein. Die Plattenfirma SoundMagic von Kevin Jordan Sky bestätigte nun den Tod des bekannten Popstars und Angelina Bradys. Der Leichnam des Stars ist inzwischen überführt. Den genauen Termin der Beerdigung möchte die Familie geheim halten, bedankt sich aber für die öffentliche Anteilnahme.
Auch Skys letztes Solo-Album „Hope Island“ und das ein paar Monate zuvor erschienene Bandalbum „Magic in the Sky“ waren ein weltweiter Erfolg. Aus Insiderkreisen wurde laut, dass ein weiteres Album bereits in Planung war. Seit einigen Jahren trat Kevin auch als Solokünstler auf. In einem Interview sagte er dazu, er wolle sich verstärkt selbst verwirklichen. Immer wieder gab es deshalb Gerüchte über Differenzen mit der Band, die von beiden Seiten jedoch jedes Mal vehement dementiert wurden.
Eine Sprecherin von Skylane Avenue sagte, Kevins Tod habe ein tiefes Loch in ihre Herzen gerissen. In Gedanken seien sie bei den Angehörigen Skys, sowie bei denen seiner Managerin Angelina Brady. Die 50-jährige Angelina Brady hinterlässt ihren Ehemann. Besonders betroffen zeigte sich auch Thelma Matthews, die Cousine Skys. „Ich werde Kevin nie vergessen und immer im Herzen tragen, genau wie seine Musik“, sagte sie auf einer Pressekonferenz. Die weiteren Familienmitglieder des Sängers baten ausdrücklich um Ruhe. Insider berichten, dass die Familie in tiefer Trauer sei.
Violet McLovely atmete tief durch und drehte das Radio leiser. Sie lehnte sich nachdenklich in ihrem Schaukelstuhl zurück, der am Fenster ihres kleinen Zimmers stand. Regentropfen trommelten gegen die Scheibe, als würde auch der Himmel über den Tod von Kevin Jordan Sky weinen. Ihre Mutter hätte es mit Sicherheit getan. Sie war immer ein großer Fan von Sky gewesen. Vielleicht konnte sie ihn nun im Himmel treffen, dachte Violet. Der Gedanke brachte sie zum Lächeln. Sie war glücklich, dass sie ihrer Mutter vor deren Tod mit dem Besuch eines Konzertes von Sky in London einen letzten großen Wunsch erfüllen konnte. Vom ersten bis zum letzten Ton war Melody hin und weg gewesen. „Ich glaube, dieses Mal ist er wirklich von dem Teufelszeug weggekommen“, rief sie ihrer Tochter über die dröhnenden Bässe ins Ohr. „Ich wünsche es dem gutaussehenden Mistkerl.“ Sie hatte gelacht und ihre Augen hatten geschimmert wie feuchte Perlen.
„Alles gut, Mum?“, hatte Violet gefragt.
„Ja, alles gut. Mach dir keine Sorgen.“
Melody hatte gelächelt, ihrer Tochter tief in die tannengrünen Augen geblickt und mit ihrer weichen Stimme hinzugefügt: „Du bist etwas ganz Besonderes, Violet. Lass dir nie was anderes einreden. Okay?“
„Ich versuche es, Mum!“
Ein halbes Jahr später war Melody gestorben. Immer wieder beschlich Violet seitdem das Gefühl, dass ihre Mutter ihr noch etwas Dringendes hatte sagen wollen. Ihre Augen hatten so müde gewirkt, als sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Der Krebs hatte die Macht über ihren zierlichen Körper übernommen und Melody konnte ihm letztendlich nicht standhalten. Doch die Erinnerungen, die Violet an ihre Mutter hatte, konnte er ihr nicht nehmen. Sie beide waren immer ein unschlagbares Team gewesen und hatten einander Halt und Stärke gegeben. Wenn sie zusammen waren, war es Violet leicht gefallen, die kleinen Dinge des Lebens zu genießen, einen Spaziergang durch den Hyde Park etwa oder eine Fahrt im London Eye. Auch wenn sie nie viel Geld hatten und Melody nur Verkäuferin in einem Modegeschäft gewesen war, hatte sie immer versucht, ihre Tochter zu verwöhnen. Die kleine Wohnung am nördlichen Rande Londons, in der sie zur Miete gewohnt hatten, war eine richtige Wohlfühloase gewesen.
Es war Violet schwer gefallen, ihr Zuhause nach Melodys Tod zu räumen. Doch alleine hätte sie die Miete dafür niemals aufbringen können, denn nach ihrem Schulabschluss hatte sie nur einen Kellnerinnenjob ergattern können. Doch das war immerhin besser als kein Job, sagte sie sich. Von dem Erbe, das ihr ihre Mutter hinterlassen hatte, hatte sie gerade mal die Beerdigung bezahlen können. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte die neu heranschwappende Welle des Schmerzes auszubremsen.
Seit ein paar Monaten wohnte Violet nun bei den einzigen Verwandten, die sie noch hatte. Das waren ihre Tante Angela und ihr Onkel Marcus. Die beiden hatten eine kleine Dachgeschosswohnung in Shoreditch, im East End Londons. Nach Melodys Tod hatten Angela und Marcus Violet widerwillig bei sich aufgenommen, da Melody sie darum gebeten und Violet versprochen hatte, einen Großteil der Haushaltsdienste zu übernehmen und sich an den Lebenshaltungskosten zu beteiligen. Das war immerhin weniger, als sie für eine Wohnung oder ein WG-Zimmer hätte zahlen müssen. Das kleine Zimmer in der Wohnung ihrer Tante und ihres Onkels, das sie bewohnte, reichte ihr, bis sie einen richtigen Job gefunden hatte, oder vielleicht sogar eine Ausbildung als Konditorin beginnen konnte. Dann wollte sie sich auf jeden Fall etwas eigenes suchen.
„Aufstehen, Schlafmütze, oder willst du deinen Job verlieren?“, rief Angela und klopfte gegen die Tür.
Seufzend strich sich Violet zwei Strähnen ihres kurzen, kastanienbraunen Haares aus der Stirn und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war noch genug Zeit. Außerdem war sie schon seit zwei Stunden wach. Doch um einer Diskussion aus dem Weg zu gehen, rief sie: „Danke, ich komme gleich!“
Schnell schaltete Violet das Radio ab, erhob sich aus dem Schaukelstuhl, ging zu ihrem Schreibtisch hinüber und strich über das Bild ihrer Mutter, das dort in der Ecke stand. Ihre sanften grünbraunen Augen schienen selbst auf der Fotografie strahlend zu leuchten. Wie Violet hatte sie ein zartes, schmales Gesicht gehabt, mit einem Grübchen auf der rechten Wange, wenn sie lächelte.
„Du hast die gleichen weichen Gesichtszüge wie deine Mum“, hatte Violets Tante einmal gesagt. Violet wollte sich schon freudig für das Kompliment bedanken, als Angela höhnisch hinzugefügt hatte: „Du müsstest dir nur endlich mal die Haare wachsen lassen und dir andere Klamotten zulegen. So siehst du fast aus wie ein Junge! Na ja, du warst schon immer etwas seltsam, schon seit deiner Geburt. Ich meine, du kamst praktisch aus dem Nichts. Melody hat keinem von ihrer Schwangerschaft erzählt und dich eines Tages plötzlich mitgebracht. Davor war sie monatelang untergetaucht. Mich würde wirklich interessieren, wer ihr das Ei ins Nest gelegt hat.“
Violet hatte so getan, als hätte sie nichts gehört.
Auch wenn das Wetter noch scheußlich war, zog Violet schwarze Shorts und ein neongelbes Shirt aus dem kleinen Schrank und ging in das Gemeinschaftsbad am Ende des Flures. Die Wände waren mit Blumenkacheln gefliest und erinnerten an die Hippiezeit der 70er.
Violet starrte in den Spiegel und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, das, wie sie hoffte, ihre Augenringe mildern würde. Wieder einmal war sie letzte Nacht unter Tränen eingeschlafen.
„Du fehlst mir, Mum“, flüsterte sie.
Sie musste an die Beerdigung denken. Wenn sie ehrlich mit sich war, hatte sie bis zuletzt gehofft, ihr Vater würde dort auftauchen und sie könnte ihn endlich kennenlernen. Doch Melody hatte seinen Namen mit ins Grab genommen. Nur einmal hatte sie angedeutet, dass er von ihr, seiner Tochter, wusste. Vielleicht hatte Violet es aber auch falsch verstanden. Nur bei einer Sache war sie sich sicher, dass ihre Mutter bei ihren Entscheidungen immer ihr Bestes im Sinn gehabt hatte.
Das kleine Café in Shoreditch war brechend voll. Violet hatte Glück gehabt, sie kam gerade noch rechtzeitig. Elisabeth Lightly, Betty genannt, die Inhaberin des Graffiti-Rooms, duldete keine Schlamperei und hasste Unpünktlichkeit wie die Pest. Obwohl Violet schon seit einiger Zeit für sie arbeitete, bei den Gästen beliebt war und noch nie einen Teller oder eine Tasse zerbrochen hatte, wurde sie von der dicklichen, rothaarigen Betty von der Theke aus mit Adleraugen beobachtet. Sicher jonglierte Violet das Tablett voller Kaffeetassen und Wassergläser zwischen den Tischen. Die Zeit verging schnell, denn sie hatte alle Hände voll zu tun. Sie wusste trotz Bettys kritischem Blick, dass sie ihren Job gut machte, doch tief in ihrem Inneren hatte sie andere Träume und sehnte sich nach einer besseren Zukunft.
Nach ein paar Stunden, in denen sie fast ununterbrochen hin und her gerannt war, entdeckte sie aus dem Augenwinkel Jack vor der großen Fensterwand des Cafés, der ihr zuwinkte. Jack Ripper, Spitzname Jack the Ripper, war zwei Köpfe größer als Violet, schlaksig und hatte Augen, deren Blau dem Gefieder eines Eisvogels glichen. Außerdem war er schwul und für sie der beste Freund der Welt. Wie immer hatte er seine Gitarre geschultert, ohne die er selten das Haus verließ. Es war nicht das einzige Instrument, das er beherrschte. Jack konnte auch verteufelt gut Keyboard spielen.
Lächelnd zwinkerte Violet in seine Richtung und servierte einem älteren Ehepaar zwei Cappuccinos mit kakaobestäubten Herzen.
„Wie hübsch“, sagte die Dame und bedankte sich.
Auf dem Weg zurück zur Theke sah sie noch einmal nach Jack, der auf seine Armbanduhr tippte. Heimlich warf sie einen Blick zur Glastür, über der eine große Uhr vor sich hin tickte. Kurz vor drei. Ihre Schicht war also bald zu Ende, und sie bedeutete Jack mit einem Fingerzeichen, dass sie gleich kommen würde. Schon den ganzen Tag freute sie sich auf die freie Zeit mit ihm. Jack wohnte allein in einer kleinen Zweizimmerwohnung, im Dachgeschoss eines alten Mietshauses, ganz in der Nähe ihrer Tante. Violet und er kannten sich noch aus Schulzeiten und sie waren füreinander ein Familienersatz.
Jack hatte kaum noch Kontakt zu seinen Eltern. Nachdem er damals die Schule abgebrochen hatte, um an einem Gesangswettbewerb im Fernsehen, teilzunehmen, wollten sie nichts mehr von ihm wissen.
„Was für ein Irrsinn. Hast du tatsächlich geglaubt, du würdest das Ding gewinnen?“, hatte ihn sein Vater angebrüllt.
Zumindest hatte er es bis ins Halbfinale geschafft. Violet hatte bis zum Schluss mitgefiebert. Das Rennen machte ein Mädchen aus London und Jack war wieder in der Versenkung verschwunden.
„Es stimmt wirklich, dass die Medien schnelllebig sind. Heute gefeiert, morgen vergessen, übermorgen begraben“, war Jacks Resümee gewesen.
Nach der Show waren Stimmen laut geworden, die behaupteten die Sache wäre von vornherein hinter den Kulissen entschieden gewesen. Seitdem wollte Jack nichts mehr von Castings oder Shows dieser Art wissen.
Betty Lightlys lautes Räuspern riss Violet aus ihren Gedanken. Schnell machte sie sich auf den Weg zu ihrer Chefin, die sich gerade ein großes Stück Schokoladenkuchen in den Mund schob. Kauend zeigte sie nach draußen. „Dein Freund soll dich nicht immer ablenken. Es ist schon das fünfte Mal, dass ich ihn direkt vor dem Café herumlungern sehe.“
„Er lungert nicht herum. Er wartet nur auf mich, Mrs Lightly“, stellte Violet klar.
Betty zog die zu einem dünnen Strich gezupften Brauen nach oben und reckte ihren Kopf. „Ein hübscher Junge ist er ja. Nur diese blonden Rastalocken, die sollte er sich abschnippeln lassen. Wie lange seid ihr denn schon zusammen?“
Es war kein Geheimnis, dass Betty ziemlich neugierig war.
„Wir sind nicht zusammen. Aber süß ist er wirklich.“ Violet musste schmunzeln. „Für mich ist er wie ein Bruder.“
„Meine Güte, du bist doch nicht etwa lesbisch? So was dulde ich hier nicht.“ Erschrocken riss sie den Mund auf. „Trägst du deshalb immer Jungsklamotten?“
„Nein, das nicht. Aber ich habe auch nichts gegen Lesben und Schwule. Es ist ja keine Krankheit.“
Soeben hatte Mrs Lightly weitere Sympathiepunkte bei ihr verspielt.
„Nun ja. In den letzten Jahren ist dieser Zustand zu einer Modeerscheinung geworden, wie mir scheint. Einfach lächerlich.“ Angewidert warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Drei Minuten hast du nachzuarbeiten“, sagte sie spitz.
„Warum?“, fragte Violet und zog überrascht die Brauen zusammen.
Ihre Chefin zuckte mit den Schultern. „Schwätzen wird nun mal abgezogen.“
Violet schüttelte den Kopf, erwiderte aber nichts und machte sich wieder an die Arbeit. Jack hatte sich inzwischen auf einer der Bänke auf der anderen Seite der Straße niedergelassen, als hätte er gehört, was Betty gesagt hatte. Lässig schlug er die Beine übereinander und zupfte an seiner Gitarre.
Als ihre Schicht zu Ende war, nahm Violet beschwingt ihre weinrote Schürze ab, verabschiedete sich ordnungsgemäß von Betty und flüchtete nach draußen. Inzwischen hatte sich ein kleines Publikum vor Jack versammelt und lauschte seiner Musik. Jack spielte einfach wunderbar, es faszinierte sie jedes Mal. Lächelnd mischte sie sich unter die Leute. Jack spielte gerade einen Titel von Kevin Sky. Black Devils war einer der Songs, die er als Solokünstler aufgenommen hatte, und sie mochte das Lied besonders gern. Es handelte von den Drogenproblemen, mit denen Sky immer wieder gekämpft hatte. Violet wusste, dass er schon ein paar mal nah an einer Überdosis gewesen war und nur durch viel Glück überlebt hatte. Vor seinem Tod sollte er jedoch bereits ein paar Monate clean geblieben sein. Umso dramatischer, fand Violet, dass es nun ein Flugzeugabsturz gewesen war, der ihn das Leben kostete. Die Journalisten hatten sich überschlagen mit ihren Spekulationen, was sich in den Monaten vor Skys Tod verändert hatte. Anscheinend hatte er auch privat wieder neue Hoffnung geschöpft, denn sein neuer Lebenspartner Brian June hatte sich nach einer Trennung wohl doch wieder mit ihm versöhnen wollen. Die Gründe, warum sich das Paar überhaupt getrennt hatte, blieben weiterhin im Dunkeln. Brian wollte sich dazu nach wie vor nicht äußern. Der Tod des beliebten Popstars war derzeit nicht nur in England in aller Munde.
„Hi Violet!“ Jack zwinkerte ihr zu.
Vier Mädchen protestierten lautstark, als er mit dem Spielen aufhörte.
„Gott, ich werde Kevin Sky so vermissen“, sagte eine Schwarzhaarige und legte träumerisch den Kopf schief. Die anderen nickten zustimmend und tupften sich demonstrativ die Tränen aus den Augenwinkeln.
„Spiel weiter!“, bat auch Violet. Jack lächelte in ihre Richtung und stimmte einen neuen Song an, dieses Mal von Ed Sheeran. Die Leute klatschten, ein Mädchen kreischte begeistert.
Auch die anderen erwachten aus ihrer Trauer. Violet war stolz auf Jack, dass seine Art, die Songs zu spielen, die Leute derart mitriss. Er hatte es wirklich – dieses gewisse Extra. Sie wusste, was ihm die Musik bedeutete. Sie war nicht nur ein Hobby, sondern sein Leben. Ehrlich gesagt ging es ihr nicht anders. Allerdings gab es da mehrere Haken, die den Traum einen Traum bleiben ließen. Violet wiegte sich im Takt der Musik und sang leise mit.
„Ja! Lauter! Komm schon, Violet“, rief Jack und zog auffordernd die Brauen nach oben. Verlegen lachend lehnte sie ab. Laut vor anderen zu singen, außer vor Jack und früher ihrer Mutter, war unmöglich für sie. Die Geburtstagsfeier ihrer Tante Angela vor ein paar Jahren, an der sie es probiert hatte, war ihr eine Lehre gewesen. Als sie nach vorne getreten war und in die erwartungsvollen Gesichter blickte, wollte kein Ton aus ihrer Kehle kommen. Von Anfang an hatte sie sich unwohl gefühlt. Die Einzige, die sie danach getröstet hatte, war ihre Mutter gewesen. Angela und die anderen Gäste hatten flüsternd über sie geredet und über die Blamage gelacht, zumal Melody die Stimme ihrer Tochter zuvor bis in den Himmel gelobt hatte.
„Mach dir nichts draus. Irgendwann zeigst du es ihnen. Ich weiß, dass du wundervoll singst“, hatte ihre Mutter gesagt.
Kaum jemand aus Tante Angelas und Onkel Marcus’ Bekanntenkreis war von Violets merkwürdigem Auftritt überrascht gewesen. Das scheue Mädchen in ihren Jungsklamotten war ja schon immer seltsam gewesen, fanden sie. Hinter vorgehaltener Hand nannte man sie die „geheimnisvolle Empfängnis“. Auch dafür fand Melody tröstende Worte: „Lass sie reden. Sie wissen und können es nicht besser.“
Violet erinnerte sich oft an diese Worte und klammerte sich an sie wie an einen Rettungsanker.
Jack hatte sein Lied inzwischen beendet, erhob sich und ging auf seine Freundin zu.
„He, nicht schon wieder aufhören!“, kicherten die Mädels. Ein älteres Ehepaar drückte ihm ein paar Münzen in die Hand.
„Das ist nett. Danke. Wenn ich einen Hut hätte, würde ich ihn ziehen“, erwiderte Jack charmant.
„Schon gut! Du spielst wirklich toll“, sagte der Herr und hing sich bei seiner Frau ein, die Jack frech zuzwinkerte.
Wie schon am Morgen begann es leicht zu regnen. Das Londoner Wetter kümmerte sich nicht darum, dass es Sommer war. Violet schüttelte ihr leicht lockiges, kurzes Haar.
„Die wären erst so richtig ausgeflippt, wenn du gesungen hättest, Vi“, sagte Jack überzeugt.
„Du weißt, ich kann das nicht, Jack.“
„Das glaubst du nur“, erwiderte Jack. Bei dem Thema blieb er hartnäckig und versuchte immer wieder sie zu überreden.
Er hängte sich seine Gitarre um, nahm Violet an der Hand und rannte mit ihr über die Straße, in Richtung eines kleinen Parks. Tief atmete Violet den Duft der Blumenbeete zwischen den Wegen und der großen Laubbäume ein. Es war ihr Lieblingsort, um runterzukommen. Mittlerweile mochte auch Jack den kleinen Park sehr gern.
„Das wäre deine Chance gewesen. Und was heißt, du kannst das nicht? Du singst so klasse, Vi“, fing Jack wieder mit dem Thema an.
Sie seufzte. „Du weißt, wie ich das meine. Vor Publikum geht das nicht. Wer weiß, vielleicht hätte ich in einem Studium gelernt diese Blockade zu lösen.“
„Irgendwann schaffst du es auch so. Da gebe ich deiner Mum ganz recht. Sie hat das auch immer gesagt.“ Melody hatte Jack sehr gemocht und umgekehrt galt dasselbe.
Eine Gruppe Jugendlicher ging an ihnen vorbei. Violet und Jack hörten, dass sie sich über Kevin Sky unterhielten. Sie trugen Blumen und Fotos bei sich und waren ganz in Schwarz gekleidet.
„Dass er tot ist, ist krass“, sagte Jack und schüttelte den Kopf. „Echt traurig! Der hatte noch so viel vor. Mann, wenn ich nur annähernd so viel Erfolg haben könnte wie Sky, das wäre der Hammer, Vi. Er war so cool! Und er hat sich durch nichts unterkriegen lassen. Er kam immer wieder hoch, egal wie tief das Loch war, in das er gefallen ist.“ Jack kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. „Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Brian ihn damals verlassen hat. Die beiden waren doch so glücklich. Jedenfalls haben sie lange so gewirkt.“
„Keine Ahnung … Aber ja, es ist traurig. Und an dem Spruch, dass die Besten jung sterben, ist wirklich was dran“, sagte Violet leise und warf einem Bettler an einer Straßenecke ein paar Münzen in die neben ihm liegende Mütze. Der alte Mann mit dem zerzausten Bart und den stoppeligen Haaren bedankte sich lächelnd.
Jack zog eine Braue nach oben. „Du kannst es nicht lassen, oder?“
Violet warf ihrem Freund einen ernsten Blick zu. „Was denn? Er sieht ehrlich aus.“
„Die meisten geben es für Drogen aus, weißt du“, bemerkte Jack.
Violet ließ sich nicht beirren. „Ich vertraue auf mein Gefühl.“
Er zeigte auf sie. „Das solltest du auch bei deiner Stimme tun.“
„Wollen wir ihm Blumen vor sein Haus in Mayfair legen? Das hätte meiner Mum sicher gefallen. Die Jugendlichen von eben gehen bestimmt auch hin“, lenkte Violet ab.
Jack spitzte die Lippen. „Ja, coole Idee. Also, ich habe Zeit. Heute ist mein freier Tag. Erst morgen heißt es wieder Pizza ausfahren und danach Kinokarten und Eis verkaufen.“
Violet wusste, wie sehr Jack seine Jobs hasste und wünschte ihm, dass er eines Tages Erfolg mit seiner Musik haben würde. Sie hakte sich bei ihm unter. „Dann los!“
Buchshecken und ein Eisentor umfriedeten das verwinkelte Haus mit der schneeweißen Fassade und der dunkelroten Holztür, in deren Mitte ein Silberknauf angebracht war. Auf dem Gehsteig davor erstreckte sich ein Meer aus Blumen, Kerzen und Fotos. Die Leute legten kleine Geschenke nieder, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Kevin war ein wahrer Star der Herzen gewesen und hatte viel für arme Menschen, insbesondere Kinder, getan.
„Es ist der pure Wahnsinn!“, geriet Jack erneut ins Schwärmen, als sie vor dem Eingangsbereich standen, den die Fans in eine eindrucksvolle Gedenkstätte verwandelt hatten. Dass Kevin tot war, war schon vor ein paar Tagen durch die Presse gegangen. „Seine Plattenfirma hat Kevins Tod nun auch im Namen der Familie bestätigt“, sagte Jack nach einer kleinen Pause. Violet nickte. „Ja, ich hab es gelesen“, erwiderte sie.
„Er ist zu einer Legende geworden. Eigentlich war er das schon zu Lebzeiten. Dieser unverwechselbare Style und die zeitlosen Songs. Für mich war der Mann ein Gott“, legte Jack nach.
„Übertreib nicht, der Mann war auch nur ein Mensch“, entgegnete Violet, um Jack auf den Boden zurückzuholen.
„Aber was für einer, Vi. Wenn es Gott wirklich gibt, dann gibt Sky nun wohl regelmäßig vor ihm und seinen Engeln Konzerte.“
Der Gedanke gefiel Violet. „Das würde Mum jedenfalls freuen.“
Eine Frau mit dunklem, langem Haar trat plötzlich an eines der Fenster im oberen Stockwerk. Mit ernster Miene blickte sie nach draußen. Sie kam Violet bekannt vor, doch sie konnte sie nicht wirklich einordnen.
„Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?“, fragte Violet.
Jack zog die Brauen zusammen. „Ja. Ich glaube, das ist seine Cousine Thelma. Die ist doch mit diesem relativ unbekannten Musiker verheiratet. John Matthews. Es gibt nicht viele Berichte und Fotos über die beiden. Na ja, oder es ist seine Schwester. Sie und Thelma haben fast die gleiche Frisur und Statur. Allerdings hat sich Amy Sky mit Kevin zerstritten. Schon vor Jahren. Das hab ich auch irgendwann mal gelesen oder gehört. Es wird ja soviel berichtet, dass man gar nicht alles mitkriegen kann, auch wenn man wie ich ein Riesenfan von Sky ist. Aber am meisten interessierte er mich und nicht sein Umfeld, ehrlich gesagt.“
Violet teilte seine Meinung. „Geht mir genauso. Aber von dem Streit hab ich auch mal gehört. Wegen seiner Drogengeschichten. Das hat Mum mal erwähnt. Von seiner Cousine weiß ich so gut wie nichts.“
Der Blick der Frau schien sich direkt auf sie zu richten, was auch Jack bemerkte. Er stieß Violet mit seinem Ellbogen in die Seite und flüsterte: „Cool. Ich glaube, sie sieht dich an. Oder mich.“ Er grinste.
Violet blickte zur Seite. „Lass uns weitergehen. Wir stehen hier wie zwei Gaffer.“
Rasch legten sie die zwei weißen Rosen, die sie auf dem Weg in einem Blumenladen gekauft hatten, vor dem Tor nieder und gingen die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen.