Leseprobe Basst scho

1.

„Ah geh, Waschtl, schau, dass’d weitergehsch!“

Frustriert zerrte Franzi an seinem Halsband, doch ihr riesiger Hund, der ihr bis an die Hüfte reichte, schnüffelte weiter ungerührt an den Hinterlassenschaften, die ein anderer Vierbeiner großzügig am Rand des Gehwegs hinterlassen hatte.

„Jetzt komm halt!“, schimpfte sie und schaffte es endlich, den Hund zum Weitergehen zu animieren.

„So isch er brav.“ Franzi strich ihm liebevoll über das verfilzte Fell. Sie würde bald mal wieder mit der Schere ranmüssen. Es war ein Wunder, dass Waschtl überhaupt noch etwas sehen konnte, wo ihm doch lauter Zotteln in die Augen hingen.

„Haben Sie des Mordsvieh da an der Leine?“

Franzi sah auf und seufzte, als sie eine ältere Frau auf sich zukommen sah. Die hatte ihr gerade noch gefehlt!

„Natürlich, Frau Klein, wie immer.“

Sie bückte sich und befestigte heimlich die Leine an Waschtls Halsband.

„Das ist aber auch ein Riesenmonstrum!“

„Der Waschtl isch doch kei Monschtrum“, erwiderte Franzi empört und funkelte die Frau wütend an. „Des isch a ganz a lieber, mei Waschtl!“

„Ja, so schaut er aus.“ Frau Klein schnaubte und hielt sich so weit wie möglich am Rand des Gehwegs, um Franzi und ihrem Hund auszuweichen.

„Vors…!“

Franzis Warnung kam zu spät.

„Ja, Herrschaftszeiten nochamal!“ Frau Kleins Gesicht lief puterrot an. „Jetzt schauen Sie sich doch mal die Bescherung hier an!“

Demonstrativ hob sie ihren Fuß an, damit Franzi den braunen Halbschuh, an dessen Sohle Hundehinterlassenschaften klebten, sehen konnte.

„Und wie das stinkt! Pfui deifel!“, keifte Frau Klein, während sie energisch versuchte, ihren Schuh am Randstein abzuwischen.

Franzi wollte ihr gerade raten, den Schuh auf dem Grünstreifen gegenüber sauber zu reiben, als Frau Klein sie anfuhr: „Das war doch sicher Ihr Köter, oder etwa net? Ich hab den schließlich gerade vorhin da herumstehen sehen, dieses Riesenvieh!“

„Jetzt reicht’s aber, Frau Klein!“, knurrte Franzi empört. „Mei Waschtl macht so was net und wenn doch, bin i für alle Fälle ausg’rüschtet!“ Sie tippte zum Beweis auf den kleinen blauen Plastikbeutel, den sie an der Leine befestigt hatte.

„Pah, dass ich nicht lache! In das kleine Säckle soll die Kacke von dem Monstrum reinpassen! Das können’S sonst wem erzählen!“

Sie fuhr weiter mit ihrer Schuhsohle am Randstein entlang, in dem vergeblichen Versuch, ihren Schuh wieder sauber zu kriegen. Franzi wusste aus Erfahrung, dass sie auf diese Weise den Hundekot immer schön weiter in die Rillen der Schuhsohle verteilen würde.

„Ihnen auch noch einen schönen Tag“, flötete Franzi zuckersüß und ließ die wütende Frau stehen. Das Gezeter in ihrem Rücken ignorierte sie und beschloss stattdessen, den Spaziergang mit Waschtl einfach zu genießen. Sie bog in einen schmalen Kiesweg ab. Es war ein herrlich warmer Frühsommertag und die Luft war erfüllt vom Summen der Bienen, die auf den Wildblumen am Rand des Weges ihrer Arbeit nachgingen, und von dem hellen Zwitschern der Vögel. Die neben dem Weg verlaufende Singold plätscherte munter vor sich hin, und es roch intensiv nach frisch umgegrabener Erde von den nahe gelegenen Krautgärten.

Franzi atmete tief durch. Sie liebte den Frühsommer mit all seinen Gerüchen und Farben und seinem verlockenden Versprechen auf gemütliche Abende, die man endlich wieder auf der Terrasse verbringen konnte. Letztes Jahr hatte Franzi oft mit ihrer Kollegin und besten Freundin Helena bei Wein und Brotzeit auf ihrer Terrasse gesessen und mit ihr über Gott und die Welt geredet. Sie hoffte sehr, dass sich weiterhin öfter die Gelegenheit für solche Treffen ergeben würde, auch jetzt, wo Helena mit ihrem Nick zusammengezogen war. Franzi hoffte es von ganzem Herzen, auch wenn sie der Freundin ihr Glück natürlich gönnte. Aber wenigstens bei der Arbeit im Präsidium würden sie sich ja weiterhin täglich zu sehen bekommen, versuchte sie sich zu trösten. Doch sie konnte die Stimme, die ihr das Gegenteil weismachen wollte, nicht überhören.

Seit Helena vor ein paar Jahren aus Hamburg nach Augsburg gezogen war, ging Franzi noch lieber zur Arbeit. Sie war mit Leib und Seele Kommissarin, doch es war schon etwas anderes, mit jemandem zusammenzuarbeiten, den man gernhatte und dem man bedingungslos vertraute. Genauso erging es ihr mit Lena und daher vermisste sie die Kollegin sehr, die momentan für zwei Wochen in ihrer alten Heimat weilte, um ihre Familie zu besuchen. Wenigstens hatte sie über die Hälfte der Zeit bereits hinter sich, sodass sie Helena schon in wenigen Tagen wiedersehen würde.

Tief in Gedanken versunken, schlenderte Franzi weiter den schmalen Kiesweg entlang. Waschtl lief ausnahmsweise einmal brav neben ihr her und schien den Spaziergang ebenso zu genießen wie Franzi. Ganz entgegen seinem Naturell ignorierte er sogar das Entenpaar, das sich gemütlich auf der Singold vorbeitragen ließ.

Der Weg mündete in einer kleinen Nebenstraße und Franzi bog auf den Gehweg ein. Sie grüßte ein paar ferne Bekannte mit Kopfnicken, überquerte die Straße und blieb schließlich vor einem Einfamilienhaus, das mit einem Holzzaun abgegrenzt war, stehen.

„Griaß di, Marie!“, rief sie fröhlich in den Garten hinein. Sie hatte die Frau bereits erspäht, die mit Gartenhandschuhen, Eimer und Schaufel bewaffnet über ihr Beet gebeugt war.

„Ja, mei, die Franzi!“, rief Marie lächelnd, während sie sich ächzend aufrichtete. „Was für eine schöne Überraschung! Hast du ein wenig Zeit?“ Sie streifte die Handschuhe ab und ließ sie achtlos in den Eimer fallen, den sie neben dem Beet abgestellt hatte.

„Freilich, aber nur, wenn i di net bei der Arbeit störe.“

„Ach was.“ Marie winkte ab. „Das Unkraut kann warten.“ Verschmitzt lächelte sie Franzi an und lief zur Gartentür. Wie immer ging sie leicht gebeugt, was ihrem Ischias zu verdanken war, wie Franzi wusste.

Sie öffnete die Tür und ließ Franzi herein.

„Und den Waschtl hast du auch mitgebracht“, bemerkte Marie erfreut. „Da wird sich der Herr Gustav aber freuen!“ Sie rief in den Garten hinein. „Herr Gustav! Wo steckst du denn nur wieder? Herr Guuustav!“

Franzi vernahm ein Rascheln aus dem Gebüsch und kurz darauf kam ein kleiner, brauner Kurzhaardackel unter der Hecke hervor. Er lief eigentümlich holprig, was daran lag, dass dem Hund vor einigen Jahren ein Hinterbein amputiert werden musste, nachdem er von einem Auto angefahren worden war.

Sie beugte sich nach unten und kraulte den kleinen Hund ausgiebig, was der sich hoheitsvoll gefallen ließ.

„Ja, grüß dich, Herr Guschtav! Dir geht’s aber gut hier in dem großen Garten, gell?“

Waschtl zog fest an seiner Leine, um seinem Frauchen energisch mitzuteilen, dass er sofort losgemacht werden wollte. Er hatte seinen Freund Herrn Gustav längst erspäht und konnte es gar nicht erwarten, mit ihm zu spielen. Franzi beeilte sich, den Karabiner von Waschtls Halsband zu lösen, woraufhin der flugs mit dem aufgeregten Dackel im Schlepptau um die Ecke sauste.

„Magst du dich ein wenig zu mir setzen?“, fragte Marie, die sorgfältig das Gartentürchen hinter ihrem Besuch verschloss. „Ich hab gerade vorhin den Tisch und die Gartenstühle aus dem Keller geholt und sauber sind sie auch schon.“ Sie deutete auf die kleine Sitzgruppe unter der riesigen Kiefer.

„Mensch, Marie!“ Tadelnd sah Franzi ihr Gegenüber an. „Du weißsch doch, dass du net so schwer schleppen sollsch! Und des bei deim Kreuz!“

„So weit kommt’s noch!“ Marie lachte. „Wenn ich nicht mehr in der Lage bin, die paar leichten Möbel zu tragen, kannst du mich gleich zum Friedhof runterfahren.“ Sie zwinkerte Franzi zu und deutete auf die Sitzgruppe.

„Setz dich hin. Ich mach uns schnell einen Kaffee.“

Franzi nickte und ließ sich folgsam auf dem Gartenstuhl mit dem dicken Polster nieder, in das sie leicht einsank. Sie sah Marie nach, die gerade in ihrem Haus verschwand. Die Besuche bei ihrer Freundin genoss Franzi immer in vollen Zügen. Marie lebte mit ihren einundachtzig Jahren ganz allein in dem Einfamilienhaus und versorgte ihr riesiges Grundstück komplett selbstständig. Während Franzi in ihrem Garten eher das Modell „naturbelassen“ verfolgte, war Maries picobello sauber und ordentlich. Wo Franzi mehr Moos als Rasen hatte, wuchs Maries Rasen in einem satten Grün, ohne auch nur das kleinste Hälmchen Unkraut dazwischen. Wie sie das nur immer hinkriegte? Maries Mann war seit vielen Jahrzehnten tot. Sie hatte ihren gemeinsamen Sohn praktisch allein großgezogen. Der lebte nun schon seit über zehn Jahren in Stuttgart und kam zu Maries Leidwesen nur äußerst selten zu Besuch. Er war immerhin auch schon an die sechzig, geschieden und hatte nur einen Sohn, Eduard. Franzi kannte Eddie gut. Er war inzwischen Ende dreißig und in seiner Jugend ein begnadeter Fußballspieler gewesen. Ganz Göggingen hatte ihm zugejubelt, wenn er den Ball ein ums andere Mal im Kreuzeck versenkt hatte. Den „Maradona von Göggingen“ hatte man ihn genannt! Wo sich Eddie momentan rumtrieb, wusste Franzi nicht so genau. Sie vermied es, mit Marie über ihn zu reden. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sich Marie ihre Sorgen über den einzigen Enkel von der Seele geredet hatte, weil er wieder mal seinen Job verloren hatte, und wollte ihrer Freundin den Kummer ersparen.

Franzi kannte Marie schon seit ihrer Kindheit. Sie war eine Freundin von Franzis Oma gewesen und daher bei allen Familienfeiern eingeladen gewesen. Sie liebte die liebenswürdige alte Frau, die seit dem Tod ihrer Oma vor fünfzehn Jahren so etwas wie eine Ersatz-Oma für sie geworden war.

Plötzlich vernahm Franzi ein lautes Rascheln aus der mächtigen Buchenhecke, die den Garten umrahmte. Sie drehte sich um und sah die Hecke erzittern. Ihr schwante Böses.

„Pfui, Waschtl!“, rief sie laut. „Wirsch du wohl aus der Hecke rauskommen? Da pasch du doch gar net nei, du Doldi!“

„Lass ihn doch“, erwiderte Marie lachend, die gerade mit einem Tablett aus dem Haus kam. „Die beiden spielen doch so gern miteinander!“

Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab und verteilte zwei bauchige, geblümte Tassen und dazu passende Teller darauf. Dazwischen stellte sie ein bunt getupftes Milchkännchen und eine weiße Porzellanschale mit Würfelzucker.

„Ich komme gleich wieder. Der Kaffee dürfte jetzt fertig sein.“

Marie drehte sich um und verschwand mit dem leeren Tablett wieder im Haus. Kurze Zeit später kehrte sie zurück, eine große Porzellankanne mit Kaffee und einen Teller voller Kuchenstücke auf dem Tablett balancierend.

„Komm, i helf dir“, rief Franzi und sprang auf. Sie nahm Marie das schwere Tablett ab und stellte die Sachen auf den Tisch.

„Danke dir, meine Liebe.“

Schwer atmend ließ sich Marie auf ihrem Gartenstuhl nieder. Besorgt fragte sich Franzi, wie diese wohl die sperrigen Stühle und den Klapptisch allein aus dem Keller gehievt hatte, wenn das Tablett sie schon außer Atem brachte.

„Greif zu.“ Marie deutete auf den Teller mit Streuselblechkuchen, der verlockend duftete.

Bereitwillig kam Franzi der Aufforderung nach und legte auch ein ordentliches Stück auf Maries Teller. Dann schenkte sie sich und ihrer Freundin Kaffee in die Tassen.

„Ich trinke meinen schwarz“, sagte Marie und hielt ihre Hand über die Tasse, als Franzi sie mit dem Milchkännchen in der Hand auffordernd ansah. „Ich vertrag Milch nicht mehr so recht.“

Franzi gab sich selbst einen ordentlichen Schuss Milch in den dampfenden Kaffee und warf noch zwei Würfelzucker hinein, bevor sie kräftig umrührte.

Sie genossen ihren Kaffee und Franzi ließ sich das kräftige Aroma des heißen Getränks auf der Zunge zergehen. Sie nahm sogar noch ein zweites Stück von dem leckeren Kuchen an, der ihr ausgezeichnet schmeckte. Die Hunde tollten um sie rum und nur einmal hätte es um ein Haar einen Unfall gegeben, als Waschtl seinem Freund Herrn Gustav unter den Tisch gefolgt war. Franzi hatte die Kaffeekanne noch rechtzeitig aufgefangen, als der riesige Hund den Tisch um ein paar Zentimeter angehoben hatte, und ihn schnellstmöglich wieder hinausbeordert.

Franzi und Marie unterhielten sich über Gott und die Welt und genossen das friedliche Beisammensein.

„Muss schön sein, wenn man nichts zu tun hat und am helllichten Tag im Garten herumsitzen kann!“, keifte unvermittelt eine Stimme von der Straße her.

Franzi fuhr herum und war gerade im Begriff aufzubrausen, als Marie ihr mit einem Zeichen zu verstehen gab, Ruhe zu bewahren.

„Grüß Gott, Frau Klein“, sagte sie betont freundlich zu der Unruhestifterin.

Die reagierte nicht auf den Gruß, sondern reckte sich, um möglichst viel Einblick in das Grundstück zu erhalten. In dem Moment lief Herr Gustav bellend durch den Garten, von einem hechelnden Waschtl verfolgt.

„Dass Sie das Vieh immer noch nicht von seinem Leiden erlöst haben, ist wirklich nicht zu fassen!“, empörte sich Frau Klein postwendend. „Das ist doch kein Leben, so mit drei Beinen!“

„Jetzt hört sich aber alles auf!“, rief Franzi wütend. Marie, die inzwischen ebenfalls aufgestanden war, legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm.

„Meinem Hund geht es bestens, Frau Klein. Danke der Nachfrage.“ Sie blickte die Frau lange an, die nach einiger Zeit ihren Blick abwandte.

„Können wir sonst noch etwas für Sie tun? Sie sehen ja“, Marie legte ihren Arm um Franzi, „ich habe gerade lieben Besuch.“

Frau Klein winkte ab und entfernte sich grußlos. Franzi konnte sehen, wie sie zu ihrem Haus ging, das direkt neben Maries stand und von ihrem Mann hereingelassen wurde. Den Blicken und Gesten nach zu urteilen, ließ sie sich dabei kräftig über ihre Nachbarin und deren Besucherin aus.

„Wie du des mit der Hexe neben dir nur aushältsch!“ Franzi stöhnte und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

Marie setzte sich ebenfalls und nahm einen großen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.

„Ach weißt du, die Frau Klein ist schon immer so gewesen, seit ich sie kenne. Irgendwie muss sie einem doch leidtun! So grantig, wie sie den lieben langen Tag ist, kann ihr Leben doch nicht sehr erfüllend sein.“

„Aber sie ist doch nicht allein! Immerhin hat sie ihren Mann an ihrer Seite!“

Marie zuckte mit den Schultern.

„Man kann nicht in die Menschen hineinblicken. Wissen wir, wie die beiden miteinander harmonieren?“ Sie blickte verträumt in die Zweige der großen Kiefer über ihrem Kopf. „Als mein Hans noch lebte, haben wir uns manchmal fürchterlich gestritten. Über die nichtigsten Sachen! Das kann man heute nicht mehr verstehen! Doch wir wussten immer, dass wir zueinander gehören, der Hans und ich! Und obwohl uns nur eine kurze Zeit zusammen vergönnt war, gibt mir unsere Liebe heute noch Kraft. Die Verbindung zu ihm besteht weiter, noch über den Tod hinaus. Unser Martin kann sich nicht einmal mehr an seinen Vater erinnern. Er war gerade einmal ein halbes Jahr alt, als Hans starb.“

Marie stockte und atmete tief durch. Obwohl der Tod ihres Mannes, der bereits im Alter von vierzig Jahren urplötzlich einem Herzinfarkt erlegen war, schon viele Jahrzehnte her war, ging ihr das immer noch sehr nah.

„Doch Martin half mir damals über die schwere Zeit hinweg. Je älter er wurde, desto mehr erinnerte er mich an seinen Vater. Er sieht ihm so ähnlich!“ Marie strahlte. „Ich bin so dankbar, dass ich ihn habe!“

Sie sah zum Nachbarhaus hinüber, ihr Blick wurde nachdenklich.

„Frau Klein hat ihren Mann noch, das stimmt. Doch ob ihre Ehe glücklich ist, können wir von außen sicher nicht beurteilen. Die Kleins haben keine Kinder. Warum, weiß ich nicht. Frau Klein ist nicht der Typ Frau, mit der man über so etwas Persönliches sprechen könnte. Vielleicht ist sie unglücklich und kompensiert das damit, dass sie alles um sich herum schlecht macht.“ Sie wandte sich an Franzi. „Meine Liebe, das Leben ist doch viel zu kurz, um sich zu ärgern! Findest du nicht auch? Schau, wir zwei Hübschen sitzen gemütlich hier im Garten und genießen den schönen Nachmittag. Man muss einfach jeden Augenblick zu schätzen wissen, nicht wahr?“

Franzi lachte. „Siehsch du, des mag ich so an dir! Du siehsch das Leben immer positiv, auch wenn es dir jede Menge Steine in den Weg wirft! Du versuchsch sogar, noch an so ’ner Bissgurke wie der Frau Klein was Gutes zu finden!“

Sie hob die Tasse und prostete Marie mit einem Augenzwinkern zu.

Als es langsam kühler wurde, verabschiedete sich Franzi. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte es auch Waschtl geschafft, sich von Herrn Gustav zu trennen, der sie, genau wie sein Frauchen, zur Gartentür begleitet hatte. Nachdem Franzi Marie versprochen hatte, bald mal wieder vorbeizuschauen, zog sie mit Waschtl an der Leine weiter. Sie beschloss, auf dem Nachhauseweg durch die nahe gelegenen Krautgärten zu spazieren. Obwohl es bereits dämmerte, war dort noch einiges los. Franzi liebte die Krautgärten, die wie ein Relikt aus alter Zeit anmuteten. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Schrebergärten wurde hier vor allem Obst und Gemüse angebaut. Kleinere Parzellen reihten sich aneinander, von einfachen Zäunen oder Hecken voneinander abgegrenzt. Jedes Grundstück verfügte über mehr oder weniger große Felder, auf denen fleißig gewerkelt wurde. Franzi atmete tief ein. Die Luft roch würzig nach aufgebrochener Erde. Die Hobbygärtner hatten ihre Felder längst bestellt und wachten mit Argusaugen über das Unkraut, dem sie sofort mit der Hacke den Garaus machten, sobald es sich zwischen ihren wertvollen Gemüsepflanzen blicken ließ. Es gab fast nichts, was hier nicht angebaut wurde: Kartoffeln, Salate, Zucchini, Kohl … Franzi träumte heimlich davon, irgendwann einmal einen eigenen Krautgarten zu bewirtschaften, aber sie wusste genau, dass mit ihrem zeitintensiven Beruf nicht daran zu denken war. Sie kam ja kaum mit ihrem eigenen Garten klar!

„Sag mal, Waschtl, was soll denn des jetzt wieder?“ Der Hund zog kräftig an der Leine, die sie ihm angelegt hatte, da auf dem Weg häufig Radfahrer fuhren. „Geh i eigentlich mit dir spazieren oder du mit mir?“

Waschtl bellte.

„Ah, jetzt versteh i! Du hasch Durscht! Sag des doch glei!“

Franzi ließ Waschtl von der Leine, woraufhin er schnurstracks zu dem kleinen Seitenarm der Singold lief, der zu Bewässerungszwecken durch die Krautgartenanlage verlief. Nachdem er ausgiebig gesoffen hatte, sprang er mit einem Satz ins Wasser.

„Geh, du Saubär“, kreischte Franzi, die einen ordentlichen Schwall Wasser abbekommen hatte. „Schau, dass du da rausgehsch!“

Waschtl ignorierte Franzi und jagte fröhlich ein paar Wasserläufern hinterher. Erst nach einer ganzen Weile bequemte er sich, auf Franzis Rufe zu reagieren und seinen nassen Spielplatz zu verlassen. Kaum stand er neben ihr, schüttelte er sich kräftig. Wassertropfen und Haare flogen nur so um die Wette, und Franzi versuchte, sich mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen. Aber es war zu spät! Sie rutschte aus und landete mit einem Bein im Bächlein. Erschrocken sog sie die Luft ein. War das kalt! Ihre Birkenstock-Sandale versank tief im Matsch und sie hatte alle Mühe, sich zu befreien. Als sie endlich wieder schnaufend auf dem Weg stand, sah sie kopfschüttelnd an sich hinab.

„Jetzt schau dir des nur an!“, schimpfte sie. „Alles voller Schlamm!“

Sie bemühte sich, mit der Hand den gröbsten Dreck von ihrem nackten Fuß und dem Hosenbein zu wischen, mit dem Ergebnis, dass sie den Schmutz nur noch weiter verteilte.

„So a Sauerei! Und mei Schuh isch au weg!“

Sie stöhnte frustriert.

„Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“

Franzi fuhr herum und sah einen bärtigen Riesen mit schulterlangen, lockigen Haaren, der breit grinsend mit überkreuzten Armen am Zaun eines Krautgartens lehnte und sie beobachtete.

„I komm prima allein z’recht“, erwiderte sie abweisend.

„Das seh ich“, sagte der Mann schmunzelnd und deutete mit seinem Kopf auf Franzis nackten, schlammbraunen Fuß.

„Ham Sie vielleicht nix Besseres zu tun, als fremde Leit anzugaffen?“ Franzi funkelte ihn erbost an.

Lachend hob er die Hände. „Schon gut, schon gut! Ich tu Ihnen doch nix. Wollte ja nur nett sein!“

„Wie g’sagt, i brauch keine Hilfe!“

Franzi drehte sich wieder um und suchte in dem Wasser nach einem Anzeichen ihrer Sandale. Dass das ganze Bächlein von einem dichten Teppich von Wasserlinsen bedeckt war, half ihr dabei nicht wirklich. Seufzend rollte sie ihren Ärmel hoch und kniete sich hin. Vorsichtig fischte sie in dem trüben Wasser, doch ihren Schuh fand sie nicht.

„Warten Sie, ich hab eine Idee.“

Bevor Franzi wusste, wie ihr geschah, tauchte ein Rechen neben ihr ins Wasser. Sie richtete sich auf und beobachtete mürrisch, wie der Kleingärtner von eben sich unaufgefordert abmühte, ihren Schuh zu finden. Sie schätzte den Mann auf etwa Mitte bis Ende dreißig. Er trug eine graue Arbeitshose und ein weißes T-Shirt voller Erdflecken, das schon mal bessere Zeiten erlebt hatte. Sein braunes Haar war verstrubbelt und stand wirr von seinem Kopf ab. Waschtl wich dem Mann nicht von der Seite. Offenbar war er sehr an dem Rechen interessiert.

„Da ist er doch“, rief der Mann nach einiger Zeit lachend und tatsächlich baumelte am Ende seines Rechens Franzis schlammige Sandale. Waschtl bellte aufgeregt. Der Mann nahm vorsichtig den Schuh und wusch ihn in dem Bächlein aus, bevor er ihn Franzi reichte.

„Hier, bitte sehr.“

„Danke.“

Franzi war der Vorfall unglaublich peinlich. Sie nahm den Schuh entgegen und schlüpfte hinein. Ihr Fuß machte dabei ein schmatzendes Geräusch, was den Mann wiederum zum Lachen brachte.

„Zu Ihrer Information: Des hätt i au allein hinbekommen!“

Franzi funkelte den Mann wütend an. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Sie war keines dieser hilflosen Püppchen, die sie nur aus Filmen kannte und die ohne ihren Prinzen aufgeschmissen waren. Oh nein! Sie war äußerst selbstständig! So gut wie alles, was zu Hause anfiel, erledigte sie selbst, sei es die Reparatur ihres Fahrrads oder wenn der Rasenmäher mal wieder den Geist aufgab. Sogar ihre Waschmaschine hatte sie selbst hinbekommen, als die ausfiel! Und da kam auf einmal so ein neunmalkluger Typ daher und fühlte sich wie der Prinz aus Aschenputtel, der dem armen Mädchen den gläsernen Schuh reichte! Franzi musste unwillkürlich grinsen. Ihre Sandale sah nun wirklich nicht aus wie ein gläserner Pantoffel! Und der schmuddelige Gärtner war auch nicht gerade Prinzenmaterial.

„Was ist denn so lustig?“

Franzi richtete sich auf. Der Mann kniete neben Waschtl und kraulte ihm ausgiebig das nasse Fell, was der Verräter sich auch noch genüsslich gefallen ließ.

„Des geht Sie gar nix an“, erwiderte sie knapp. Sie befestigte die Leine an Waschtls Halsband. „Komm, Waschtl, wir geh’n!“

Ein kräftiges Ziehen an der Leine motivierte den zotteligen Bären weiterzugehen.

„Man sieht sich“, verabschiedete sich der Gärtnerprinz mit einem Lächeln.

„Hoffentlich nicht“, knurrte Franzi und ignorierte sein amüsiertes Lachen in ihrem Rücken, als sie rasch wegging.

Die Straße, in der Franzis Haus lag und die sie nach wenigen Minuten erreichten, war wie immer voller Kinder. Freundlich grüßte Franzi deren Eltern und ließ es zu, dass die Kleinen Waschtl lebhaft begrüßten. Der Hund war eine Seele von einem Tier und Franzi wusste, dass er trotz der herumwuselnden, lärmenden Nachbarskinder Ruhe bewahren würde. Als sie in ihren Garten ging, nahm sie Waschtl von der Leine. Sie holte aus dem Gartenhäuschen ein altes Handtuch und trocknete den nassen Hund erst mal gründlich ab. Dann besah sie sich seufzend ihren immer noch schmutzigen Schuh und wusch ihn in ihrem Gartenbrunnen noch einmal aus. Anschließend schrubbte sie mit einer Bürste gründlich den Dreck von ihrem Fuß und trocknete ihn mit demselben Handtuch von eben. Als sie die Haustür öffnete, klingelte das Telefon. Sie beeilte sich reinzugehen und schaffte es gerade noch, den Anruf entgegenzunehmen, bevor sich der Anrufbeantworter einschaltete.

„Danner?“, keuchte sie atemlos in den Hörer.

„Sag mal, was atmest du denn so heftig?“

„Lena! Schön, dich zu hören!“ Franzi strahlte. „Wie geht’s dir denn?“

„Gut geht’s mir“, erwiderte Helena. „Wie soll es einem auch anders gehen im Urlaub?“ Sie lachte.

„Des freut mi aber! Bald isch es wieder rum mit der Faulenzerei!“

Helena seufzte. „Ich weiß … Aber weißt du, Franzi, irgendwie vermisse ich die Arbeit auch.“

„Des will i aber au hoffen!“, sagte Franzi gespielt entrüstet. „Vermisscht du mi am Ende gar net?“

„Und wie!“ Helena lachte auf. „Ich kann es gar nicht erwarten, dich wiederzusehen!“

„Was machsch du denn so den lieben langen Tag?“

Franzi klemmte den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr und zog, auf einem Bein hüpfend, ihre beschmutzte Hose aus, während Helena ihr von ihrem Urlaub im hohen Norden berichtete, wo sie mit ihrem Freund Nick ihre Familie besuchte.

„Stell dir vor, Nick hat doch tatsächlich einen langen Spaziergang mit Papa gemacht! Und das, obwohl ich ihn sonst kaum dazu bewegen kann, mit mir spazieren zu gehen!“

„Des isch doch gut! Wenn sich die Männer in deim Leben miteinander verstehn, isch des doch prima, oder etwa net?“ Endlich hatte sie es geschafft, ihre Hose auszuziehen und tapste mit dem nassen Kleidungsstück in der Hand barfuß und in Unterhose die Treppe in den Keller hinab.

„Ja, schon. Aber seltsam fand ich es doch. Aber sag mal, wo kommst du denn jetzt gerade her? Ich hab’s vorhin schon mal probiert.“

Franzi berichtete ihr von ihrem Nachmittag bei Marie und nach kurzem Zögern auch von ihrem kleinen Unfall im Krautgarten, während sie die Hose in die Waschmaschine schmiss.

Helena musste kräftig lachen. „Sag mal, was machst du denn für Sachen! Kaum bin ich weg, angelst du dir einen gut aussehenden Gärtner!“

Franzi schnaubte empört. „Erschtens war der net gut aussehend, und zweitens hab net i den geangelt, sondern der meinen Schuh.“

Sie kramte eine Jogginghose aus der Wäschetruhe und beschloss, dass die für heute schon noch gehen würde, also streifte sie sie schnell über und lief wieder nach oben. Dort ließ sie sich mit dem Telefon in der Hand auf der Couch im Wohnzimmer nieder.

„Meine Franzi, wie sie leibt und lebt!“ Helena kicherte. „Ich freue mich schon so sehr, dich bald wiederzusehen! Und ich bring dir auch was Schönes mit, versprochen!“

„Nur keinen Fisch bitte“, erwiderte Franzi hastig.

Helena hatte ihr letztes Mal einen geräucherten Aal aus Hamburg mitgebracht und gemeint, dass sie ihrer Freundin damit einen Gefallen tat. Doch Franzi mochte Fisch – wenn überhaupt – nur in Stäbchenform. Als sie das Päckchen geöffnet und der Fischgeruch sich so richtig schön verbreitet hatte, war sie grün um die Nase geworden, was Helena natürlich nicht entgangen war.

„Keine Sorge! Das tu ich dir kein zweites Mal an!“

„Dann bin i ja beruhigt! Grüß deine Eltern von mir! Und Nick natürlich au!“

„Mach ich! Bis bald, Franzi.“

„Ich freu mich schon. Tschüss!“

Franzi blieb noch eine Weile sitzen. Sie freute sich schon so auf Lena! Allein war es richtig langweilig im Präsidium! Sie hatte zwar das ganze Büro für sich, aber niemanden zum Reden. Egal, nur noch wenige Tage und Lena saß ihr wieder gegenüber!

Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Waschtl starrte sie mit großen Augen an und winselte.

„Jetzt hab i doch glatt vergessen, dass du Hunger hasch, du Armer!“, rief sie lachend und sprang auf. „Komm in die Küche. I mach dir schnell was!“

Zur Entschädigung gab sie ihm eine extra große Portion in den Napf, der er sich umgehend widmete. Dann besah sie ihren Kühlschrank und stellte fest, dass sie morgen dringend einkaufen gehen musste. Zum Glück fand sich ganz hinten noch ein Päckchen Schupfnudeln, die sie sich in einer Pfanne anröstete, während sie gleichzeitig in einem Topf eine kleine Portion Sauerkraut zubereitete.

Anschließend mischte sie beides miteinander, nahm sich ein kleines Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich mit dem Teller auf dem Schoß auf die Couch. Im Fernsehen fing gerade ein Krimi an. Das passte doch ausgezeichnet! Gespannt verfolgte sie die Geschichte, auch wenn sie manchmal über die unkonventionellen Ermittlungsmethoden der TV-Kommissare den Kopf schütteln musste.

Um halb elf wachte Franzi auf, als ihr mit einem lauten Scheppern die Fernbedienung aus der Hand fiel. Schade, der Krimi war längst aus und jetzt hatte sie verpasst, wer der Mörder war! Franzi gähnte kräftig, während sie sich ausgiebig streckte. Sie beschloss, es für heute gut sein zu lassen und schaltete den Fernseher aus. Waschtl erhob sich von seinem fransigen Fell in der Ecke und trottete zur Tür. Wie gewohnt ließ Franzi ihn noch kurz raus, damit er sich erleichtern konnte, bevor sie mit ihm zusammen nach oben ging.

2.

Im Bett las Franzi noch eine ganze Weile. Sie liebte es, im Liegen zu lesen und dabei immer schläfriger zu werden. Zugegeben, hin und wieder fiel ihr einer ihrer dicken Wälzer beim Einschlafen schon mal ins Gesicht, was echt schmerzhaft war, aber zum Glück geschah das nicht allzu häufig. Waschtl schlief bereits tief und fest in seinem Körbchen in der Ecke, wie sein durchaus eindrucksvolles Schnarchen verriet. Als Franzi das Kapitel beendet hatte, zeigte ihre Uhr bereits kurz vor Mitternacht. Höchste Zeit, schlafen zu gehen! Sie stand auf, um das Dachfenster zu öffnen. Sie schlief am liebsten bei geöffnetem Fenster, nur wenn sie las, ließ sie es meistens geschlossen, um keine stechfreudigen Mücken anzulocken.

Als sie das Fenster aufzog, hielt sie erstaunt inne. Es roch durchdringend nach Rauch! Bestimmt hatte wieder einer der Nachbarn Gäste und saß mit ihnen gemütlich um eine Feuerschale im Garten. Gerade wollte sie das Fenster resigniert wieder schließen, als sie aus den Augenwinkeln einen Lichtschein bemerkte. Franzi beugte sich so weit wie möglich nach vorne, um sehen zu können, woher er kam. Plötzlich bellte Waschtl und sprang um ihre Beine.

„Pscht, Waschtl, willsch du wohl still sein! Du wecksch uns ja no die ganze Nachbarschaft auf!“ Doch der Hund ließ sich nicht beruhigen. Er hüpfte an ihr hoch und bellte weiter.

Franzi sah noch mal nach draußen. Ohne Zweifel, da war ein heller Lichtschein zu sehen! Was war da los? Sie beschloss nachzusehen. Waschtl gebärdete sich inzwischen wie wild und rannte kläffend vor der geschlossenen Schlafzimmertür hin und her.

Schnell zog Franzi ihre Jogginghose über und schlüpfte in eine Kapuzenjacke. Kaum dass sie die Tür geöffnet hatte, raste Waschtl die Treppe hinunter und sprang bellend an der Haustür hoch. So hatte Franzi ihren Hund noch nie erlebt! Was brachte ihn nur derart aus der Fassung? Sie beeilte sich, die Leine an seinem Halsband zu befestigen, und schlüpfte in ihre Gartenclogs. Als sie die Tür öffnete, wurde der Rauchgestank intensiver. Rasch lief sie mit Waschtl los, dem Lichtschein entgegen. Die Luft war inzwischen rauchgeschwängert und Franzi schwante Übles. Das war definitiv keine Feuerschale, die da brannte! Jetzt rannte Franzi, Waschtl dicht neben sich. Sie spurtete durch den engen Kiesweg, durch den sie heute Nachmittag erst gegangen war. Als sie das Ende des Weges erreichte, stockte ihr der Atem. Maries Haus brannte lichterloh! Der Dachstuhl des alten Hauses stand bereits in Flammen und auch im ersten Stock konnte sie Feuer hinter den Fenstern ausmachen. Einige Scheiben waren schon geborsten. Franzi sah ein paar Leute aus den umliegenden Häusern auf die Straße laufen.

„Rufen Sie sofort die Feuerwehr!“, schrie sie ihnen zu. Ein Mann im Bademantel nickte und rannte zurück in sein Haus.

Franzi suchte hektisch nach der Gestalt ihrer Freundin im Garten, konnte sie aber in dem dichten Rauch um das Haus nicht ausmachen. Hoffentlich war Marie da rausgekommen! Sie beschloss, sich näher an das Inferno heranzuwagen. Das Gartentürchen war wie immer abgesperrt, hielt aber Franzis kräftigem Tritt nicht stand. Geistesgegenwärtig warf sie Waschtls Leine über einen Zaunpfahl und lief auf das Haus zu. Es fühlte sich an, als würde sie gegen eine Wand aus unbändiger Hitze anlaufen. Der Rauch nahm ihr sofort die Luft zum Atmen. Kurz entschlossen zog Franzi ihre Jacke aus und tauchte sie in Maries Brunnentrog. Dann zog sie das triefende Kleidungsstück wieder an und bedeckte ihren Kopf mit der nassen Kapuze. Mit einer Hand hielt sie den Stoff vor Nase und Mund zusammen und lief zum Hauseingang. Zum Glück wusste sie, wo Marie ihren Ersatzschlüssel aufbewahrte. Schnell fand sie ihn unter einem umgedrehten Blumentopf und sperrte die alte Holztür auf. Dichter Rauch quoll ihr entgegen.

„Marie!“

Das Brausen der Flammen erstickte jedes Geräusch.

Franzis Augen brannten in kürzester Zeit wie Feuer. Sie bekam kaum noch Luft und sehen konnte sie gar nichts mehr. Sie ließ sich auf alle viere nieder und kämpfte sich mühsam durch den beißenden Qualm. Inzwischen musste sie sich im Wohnzimmer der alten Dame befinden, das ebenerdig lag. Sie stieß mit dem Kopf gegen etwas. Mit den Händen befühlte sie den Gegenstand. Das musste der Esstisch sein! Sie tastete sich weiter und stieß unvermittelt gegen etwas Weiches, das auf dem Boden lag. Franzi war sofort klar, dass sie Marie gefunden hatte. Sie musste heftig husten. Lange würde sie nicht mehr durchhalten! Mit der Hand tastete sie nach dem Puls der alten Frau. Nichts! Sie rüttelte an ihrer Freundin und versuchte, sie zu bewegen. Wieder musste Franzi heftig husten und rang nach Luft. Ihr wurde bewusst, dass sie es allein nicht schaffen würde. Verzweifelt versuchte sie ein weiteres Mal, Marie zu bewegen. Keine Chance! Dann ertastete sie etwas Kleines, Weiches, das an ihre Freundin gepresst lag. Herr Gustav! Franzis Lunge brannte inzwischen wie Feuer. Sie wusste, dass sie sofort aus dem Haus rausmusste. Kurz entschlossen schnappte sie sich das leblose Tier und torkelte mehr, als dass sie lief, in die Richtung, in der sie den Ausgang vermutete. Ihre Beine schienen wie aus Gummi. Auf einmal spürte sie einen festen Griff an ihrem Arm, der an ihr zog. Franzi ließ es geschehen und fand sich nach kurzer Zeit vor dem brennenden Haus wieder. Ein Feuerwehrmann führte sie ein paar Meter vom Haus weg und musterte sie besorgt.

„Geht es Ihnen gut?“

Franzi hustete, bis sie das Gefühl hatte, zu ersticken. Alles drehte sich um sie! Sie würgte und übergab sich an Ort und Stelle. Sofort wurde sie zu einem bereitstehenden Krankenwagen geführt, wo ihr der Sanitäter eine Sauerstoffmaske überstülpte. Endlich Luft! Rasselnd atmete Franzi die frische Luft ein. Der Schwindel, der sie vorhin befallen hatte, legte sich spürbar.

Sie hob ihre Hand, um die Maske abzunehmen.

„Nichts da! Die Maske bleibt drauf! Sie können von Glück sagen, dass Sie noch leben!“

Wütend funkelte sie den Sanitäter an und riss sich die Maske runter.

„Meine Freundin isch no da drin!“, versuchte sie ihn anzuschreien und machte Anstalten aufzustehen. Ihre Stimme war seltsam kratzig und kaum verständlich. Tränen liefen über ihre Wangen und hinterließen weiße Spuren in dem dunklen Ruß.

Der Feuerwehrmann, der ihr gefolgt war, bat sie, sitzen zu bleiben, und versprach, dass seine Kollegen ihr Möglichstes taten, um ihre Freundin zu retten. Seine Frage, ob sich noch mehr Personen im Haus befanden, verneinte Franzi.

Sie setzte sich wieder und bemerkte erst jetzt, dass sie immer noch das kleine Fellbündel fest im Arm hielt. Sie überprüfte vorsichtig, ob der Hund atmete. Erleichtert stellte sie fest, dass sich der Brustkorb des Tieres ganz leicht hob und senkte. Kurz entschlossen drückte sie dem Tier ihre Sauerstoffmaske über Maul und Nase.

„He! Was machen Sie denn da?“, rief der Sanitäter entsetzt.

Als er Franzis Gesichtsausdruck sah, hob er abwehrend die Hände und verstummte. Von irgendwoher holte er eine weitere Maske und streifte sie wortlos über Franzis Kopf. Ein zweiter Sanitäter legte ihr eine Decke um die Schultern, da sie inzwischen unkontrolliert zitterte. Ihr war speiübel und ihr Hals brannte höllisch.

„Geben Sie das Tier her. Wir kümmern uns darum.“

Ein Feuerwehrmann streckte seine Hände nach dem Hund aus. Franzi sah ihn stumm an und schüttelte den Kopf. Sie presste Herrn Gustav fest an sich, streng darauf achtend, dass seine Maske nicht verrutschte. Jemand half ihr, einen Schluck zu trinken, was zunächst unglaublich schmerzte, dann aber doch half. Wenn sie doch nur sehen könnte, was sich beim Haus abspielte. Die Buchenhecke vor dem Haus und der dichte Qualm nahmen ihr die Sicht. Inzwischen brannte auch die riesige Kiefer neben dem Haus lichterloh. Hatte die Feuerwehr Marie gefunden? Lebte ihre Freundin?

Inzwischen war ein weiterer Krankenwagen eingetroffen, der dicht neben ihrem hielt. Sanitäter rannten mit einer Trage weg.

Franzi betete, dass Marie inzwischen geborgen worden war. Tatsächlich kamen die Männer kurze Zeit später mit einer Person auf der Trage zum Wagen zurück. Franzi konnte einen kurzen Blick auf Maries lebloses Gesicht erhaschen, bevor sich die Tür des Krankenwagens hinter den Sanitätern schloss. Eine Frau in der Kluft des Rettungsdienstes kam auf Franzi zu und stellte sich als Frau Doktor Heinze vor. Sie hörte ihre Patientin ab und gab ihr eine Spritze zur Stärkung des Kreislaufs. Ihre Übelkeit ließ langsam nach. Anschließend teilte ihr die Ärztin mit, dass sie sie zur Beobachtung ins Krankenhaus schicken würde.

Franzi schüttelte den Kopf. Ihr war klar, dass man sie den Dackel nicht mitnehmen lassen würde. Sie bat die Ärztin darum, die Veterinärin Frau Dr. Müller zu verständigen und sie zu bitten, sofort zu kommen. Die Ärztin ließ nicht erkennen, ob sie über die ungewöhnliche Bitte ihrer Patientin erstaunt war. Sie nickte lediglich und entfernte sich vom Wagen.

Keine Viertelstunde später kam ein schwarzer SUV angebraust und hielt direkt vor dem Krankenwagen. Erleichtert erkannte Franzi ihre Tierärztin und winkte Frau Dr. Müller zu sich. Vorsichtig nahm die Ärztin den Hund aus Franzis Arm und legte ihn auf den Boden des Krankenwagens. Lange Zeit hörte sie ihn ab, bevor sie seine Lider anhob, um mit einer Lampe hineinzuleuchten. Anschließend holte sie ein Fläschchen aus ihrer Tasche und zog eine Spritze auf, die sie dem Hund verabreichte. Dann wickelte sie das Tier in eine Decke und legte ihn Franzi wieder in die Arme.

„Dem Hund geht es den Umständen entsprechend. Ich kann ihn heute Nacht zur Beobachtung mitnehmen, doch mehr tun, als ihn mit Sauerstoff zu versorgen, kann ich auch nicht. Er hat von mir eine Spritze erhalten, die seine Vitalzeichen stärken soll.“

Sie streichelte dem kleinen Hund liebevoll über das Fell.

„Ich bin ehrlich zu Ihnen, Frau Danner. Entweder er übersteht die nächsten Stunden oder sein Herz packt die ganze Aufregung einfach nicht. Der kleine Kerl hat viel mitmachen müssen. Er ist sehr schwach. Wenn er aus seiner Ohnmacht erwacht, ist er wohl über dem Berg. Wenn nicht …“

Fest sah sie Franzi in die Augen und drückte ihre Hand. „Soll ich ihn mitnehmen?“

Franzi schüttelte den Kopf. Die Tierärztin nickte und stellte ein Täschchen mit einer Sauerstoffflasche neben sie und verabschiedete sich von ihr. Ein Feuerwehrmann kam mit Waschtl an der Leine zum Krankenwagen.

„Den haben wir am Zaun gefunden“, sagte er. „Gehört er vielleicht Ihnen?“

Franzi nickte und nahm die Leine entgegen. Waschtl drückte sich an sie und schnüffelte an dem Bündel in ihrem Arm. Anschließend stupste er mit der Nase dagegen und winselte leise.

„Isch scho gut, Waschtl“, krächzte Franzi. „Deinem Freund wird’s bald besser gehen.“

Die Sanitäter brachten Franzi und die beiden Hunde nach Hause. Sie nahmen noch ihre Daten auf und instruierten sie, viel zu trinken und sofort anzurufen, falls sich ihr Zustand verschlechtern würde.

Als die Sanitäter gegangen waren, schleppte sich Franzi mit den Hunden ins Wohnzimmer. Sie war viel zu fertig, um die Treppe bewältigen zu können. Stattdessen ließ sie sich auf die Couch fallen und vergewisserte sich, dass die Maske fest über Herrn Gustavs Schnauze saß. Der kleine Hund rührte sich noch immer nicht. Franzi legte sich rücklings auf die Couch, Herrn Gustav fest an ihre Brust drückend. Waschtl ließ sich direkt vor dem Sofa nieder und ließ sie nicht aus den Augen. Wieder kamen Franzi die Tränen. Sie fragte sich ununterbrochen, ob Marie noch am Leben war. Die Sanitäter hatten ihr keine Auskunft erteilen wollen und sie mit irgendwelchen Phrasen vertröstet. Sie überlegte, ob sie im Krankenhaus anrufen sollte, wusste aber, dass sie dort nichts würde ausrichten können. Am besten half sie Marie, indem sie sich um ihren Liebling kümmerte. Immer wieder strich sie vorsichtig über das weiche Fell des Dackels. Beruhigt spürte sie die sanften Bewegungen seines Brustkorbs, als die Müdigkeit Franzi übermannte und sie erschöpft einschlief.

Der Morgen graute bereits, als Franzi mit brummendem Schädel erwachte. Sämtliche Vögel der Umgebung begrüßten den neuen Tag mit einem großen Konzert. Kurzzeitig fühlte Franzi sich benommen und wusste nicht, wo sie sich befand, als sie ein Winseln vernahm. Sie blickte an sich herab und sah geradewegs in die Augen von Herrn Gustav, der sie anblinzelte und leise Geräusche von sich gab. Erleichterung durchströmte Franzi. Liebevoll drückte sie den kleinen Hund an sich und streichelte ihn. Dann richtete sie sich vorsichtig auf und legte das kleine Fellknäuel auf der Couch ab. Ihr Hals war kratzig und fühlte sich völlig ausgetrocknet an. Sie musste heftig husten. Als sie aufstand, um sich etwas zum Trinken zu holen, wurde ihr plötzlich schwindlig. Kurz verharrte sie, bis der Schwindel nachließ, dann ging sie in die Küche und trank ein großes Glas kaltes Leitungswasser. Sie seufzte erleichtert. Das Wasser fühlte sich wie Balsam in ihrem wunden Rachen an. Nach kurzem Überlegen kramte sie in einer Schublade. Triumphierend zog sie eine kleine Pipette heraus, die sie sonst benutzte, wenn sie eine ihrer Kräuter-Tinkturen ansetzte.

Sie füllte ihr Glas erneut mit Wasser und lief zurück zur Couch. Dort kniete sie sich neben den kleinen Hund und zog etwas Wasser mit der Pipette auf. Dann schob sie das Gefäß vorsichtig unter die Maske des Hundes und träufelte die Flüssigkeit in sein Maul. Zufrieden bemerkte sie, wie er anfing, an der Pipette zu schlecken. Sie wiederholte die Prozedur, bis das Glas fast leer war. Dem Hund fielen dabei immer wieder die Augen zu. Franzi wickelte vorsichtig eine Decke um ihn und ließ ihn schlafen. Waschtl saß vor der Couch und legte seinen Kopf direkt neben dem kleinen Dackel ab. Erstaunt bemerkte Franzi, dass er nicht einmal nach seinem Frühstück gebettelt hatte. Liebevoll strich sie ihm über den verfilzten Kopf.

„Dein Freund wird scho wieder“, krächzte sie leise. Sie holte seinen Napf aus der Küche und stellte ihn ausnahmsweise neben das Sofa. Waschtl beachtete ihn jedoch nicht, sondern behielt seinen Kumpel fest im Blick.

Franzi schnappte sich ihr Telefon und rief im Augsburger Klinikum an. Es dauerte eine Weile, bis sie mit der richtigen Stelle verbunden war.

„Michels, Station 1.“

„Guten Morgen, hier spricht Danner, Kripo Augsburg.“ Franzi räusperte sich. Ihre Stimme klang immer noch sehr krächzend. „I möcht mich nach ’ner Patientin erkundigen, die geschtern Nacht eing’liefert worden isch. Marie Witting isch der Name.“

„Einen Moment bitte …“ Es knackte vernehmlich in der Leitung.

„Dr. Dengler am Apparat. Sie rufen wegen Frau Witting an?“

„Richtig. Wie geht’s ihr denn?“

Franzis Hände zitterten merklich.

„Sie sind von der Polizei?“

„Ja, des hab i Ihrer Kollegin doch bereits mitgeteilt!“

„Sie wissen ja, dass ich sonst keine Auskunft erteilen darf.“

„Isch mir klar.“

„Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, Frau …“

„Danner.“

„Frau Danner, aber leider ist die Patientin heute Nacht verstorben.“

Franzi schloss entsetzt die Augen und ließ sich an der Wand nach unten sinken.

„Hören Sie?“

„Ja, i bin no da“, flüsterte sie.

„Die Patientin wurde heute Nacht gegen Viertel nach eins zu uns in die Notaufnahme gebracht. Obwohl lebenserhaltende Maßnahmen direkt beim Auffinden der Person eingeleitet worden waren, war leider nichts mehr zu machen.“

„I hab verstanden. Danke für die Auskunft.“

Franzi ließ den Telefonhörer aus der Hand gleiten, schlug die Hände vor die Augen und brach in Tränen aus.

Auf einmal spürte sie eine raue Zunge, die ihr über Gesicht und Hände leckte. Sie schlang die Arme um ihren Hund und zog ihn an sich.

„Waschtl, mein Beschter, du bisch immer zur Stelle, wenn man di braucht!“, flüsterte sie in sein Fell.

Sie gab sich einen Ruck. Herr Gustav! Sie musste sich um den Dackel ihrer Freundin kümmern.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass das Tier weiterhin tief und fest schlief und dass Waschtl seinen Platz neben ihm wieder eingenommen hatte, beschloss sie, schnell zu duschen. Ihr Haar, ihre Klamotten … Alles stank widerlich nach Rauch. Sie ging ins Badezimmer und erschrak. Aus dem Spiegel starrte ihr eine furchterregende Gestalt entgegen. Ihr Haar war so verschmutzt, dass man von seiner ursprünglichen rotbraunen Farbe nichts mehr erkennen konnte, ihr Gesicht war komplett verrußt und von ihren Tränen bis zur Unkenntlichkeit verschmiert. Franzi riss sich die stinkenden Klamotten vom Leib, stopfte sie in den Wäschekorb und stieg in die Dusche. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie den Rauchgeruch nicht mehr wahrnahm. Zweimal wusch sie sich gründlich die Haare, um auch wirklich alles herauszubekommen.

Nach der Dusche fühlte sie sich bedeutend besser. Ihr fiel ein, dass sie vergessen hatte, im Präsidium, wo sie eigentlich erwartet wurde, Bescheid zu geben. Nachdem sie dort angerufen und sich entschuldigt hatte, machte sie sich erst mal eine große Tasse Tee. An ihrem kleinen Esstisch sitzend, beobachtete sie über ihre dampfende Tasse hinweg die beiden Hunde. Herr Gustav schlief weiterhin tief und fest und Waschtl saß ganz in seiner Nähe, die Schnauze auf dem Sofa, seinen Freund fest im Blick behaltend. Immerhin hatte er sein Frühstück inzwischen verputzt.

Franzi fuhr erschrocken auf, als es an der Tür klingelte. Als sie öffnete, war sie nicht wenig erstaunt, Frau Dr. Müller gegenüberzustehen.

„Guten Morgen, Frau Danner. Ich dachte mir, ich sehe mal nach unserem Patienten. Darf ich reinkommen?“

„Natürlich! Guten Morgen! Des isch aber nett von Ihnen!“, krächzte Franzi und wies ihr den Weg.

„Ah, da ist ja unser Kleiner!“

Die Veterinärin stellte ihre Tasche auf dem Boden ab und kniete sich vor die Couch.

„Und der Waschtl passt gut auf dich auf! Wie schön!“

Sie kraulte den zotteligen Vierbeiner, den sie seit vielen Jahren betreute, am Kopf und vergaß nicht, ihm ein Leckerli aus ihrer Jackentasche zu geben.

Franzi setzte sich wieder auf ihren Stuhl und beobachtete die Ärztin bei der Arbeit. Der Dackel ließ die Untersuchung ohne große Regung über sich ergehen.

Als sie fertig war, bot Franzi ihr ein Getränk an.

„Ich würde gerne auch einen Tee nehmen, vielen Dank“, sagte Frau Dr. Müller mit Blick auf Franzis Tasse.

Kurze Zeit später saßen sie sich bei Tee und Gebäck aus der Dose gegenüber.

„Wie geht’s dem Herrn Guschtav?“, erkundigte sich Franzi besorgt.

Frau Dr. Müller lächelte.

„Unserem kleinen Patienten geht’s erstaunlich gut. Sein Herz schlägt kräftig und er scheint sich von dem Schock gut erholt zu haben. Es ist wichtig, dass er immer wieder trinkt, aber lassen Sie ihn ruhig schlafen, soviel er will. Den Sauerstoff braucht er jetzt nicht mehr.“

„Also isch er überm Berg?“

„Ja, definitiv“, bestätigte die Ärztin und nickte.

Franzi seufzte erleichtert.

„I dank Ihnen ganz herzlich!“

Frau Dr. Müller sah sie forschend an.

„Und wie geht’s Ihnen?“

Franzi winkte ab.

„Basst scho.“

„Nein, im Ernst! Sie haben gestern ebenfalls viel durchgemacht, möchte ich meinen!“

Franzi seufzte. „Sie ham ja Recht, aber momentan isch der Herr Guschtav einfach wichtiger.“

„Bitte vergessen Sie nicht, sich auch um sich selbst zu kümmern“, bemerkte die Tierärztin streng, bevor sie den letzten Schluck aus ihrer Tasse trank und aufstand.

Franzi versprach es ihr und begleitete sie zur Tür, wo sie sich herzlich von ihrem Besuch verabschiedete.

Gegen Mittag wachte Herr Gustav auf und schaffte es, nach ein paar wackligen Versuchen, aufzustehen. Er trank ausgiebig und fraß sogar eine kleine Portion Hundefutter, bevor er sich wieder hinlegte und die Augen schloss.

Franzi war beruhigt und beschloss, noch ein wenig ins Präsidium zu fahren. Sie wollte unbedingt herausfinden, was gestern Nacht geschehen war. Ihr war klar, dass die Kollegen in der Nacht noch den Brand aufgenommen haben mussten. Nachdem sie mit Waschtl eine kurze Runde gelaufen war, schwang sie sich auf ihr Fahrrad und fuhr in die Stadt. Ihre Lunge schmerzte, daher ließ sie es gemütlicher als sonst angehen, weshalb sie auch zehn Minuten länger brauchte.

Im Präsidium hatte sich ihr nächtlicher Einsatz bereits herumgesprochen. Franzi hatte die Beamten, die letzte Nacht im Einsatz waren, nicht einmal wahrgenommen, doch natürlich waren sie dort gewesen. Auf dem Weg in ihr Büro wurde sie mehrfach auf den Vorfall angesprochen, doch sie speiste die Kollegen mit einsilbigen Antworten ab. Ihr war nicht nach Reden zumute.

Im Büro atmete sie kurz durch und öffnete das Fenster weit. Ihre Lunge schmerzte immer noch, doch die frische Luft half ihr beim Durchatmen.

Nachdem sie ihren Computer hochgefahren hatte, las sie den Bericht der Kollegen.

Nachts um 0.13 Uhr war ein Notruf bei der Einsatzzentrale eingegangen. Die Kollegen von der Feuerwehr waren beim Eintreffen der Polizei bereits vor Ort. Die Polizisten hatten die Straße weiträumig abgesperrt und die Feuerwehrleute bei der Betreuung der Anwohner unterstützt. Franzi fand auch ihren Namen in dem Bericht. Offenbar hatten die Sanitäter ihn weitergegeben. Marie war um 0.20 Uhr aus dem Haus geholt worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihre Freundin bereits keinen Puls mehr gehabt, was sich mit ihren Beobachtungen deckte. Deshalb waren von den Sanitätern umgehend Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet worden. Sie atmete tief durch und blinzelte die aufsteigenden Tränen weg. Der Kollege hatte um 2.10 Uhr einen weiteren Eintrag vorgenommen: Das Krankenhaus hatte den Tod der Patientin vermeldet.

Kurz entschlossen nahm Franzi den Telefonhörer in die Hand und bat die Frau in der Zentrale, sie mit der Feuerwehr zu verbinden. Kurze Zeit später hatte sie Branddirektor Husmann von der Berufsfeuerwehr Augsburg an der Strippe.

„Was kann ich für Sie tun, Frau Kommissarin?“

„I würd gern mit Ihnen über den Brand in Göggingen heut Nacht sprechen.“

„Warten Sie, ich öffne die entsprechende Akte in meinem PC. … So, jetzt … Was wollen Sie wissen?“

„Ham Ihre Leit scho was rausg’funden wegen der Brandursache?“

„Brandoberinspektor Schneider hat in seinem Bericht vermerkt, dass er davon ausgeht, dass das Feuer ausgebrochen ist, da die Tür des Kaminofens nicht ordnungsgemäß verschlossen war. Die Tür stand offen, als die Kollegen das Haus untersuchten.“

„Niemals!“

„Wie bitte?“ Die Stimme von Branddirektor Husmann klang leicht irritiert.

„I wollt sagen, dass es mir schwerfällt, des zu glauben. Die Frau Witting war in der Hinsicht äußerscht zuverlässig!“

„Sagen Sie, Frau Kommissarin Danner, wieso interessiert sich eigentlich die Kripo für den Fall?“, fragte Herr Husmann misstrauisch. „Wenn Sie irgendwelche Ansatzpunkte für ein Verbrechen haben, müssen Sie uns die mitteilen!“

„Reine Routine“, behauptete Franzi. Üblich war ihre Vorgehensweise keineswegs, was ihr durchaus bewusst war. Erst wenn die Feuerwehr Anzeichen für eine mögliche Brandstiftung feststellte, fing die Kripo normalerweise an zu arbeiten.

„Und Sie ham keinerlei Anzeichen für Fremdverschulden feschtstellen können?“

„Nein, Frau Kommissarin, das haben wir nicht, sonst wäre das ja wohl in der Akte vermerkt“, antwortete Herr Husmann mit deutlich verärgertem Unterton. „Meine Mitarbeiter haben heute Vormittag noch einmal eine gründliche Begehung des Brandortes durchgeführt und keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden gefunden. Trotzdem wurden an verschiedenen Stellen Proben entnommen und ins Labor überstellt.“

„Proben?“

„Reine Routine. Man sucht nach möglichen Brandverstärkern.“

„Also doch Brandstiftung?“

„Nein, das ist so üblich. Wir gehen momentan davon aus, dass das Feuer im Bereich des Kamins seinen Ursprung nahm.“

„Vielen Dank für die Informationen“, sagte Franzi ernüchtert. „Auf Wiederhören!“

Sie legte auf und lehnte sich nachdenklich in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Marie sollte die Tür ihres Kaminofens nicht richtig verschlossen haben? Das hielt sie für ausgeschlossen. Marie war immer äußerst sorgfältig gewesen und hatte Franzi oft genug gepredigt, im Umgang mit ihrem eigenen Holzofen nur ja vorsichtig zu sein. Es war daher einfach nicht denkbar, dass sie selbst vergaß, die Tür ordentlich zu verschließen!

Sie nahm sich noch mal den Bericht vor und las, dass ihre Kollegen bereits mit Maries Sohn Martin Kontakt aufgenommen hatten. Seine Handynummer war im Bericht vermerkt.

Franzi nahm erneut den Hörer auf und wählte die angegebene Nummer. Nach kurzem Läuten meldete sich eine männliche Stimme.

„Witting?“

„Griaß Sie, Herr Witting. Hier spricht die Franzi Danner.“

„Danner … Etwa die Franzi Danner aus Göggingen?“

„Genau die. Wir ham uns ja eine Ewigkeit net mehr g’sehen, Herr Witting. I glaub, des letzte Mal war am 70. Geburtstag Ihrer Mutter.“

Martin Witting räusperte sich. „Ja, das ist gut möglich. Ich war nicht sehr häufig in Augsburg.“

„Herr Witting, i möcht Ihnen von Herzen mein Beileid zum Tod Ihrer Mutter aussprechen. I hab Marie wirklich sehr gern g’habt!“

„Ich danke dir … Ich meine, ich danke Ihnen.“

„Sie dürfen mich gern wie früher duzen.“

„Meine Mutter hat immer von dir erzählt, wenn wir telefoniert haben“, sagte Martin Witting. „Du hast sie öfter besucht, stimmt’s?“

Franzi berichtete ihm von ihrem letzten Besuch bei seiner Mutter am Vortag des Brandes.

„Du warst also gestern noch bei Mutter?“ Seine Stimme klang ungläubig.

„Richtig. Wir ham gemütlich im Garten g’sessen und miteinander gequatscht.“

„Wie ging es ihr?“

Franzi überlegte. „Marie ging es gut, Herr Witting. Sie hat über früher g’sprochen und dass sie es nicht leicht g’habt hat, nach dem Tod Ihres Vaters. Sie hat au von Ihnen g’sprochen.“

„Von mir?“, fragte er erstaunt.

„Ja, Marie hat g’sagt, dass sie so froh war, Sie zu haben. Sie ham Ihrer Mutter über ihren schlimmen Verlust hinwegg’holfen. Sie hat g’sagt, dass Sie Ihrem Vater sehr ähnlich sehen.“

„Wir haben dieselben Augen, sagte Mutter immer.“ Herr Wittings Stimme klang eigentümlich belegt.

„Herr Witting, Ihre Mutter war a ganz liebe, starke Frau. I weiß, dass sie z’frieden war mit ihrem Leben. Des hat sie oft genug gesagt.“

„Ich danke dir! Es tut mir wirklich gut, das zu hören. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, dass ich so selten nach Augsburg gekommen bin. Aber die Arbeit … Du weißt sicher, was ich meine. Irgendwas ist immer und auf einmal ist es zu spät …“

„Haben Sie vor, demnächst nach Augsburg zu kommen?“, fragte Franzi.

„Ja, ich komme die nächsten Tage. Ich muss mich ja um die Beerdigung kümmern und hab jede Menge Formalitäten zu erledigen.“ Er seufzte tief. „Eddie hab ich übrigens auch schon Bescheid gegeben. Du kennst ihn ja noch von früher. Er wird sich ebenfalls demnächst einfinden.“

„Des isch gut. Melden Sie sich doch bei mir, wenn Sie da sind. I würd mi freuen!“

„Mach ich! Auf Wiederhören!“

Es knackte in der Leitung, als Herr Witting das Gespräch beendete.

Da musste Marie erst sterben, bis ihre Liebsten sich endlich aufrafften, sie zu besuchen … Franzi schüttelte den Kopf. Nein, so durfte sie nicht denken. Marie hätte das nicht gewollt. Sie hatte immer Verständnis für ihre Familie gehabt und keinesfalls gewollt, dass sie sich ihretwegen Umstände machten. Maries Worte von gestern kamen Franzi wieder in den Sinn: Man kann nicht in die Menschen hineinblicken, hatte sie gesagt. Wie recht sie gehabt hatte! Wusste Franzi, warum Martin so selten nach Augsburg gekommen war oder was in Eddies Leben vorging? Nein, das wusste sie nicht. Also sollte sie auch nicht vorschnell über Dinge urteilen, ohne die Hintergründe zu kennen. Franzi nahm sich fest vor, sich diese Tatsache immer wieder vor Augen zu halten. Es hätte Marie sicher gefreut, wenn sie gewusst hätte, dass sich Franzi ihre Worte so zu Herzen nahm. Eine Art von Maries Vermächtnis. Das Einzige, was ihr noch von ihrer Freundin geblieben war! Das Einzige? Unwillkürlich musste Franzi an Herrn Gustav denken. Ihr fiel ein, dass sie mit Martin noch gar nicht über Maries Hund gesprochen hatte! Sicherlich würde er ihn mitnehmen wollen. Kurz überlegte sie, ihn nochmals anzurufen, entschied dann aber zu warten. Wenn er in den nächsten Tagen nach Augsburg käme, wäre immer noch genug Zeit, mit ihm darüber zu sprechen.

Franzi beschloss, noch ihren Posteingang durchzugehen. Ein paar E-Mails beantwortete sie direkt, die anderen schob sie auf. Am Montag würde es auch noch reichen, darauf zu antworten. Zum Glück war Freitag und sie hatte am Wochenende etwas Zeit, sich zu erholen. Ihr Kopf brummte. Die Ärztin hatte sie gewarnt, dass sie mit stärkeren Kopfschmerzen rechnen musste und es langsam angehen sollte. Franzi fuhr den PC runter. Genau das würde sie jetzt tun! Es langsam angehen lassen! Sie würde nach Hause zu radeln und die Arbeit für heute gut sein lassen.

Auf dem Heimweg machte sie einen kleinen Umweg. Warum, wusste sie auch nicht so genau. Erst als sie in Maries Straße einbog, wurde ihr bewusst, wo sie war. Zögerlich fuhr sie weiter. Der Brandgeruch war immer noch deutlich wahrnehmbar. Vor Maries Grundstück war ein Bauzaun angebracht worden, um Neugierige fernzuhalten. Dennoch standen einige Menschen davor und unterhielten sich aufgeregt.

Franzi schluckte, als Maries Haus in ihr Blickfeld kam. Der Dachstuhl war halb eingestürzt. Die Wände waren verrußt und die Fenster glichen schwarzen Löchern, die sie unheilvoll anstarrten. Wo Maries geliebtes Blumenbeet gewesen war, hatten schwere Stiefel großen Schaden angerichtet. Der einst gepflegte Rasen glich einem Schlammfeld. Die Gartenmöbel, auf denen Franzi erst am Vortag mit Marie gesessen hatte, lagen umgekippt auf dem Boden. Die Bezüge wiesen etliche Brandlöcher auf. Maries Heim war nicht wiederzuerkennen. Franzi fuhr langsam weiter, als sie eine bekannte Stimme vernahm.

„Wissen Sie, die alte Frau war nicht mehr ganz Herrin ihrer Sinne“, vernahm sie plötzlich eine Stimme aus der Menge. „Dement, verstehen Sie? Kein Wunder, dass so etwas passiert ist! Wir können von Glück sagen, dass unser eigenes Haus verschont geblieben ist!“

Franzi hielt mit quietschenden Bremsen neben der Gruppe an.

„Was fällt Ihnen ein, so über Marie zu reden!“, schrie sie wütend.

Die Leute drehten sich erstaunt um und gaben die Sicht auf Frau Klein frei, die vor Maries Grundstück stand und Hof hielt.

„Sie schon wieder!“, bemerkte sie spitz.

„Ja, i scho wieder!“, keifte Franzi sie an. „Dass Sie’s nur wissen, Marie war eine herzensgute Frau und keineswegs“, sie zeichnete imaginäre Gänsefüßchen in die Luft, „nicht mehr Herrin ihrer Sinne oder gar dement!“ Wütend funkelte sie Frau Klein an. „Marie isch no keinen Tag tot und Sie erdreischten sich allen Ernschtes, infame Lügen über sie zu verbreiten! Dass Sie sich net schämen!“

Ein paar der sensationslüsternen Spaziergänger traten betreten den Rückzug an.

„Lügen? Dass ich nicht lache!“ Frau Klein deutete auf die Ruine. „Sieht das etwa so aus, als wäre Frau Witting noch in der Lage gewesen, sich selbst zu versorgen?“ Sie schnaubte empört. „Mehr als einmal habe ich ihr in meiner Gutherzigkeit angeboten, ihr das Grundstück abzukaufen. Sie hätte sich von dem Geld noch ein paar schöne Jahre im Altersheim machen können. Wir können von Glück sagen, dass wir noch leben, mein Mann und ich!“

„Wenn i Sie wäre, würd i mich hier aber ganz schnell schleichen“, knurrte Franzi bedrohlich und machte Anstalten abzusteigen.

Frau Klein lief schnellen Schrittes auf ihr Haus zu.

„Da hört sich doch alles auf! Das war eine Drohung! Sie haben es alle gehört!“ Hektisch sah sie sich um, doch die wenigen verbliebenen Menschen machten keine Anstalten, ihr zu Hilfe zu kommen. Rasch sperrte sie ihre Tür auf und wandte sich nochmals Franzi zu.

„Ich rufe jetzt die Polizei, da können Sie sich sicher sein, Sie unverschämte Person, Sie!“

„Die Polizei isch scho da.“ Franzi grinste und zog in aller Ruhe ihren Ausweis aus der Tasche.

„Das ist ja wohl die Höhe!“, kreischte Frau Klein empört und warf die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

Franzi atmete tief durch und stieg wieder auf ihr Fahrrad. Ihr Kopf pochte inzwischen unerträglich, und sie sehnte sich nach Ruhe. Die Auseinandersetzung mit dieser schrecklichen Person hatte sie viel Kraft gekostet.

„Die Frau Witting war eine ganz liebe Frau“, sagte auf einmal jemand mit leiser Stimme direkt neben ihr. Franzi sah erstaunt auf und erblickte eine zierliche Frau so um die siebzig in einer blau gestreiften Kittelschürze. Sie trug ihr schneeweißes Haar streng nach hinten in einen ordentlichen Dutt gebunden und blickte Franzi durch die dicken Gläser ihrer Goldrandbrille warm an.

„Ich wohne nur ein paar Häuser weiter“, erklärte sie und deutete die Straße runter. „Ich hab mich immer wieder gern mit Frau Witting über den Gartenzaun hinweg unterhalten. Ich werde die alte Dame sehr vermissen.“

Franzi lächelte. „Das werde ich auch“, sagte sie leise. „Vielen Dank für Ihre lieben Worte.“ Sie nickte der Frau freundlich zu, bevor sie in die Pedale trat.

Als sie kurz darauf zu Hause war und sich vergewissert hatte, dass es den beiden Vierbeinern gut ging, setzte sie sich auf ihre Terrasse und massierte mit kreisenden Bewegungen Pfefferminzöl auf ihre Schläfen. Tief sog sie den intensiven Geruch in die Nase und bildete sich ein, dass ihre Kopfschmerzen schon erträglicher wurden. Erleichtert schloss sie die Augen und döste etwas in der warmen Nachmittagssonne vor sich hin. Als es kühler wurde, zog sie sich ins Haus zurück. Ihr fiel ein, dass sie vergessen hatte, einkaufen zu gehen, doch Spaghetti mit Pesto gingen immer. Nach dem Essen machte sie es sich mit den Hunden auf der Couch gemütlich.