Leseprobe Be mine

Kapitel 1

-Olivia-

Es ist ein regnerischer Donnerstagmorgen, als ich ihm das erste Mal begegne. Mit ruhigen Schritten betritt er gemeinsam mit unserer Englischlehrerin Mrs Clark den Raum. »Bitte begrüßt mit mir Tae-sung Choi. Er ist erst kürzlich aus Seoul hierhergezogen und wird bis zum Sommer im Rahmen eines Austauschprogramms in eurer Klasse sein«, erklärt sie mit einem Lächeln und deutet auf den jungen Mann neben sich. Er nickt leicht, seine Augen wandern neugierig durch den Klassenraum.

»Welches Austauschprogramm beginnt denn erst so kurz vor den Prüfungen?«, meint meine beste Freundin Chelsea verwundert und stößt mir ihren Ellenbogen in die Seite, damit ich ihr Beachtung schenke, statt Tae-sung anzustarren. Ich reagiere nicht auf ihre Worte, denn meine gesamte Aufmerksamkeit gilt dem neuen Schüler. Es kommt zwar nicht selten vor, dass wir hier am CATS College Schüler aus aller Welt haben, weil es eine Privatschule mit internationalem Ruf ist, doch etwas an Tae-sungs Art zieht meinen Blick beinahe magisch an. Neugierig betrachte ich seine hochgewachsene und schlanke Gestalt. Die Schuluniform, die aus dunkelblauer Hose, weißem Hemd und dem Pullunder mit roten und braunen Rauten besteht, wirkt an ihm so anders als an den anderen Jungs in meiner Klasse. Er sieht darin wesentlich eleganter aus, was man vom Rest der Klasse, einschließlich mir, kaum behaupten kann. Seine dunklen Augen versteckt er hinter einer schwarzen Hornbrille mit dicken Gläsern.

Der junge Mann streicht sich sein dunkelbraunes Haar aus der Stirn. Sogleich fällt mir ein silberner Ring an seinem kleinen Finger auf, der einzige Schmuck, den er trägt. Sein Gesichtsausdruck zeigt eine Gelassenheit, als wäre er jemand, der viel Aufmerksamkeit von fremden Menschen gewohnt ist. Dennoch wirkt er zurückhaltend, um sie nicht übermäßig auf sich zu ziehen.

Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Unsere Blicke treffen sich für den Bruchteil einer Sekunde – und für einen Moment stockt mein Herz, nur, um dann in doppeltem Tempo weiterzuschlagen. Tae-sung schiebt sich mit dem Zeigefinger die Brille etwas höher auf die Nase und grinst mich geradewegs an. Sofort wende ich peinlich berührt mein Gesicht ab und fixiere die leere Seite meines Collegeblocks vor mir auf dem Tisch.

Wieder stößt mich Chelsea an. »Hey Liv, du hast den Kerl ja angestarrt, als wäre er vom Himmel gefallen.« Sie kichert leise hinter vorgehaltener Hand. Röte schießt mir ins Gesicht. Keine Ahnung, woher mein plötzliches Interesse für den Neuen herkommt, aber der intensive Blick aus seinen braunen Augen ging mir gerade unter die Haut.

»Ach was, er hat doch ebenfalls gestarrt«, erwidere ich ebenso leise, damit nur sie mich hört und versuche meine Stimme dabei ganz beiläufig klingen zu lassen, auch wenn mein Herz immer noch wie wild gegen meinen Brustkorb hämmert. Erneut hebe ich möglichst unauffällig den Kopf. Mrs Clark hat ihn bereits auf einen der freien Plätz in der ersten Reihe geschickt.

Chelsea lehnt sich auf ihrem Stuhl vor und stützt ihr Gesicht in den Ellenbogen, während sie mich neugierig mustert. Das macht sie immer, wenn sie der Meinung ist, ich würde etwas vor ihr verbergen wollen. Ich weiche ihrem eindringlichen Blick jedoch gekonnt aus.

»Ich mag seine Augen«, sagt sie dann geradeheraus. »Sie sind so … mh, irgendwie geheimnisvoll.«

Ich schlucke nervös. Genau dasselbe habe ich ebenfalls gedacht, als sich unsere Blicke kurz begegnet sind. Es kam mir sogar so vor, als würde er nur mich ansehen und den Rest der Klasse einfach ausblenden.

»Chelsea. Olivia. Eure Privatgespräche könnt ihr in der Pause führen. Wir beginnen jetzt mit dem Unterricht«, mahnt unsere Englischlehrerin. Beim Klang ihrer strengen Stimme zucke ich regelrecht zusammen und drehe mich wieder nach vorn. Doch ich schaue nicht an die Tafel, an der unsere Lehrerin gerade den Termin für den nächsten Test notiert, sondern geradeaus auf Tae-sungs Nacken. Seine Haare sind dort etwas kürzer als das Haupthaar, weshalb mir sofort ein kleines Tattoo auffällt. Es ist ein Stern mit einigen Schriftzeichen drum herum, die ich nicht deuten kann. Tae-sung bewegt sich und fährt sich mit der Hand kurz über Hinterkopf und Nacken, als hätte er meinen intensiven Blick gespürt. Diese Geste sorgt dafür, dass auch ich endlich meinen Blick von ihm abwende und mich auf den Englischunterricht konzentriere, um nicht erneut von Mrs Clark ermahnt zu werden.

***

In der Pause umringen einige meiner Klassenkameradinnen Tae-sungs Tisch, und verwickeln den Neuen in ein Gespräch. Chelsea und ich haben uns an einen Platz auf den Fensterbänken zurückgezogen, um ein bisschen Musik zu hören.

Ich stelle ein Bein auf das Fensterbrett, auf dem ich hocke, ziehe es an den Körper und umschlinge es mit den Armen. Aus meinen Kopfhörern dröhnt der Bass von Linkin Park, meine absolute Lieblingsband, auch wenn sie schon sehr lange keine neue Musik mehr herausgebracht haben. Dennoch höre ich ihre Musik häufig in Dauerschleife.

Wieder sehe ich zu Tae-sung rüber, der sich gerade mit Ava unterhält.

»Warum er sich wohl gerade unsere Schule ausgesucht hat?«, frage ich an meine beste Freundin gewandt.

Chelsea scheint mir nicht zugehört zu haben, denn sie nickt bloß ununterbrochen mit dem Kopf zum stummen Beat des Songs, den sie gerade hört. Ihre Füße wippen dabei zum Takt der Musik und die Absätze ihrer Stiefeletten trommeln in einem stetigen Rhythmus gegen die Wand. Ich ziehe mir den Stöpsel meiner Kopfhörer aus dem rechten Ohr und sofort wird die Stimme von Chester Bennington leiser.

»Was hörst du denn?«, frage ich Chelsea dieses Mal etwas lauter. Nachdem ich sie sanft an der Schulter rüttele, schenkt sie mir endlich ihre Aufmerksamkeit, bevor ich meine Frage wiederhole.

»Luv Affair«, lautet ihre Antwort, mit der ich nichts anfangen kann. Weil ich sie bloß irritiert ansehe, reicht sie mir einen ihrer Ohrstöpsel. Klavierklänge dringen zu mir durch, als ich dem Lied lausche. Eine sanfte Männerstimme, tief und wohltönend, singt in einer mir unbekannten Sprache. Die Stimme fasziniert mich und zieht mich sofort in ihren Bann. Das Lied beginnt sanft wie eine Ballade, doch nach der ersten Strophe erklingt ein Schlagzeug und weitere Instrumente, sodass die Musik Fahrt aufnimmt. Auch der Gesang ändert sich, wird schneller und fliegt mit jeder Zeile und jedem Wort einfach davon. Ich schließe die Augen und lasse den Song auf mich wirken. Irgendwie ist dieser Song ganz anders als das, was ich normalerweise höre, dennoch nimmt sie mich sofort ein und hinterlässt ein wohlig warmes Gefühl in meinem Inneren.

»Und? Was sagst du?«, fragt sie mit einem neugierigen Funkeln in ihren braunen Augen.

»Klingt wirklich gut. Aber ich habe kein Wort verstanden«, gebe ich zu. Chelsea kichert.

»Würde mich auch wundern, wenn du auf einmal koreanisch sprechen könntest. Luv Affair ist in Korea und auch international gerade total angesagt, obwohl die Jungs alle kaum älter sind als wir. Das älteste Mitglied Tae ist gerade zwanzig geworden. Er hat an Heiligabend Geburtstag, ist das nicht romantisch?« Sie schüttelt grinsend den Kopf. »Mann, Liv, du lebst echt hinterm Mond, wenn du von Luv Affair bisher noch nichts gehört hast. Die Band ist fast über Nacht in ganz Asien so berühmt geworden, wie keine andere K-Pop Band vor ihnen. Ihre erste Single Shine on und das gleichnamige Studioalbum landete direkt in den Top Ten der Charts und kletterte in nur wenigen Wochen auf Platz eins, wo es sich ziemlich lange hielt. Auch in Amerika und Deutschland feiern sie bereits große Erfolge.« Ihr Blick wandert zu dem Neuen rüber. »Bestimmt kennt Tae-sung ihre Musik ebenfalls. Er kommt doch aus Seoul, wo das Plattenlabel der Band ist.«

»Aha«, entgegne ich bloß, weil ich mit Chelseas Schwärmerei nichts anfangen kann, und schaue nochmal zu ihm rüber. Ava steht immer noch an seinem Tisch und verschlingt ihn mit ihren Blicken. Tae-sung merkt offenbar nicht, wie sie mit ihm zu flirten versucht. Ava streicht sich in einer theatralischen Geste die blonden Haare zur Seite und beugt sich noch weiter über seinen Tisch, sodass er ihr ins Dekolleté schauen kann. Von meinem Platz am Fenster kann ich deutlich erkennen, dass sie die ersten Knöpfe ihrer weißen Bluse so weit geöffnet hat, wie es Schuluniform zulässt. Tae-sung wirkt von ihr jedoch kaum beeindruckt, was mich triumphierend grinsen lässt. Es ist nicht so, dass ich Ava ihr gutes Aussehen und ihre Anziehung auf Männer nicht gönne, doch manchmal nervt ihr Verhalten. Kaum ein Mann kann Ava widerstehen und jeder, dem ihr Interesse bisher galt, landet früher oder später in ihren Fängen. Deshalb amüsiert es mich gerade wirklich, wie gekonnt Tae-sung ihre Annäherungsversuche ignoriert.

»Bist du ganz allein nach London gekommen? Hast du eine eigene Wohnung? Ich stelle es mir richtig anstrengend vor einfach in ein völlig fremdes Land zu kommen. Die neue Sprache, die westliche Kultur … sag mal, seid ihr drüben eigentlich alle Buddhisten?«, höre ich sie fragen, ohne ihm Zeit zum Antworten zu geben. Ihre helle Stimme ist laut, als wolle sie, dass jeder im Raum ihr Gespräch mitbekommt. Ava drängt sich gern in den Mittelpunkt, weshalb sie nicht von jedem in der Klasse gemocht wird. Auch Chelsea und ich distanzieren uns von ihr, weil wir mit ihrer Art nicht zurechtkommen. Doch ich glaube, dass sie im Grunde wohl eher wenige richtige Freundinnen hat.

»Ja und nein. Ich bin es eigentlich gewohnt, allein für mich zu sorgen«, antwortet Tae-sung auf ihre erste Frage. »Deshalb habe ich auch eine eigene Wohnung hier in … King’s Road?«

Wow, ich kann kaum einen Akzent heraushören; sein English ist beinahe perfekt. Ob er an seiner alten Schule so gut Englisch gelernt hat?

»Du wohnst drüben in Chelsea? Wow! Sicher ist es eins der schicken Herrenhäuser, oder? Also meine Eltern–«, beginnt Ava erneut zu erzählen, ohne eine weitere Erklärung von Tae-sung zu erwarten oder ihn auch nur zu Wort kommen zu lassen. Ich schüttele über ihr Verhalten den Kopf. Da macht sie den Anschein den Neuen kennenlernen zu wollen, aber eigentlich redet sie doch nur über sich selbst.

Ich stoße mich von der Fensterbank ab und hüpfe zu Boden.

»Hey, wo willst du so plötzlich hin? Die Pause ist doch noch gar nicht rum«, ruft mir Chelsea nach, aber ich antworte ihr nicht mehr. Irgendwie verspüre ich das Bedürfnis, den Neuen aus Avas Fängen zu befreien. Dicht neben Ava bleibe ich stehen, um ihrem Gespräch zu lauschen. Tea-sung sieht kurz zu mir rüber, doch Ava bemerkt meine Anwesenheit gar nicht.

»Wieso hast du dich gerade für unsere Schule entschieden?«

»Sie wurde mir von–« Er räuspert sich, als würde er nach Worten suchen. »Sie wurde mir empfohlen, weil ich hier meinen Abschluss nachholen kann«, entgegnet er nach einer kurzen Pause. Ich mustere ihn genauer. Tae-sung hat die Stirn in Falten gelegt und ein angespannter Zug liegt um seinen Mund. Das Gespräch mit Ava ist ihm unangenehm, vermutlich will er einfach seine Ruhe haben, statt von ihr mit Fragen gelöchert zu werden.

»Hey, soll ich dich ein bisschen im Schulgebäude herumführen?«, frage ich ihn geradeheraus und sehe ihm dabei fest in die Augen. Er hebt überrascht den Blick, weil er mit meiner Offensive nicht gerechnet hat. Ich bin ebenfalls von mir selbst überrascht, da ich mir den Drang, in seiner Nähe sein zu wollen, nicht erklären kann. Ava stemmt beleidigt die Hände in die Hüften und setzt bereits zu einer Erwiderung an, doch zu meiner Überraschung erhebt sich der Neue von seinem Platz und nickt.

»Sehr gern. Es würde mir wirklich helfen, mich hier besser zu orientieren«, stimmt er mir zu und geht auch schon an mir vorbei zur Tür. Dann wirft er mir einen Blick über die Schulter zu, weil ich mich nicht von der Stelle rühre. Schnell eile ich ihm nach.

Eigentlich war es nicht notwendig, ihm das Gebäude zu zeigen, denn viel gibt es hier nicht zu sehen. Lediglich von Avas nervigen Fragen wollte ich ihn retten.

In einigem Abstand gehe ich hinter Tae-sung her, schaue dabei auf den Fußboden vor mir, statt vorauszueilen und jeden meiner Schritte zu kommentieren. Seine Gegenwart fühlt sich seltsam an. Sie ist mir nicht unangenehm, aber ich bekomme eine Gänsehaut, sobald er mich aus seinen dunkelbraunen Augen ansieht. Dieses Gefühl ist unheimlich und doch irgendwie schön. Wir hatten schon öfter Austauschschüler in unserer Klasse, die ein oder zwei Jahre blieben, da ist Tae-sung keine Ausnahme. Warum fühlt sich Tae-sungs Nähe also so anders an? Ist es das Fremdartige an ihm, das mich neugierig macht? Oder sein Aussehen und seine Ausstrahlung, die mich in den Bann ziehen?

Er stoppt abrupt und dreht sich zu mir um, sodass ich merklich zusammenzucke, da ich zu sehr in meinen eigenen Gedanken versunken gewesen bin. Der Neue sieht zu einer großen Flügeltür, vor der wir in einiger Entfernung stehen geblieben sind. Leise Musikklänge dringen durch die Tür zu uns durch.

»Was ist dort?«, fragt er mich unvermittelt – die einzigen Worte nach einer Ewigkeit scheint mir.

»Der Musikraum. Hier probt die Theater-AG oder einige andere Schüler, die etwas auf dem bevorstehenden Schulfest vorführen wollen«, erkläre ich ihm. »Ansonsten wird der Raum auch oft als Aula für Versammlungen oder bei Prüfungen genutzt.«

Er nähert sich der Tür und späht durch das kleine Glasfenster am oberen Rand. Ich stelle mich neben ihn und sehe ebenfalls hinein. Unsere Musiklehrerin Mrs Kelly sitzt gerade am Klavier und spielt eins der Stücke für die Theater-AG, während sich zwei der Mitglieder dazu auf der Bühne, am hinteren Ende des Raums bewegen. Chelsea ist ebenfalls dort Mitglied, probt jedoch nur nach Unterrichtsschluss, weil unsere Kurse sich mit denen der anderen Klassen überschneiden.

Ich werfe Tae-sung einen kurzen Blick zu. Er scheint ganz fasziniert von den sanften Klängen des Klaviers zu sein. Auch ich mag es, wie unsere Lehrerin spielt. Ihre Hände fliegen dabei mit einer Leichtigkeit über die Tasten, die ich ansonsten nur von Musikern aus dem Fernsehen kenn. Leider bin ich selbst ziemlich unmusikalisch, obwohl ich gern Musik höre. Genau aus diesem Grund habe ich den Musikunterricht in diesem Schuljahr abgewählt und mich stattdessen für Kunst entschieden, um mir meinen Notendurchschnitt nicht unnötig zu ruinieren. Hauptsache ich kann auf dem Abschlusszeugnis ein kreatives Fach aufweisen.

»Kannst du ein Instrument spielen?«, frage ich ihn schließlich, weil ich das Schweigen zwischen uns nicht mehr aushalte. Tae-sung nickt langsam, ohne den Blick jedoch von Mrs Kelly abzuwenden.

»Klavier«, murmelt er.

»Oh, das ist doch super. Dann hast du sicher den Musikkurs belegt, oder?«, frage ich ihn und freue mich innerlich, weil ich ein unverfängliches Thema gefunden habe, über das wir reden können. Nun dreht er den Kopf zu mir und schaut mich geradewegs an. Er ist ein ganzes Stück größer als ich, sodass ich den Kopf heben muss, um in sein Gesicht zu sehen. Etwas blitzt in seinen Augen auf, erlischt jedoch so schnell, weshalb ich fast glaube, es mir bloß eingebildet zu haben.

»Nein habe ich nicht. Ich werde nur wenige Monate an dieser Schule bleiben, da will ich mich auf die wichtigen Hauptfächer konzentrieren«, entgegnet er beinahe tonlos, steckt die Hände in die Hosentaschen seiner Schuluniform und wendet sich bereits zum Gehen.

»Konntest du an deiner alten Schule keinen Abschluss machen? Hast du die Schule abbrechen müssen?«, frage ich, weil ich diese Information während seines Gesprächs mit Ava aufgeschnappt hatte, und schließe zu ihm auf. Jetzt bin ich mit meinen Fragen zwar nicht besser als Ava, doch irgendwas an ihm ist komisch. Wer wechselt mitten im Jahr an eine neue Schule, dazu noch in einem fremden Land und belegt ausschließlich Hauptfächer?

»Nein, ich … Ich wollte einfach mal raus. Eine kleine Auszeit von meinem Leben …«, merkt er an, während wir den langen Flur entlanglaufen.

»Von deinem Leben?«, frage ich mit gerunzelter Stirn, denn seine Antwort verwirrt mich. »Geht das so einfach?«

Die Eingangstür kommt vor uns in Sicht. Tae-sung stößt sie mit einem Ruck auf und tritt ins Freie. Wind bläst mir entgegen und ich schlinge automatisch die Arme um meinen Körper. Der Pullunder schützt mich kaum vor der winterlichen Kälte.

»Scheiße ist das kalt!«, entfährt es mir sofort. »Dieser blöde Regen … Wann hört es endlich auf?«

Tae-sung macht noch einen Schritt vor, verlässt den schützenden Unterstand des Vordachs und hebt sein Gesicht gen Himmel. Einzelne Tropfen prasseln auf ihn herab, laufen wie Tränen über seine Wangen, benetzen sein dunkles Haar und das weiße Hemd unter dem Pullunder. Nach nur wenigen Augenblicken ist er klatschnass.

Geschockt starre ich ihn an. Was zur Hölle stimmt nicht mit ihm? Kein normaler Mensch würde sich freiwillig in den strömenden Regen stellen, schon gar nicht mitten am Tag, wenn der Unterricht noch nicht vorbei ist. Doch statt ihn aus dem Regen zu zerren oder etwas zu sagen, kann ich ihn nur mit offenem Mund ansehen.

Wie er dort steht, die Augen geschlossen und das Gesicht gen Himmel gerichtet, wirkt er beinahe wie gemalt. Seine helle Haut steht im Kontrast zu den dunklen Haaren, die durch die Nässe fast schon schwarz wirken. Sein Anblick löst etwas in mir aus, lässt mein Herz plötzlich wie wild in meiner Brust hüpfen. Auch wenn wir uns erst wenige Stunden kennen, fühle ich mich in seiner Nähe geborgen.

Langsam mache ich einen Schritt auf ihn zu und stelle mich dicht neben ihn in den prasselnden Regen. Und tatsächlich ist das kühle Nass beinahe angenehm auf meiner Haut. Ohne Tae-sung hätte ich bei diesem Mistwetter keinen Fuß vor die Tür gesetzt, wenn ich es nicht unbedingt gemusst hätte.

»Ich liebe Regen«, sagt er nach einer ganzen Weile des Schweigens. »Er berührt etwas ganz tief in mir, das ich nicht erklären kann.« Seine Stimme klingt voll und fest, und ist das einzige Geräusch, das durch den Regen zu mir durchdringt. Ich atme die kühle Luft ein, schließe meine Augen ebenfalls und versuche das Bild, das mich jedes Mal bei Regenwetter überkommt, aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Aber dieses Mal ist es anders als sonst. Dieses Mal spüre ich keinen Schmerz und Leere, sondern lediglich eine Stille, in die ich hineinhorche.

»An so einem Regentag habe ich meine Mum das letzte Mal gesehen«, bringe ich die Worte über die Lippen, die ich sonst nur selten ausspreche. Meine Freunde wissen, dass ich ein Scheidungskind bin, daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Gleichzeitig rede ich nicht unbedingt gern über diesen Tag, weil mich ihr Verschwinden unglaublich verletzt und geprägt hat. Es fällt mir schwer mich jemandem Fremden anzuvertrauen und ihm gegenüber meinem Herz zu öffnen, aus Angst erneut verlassen zu werden. Wieso ich nun gerade Tae-sung davon erzähle, da wir uns praktisch gar nicht kennen, weiß ich nicht. Nur Chelsea hat es mit ihrer Starrköpfigkeit geschafft, sich in mein Herz zu schleichen. Sie hat mich im Kindergarten einfach an der Hand genommen und nie wieder losgelassen, wofür ich ihr immer noch unendlich dankbar bin. Warum ich ausgerechnet Tae-sung nun von der Scheidung meiner Eltern erzähle, weiß ich nicht. Er sagt jedoch keinen Ton dazu und auch ich verfalle erneut in Schweigen. Die Schulglocke ertönt viel zu laut und viel zu schrill, reißt uns aus unserer kleinen Blase der Stille.

»Lass uns zurück in die Klasse gehen«, sage ich zu ihm, um vom Thema abzulenken, da ich nicht mehr über meine Mum sprechen will. Er nickt bloß, doch seine Augen zeigen mir, dass er mich ohne weitere Worte versteht.

***

»Bin wieder da!«, rufe ich durch den Hausflur, nachdem ich die Tür aufgeschlossen habe. Sofort höre ich oben etwas poltern, dann stürmt Emily die Treppe herunter. Sie hat es so eilig, dass sie sich am Treppengelände festhalten muss, um auf der letzten Stufe rechtzeitig abzubremsen und nicht zu stürzen.

»Gut, dass du kommst, Liv«, sagt sie zu mir, rauscht an mir vorbei zur Garderobe und zieht sich mit einer Hand etwas umständlich ihre Boots an, während sie bereits mit der anderen Hand nach dem Autoschlüssel auf der Kommodenablage greift. Grinsend stütze ich Emily an der Schulter, damit sie auf einem Bein nicht umkippt. »Ich muss Clara aus dem Kindergarten abholen und bin schon viel zu spät dran. Aber die Lasagne ist gerade im Ofen und ich hatte Angst, dass unser Mittagessen verbrennt, bis ich wieder zurück bin. Du weißt doch, wie die Erzieher immer sind. Ständig wollen sie noch ein Schwätzchen halten. Schalte den Ofen ab, sobald das Essen fertig ist, okay?« Sie gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verlässt in größter Eile das Haus.

Schmunzelnd sehe ich ihr aus dem Fenster an der Tür nach, wie sie in ihren uralten Benz steigt und die Einfahrt hinunterbrettert, als wäre sie auf einer Rennstrecke, statt in einer Wohnsiedlung. Emily ist meine Stiefmutter, die zweite Frau meines Dads. Ich vergöttere meine kleine Schwester Clara und hege keinen Groll gegen Emily, die er als seine ehemalige Sekretärin bei einem unüberlegten One-Night-Stand geschwängert und dann kurzerhand geheiratet hat. Da Emily ist mit ihren dreißig Jahren mehr wie meine große Schwester als ein richtiger Mutterersatz für mich. Vermutlich verstehen wir uns gerade deshalb so gut. Sie hat nie versucht meine leibliche Mum zu ersetzen und mich nach ihren Vorstellungen zu erziehen. Sie ist einfach für mich dagewesen, wenn ich jemanden zum Reden gebraucht habe.

Emily hat mich als in sich gekehrte und stille Fünfzehnjährige sofort mit ihrer Herzlichkeit und dem freundlichen Wesen für sich eingenommen, als sie mit zwei Koffern und einem dicken Babybauch vor etwas mehr als drei Jahren in unser Haus gezogen ist. Ich liebe diese Frau und bin froh, dass sie mit ihrer Fröhlichkeit in mein Leben getreten ist. Sie hat meinen Dad und mich aus unserem festgefahrenen Trott herausgezerrt, in dem wir so viele Jahre gesteckt haben.

Nachdem ihr Auto längst außer Reichweite ist, trete ich mir meine Schuhe von den Füßen und hänge meine Jacke an die Garderobe. Den Rucksack lasse ich im Flur stehen und folge dem leckeren Duft der Lasagne in die Küche. Die Schuluniform klebt bei jeder Bewegung unangenehm an meinem Körper, weshalb ich mit dem Gedanken spiele ein heißes Bad zu nehmen. Eine Erkältung kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Schließlich bleiben nur noch wenige Wochen bis zu den Prüfungen.

Eine Weile warte ich noch in der Küche, bis die Lasagne fertig ist. Dann hole ich die Auflaufform aus dem Ofen und schalte ihn ab, bevor ich die Treppe hinauf ins Badezimmer gehe. Bei den letzten Stufen nehme ich immer gleich zwei auf einmal, weil der obere Treppenabsatz stark knarzt.

Im Badezimmer drehe ich als Erstes den Wasserhahn in der Wanne auf. Es dauert eine ganze Weile, bis sich das Wasser aufheizt. Während die Wanne vollläuft, schäle ich mich aus der klammen Schuluniform. Die Kleidung werfe ich direkt in den Wäschekorb. Wie bin ich bloß auf diese verrückte Idee gekommen, mich in den Regen zu stellen?

Nur in Unterwäsche betrachte ich mich einen Moment lang im Spiegel. Dann nehme ich einen Waschlappen aus dem Schrank und entferne mein Augen-Make-up. Ohne den schwarzen Kajalstrich wirken meine blauengrauen Augen weniger strahlend. Nachdem ich mich abgeschminkt habe, löse ich meine Haare aus dem Pferdeschwanz und gehe rüber zur Wanne, drehe den Wasserhahn wieder zu, damit das Wasser nicht über den Rand laufen kann.

Unten fällt die Haustür bereits ins Schloss.

»Livy!«, höre ich die helle Stimme meiner kleinen Schwester durchs Haus rufen. Kaum kommt sie aus dem Kindergarten, bin ich immer die Erste, die sie begrüßen muss. Schmunzelnd stecke ich den Kopf aus der Badezimmertür heraus.

»Ich bin hier oben, Clara. Ich wollte gerade baden«, antworte ich und warte ab. Kurz darauf vernehme ich ihre eiligen Schritte auf den Treppenstufen und nur einen Moment später rennt sie um die Ecke und direkt in meine Arme.

»Ich will auch baden!«, ruft sie aufgeregt. »Heute waren wir draußen im Sandkasten und Harry hat mir Sand auf den Kopf gestreut. Die Erzieherin hat mit ihm geschimpft, aber …« Sie deutet auf ihre blonden Locken, die zu zwei Zöpfen gebunden sind. »Aber davon geht der Sand nicht raus. Es juckt schon die ganze Zeit.« Clara verzieht empört den Mund, was mich schmunzeln lässt.

»Also schön. Dann raus aus den Klamotten und rein in die Wanne, solange das Wasser schön warm ist. Ich werde deine Haare vom Sand befreien.«

Das lässt sich Clara nicht zweimal sagen.

Kapitel 2

-Tae-sung-

»Und hier haben wir das Badezimmer mit begehbarer Dusche und freistehender Badewanne«, erklärt mir die Maklerin, lobt die Wohnung dabei ihn hohen Tönen. »Wir haben das ganze Haus erst kürzlich modernisiert, weshalb Sie äußerst zufrieden sein werden. Außerdem haben Sie sich eine ausgezeichnete Wohngegend ausgesucht, Mr Choi. Hier in Chelsea leben viele berühmte Persönlichkeiten und Künstler, weil der Charme des 18. Jahrhunderts erhalten geblieben ist und zum Bummeln einlädt.«

Ich verdrehe die Augen, höre nur mit einem Ohr hin. Ihre Erklärungen ermüden mich. Als wäre es nicht offensichtlich, dass ich so oder so hier einziehen werde, egal wie viele Vorteile sie mir aufzählt. Seit einer halben Stunde führt sie mich bereits durch die modern eingerichtete Wohnung, die im Obergeschoss eines aus der viktorianischen Zeit stammenden Reihenhauses liegt, und erzählt mir alle möglichen Einzelheiten über dieses Viertel, die mich sowieso nicht interessieren. Ich weiß längst, dass das Label mir diese Wohnung angemietet hat, denn ich habe hier keine Entscheidungsfreiheit. Wenigstens brauche ich mit dem Bus nur eine knappe halbe Stunde bis zur Schule.

Natürlich ist es schön hier, doch wozu brauche ich für knappe sechs Monate eine einhundert Quadratmeterwohnung? Diese Wohnung ist noch größer als die, die wir zu sechst in Seoul bewohnen.

Kurz werfe ich einen Blick auf mein Handy, auf dem gerade eine Nachricht meines Bruders eintrudelt.

Taemin: Na, hast du dich bereits in London eingelebt?

Statt ihm direkt zu antworten, stecke ich das Smartphone wieder in die Hosentasche meiner Schuluniform und wende mich der Frau zu, die mich erwartungsvoll ansieht, da sie auf eine Antwort von mir wartet.

»Die Wohnung ist großartig. Sie können alles Weitere mit meinem Manager besprechen. Seine E-Mail-Adresse haben Sie bereits. Ich werde dann schon mal meine Koffer auspacken«, sage ich und bedeute der Frau mit einem Wink, mich in der Wohnung allein zu lassen. Nachdem sie weg ist, lasse ich mich müde auf das Ledersofa im Wohnzimmer fallen. Seufzend lehne ich meinen Kopf gegen das Polster und schließe die Augen.

Die Bedingungen meiner kleinen Auszeit wurden vom Label, stellvertretend durch unseren Manager Lee Park, ziemlich klar zusammengefasst: Unauffällig bleiben, nicht über das Musikgeschäft und die Band reden, keine Musik und vor allem – keinen engen Kontakt mit meinen Klassenkameraden! Sollte ich auffliegen, wäre es ein Skandal und würde die Glaubhaftigkeit von P.I.P Entertainment infrage stellen. Offiziell verbringe ich ein Sabbatjahr an der kalifornischen Küste, um neue Kraft für die kommende Welttournee zu sammeln und mich von den Strapazen unseres Debüts zu erholen.

Statt mich in meiner Geburtsstadt London zu verschanzen und die Schule zu besuchen, an der bereits meine Mum gelernt hat, sollte ich jetzt eigentlich gemeinsam mit meinen Freunden trainieren, die hart für die Tour arbeiten. Doch dieser Besuch hier war mein Wunsch gewesen, als ich vor knapp einem Jahr das Traineeprogramm erfolgreich absolviert und gemeinsam mit meinem älteren Bruder Taemin mit Luv Affair senkrecht durchgestartet bin. Denn ich wollte endlich meinen Schulabschluss nachholen, den ich wegen der Ausbildung zum Idol vorzeitig abbrechen musste. Das war meine Bedingung, um den Kopf freizubekommen, weil ich kurz vor einem Burn-out stand. Als weltbekannter Popstar konnte ich keine normale Schule in Seoul besuchen und auf Privatunterricht neben der Ausbildung hatte ich einfach keine Lust. Seit Tag eins des Castings gab es keine Minute, in der ich meine Privatsphäre genießen konnte. Da war auch keine Zeit mehr für die Schule drin. Denn das Traineeprogramm von P.I.P Entertainment hat mir meine letzten Kraftreserven abverlangt. Ständig Proben, Termine, Liveshows und Konzertauftritte. Aber so ist das Geschäft. Ich wusste es, als ich mich als Trainee beworben habe. Die Ausbildung zum K-Pop Idol ist hart, denn wir trainieren viel, schlafen wenig und müssen uns an strenge Diäten halten, um dem Schönheitsideal zu entsprechen. Doch der Aufwand zahlt sich aus. Wenn man durchhält und debütiert, wird man weltberühmt. Und trotzdem will ich einen Abschluss machen, damit ich irgendwann studieren kann. Niemand weiß, wie lange ich in dem hart umkämpften Musikbusiness bestehen werde. So habe ich wenigstens noch etwas in der Hinterhand.

Seufzend strecke ich mich lang auf dem Sofa aus und lasse die letzten Tage vor meiner Abreise aus Seoul in Gedanken Revue passieren. Mir blieb wenig Zeit, um mich auf meinen Londonaufenthalt vorzubereiten, da wir mitten im Training steckten. Mein Bruder machte sich Sorgen um mich, weil wir das erste Mal so lange voneinander getrennt sein würden. Mein Abschied fiel kurz aus, denn die Jungs konnten mich nicht zum Flughafen begleiten. Die Stimmung zwischen uns war drückend – und obwohl sie sich bei unserem Manager für meine Auszeit eingesetzt haben und hinter mir stehen, hatte ich das Gefühl meine Freunde damit im Stich zu lassen. Sie werden weiter trainieren, während ich in London bin …

Ich setze die Brille ab und fahre mir mit dem Handrücken über die Augen. Vermutlich wird diese kleine Auszeit die einsamste Zeit meines Lebens, denn wie soll ich Freundschaften schließen, wenn ich kaum etwas über mich erzählen darf? Ich bin kaum eine Woche in London und verspüre bereits erneut die ständige Angst im Nacken, von irgendjemandem erkannt zu werden. Zwar habe ich mir die Haare gefärbt und geschnitten, doch mein Gesicht ist trotzdem überall in den Medien. Ich liebe meinen Job und die Musik, aber manchmal wünsche ich mich in die Anonymität eines ganz normalen jungen Mannes.

Noch einmal strecke ich meine Glieder und gähne herzhaft. Die Zeitverschiebung macht mir immer noch sehr zu schaffen. Gleichzeitig denke ich darüber nach, was ich meinem Bruder auf seine Nachricht schreiben könnte. Denn wenn ich ehrlich bin, habe ich mich auch nach einer Woche noch nicht in London eingelebt, was vermutlich daran liegt, dass ich die meiste Zeit allein verbringe. In Seoul ist das anders. Zu Hause bin ich rund um die Uhr mit meinen Freunden zusammen. Wir arbeiten und verbringen unsere Freizeit gemeinsam. Die Band ist wie meine Familie.

Wieder reibe ich mit Daumen und Zeigefinger über die schmerzende Nasenwurzel. Ich bin es nicht gewohnt, so lange eine Brille zu tragen. Sie dienst lediglich als Attrappe um mein Aussehen noch mehr zu verändern.

Mein Handy vibriert erneut – irgendjemand hat mir wohl eine Nachricht geschrieben. Aber bevor ich die beantworte, rufe ich meinen Zwillingsbruder Taemin an. Wenigstens muss ich mir keine Sorgen um die hohen Kosten der Auslandsgespräche machen, denn dafür kommt das Label auf.

Wartend drücke ich mein Handy ans Ohr und zähle die Freizeichen, bis ich ein leises Knacken höre – als Zeichen dafür, dass ich nun verbunden werde – und die müde Stimme meines Bruders am anderen Ende der Leitung ertönt.

»Hallo?«, fragt er auf Koreanisch. Im Kopf rechne ich kurz die Zeit um. Drüben in Seoul muss es mitten in der Nacht sein.

»Hallo Bruderherz«, begrüße ich ihn ebenfalls in unserer Muttersprache. »Sorry, dass ich dich so früh aus den Federn hole. Ich habe deine Nachricht eben erst gelesen.«

Taemin gähnt herzhaft, ich höre das Rascheln seiner Bettdecke, in die er sich wieder einkuschelt.

»Schon gut«, kommt es leise von ihm. »Mein Wecker klingelt sowieso bald.«

»Will Lee wieder, dass du so früh beim Training erscheinst?«, will ich von Taemin wissen.

»Ja. Der alte Sklaventreiber hat einen anderen Choreografen für das neue Konzept der Tour an Land gezogen. Und natürlich darf ich mit ihm jetzt die Schrittfolge zur Single ausarbeiten, während die anderen Schnarchnasen noch in ihren Betten schlummern. Aber na ja, ich habe es mir ja so ausgesucht. Außerdem bin ich wirklich gespannt auf ihn. Der Mann soll richtig gut sein, meinte Lee.«

Taemin ist unser Lead Dancer. Wenn die ganze Gruppe tanzt, dann führt er sie an und steht oftmals ganz vorne. Deswegen hat er auch einige Extratermine bei unserem Choreografen.

»Andere Leute müssen hart arbeiten, während du einen auf faulen Lenz machst«, kommt es von meinem Bruder. Belustigung schwingt in seiner müden Stimme mit und auch ich kann mir ein Grinsen kaum verkneifen. Ich weiß genau, dass er mich nur ärgern will. Denn genauso wie die anderen Jungs hat er sich sehr für mich eingesetzt, als ich den Wunsch geäußert habe, eine kurze Auszeit nehmen zu wollen.

»Ich muss auch arbeiten. Immerhin will ich meinen Abschluss nachholen«, erwidere ich zu meiner Verteidigung.

»Wozu brauchst du einen Abschluss, wenn du als Idol für den Rest deines Lebens ausgesorgt hast? Außerdem hättest du den bestimmt auch in Seoul machen können …«, brummt Taemin müde.

»Ich wollte einfach mal raus. Und am CATS war bereits Mum …«

»Wie gefällt dir London? Ist es immer noch so wie früher?«, fragt er nach einer kurzen Pause und wechselt glücklicherweise das Thema.

»Ich weiß nicht. Meine Erinnerung an damals ist verschwommen«, antworte ich ehrlich. »Bisher war ich noch nicht viel in der Stadt – der Jetlag und so. Sobald ich mich in der neuen Wohnung eingelebt habe, will ich Mums Grab besuchen.«

»Zünde von mir auch eine Kerze an«, kommt es von Taemin. An meine Mum kann ich mich kaum noch erinnern, obwohl wir immer viele Fotos von ihr in der Wohnung hatten. Zwar weiß ich, wie sie ausgesehen hat, doch ihre Stimme und ihr Geruch sind mit der Zeit verblasst.

»Lee hat sich mit der Wohnung wieder mal selbst übertroffen. Mir glaubt doch kein Mensch, dass ich ein einfacher Schüler bin – bei über hundert Quadratmeter Wohnfläche für mich allein«, komme ich auf die Frage in seiner Nachricht zurück, um meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. »Hier wäre Platz für uns alle. Außerdem hat kein Geringerer als Harry Styles eins der Häuser in der Nachbarschaft. Hättest du das je gedacht?«

»Ist doch perfekt. So kannst du dich frei entfalten und musst nicht in einem winzigen Zimmer unterkommen«, meint mein Bruder mit einem Lachen in der Stimme. »Die anderen Jungs sind echt neidisch auf dich.«

»Klar … das Label will schließlich nicht, dass der Leadsänger von Luv Affair mitten auf der Bühne vor Erschöpfung kollabiert«, entgegne ich sarkastisch. »Das wären Einbußen von Millionen. Die Aktien von P.I.P würden sofort ins Bodenlose fallen. Übrigens … wie geht’s Sora?«

Es dauert, bis mir mein Bruder antwortet. »Er hält sich wacker«, sagt er schließlich mit gedämpfter Stimme, als hätte er Angst von jemandem gehört zu werden. Auch ich verfalle in Schweigen.

»Er wird – muss – über Ahri hinwegkommen«, entgegnet Taemin nach einer kurzen Pause. Niemand von uns hat mitbekommen, dass sich Sora und Ahri Park, eine aufstrebende K-Pop-Sängerin unseres Labels, ineinander verliebt haben. Ihre heimlichen Treffen, die verliebten Blicke bei Begegnungen und die zufälligen Berührungen der beiden auf dem Flur des Studios blieben unbemerkt. Bis vor einigen Monaten Fotos in den sozialen Medien aufgetaucht sind, die ihre Beziehung mit einem Knall publik machten. Diese Bilder waren für das Label eine Katastrophe, denn unsere Verträge verbieten jegliche Liebesbeziehung. Schließlich würden wir dadurch unzählige Fans verlieren. Sora hat sich dem Management gefügt und seine Beziehung zu Ahri in einer öffentlichen Pressekonferenz als Fake erklärt. Dabei wissen wir alle, wie sehr ihm das Herz blutet, wenn er Ahri zufällig über den Weg läuft.

»Vermutlich hast du recht«, gebe ich nachdenklich zurück. Als K-Pop Idol ist man dem Label, dem Land und seinen Fans verpflichtet. So sind die Regeln. Liebe steht an letzter Stelle und kann eine Karriere so schnell zerstören, wie sie begonnen hat. Jeder weiß das und jeder hält sich daran, auch wenn es eine einsame Zeit bedeutet. »Außerdem: Sag bitte Lee, dass ich ein Klavier haben will.«

»Ein Klavier? Hast du etwa die Absprache vergessen? Sechs Monate keine Musik«, wirft Taemin ein.

»Im Vertrag steht, dass ich öffentlich keine Musik machen darf. Aber wer sagt, dass ich in der Wohnung nicht ein wenig üben kann, um nicht einzurosten?«, entgegne ich nachdrücklich. Mir fehlt das Klavierspielen jetzt schon, obwohl es noch nicht so lange her ist, dass ich aus Seoul abgereist bin. Nachdem ich die Musiklehrerin spielen gehört habe, wurde erneut meine Sehnsucht für die Musik geweckt, die ich zu unterdrücken versucht habe.

Taemin scheint zu überlegen. »Stimmt. Dein Einwand ist gar nicht so blöd. Ich werde die Sache mal bei Lee ansprechen.« Er gähnt herzhaft. »Und jetzt lass mich noch eine halbe Stunde schlafen, ehe ich mich aus dem Bett quälen muss.«

***

Als ich nach Unterrichtsschluss meine Wohnung betrete, steht das Klavier bereits im Wohnzimmer. Ich liebe das Klavierspiel über alles, sogar in meinem kleinen WG-Zimmer in Seoul habe ich ein Keyboard untergebracht.

Licht scheint durch eins der großen Fenster und fällt auf das polierte Holz, das ich sofort ehrfürchtig mit den Fingerspitzen berühre. Die ersten Akkorde hat mir mein Dad beigebracht, danach habe ich jahrelang Klavierunterricht gehabt, weil das eines der Dinge gewesen ist, was ich nach dem Umzug nach Seoul weiterhin machen wollte.

Mit einer vorsichtigen Geste klappe ich den Deckel hoch und setze mich auf den Hocker vor dem Klavier. Wie von selbst legen sich meine Finger auf die Tasten und ich spiele einen langen Ton, konzentriere mich auf den Klang. Das ist ein verdammt gutes Klavier. Sicher war es nicht gerade billig. Es kribbelt richtig in meinen Fingerspitzen, als die Melodie von Shine on durch das große Wohnzimmer hallt.

Obwohl ich diese Auszeit wollte, kann ich doch nicht komplett auf die Musik verzichten. Sie begleitet mich schon mein ganzes Leben. Angefangen vom Gesang meiner Mum, als Taemin und ich noch ganz klein waren, bis hin zu dem letzten Konzert in Tokyo, das wir zu Weihnachten gegeben haben.

Meine Finger fliegen über die Klaviatur. Ich lasse mich vom Lied treiben und summe die Melodie unserer Debütsingle sogar leise mit. Und plötzlich fällt mir die Szene von meinem ersten Schultag hier ein, als Olivia mir den Musikraum gezeigt hat und ich die Lehrerin am Klavier gehört habe. Mein Herz hat sofort einen Takt schneller geschlagen, während ich ihr zugehört habe. Am liebsten hätte ich mich gleich für den Musikkurs angemeldet, aber das wäre zu riskant. Die Vereinbarung mit dem Label ist unmissverständlich: Keine Musik und kein öffentliches Auftreten, solange ich in London bin. Ich soll möglichst unauffällig meinen Abschluss machen und dann zurück nach Seoul fliegen, um kurz danach als ein Teil von Luv Affair auf Welttournee zu gehen. Diese Regeln sind zu befolgen und ich bin fest entschlossen, mich daran zu halten, weil ich keinen Ärger mit Lee haben will.

Während die letzten Akkorde verklingen, bleibe ich noch einen Moment am Klavier sitzen und atme tief ein. Dann klappe ich den Deckel wieder zu und erhebe mich, durchquere das riesige Wohnzimmer mit einigen Schritten, um im angrenzenden Schlafzimmer meine Schuluniform gegen bequemere Kleidung zu tauschen.

Als Erstes setze ich die Brille ab und lege sie auf den Nachttisch neben meinem Bett. Kleidungsstück für Kleidungsstück landet auf dem Fußboden. Dann hole ich Shirt und Jogginghose aus dem überfüllten Schrank heraus. Kurz streiche ich mir mit den Händen durch mein gefärbtes Haar, dann ziehe ich mir das Shirt über den Kopf, und werfe mich mit meinem Smartphone in der Hand aufs große Doppelbett. Das Dunkelbraun meiner neuen Frisur kommt meiner Naturhaarfarbe sehr nahe, da hat unsere Stylistin gute Arbeit geleistet. Ohne Make-up und Schmuck könnte man mich kaum für Tae von Luv Affair halten. Das Foto unserer Band, das ich auf meinem Handy als Sperrbildschirm habe, zeigt mich ganz anders. Auf dem Bild habe ich noch dieselben blauschwarzen Haare wie mein Zwillingsbruder Taemin, Ohrringe in beiden Ohren und mit schwarzem Kajal umrahmte Augen, um die blaue Farbe der Kontaktlinsen noch mehr zu betonen. Deshalb glaube ich nicht, dass mich hier jemand erkennen würde, auch wenn er vielleicht ein Fan ist. Trotzdem bleibt ein kleines Restrisiko bestehen.

Gedankenverloren scrolle ich durch meine Bildergalerie. Die Fotos sind alle etwas älter und noch aus meiner Traineezeit. Sie zeigen meine Freunde und mich bei den Proben, ein paar Schnappschüsse habe ich sogar von Sora, wie er sich nachts am Gefrierschrank bedient, als wir eine strenge Diät für ein spezielles Shooting machen mussten. Er hielt es damals nicht aus und aß mitten in der Nacht Eis, das er heimlich in unsere WG geschmuggelt hatte.

Die Erinnerung an die Anfangszeit lässt mich schmunzeln und plötzlich vermisse ich die Jungs, allen voran meinen Zwillingsbruder. Ich bin noch nie so lange von ihm getrennt gewesen. Selbst bei Konzerten außerhalb Seouls liegen unsere Hotelzimmer stets nebeneinander.

Weil ich nicht anders kann, schicke ich ihm eine Nachricht.

Tae-sung: Wie läuft das Training? Machst du schon schlapp?

Es dauert nicht lange, bis eine Antwort kommt.

Taemin: Ich pfeife aus dem letzten Loch. Aber bevor die mich kleinkriegen, geht die Welt unter!

Tae-sung: Das ist die richtige Einstellung. Vermutlich setze ich hier Fett an und muss erstmal eine strenge Diät machen, bis ich überhaupt mit dir mithalten kann.

 

Taemin: Dann iss nicht so viel Fast Food in Übersee. Ich muss jetzt unter die Dusche und dann ins Bett. Und wage es ja nicht, mich erneut um diese Uhrzeit anzurufen. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf!

Tae-sung: Werde mich zurückhalten. So sehr vermisse ich dich dann doch nicht. Gute Nacht.

 

 

 

Diese kurze Unterhaltung macht mich hungrig. Und obwohl mein Bruder tausende Meilen von mir entfernt ist, hat er mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. Seitdem ich hier bin, habe ich mich tatsächlich nur von Fast Food ernährt. In Seoul hat Taemin immer darauf geachtet, dass ich ordentlich esse, um nicht schlappzumachen. Das sollte ich jetzt ebenfalls tun. Also durchforste ich das Internet nach einem koreanischen Lieferservice, weil ich Sehnsucht nach der Heimat habe. Hier muss man doch irgendwo vernünftiges Kimchi bekommen können?

Kapitel 3

-Olivia-

»Also, wenn die Jungs im Sommer auf Tour gehen, will ich unbedingt bei einem Konzert dabei sein!«, sagt Chelsea voller Inbrunst. Sie liegt auf dem Bauch auf ihrem Bett vor dem Laptop, auf dem sie gerade ein Musikvideo ihrer neuen Lieblingsband abspielt, während ich mit einem Buch auf dem Fußboden hocke, meinen Rücken gegen das Bettgestell gelehnt. Es kommt nicht selten vor, dass ich direkt nach der Schule mit zu Chelsea fahre, statt nach Hause zu gehen.

Ich klappe das Buch zu und drehe mich zu Chelsea um.

»Sind sie denn so gut?«, frage ich mit einem skeptischen Blick auf ihren Laptop. Als Antwort dreht meine beste Freundin ihren Laptop in meine Richtung, damit ich das Video, das sie sich gerade anschaut, ebenfalls ansehen kann. Sechs junge Männer tanzen in aufwendigen Kostümen eine noch viel aufwendigere Choreografie. Sie bewegen sich so selbstsicher, so synchron, dass ich wirklich staunen muss. Die Musik dringt zwar nur sehr leise zu mir durch, da Chelseas Kopfhörer noch immer an den Laptop angeschlossen sind, dennoch erkenne ich den Song von neulich, den ich mit ihr in der Schule gehört habe.

Die Jungs sind gar nicht schlecht, das muss ich schon zugeben, obwohl Popmusik eigentlich gar nicht meine Musikrichtung ist. Ich höre eher Rock, trotzdem kann ich nicht verhindern, dass mich dieses für mich ungewohnt Genre abholt.

Chelsea nimmt die Kopfhörer aus der Buchse und macht den Ton am Laptop lauter.

»Ich finde Kit einfach super!«, erklärt sie mit einem verträumten Blick. Ich erhebe mich und setzte mich zu ihr aufs Bett.

»Wer von ihnen ist Kit?«, frage ich sie. Chelsea lässt das Video noch einen Moment laufen, dann pausiert sie es und minimiert das Internetfenster. Auf ihrem Laptophintergrund sehe ich ein Foto von allen sechs Mitgliedern der Band. Chelsea tippt mit dem Zeigefinger auf einen der Männer rechts außen, mit blauschwarzen Haaren, die ihm in frechen Strähnen in die Augen fallen. Der Pony ist gerade kurz genug, um den Ansatz seiner ordentlich gezupften Augenbrauen erkennen zu können, in denen Piercings stecken. Seine Augen sind mit schwarzem Kajal umrahmt und so blau, wie ich es bei einem Asiaten nicht vermutet hätte. Dabei habe ich immer geglaubt, dass Koreaner dunkelbraune Augen haben wie Tae-sung. Ob dieser Kit Kontaktlinsen trägt?

Interessiert betrachte ich das Foto. Alle Mitglieder haben durch ihre Kostüme und das Make-up einen leicht femininen Touch, was wohl als schön gelten soll. Und sie sind tatsächlich schön, wirklich attraktiv, das kann ich nicht abstreiten.

»Woher weißt du, dass es Kit ist? Der andere hier, der sieht ihm doch zum Verwechseln ähnlich«, meine ich nachdenklich und deute mit dem Finger auf den jungen Mann in der Mitte des Fotos, der sich nur durch seine Kleidung von Kit abhebt. Während Kit einen schwarzen Anzug mit rotem Hemd und roter Krawatte trägt, ist der andere Typ komplett in weiß gekleidet. Beide gleichen sich wie ein Ei dem anderen, was mich ein wenig irritiert. Ist das Photoshop?

»Das da ist Tae, Kits Zwillingsbruder. Und du hast recht, man kann die beiden wirklich kaum auseinanderhalten. Aber schau auf die Position der Jungs auf dem Foto.« Sie deutet mit dem Finger auf Kit dann auf Tae. »Kit steht immer rechts außen, während sein Bruder in der Mitte der Gruppe steht. Tae ist der Leadsänger der Band und steht deshalb im Mittelpunkt. Kit ist dafür der Lead Dancer. Seine Moves sind einfach großartig! Er bewegt sich so anmutig wie eine Katze und gleichzeitig total wild. Schau dir mal das Video an. Das ist die erste Single ihres Debütalbums.«

Ich rücke noch etwas näher an Chelsea heran, um besser auf den Laptopbildschirm sehen zu können. Meine beste Freundin öffnet wieder YouTube und startet das Video von vorn. Die Bandmitglieder stehen im Kreis, die Gesichter einander zugewandt. Die leise Hintergrundmusik wird immer lauter und je stärker die Melodie des Songs Chelseas Schlafzimmer erfüllt, desto wilder werden die Bewegungen der Männer. Sie schreiten aus, knien sich auf dem Boden und heben die Arme in die Luft. Die Umgebung im Video um sie herum ist dämmrig und zuerst sieht man nur die Schatten, doch dann werden einzelne Lichtkegel abwechselnd auf jedes der Mitglieder gerichtet, das sich ruckartig erhebt. Erst jetzt setzt der Song richtig ein, ich höre die Melodie der Gitarre und das aufbrausende Schlagzeug. Fasziniert verfolge ich die Choreografie auf dem Video an. Die Jungs bewegen sich völlig synchron, obwohl die Tanzschritte verdammt kompliziert aussehen.

Es ist der Leadsänger, der sein Gesicht als erstes hebt und in die Kamera sieht. Diese Nahaufnahme verschlägt mir für einen kurzen Moment den Atem – und als er zu singen beginnt, bekomme ich Gänsehaut. Seine Stimme ist unglaublich! Voll und klar. Auch wenn ich kein einziges Wort verstehe, fühle ich mit dem Song, der mein Innerstes durchdringt. Obwohl die Melodie fast schon aggressiv klingt, sind die Worte sehr melodisch.

»Das ist Tae«, erklärt meine beste Freundin in demselben fachmännischen Ton wie unsere Englischlehrerin. Sie ist ganz in ihrem Element, wenn sie über ihre Leidenschaft spricht. »Er singt den größten Teil des Textes und die anderen Mitglieder singen nur beim Refrain mit. Und hier, schau mal.« Sie tippt auf den Bildschirm. »Neben Tae tanzt fast immer nur Kit. Die anderen Mitglieder bleiben weiter im Hintergrund.«

Ich bin immer noch fasziniert von dem Mann mit dem Mikrofon, der sich trotz des sanften Songs wie elektrisiert bewegt. Jetzt fällt mir auf, was Chelsea meint. Tae tanzt tatsächlich weniger als sein Zwillingsbruder, obwohl seine Bewegungen dennoch mit denen der anderen harmonieren.

»Jeder in der Gruppe hat andere Rollen, so ist es im K-Pop-Business vom Label festgelegt. Sora hier–« Chelsea deutet auf einen Mann mit fast strohblondem Haar und porzellanheller Haut. »Er ist ein Visual, das Gesicht der Band, weil er mit seinem extravaganten Aussehen als Japaner und Albino heraussticht. Sein Foto ist am häufigsten in den Medien, wenn das Label Ankündigungen macht. Und dieser Typ hier heißt Kwon und ist der Main-Rapper. Die anderen beiden sind Tänzer und Sänger.«

Von den ganzen Informationen rund um die Band schwirrt mir der Kopf. Würden sich die Jungs mit ihrem Kleidungsstil nicht voneinander unterscheiden, könnte ich nicht mal sagen, wer von ihnen nun Kit oder Sora ist. Obwohl sie unterschiedliche Haarfarben und Frisuren haben, wirken ihre Gesichter sehr ähnlich, da alle für das Video auffällig geschminkt wurden.

»Ist Kit denn tatsächlich sein richtiger Name? Klingt irgendwie schräg«, sage ich nachdenklich und wende meinen Blick vom Musikvideo ab. Chelsea lacht auf und klatscht in die Hände, weil sie sich über mein aufkeimendes Interesse für ihre Lieblingsband freut.

»Nein, natürlich nicht. Die Jungs haben alle Künstlernamen. Tae, Kit, Jay, Cha, Kwon und Sora. Wobei Kwon und Sora ihren bürgerlichen Namen behalten haben, um authentischer rüberzukommen. Das habe ich mal online in einem Interview gelesen. Die anderen wollen wegen des Medienrummels lieber ein bisschen bedeckt bleiben und nicht so viel über ihr Privatleben preisgeben, was ich verstehen kann. Das macht die Jungs noch geheimnisvoller.«

Ich nicke verständnisvoll. Die Pseudonyme sind tatsächlich einfacher auszusprechen als koreanische Namen. Die europäischen Fans haben sicher Mühe dabei, über ihre Idole zu sprechen, würden sie sich an koreanischen Namen versuchen. Selbst Tae-sungs Name kommt mir kaum über die Lippen, ohne dass ich mich daran verhaspele. Deshalb meide ich es, ihn in der Schule anzusprechen, denn es wäre mir unglaublich peinlich, wenn ich seinen Namen falsch sagen sollte.

»So ein Leben im Rampenlicht stelle ich mir ziemlich anstrengend vor«, beginnt meine beste Freundin erneut mit ihrer Ausführung. Einmal Feuer gefangen, hört sie nicht mehr auf, über ihre Leidenschaft zu sprechen.

»Es gab erst kürzlich einen Riesenskandal«, erzählt sie hinter vorgehaltener Hand, als würde sie mir ein Geheimnis anvertrauen. »Angeblich hatte Sora eine heimliche Beziehung zu K-Pop Sängerin Ahri Park, die beim selben Label unter Vertrag ist. Es waren sogar schon Gerüchte im Umlauf, dass sich Luv Affair deswegen auflöst. Ziemlich tragisch, dass ihre Beziehung vorbei ist, denn die beiden waren so ein schönes Paar. Wenn du mich fragst, glaube ich jedoch, dass sie sich immer noch heimlich treffen. In einem Blogbeitrag habe ich gelesen, dass eifersüchtige Fans Ahri aufgelauert und sie mit rohen Eiern und faulem Obst beworfen haben. Kannst du dir das vorstellen? Ich finde das echt heftig!«

Fragend hebe ich die Augenbrauen.

»Was ist denn daran so schlimm? Stars haben doch ständig irgendwelche Affären …«, entgegne ich verständnislos. »Die Fans müssen ja völlig manisch gewesen sein, die Frau deshalb anzugreifen.«

»Aber K-Pop Idole nicht«, belehrt mich meine Freundin mit erhobenem Zeigefinger. »Für sie gilt absolutes Datingverbot! Die Labels kontrollieren ihre Idole genau, lassen sie sogar Verträge unterschreiben, in denen strikt auf dieses Thema hingewiesen wird«, sagt sie mit ernster Miene.

»Wow, das hätte ich nicht gedacht«, entgegne ich überrascht und wende meinen Blick erneut dem Musikvideo auf YouTube zu, das von Neuem gestartet hat. Die Bandmitglieder sehen zufrieden aus, soweit ich das an einem Video festmachen kann. Zwar habe ich bisher keine richtige Beziehung gehabt, dennoch stelle ich es mir sehr schwer vor seine Liebe verstecken zu müssen. Jetzt bekomme sogar ich Mitleid mit diesem Sora, auch wenn ich kein Fan der Band bin.

Chelsea stoppt das Video und klappt den Laptop zu. Dann lässt sie sich auf den Rücken fallen, breitet die Arme aus und starrt an die Decke. Ich lege mich neben sie aufs Bett.

»Ach, was würde ich nur dafür geben, um Luv Affair einmal live zu sehen! Ich liebe ihre Musik!«, wiederholt sie ihren Wunsch mit einem theatralischen Seufzen. Schmunzelnd betrachte ich meine Freundin von der Seite. Sie macht jeden Hype mit. Vor allem Boybands haben es ihr angetan. Ich weiß noch ganz genau, wie sehr sie geheult hat, als One Direction im Jahr 2015 verkündet hat, eine längere Pause machen zu wollen. Damals hatte sie keine Tickets mehr für das Abschlusskonzert bekommen und war deshalb eine ganze Woche deprimiert gewesen. Doch dann kam ein neuer Hype und sie hatte ihre alte Lieblingsband beinahe vergessen. Bei Luv Affair wird es vermutlich nicht anders sein. Heute ist sie der größte Fan, und in ein paar Tagen hat bereits eine andere Boyband ihr Herz im Sturm erobert.

Ich lasse meinen Blick durch ihr Zimmer schweifen und bleibe an einem großen Poster von Luv Affair hängen. Eingehend mustere ich die sechs Bandmitglieder. Die beiden Zwillinge stechen direkt hervor, denn mit ihrem identischen Aussehen sind sie ein wirklicher Blickfang. Jeder der Männer ist verdammt attraktiv, das kann ich nicht leugnen, doch aus einem mir unerfindlichen Grund weckt gerade der Sänger Tae mein Interesse. Vermutlich liegt es daran, weil er als Leadsänger einfach am meisten aus der Gruppe heraussticht. Diese Musik ist komplett anders als das, was ich normalerweise höre. Mit den Liedern von Linkin Park kann ich mich nicht in eine andere Welt träumen …

Wieder betrachte ich das Poster, meine Augen ruhen auf dem Gesicht des Mannes. Seine stechenden blauen Augen scheinen mich zu durchbohren und ich bekomme unwillkürlich eine Gänsehaut. Bei diesem Anblick muss ich plötzlich an Tae-sung denken, der auch aus Seoul kommt. Doch er ist ganz anders als der Popsänger. Tae-sungs dunkelbraune Augen haben einen warmen Glanz, dass mir jedes Mal ganz anders wird, wenn unsere Blicke sich zufällig begegnen.

Um den Gedanken an Tae-sung zu vertreiben, schließe ich die Augen und lasse das Lied noch mal auf mich wirken, das immer noch in meinem Kopf widerhallt. Die Melodie hat sich eingebrannt, genau wie Taes Blick. Dieses stechende Blau, so tief und unergründlich wie das Meer.

***

Am späten Nachmittag verabschiede ich mich von Chelsea. Zwar wollte ihre Mum, dass ich bis zum Abendessen bleibe, doch ich habe abgelehnt, um nicht so spät nach Hause zu kommen. Der eisige Wind begleitet mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Ich bin in mein Handy vertieft, wähle gerade eine geeignete Playlist für die Busfahrt nach Paddington aus, als ich von einem Mann angerempelt werde. Mir fällt vor Schreck beinahe das Smartphone aus der Hand. Bereits mit einem Fluch auf den Lippen drehe ich mich zu ihm um. Auch er schaut mich kurz an, murmelt eine undeutliche Entschuldigung, und eilt weiter in die entgegengesetzte Richtung. Sofort bleibe ich stehen. War das nicht eben Tae-sung?

Irritiert sehe ich ihm nach. Von plötzlicher Neugierde gepackt, ob er es tatsächlich ist, ziehe ich mir die Kapuze meiner Jacke etwas tiefer ins Gesicht und verlasse die Bushaltestelle, um ihm zu folgen.

So unauffällig wie möglich schleiche ich dem Mann hinterher, muss mich sogar beeilen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Seine schwarze Wildlederjacke kommt wieder in Sicht, ich erkenne, wie der kühle Januarwind seine dunklen Haare ziemlich durcheinanderwirbelt. Als er sich umsieht, um die Straße zu überqueren, kann ich tatsächlich einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen. Nun bin ich mir sicher, mich nicht geirrt zu haben. Während ich ihm folge, durchforste ich meine Erinnerung. Stimmt, am ersten Tag habe ich Wortfetzen seines Gesprächs mit Ava mitbekommen. Er hatte erwähnt hier in Chelsea eine Wohnung zu haben. Lustig, dann wohnt er in der Nähe meiner besten Freundin.

Hinter der nächsten Straßenbiegung verschwindet er erneut und auch ich beschleunige meine Schritte, weil ich gern wissen möchte, warum Tae-sung es so eilig hat.

Mit hochgezogenen Schultern und aufgestellten Jackenkragen sieht er sich immer wieder verstohlen um. Etwas an seiner Haltung irritiert mich. Fühlt er sich beobachtet? Zumindest scheint er nicht krank zu sein.

Tae-sung biegt in eine Seitenstraße ein, die über eine Allee in Richtung Friedhof führt. Ich kenne mich zwar nicht gut aus in diesem Viertel, doch einige Mal bin ich hier mit Chelsea vorbeigelaufen, als ich wir gemeinsam spazieren waren. Verwirrt folge ich ihm, drücke mich dabei immer wieder hinter Bäume wie ein Spion. Was er wohl hier will? So energisch, wie er seine Schritte setzt, hat er ein bestimmtes Ziel. Jemand, der sich bloß die Gegend ansieht, geht nicht so schnell, als würde ihn etwas treiben.

Tae-sung geht durch die Grabreihen, bis er vor einem schlichten Grabstein stehen bleibt. Eine Weile steht er regungslos da, den Kopf zu Boden gerichtet und die Hände gefaltet. Mit angehaltenem Atem drücke ich mich hinter eine Statue, da es hier auf dem Gelände nur wenige Deckungsmöglichkeiten gibt, und beobachte ihn aus einiger Entfernung. So betrübt, wie er aussieht, besucht er wohl einen Verstorbenen, der ihm nahegestanden hat. Nun bereue ich es, ihm gefolgt zu sein. Ich will mich schon wieder leise davonschleichen, um Tae-sung bei seinem Gebet nicht zu stören, da höre ich bereits seine Stimme hinter mir. Mitten in der Bewegung verharre ich, immer noch hinter der Statue verborgen.

»Willst du dich nicht endlich zu erkennen geben, Sherlock?«, kommt es gedämpft von ihm. Seine Stimme klingt fest, überhaupt nicht überrascht, als hätte mich schon längst entdeckt. Beschämt gebe ich meine Deckung auf und trete leise neben ihn. Schweigend sehe ich auf den Grabstein, in den der Name Elisabeth Choi gemeißelt ist.

»Meine Mum …«, erklärt er auf meine stumme Frage hin, die mir auf der Zunge liegt. »Sie ist gestorben, als mein Bruder und ich gerade sieben Jahre alt waren.«

»War deine Mum Engländerin?«, frage ich, verblüfft wegen des Namens, den ich für Koreaner untypisch finde.

Tae-sung nickt mit einem traurigen Ausdruck im Gesicht. Ein bitterer Zug liegt um seinen Mund, weshalb ich meine Frage bereits bereue.

»Meine Eltern haben sich an der Uni kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Mein Dad machte gerade ein Auslandssemester und entschied sich wegen ihr hier in London zu bleiben, statt nach Seoul zu seiner Familie zurückzukehren. Sie heirateten direkt nach dem Studium und kurz darauf kamen mein Bruder und ich zur Welt.«

»Deshalb kannst du also so gut Englisch«, mutmaße ich. Er hebt den Blick und sieht mich geradewegs an. Sein Blick ist so intensiv, als könnte er durch mich hindurch direkt in mein Innerstes sehen. Dieses seltsame Gefühl, das mich in seiner Nähe überkommt, hatte ich vorhin auch schon, als ich mir das Musikvideo von Luv Affair zusammen mit Chelsea angesehen habe.

»Sie starb viel zu plötzlich bei einem Verkehrsunfall. Heute ist ihr Todestag, deshalb wollte ich sie besuchen.« Er verneigt sich leicht vor dem Grabstein. Weil ich nicht weiß, was ich in dieser unbehaglichen Situation tun oder sagen soll, verneige ich mich ebenfalls.

»Dann sind wir wohl beide ohne Mum aufgewachsen«, murmele ich vor mich hin. Seine Einsamkeit kann ich richtig nachempfinden, denn mir geht es oft genauso. Als würde etwas Wichtiges in meinem Leben fehlen, obwohl ich eigentlich alles habe. Zwar ist meine Mum nicht tot, doch sie lebt irgendwo in den Staaten. Vielleicht hat sie wieder geheiratet und ich habe einen Halbbruder oder eine Halbschwester? Den Grund, warum sie Dad und mich verlassen hat, kenne ich bis heute nicht und will ihn auch nicht wissen. Die Karten, die sie mir jährlich zum Geburtstag schickt, lege ich ungelesen in eine kleine Kiste, die ich in meiner Schreibtischschublade aufbewahre. Sie einfach in den Müll zu werfen, bringe ich nicht übers Herz, auch wenn ich meiner Mum nicht verzeihen kann.

Tae-sung schweigt immer noch, schiebt seine Hände tief in die Taschen seiner Jacke und starrt auf den Grabstein. In diesem Moment sieht er so verletzlich aus, dass er mir unendlich leidtut. Zwar kennen wir uns wenig, denn in der Schule hatten wir bisher kaum Berührungspunkte, trotzdem würde ich ihm gern helfen, oder ihn zumindest ein wenig aufheitern.

»Wusstest du, dass Chelsea hier in der Nähe wohnt?«, frage ich ihn, ohne eigentlich eine konkrete Antwort von ihm zu verlangen. »Ich war gerade von ihr auf dem Weg nach Hause, als du mich fast über den Haufen gerannt hast. Du wohnst in der Gegend, oder?«

Er schaut verwirrt zu mir hoch und muss meine Worte erst einordnen, dann zeigt sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, das mein Herz auf einmal viel schneller schlagen lässt. Tae-sung ist mit seinem exotischen Aussehen ein wirklich attraktiver Mann. In seinen mandelförmigen Augen liegt ein warmer Glanz, die Konturen seines Gesichts sind weich und weniger markant wie bei den europäischen Männern und seine dunklen Haare wirken seidig. Alles in allem scheint er sehr auf sein Äußeres zu achten.

Er nickt zaghaft. »Sorry, irgendwie habe ich dich nicht bemerkt.«

»Schon okay. Ich war mir auch erst nicht sicher, ob du es wirklich bist.« Ich zucke die Achseln. »Na ja, deshalb bin ich dir nachgegangen um–« Tja, warum eigentlich? Weil ich neugierig gewesen bin? Weil ich dachte, er wäre eventuell doch krank und so ganz allein in einer fremden Stadt vielleicht hilflos? Ich weiß selbst nicht genau, was ich mir von dieser Begegnung erhofft habe.

»Also …«, beginne ich das Gespräch erneut, um nicht in unangenehmes Schweigen zu verfallen. Wieder überlege ich fieberhaft, wie ich Tae-sung auf andere Gedanken bringen kann, weil der traurige Blick seiner Augen etwas in mir rührt. Ich möchte ihn nicht so deprimiert sehen. Vermutlich ist er sehr einsam hier. In den zwei Wochen, die er bisher in meiner Klasse ist, ist mir nicht aufgefallen, dass er irgendwelche engeren Freundschaften geschlossen hat. Er redet selten mit unseren Klassenkameraden und ist in den Pausen oft allein auf dem Schulhof. Bis auf Ava, die sich immer noch einen Zahn an ihm abbricht, haben sehr wenige Mitschüler Kontakt zu ihm gesucht und auch er hatte nicht den Anschein erweckt, dass er Gesellschaft will. Einige Male habe ich ihn mit Tyler reden sehen, aber das konnte ich wirklich an einer Hand abzählen. Die Tatsache, dass er ohne Mum aufgewachsen ist, bringt ihn mir unbewusst näher, weshalb ich ihm helfen möchte.

»Magst du Fische?«, frage ich also geradeheraus. Tae-sung hebt fragend die Augenbrauen.

»Fische?«

»Ja. Das SEA LIFE London Aquarium ist weltweit das größte seiner Art. Ich war schon oft mit meiner Familie dort, weil Clara die Haie so großartig findet. Außerdem ist das London Eye direkt daneben und einer meiner Lieblingsplätze in der Stadt«, erkläre ich ihm. Tatsächlich ist es auch die meistbesuchte Sehenswürdigkeit hier in London, weshalb ich mir sicher bin, dass es Tae-sung dort gefallen wird. Bestimmt hat er noch nicht viel von der Stadt gesehen, also mache ich es mir zur Aufgabe, ihn ein bisschen herumzuführen, um seine trübe Stimmung zu heben.

Er erwidert nichts, sieht mich nur überrascht an, weshalb ich schon glaube, etwas Falsches gesagt zu haben. Vielleicht will er ja gar nicht den Nachmittag mit mir verbringen …

»Olivia …« Seine klare Stimme durchdringt mich und lässt mich erschaudern. Irgendwie habe ich nicht erwartet, dass er sich meinen Namen gemerkt hat.

»Ja?« Meine Stimme klingt seltsam verzerrt.

»Danke. Tatsächlich bin ich froh, dich hier getroffen zu haben. Heute wäre ich ungern allein. Normalerweise verbringe ich den Todestag meiner Mum immer mit meiner Familie, doch sie sind zu weit weg«, gesteht er dann, sieht dabei an mir vorbei wieder zum Grab.

»Ich habe heute sowieso nichts Besseres vor«, sage ich mit einem Lächeln. Tae-sung wirkt sehr mitgenommen, und in diesem Zustand ist niemand gern allein, das kann ich sehr gut verstehen. Als meine Mum einfach gegangen ist, habe ich mich oft einsam gefühlt. Zum Glück war Dad immer für mich da, und ich hatte ja noch Chelsea.

Ich hole mein Smartphone aus der Jackentasche und schicke Emily eine kurze Nachricht, dass ich heute ein wenig später nach Hause komme, bevor ich das Handy wieder wegstecke und Tae-sung angrinse.

»Du hast doch sicher noch nichts gegessen, oder? Was hältst du von Fish und Chips?«

***

Wir nehmen die District line bis nach Westminster, den Rest des Weges gehen wir zu Fuß zum SEA LIFE. Auf dem Weg kommen wir an einem Imbiss vorbei, wo ich für uns beide extra große Portionen Fish und Chips bestelle.

»Es ist ein inoffizielles Nationalgericht«, erkläre ich Tae-sung und fühle mich ein bisschen wie ein Tourguide, während ich die frittierten Kartoffelstäbchen mit den Fingern aus der Papiertüte fische und mir in den Mund schiebe. Langsam gehen wir nebeneinander am Ufer der Themse entlang. Der Himmel ist wolkenverhangen und trüb, ein eisiger Wind weht. Dennoch genieße ich den kleinen Spaziergang, was an meiner Gesellschaft liegt. Bisher haben wir uns nur ein wenig über Belanglosigkeiten unterhalten, denn ich wollte das Gespräch nicht erneut auf seine Mum lenken. Also habe ich ihm erzählt, was es heute Neues in der Schule gab. Dass Tyler während des Crickettrainings einen Schläger gegen die Nase bekommen hat und für den Rest des Schultags mit einem dicken Pflaster im Gesicht herumgelaufen ist. Und wie Chelsea bei den Proben der Theater-AG beinahe von der Bühne gefallen wäre, weil sie über ein am Boden liegendes Kabel gestolpert und mit einem Typen aus der Unterstufe zusammengestoßen ist.

»Übrigens heißt sie nicht umsonst Chelsea«, erzähle ich mit einem Kichern. »Es war eine plötzliche Hausgeburt. Und weil ihre Eltern schon seit Generationen in dem Haus in Chelsea wohnen, haben sie ihre einzige Tochter nach dem Viertel benannt. Verrückt, oder?« Meine beste Freundin findet den Umstand ihrer Namensgebung nicht so lustig wie ich, weil sie es hasst, sich anderen Leuten gegenüber vorzustellen. „Ich heiße Chelsea und komme aus Chelsea“, lautet immer ihr Standardspruch.

Endlich lacht auch Tae-sung, was ihm unglaublich gut steht. »Das ist tatsächlich verrückt. Ihre Eltern waren da wohl nicht sehr einfallsreich.«

Ich schüttele den Kopf, beiße dabei ein Stück von meinem Fisch ab.

»Keine Ahnung. Vermutlich hätte ihre Mum sie Mary genannt, wäre Chelsea im St. Mary’s zur Welt gekommen«, entgegne ich lachend und werfe einen Blick auf die Papiertüte mit dem Essen in Tae-sungs Händen, die er bisher kaum angerührt hat. »Schmeckt es dir etwa nicht? Willst du dir eventuell an einem der anderen Schnellimbissläden etwas zu Essen suchen?«

»Nein, nicht nötig. Es schmeckt großartig, nur habe ich gerade wenig Appetit«, entschuldigt er sich bei mir und reicht mir die noch fast volle Tüte. Ich habe meine Portion bereits verputzt. »Wenn du möchtest, dann kannst du es essen, ehe es kalt wird.«

Skeptisch betrachte ich ihn, doch weil er immer noch lächelt und mich abwartend ansieht, nehme ich ihm die Tüte ab. Für einen kurzen Moment berühren sich unsere Fingerspitzen und jagen einen wohligen Schauer über meinen Rücken. Trotz der Eiseskälte sind seine Hände warm, im Gegensatz zu meinen.

Um dieses seltsame Gefühl abzuschütteln, schiebe ich mir ein Kartoffelstäbchen nach dem anderen in den Mund, weshalb wir für den Rest des kurzen Fußmarsches ins Schweigen verfallen.

***

Das Aquarium ist trotz der Uhrzeit gut besucht. Gerade Schulklassen nutzen die Nachmittage für Ausflüge, deshalb müssen wir eine ganze Weile anstehen, um Tickets zu kaufen. Einige Grundschüler drängen sich am Eingang an mir vorbei. Instinktiv mache ich ihnen Platz und berühre dabei Tae-sungs Arm. Er umfasst meine Schulter, damit ich nicht ins Straucheln gerate.

»Danke«, murmele ich ein wenig verlegen. So sehr ich ihm helfen wollte auf andere Gedanken zu kommen, so merkwürdig fühlt sich nun unser spontaner Ausflug an. In seiner Nähe zu sein, empfinde ich als leicht und beklemmend zugleich. Seine ruhige Art und sein interessierter Blick auf die zahlreichen Fischarten gefallen mir. Er wirkt viel besonnener und erwachsener als die Typen aus meiner Klasse. In seiner Nähe spüre ich eine ungeahnte Leichtigkeit, die mich verwirrt und mich dennoch beruhigt. Außerdem stellt er sich als ein angenehmer Gesprächspartner heraus.

»Wusstest du, dass diese Schildkröten hier zu den ältesten Arten der Welt gehören?«, fragt er mich und deutet auf das Schild an der Wand neben dem Terrarium. Ich stelle mich zu ihm und betrachte die Riesenschildkröte, die es sich neben einem großen Stein bequem gemacht hat. »Mir ist aufgefallen, dass es hier wirklich viele seltene Arten gibt.«

»Tatsächlich?« Bei den zahlreichen Besuchen hier habe ich mir bisher nie die Mühe gemacht, die Schilder mit der Artenbezeichnung und der Herkunft durchzulesen. Tae-sung nickt und Begeisterung erhellt seine Züge. Fasziniert betrachtete er jedes Becken, an dem wir vorbeikommen.

»Als Kind habe ich mich sehr für Meerestiere interessiert. In Seoul gibt es ebenfalls ein sehr schönes Aquarium in der Coex Mall. Ich war sogar stolzer Besitzer eines Goldfischs.«

Ich stelle ihn mir als kleinen Jungen vor, der mit der Nase am Goldfischglas klebt, weil er den kleinen Kerl beobachtet, und muss schmunzeln. Dann war meine Idee, ihn hierher zu bringen, ein Glückstreffer. Langsam gehe ich an den Reihen der Fischbecken vorbei, berühre mit den Fingern die Glasscheibe und sehe, wie sogleich ein Schwarm winziger Fische auf meine Handfläche zuschwimmt, als wollten sie meine Fingerspitzen berühren. Die ruhige Atmosphäre des Aquariums entspannt mich, und auch von Tae-sung fällt die Anspannung ab, was mich zufrieden lächeln lässt. Mit diesem kleinen Ausflug konnte ich seine Laune heben. Erfreut betrachte ich ihn, wie er neben mir hergeht und jedes Aquarium mit ihren Bewohnern genauestens mustert. Seine Begeisterung springt wie ein Funke auf mich über, weshalb ich mir nun ebenfalls die Mühe mache, die Artenbeschreibungen an den Fischbecken durchzulesen.

Als wir gerade am Haifischbecken ankommen, in dem zwei Rochen umherschwimmen, bemerke ich einen kleinen Jungen, der auf uns zueilt. Er zupft Tae-sung an der Jacke.

»Papa?«, fragt der Kleine weinerlich. Mein Begleiter dreht sich überrascht um, und als der Junge sein Gesicht sieht, beginnt seine Unterlippe zu beben. »Du bist nicht mein Papa.« Die ersten Tränen kullern über seine rundlichen Wangen. Er muss im ähnlichen Alter wie meine kleine Schwester sein.

Noch ehe ich den Jungen ansprechen und ihn trösten kann, beugt sich Tae-sung schon zu ihm hinab und legt ihm die Hand auf die Schulter.

»Hast du deine Eltern verloren?«, fragt er den Jungen mit sanfter Stimme. Der Kleine nickt und zieht geräuschvoll die Nase hoch. Tae-sung sieht sich kurz nach beiden Seiten um, ehe er sich wieder dem weinenden Kind zuwendet. »Du musst nicht weinen. Wir werden dir beim Suchen helfen. Verrätst du mir deinen Namen?«

Der Junge wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und nickt zustimmend. Dann streckt er seine kleine Hand meinem Begleiter entgegen, der sie ergreift und sich wieder aufrichtet. Sein Verhalten dem Jungen gegenüber beeindruckt mich. Wie selbstverständlich versucht er dem Kind seine Angst zu nehmen.

»Charlie? Charlie, wo bist du?«, ruft eine helle Frauenstimme. Aus der Ferne erkenne ich, wie sie sich immer wieder umsieht. Als sie uns entdeckt, atmet sie erleichtert aus und eilt auf uns zu. Ein Mann in einer schwarzen Wildlederjacke folgt ihr. Ach so, deshalb hat der Kleine Tae-sung mit seinem Dad verwechselt.

»Gott sei Dank, da bist du ja. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Die Frau beugt sich hinab und schließt das Kind in die Arme, ehe sie den Jungen hochhebt, der sich an seine Mum schmiegt.

»Danke, dass Sie unseren Jungen gefunden haben«, sagt der Mann zu uns und tätschelt dem Kleinen den Kopf. »Wir waren eben bei den Schildkröten und haben ihn aus den Augen verloren.«

»Ich schätze, er hat eher uns gefunden«, meint Tae-sung grinsend und deutet auf seine Wildlederjacke. Jetzt muss auch der Mann lachen. Die Familie nickt uns noch einmal zu, dann gehen sie in eine andere Richtung davon.

»Wollen wir weiter?«, fragt er an mich gewandt, ohne diesen Vorfall viel Gewicht beizumessen. Ich nicke zustimmend, immer noch gefangen in der Szene mit dem kleinen Jungen. Wie sanft Tae-sung mit ihm gesprochen und wie zutraulich das Kind reagiert hat, war wirklich berührend. Ich an seiner Stelle hätte genauso reagiert und dem Kind sofort geholfen, weil der Kleine mich an meine Schwester Clara erinnerte. Also ist Tae-sung nicht nur sehr höflich und einfühlsam, sondern auch noch kinderfreundlich. Eine Eigenschaft, die ich bisher kaum bei meinen männlichen Klassenkameraden beobachten konnte.

Er schenkt mir ein Lächeln und geht zielstrebig weiter durch den langen Gang in einen weiteren Raum mit Aquarien.

»Warum bist du eigentlich an unsere Schule gekommen? Könntest du nicht längst studieren oder einen Job haben?«, frage ich ihn und schließe erneut zu ihm auf. Er stoppt seine Schritte neben einem großen Becken mit Quallen. Die fast schon durchscheinenden Meeresbewohner schwimmen wie kleine Lichter durch das Wasser, das durch Strahler von unten beleuchtet wird. Für einen Moment stockt mir der Atem, denn das Licht lässt Tae-sungs Haut noch heller aussehen, seine dunkelbraunen Augen noch strahlender. Ich schlucke, mein Herzschlag beschleunigt sich und ich atme tief ein, als ein Lächeln seine vollen Lippen umspielt. Um mich seiner Ausstrahlung zu entziehen, fixiere ich eine der leuchtenden Quallen hinter ihm, doch mein Blick gleitet immer wieder zu seinem Gesicht.

Er schüttelt leicht den Kopf. »Eigentlich habe ich … ähm … bereits eine Ausbildung hinter mir, ohne einen Schulabschluss gemacht zu haben. Weil ich nicht weiß, wie lange ich meinen Job noch machen kann, wollte ich gerne den Abschluss nachholen«, antwortet er langsam und scheint zu überlegen, wie er sich am besten ausdrücken kann. Durch dieses unverfängliche Thema werde ich glücklicherweise von diesem seltsamen Kribbeln in meiner Magengegend abgelenkt.

»Also hast du in Korea schon gearbeitet?« Ich stelle mich neben ihn, lehne meinen Rücken gegen das Glas des Aquariums.

»Ja … könnte man sagen.«

»Und welchen Job hast du? Ich kann mir kaum vorstellen, dass man ohne Schulabschluss irgendwo genommen wird«, frage ich neugierig, beobachte eine Gruppe Asiaten, die mit ihren Kameras in einiger Entfernung von uns stehen. Eine junge Frau wird auf uns aufmerksam, als die Gruppe sich von einem Fischbecken zum Nächsten vorarbeitet. Beim Vorbeigehen hält sie Tae-sung am Arm fest und spricht ihn an. Ich verstehe sie nicht, er anscheinend schon, denn seine Augen weiten sich erschrocken. Er weicht förmlich vor ihr zurück und dreht sich abrupt zu mir um, damit die Frau kein Foto von ihm schießen kann, die bereits ihr Smartphone gezückt hat. Ehe ich auf diese eigenartige Situation reagieren kann, packt er mich an der Hand und zieht mich hinter sich her durch den Gang Richtung Ausgang.

»Was ist denn auf einmal los mit dir?«, frage ich außer Atem, weil seine Schritte immer schneller werden. Ich kann seine übereilte Flucht aus dem Aquarium überhaupt nicht nachvollziehen. Die Frau ruft uns etwas Unverständliches nach, doch ihre Worte verklingen, als wir durch die Tür wieder nach draußen kommen. Tae-sung presst mich gegen die Wand neben der Tür, seine Finger immer noch fest um mein Handgelenk gekrallt. Sein Blick huscht panisch hinter sich, doch uns scheint niemand gefolgt zu sein. Wir sind tatsächlich auch die einzigen Besucher vor dem Aquarium, weil gleich Einlassschluss ist.

Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich mir seiner Nähe bewusst werde. Er steht so dicht vor mir, sodass mir sogar der angenehme Duft seines After Shaves in die Nase steigt. Perplex starre ich auf sein Gesicht, das er zur Seite gewandt hat. Seine Wangen sind glattrasiert, die Haut wirkt so weich, dass ich den Impuls, ihn zu berühren, unterdrücken muss. Nun bemerke ich auch, dass er eigentlich nicht viel größer ist als ich, denn aus dieser geringen Entfernung muss ich nicht mal den Kopf heben, um ihm direkt in die Augen sehen zu können.

»Tae-sung?«, frage ich und übertöne dabei das wilde Klopfen meines Herzens, das in meinen Ohren widerhallt. Endlich realisiert er, dass er immer noch mein Handgelenk umklammert hält, und macht sofort einen Schritt von mir zurück, um mich wieder freizugeben.

»Entschuldige bitte«, murmelt er und lässt meine Hand los. Sogleich verschwindet die Wärme seiner Finger auf meiner Haut, was mich beinahe enttäuscht aufseufzen lässt. Überrascht über meine Reaktion, umfasse ich mein Handgelenk und reibe über die Stelle, die er berührt hat.

»Was wollte die Frau von dir? Kanntest du sie?«, frage ich verwirrt. Die Panik in seinem Blick verflüchtigt sich, als würde er jetzt erst zu sich kommen. Tae-sung atmet tief ein und aus.

»Nein, ich kenne sie nicht. Sie wollte ein Foto von mir machen … Vermutlich hat sie mich nur mit jemanden verwechselt«, entgegnet er ausweichend und fährt sich in einer nervösen Geste durchs Haar. Nachdenklich lege ich meine Stirn in Falten und mustere ihn.

»Vermutlich. Heute scheinen dich recht viele Leute mit irgendjemandem zu verwechseln, wobei das auch kein Wunder ist. Schließlich bist du ein attraktiver Mann.« Sobald die Worte über meine Lippen kommen, verfluche ich mich innerlich dafür. Nun komme ich mir beinahe wie Ava vor, die sich in der Schule täglich an ihn ranmacht. Tae-sung lächelt jedoch, was mich erleichtert aufatmen lässt.

»Danke. Vielleicht habe ich wirklich etwas überreagiert, aber ich mag einfach keine Fotos von mir – vor allem nicht, wenn sie wildfremde Personen schießen wollen. Schließlich weiß man nie, wo diese Bilder nachher landen.«

Ich nicke. Das wäre mir auch unheimlich. Zwar nutze ich die gängigen Social-Media-Apps und habe auch fast überall ein Profil angelegt, um Freunden und Stars zu folgen, doch private Bilder von mir poste ich ziemlich selten. Auf Instagram gibt es ein Foto von mir zusammen mit Chelsea, das sie letzten Sommer von uns geschossen hat. Dieses Bild finde ich tatsächlich hübsch, außerdem sieht man mein Gesicht nicht richtig, weil wir beide jeweils eine großes Stück Wassermelone in den Händen halten, hinter dem wir uns verstecken.

»Wollen wir weiter? Oder hast du noch etwas anderes vor?«, frage ich ihn geradeheraus, weil ich seine Gesellschaft genieße und mich nur ungern jetzt schon von ihm verabschieden möchte.

Tae-sung zuckt die Achseln und schiebt seine Hände wieder tief in die Jackentaschen.

»Ich habe nichts weiter für heute geplant.«

»Was hältst du von einer kleinen Fahrt im Riesenrad?« Ich drehe mich um und deute mit der ausgestreckten Hand rüber zum London Eye, das in seiner ganzen Pracht vor uns aufragt. Da er bereits zu dämmern begonnen hat, erkennt man die Lichter an den Gondeln.

»Du willst da hinauf?«, fragt Tae-sung mit hochgezogenen Augenbrauen. Nachdenklich schiebt er sich seine Brille auf der Nase zurecht und betrachtet eine einzelne Gondel, aus denen gerade eine Gruppe Touristen aussteigt.

»Von oben hat man eine wunderbare Aussicht auf die Stadt. Oder hast du Höhenangst?« Ohne seine Antwort abzuwarten, gehe ich geradewegs zur Kasse und besorge uns zwei Tickets. Wir haben Glück, denn in unserer Gondel bleiben wir die einzigen Passagiere, in der sonst eine ganze Gruppe Menschen Platz hat. Zielstrebig durchquere ich mit wenigen Schritten die bodentief verglaste Gondel und stelle mich an die Scheibe gegenüber dem Eingang. Tae-sung stellt sich dicht neben mich und beobachtet fasziniert, wie sich unsere kleine Gondel Stück für Stück nach oben bewegt.

Konzentriert starre ich hinaus auf die Lichter der Stadt unter uns, auf das dunkle Wasser der Themse und die einzelnen Sterne, die nun immer mehr am Himmel auftauchen. Die Stimmung zwischen uns ist auf einmal seltsam drückend. Irgendwie kommt es mir so vor, als würde die Luft seit dem kleinen Zwischenfall im Aquarium vibrieren. Er muss diese Spannung ebenfalls spüren, denn aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie er seine Lippen fest aufeinanderpresst und kaum blinzelt. Im Aquarium waren wir unter vielen Touristen, da ist mir die Anspannung nicht aufgefallen. Doch nun bin ich mit ihm allein … und mein Herz klopft auf einmal wie verrückt.

Fröstelnd schlinge ich mir die Arme etwas fester um die Schultern, ziehe meine Jacke enger. Jetzt verfluche ich die Strumpfhose meiner Schuluniform, die ich anstelle einer Jeans trage.

»Ist dir kalt?«, kommt es sogleich von Tae-sung, als habe er mich ebenfalls heimlich beobachtet. Sein besorgter Blick trifft mich, sodass mir erneut ein Schauer über den Rücken läuft. Seine Gegenwart macht mich gerade ziemlich nervös.

»Ach, ist nicht so schlimm. Ich bin das gewohnt«, winke ich mit einer abwehrenden Handbewegung ab. Dennoch wickelt er sich den Schal von seinem Hals und hält ihn mir entgegen.

»Nimm ruhig. Ich friere nicht.«

Ich umfasse das andere Ende des Schals, berühre dabei wie zufällig seine warmen Finger, bevor ich das Kleidungsstück an mich nehme. Mit einem dankbaren Lächeln wickele ich mir den Schal um den Hals. Sofort spüre ich seine Wärme und seinen Geruch, die mich wie eine weiche Wolke umhüllen. Fruchtig und herb zugleich, ein wenig exotisch und fremdartig.

Wieder konzentriere ich mich auf die winzigen Häuser unter uns, die bereits in einem Lichtermeer erstrahlen. Es ist eine ganze Weile her, seitdem ich mit dem Riesenrad gefahren bin. Damals war es im Sommer und nicht bei Dunkelheit wie heute. Staunend lege ich meine Handflächen gegen das Glas und drücke beinahe meine Nase dagegen, so dicht stehe ich vor der Fensterfront.

»Wunderschön, oder?«

»Ja, ist es«, höre ich seine tiefe, melodische Stimme plötzlich ganz dicht hinter mir. Blitzartig drehe ich mich um und sehe perplex in sein Gesicht, seine dunkelbraunen Augen, die im schwachen Licht der Gondel funkeln. Eine Gänsehaut breitet sich in meinem Nacken aus und kriecht langsam über meinen Rücken. Ich spüre seine Präsenz mit jeder Faser meines Körpers, habe in meiner Faszination einfach nicht bemerkt, wie er näher an mich herangetreten ist. Nun beschleunigt sich mein Herzschlag mit jeder Sekunde, die wir uns ansehen. Alles um uns herum ist still und seine Nähe löst etwas in mir aus, das ich bisher noch nie gespürt habe. »Der Ausblick ist wirklich großartig«, murmelt er staunend, und ich kann gerade nicht zuordnen, ob er die Stadt oder mich damit meint. Die Gondel ruckelt und Tae-sung ist mir auf einmal so nah, dass kaum noch ein Blatt zwischen uns passt.

Unsere Blicke treffen sich erneut, dieses Mal wirkt auch er überrascht – und mir stockt für ein paar Sekunden der Atem. So, wie er mich durch seine dicken Brillengläser ansieht, hat mich noch kein Mann vor ihm angesehen. Intensiv, durchdringend und mit einem seltsamen Glitzern in den Augen. Sofort kribbelt es in meinem Inneren unaufhörlich. Meine Kehle ist trocken, und obwohl ich etwas sagen will, um die Spannung zwischen uns zu lösen, bringe ich keinen Ton heraus. Mein Herz rast, schlägt mir bis zum Hals und ich fürchte, Tae-sung könnte es hören. Denn es ist das einzige Geräusch, das die Stille der Gondel durchdringt. Nervös lecke ich mir über die Lippen.

Erneut bewegt sich die Gondel etwas ruckartiger als zuvor und Tae-sung stützt seine rechte Hand an der Fensterscheibe neben meinem Kopf ab, um besseren Halt zu haben. Die Stimmung zwischen uns ist so elektrisierend, dass ich kaum noch atmen kann. Mir schlägt das Herz bis zum Hals und meine Handflächen beginnen zu schwitzen. Ich balle sie zu Fäusten und starre Tae-sung mit leicht geöffnetem Mund an. Wärme breitet sich in meinem Inneren aus, kriecht durch meinen Körper und hinterlässt ein wohliges Kribbeln in meiner Magengegend. Sein Gesicht ist meinem so nah und seine Wärme deutlich spürbar. Was ist auf einmal los mit mir? Wieso verunsichert mich seine Nähe so sehr, dass ich kaum klar denken kann? Mit wildem Herzklopfen schließe ich meine Augen, zähle dabei im Kopf bis zehn, um meiner Aufregung Herr zu werden. Spüre bereits seinen warmen Atem an meiner Wange, als plötzlich ein weiter Ruck durch die Gondel geht. Dieser kurze Augenblick reicht, um die Spannung zwischen uns zu durchbrechen.

Tae-sung löst sich aus seiner Starre, räuspert sich und ich höre, wie sich seine Schritte von mir entfernen. Peinlich berührt öffne ich die Augen und atme tief aus, dann drehe ich mich wieder zur Fensterfront und rühre mich für die restliche Fahrt keinen Zentimeter.