Leseprobe Bei mir bist du sicher

Prolog

Das Schrillen einer Pfeife zerfetzt die Luft. Ich schaue auf und sehe, wie zwei Rettungsschwimmer von ihrem Hochsitz in den Sand springen. Sie wedeln mit den Armen als Signal für alle, aus dem Ozean zu kommen. Die meisten Leute am Strand stehen auf und gehen aufs Wasser zu. Ich stehe auf meinem Handtuch, auf halber Strecke zwischen Ufer und Parkplatz, und versuche, einen Blick auf das Geschehen zu bekommen. Mehrere junge Männer laufen an mir vorbei. Ich höre einen von ihnen deutlich das Wort „Hai” sagen. Ein Schauer überläuft mich. In den Hamptons wurden schon einmal Haie gesichtet.

Draußen auf dem Wasser sehe ich, wie drei junge Rettungsschwimmer mehrfach untertauchen. Eine Menschentraube bildet sich am Ufer, alle reden durcheinander und deuten hinaus aufs Meer. Einige filmen das Chaos. Es ist wie im Tollhaus.

Ich kann nicht genau ausmachen, was sich dort abspielt, aber die Neugierde überwältigt mich und ich gehe ebenfalls aufs Wasser zu. Auf dem Weg dorthin kommen mir zwei jugendliche Mädchen entgegen.

„Was ist da los?“, rufe ich ihnen zu. „Ist jemand verletzt?”

„Ein Typ meinte, eine Frau ist untergegangen“, sagt die eine. „Die Strömungen sind richtig schlimm heute.“

Mein Puls wird schneller, als ich das ausbrechende Chaos an der Brandung sehe.

„Also kein Hai?“, frage ich.

„Ich glaub nicht“, sagt die andere. „Ein Kind erzählte uns, dass eine Frau seit fünfzehn Minuten vermisst wird. Kann man das überleben, wenn man so lange unter Wasser war?“

Ich zucke mit den Schultern und schüttele dann den Kopf. Ein übles Gefühl überkommt mich. Die Sonne scheint mir in die Augen, aber als ich mich dem Wasser nähere, kann ich deutlich sehen, wie die Rettungsschwimmer verzweifelt versuchen, die vermisste Frau zu finden.

Sasha ist nun seit zwanzig Minuten unter Wasser. Sie kann nicht mehr am Leben sein.

Ich beobachte die traurige Szene in der Brandung für einen Moment, bevor ich mich umdrehe. Mit vollen Armen gehe ich den Strand hinauf zurück zu meinem Handtuch. Das ist der Moment, in dem ich einen schnellen Entschluss treffe, von dem ich weiß, dass er mein Leben für immer verändern wird. Ich greife nach den Strandtaschen, fülle sie so schnell wie möglich und werfe sie mir über die Schultern. Dann hebe ich den Tragekorb hoch.

Bevor ich den finalen Schritt wage, schaue ich mich noch ein letztes Mal um, um sicherzustellen, dass ich keine Spuren hinterlassen habe. Alle anderen sind nur auf das Drama fokussiert, das sich im Wasser abspielt, nicht auf mich. Nach einem weiteren schnellen Rundumblick mache ich meinen ersten Schritt Richtung Parkplatz, in meinem Kopf nur ein Gedanke – zum Auto zu kommen, bevor sie es herausfinden.

Ich habe es noch nicht weit geschafft, als zwei Polizeiautos mit eingeschaltetem Blaulicht vorfahren. Mein Herz schlägt wie wild und ich kann praktisch spüren, wie das Blut in meinen Adern rauscht. Ich frage mich, ob diese Strapazen für mein Herz das ausschlaggebende Ereignis sein werden, das mich nun umbringt. Davor haben mich die Ärzte alle immer gewarnt.

Vier Polizeibeamte springen aus dem immer noch laufenden Wagen und rennen direkt auf mich zu.

Sie wissen Bescheid. Sie kommen, um mich zu holen. Mein Mann wird es nicht verstehen. Ich bin jetzt Mutter. Eine Mutter würde alles tun, um ihr Kind zu beschützen, sogar ins Gefängnis gehen oder Schlimmeres.

Fünfzig Meter trennen mich noch von der herannahenden Polizei. In dreißig Sekunden haben sie mich und alles ist vorbei.

Neunundzwanzig.

Achtundzwanzig

Siebenundzwanzig.

Eine Stimme schreit in meinem Kopf. Hör auf und alles wird so sein, wie es war.

Tief in meinem Inneren weiß ich, dass die Stimme lügt. Manche Dinge können nie wieder so sein, wie sie mal waren, egal wie sehr wir uns das auch wünschen.

Dreizehn.

Zwölf.

Elf.

Ich höre nicht hin und bewege mich weiter auf mein Auto zu.

Ich werde niemals jemandem erzählen, was heute passiert ist, nicht einmal meinem Mann. Dies wird für den Rest meines Lebens mein alleiniges Geheimnis bleiben.

Die Polizisten sind jetzt so nah, dass ich praktisch die Farbe ihrer Augen erkennen kann. Einer hat ein Muttermal auf seiner linken Wange. Ich drehe den Kopf, um Augenkontakt zu vermeiden, und fummele an meinen Strandtaschen herum, bevor ich einen kurzen Blick riskiere. Da realisiere ich, dass sie nicht mich ansehen. Sie schauen an mir vorbei aufs Meer. Sie sind gar nicht meinetwegen hier, sondern wegen ihr.

Drei.

Zwei.

Eins.

Die Polizisten stürmen an mir vorbei und meine Beine verwandeln sich in Gummi, kaum in der Lage, meinen adrenalingeladenen Körper zu tragen. Um mir selbst Halt zu geben, grabe ich meine Zehen tiefer in den warmen Sand und versuche, ruhig zu meinem Auto zu gehen. Leichter gesagt als getan.

Hastig verlade ich meine Sachen auf dem Rücksitz, schließe die Türen und rutsche hinter das Steuer. Sobald das Auto gestartet ist, trete ich aufs Gaspedal und fahre so schnell es geht vom Parkplatz, dass die Reifen den Kies nur so aufwirbeln. Als ich den Highway erreiche, steht jeder Nerv meines Körpers in Flammen.

Nachdem ich ein wenig Entfernung zwischen mich und Rocky Point Beach gebracht habe, wage ich einen Blick in den Rückspiegel. Niemand ist hinter mir, also verringere ich die Geschwindigkeit, wenn auch nur ein wenig. Ich muss so weit weg von hier kommen wie nur möglich, bevor irgendjemand mich oder mein Auto erkennt.

Das Strandhaus meiner Eltern liegt zehn Minuten landeinwärts am anderen Ende der Halbinsel. Einige Blöcke von ihrem Haus entfernt, biege ich vom Highway ab und halte am Straßenrand, um meinen Mann anzurufen.

Es klingelt viermal, bevor er rangeht.

„Daniel“, sage ich mit vor Aufregung bebender Stimme. „Du wirst nicht glauben, was passiert ist. Ich habe großartige Neuigkeiten …“

Kapitel Eins

DIE EHEFRAU

Drei Stunden zuvor

Es ist ein klarer Junimorgen am East End von Long Island. Die Autofenster sind heruntergelassen, als ich auf den Parkplatz von Rocky Point Beach einbiege und den letzten freien Platz erwische. Es gibt nur zwanzig. Rocky Point wird hauptsächlich von den Ortsansässigen besucht. Er ist nie überfüllt wie einige der anderen Strände. Mein Plan für heute ist, für ein paar Stunden in ein neues Buch abzutauchen und vielleicht ein kleines Nickerchen zu machen.

Als meine Füße den Sand berühren, halte ich Ausschau nach meinem Lieblingsplatz am rechten Strandufer. Dort befindet sich ein einsamer Baum, der Schatten spendet, aber nur am Morgen. Wann immer mein Mann und ich herkommen, bestehe ich darauf, dass wir unser Lager unter diesem Baum aufschlagen. Zu viel Sonne schadet der Haut. Wenn man über vierzig ist, muss man besonders darauf achtgeben.

Ich schlendere durch den warmen Sand auf „mein“ Plätzchen zu. Als ich näherkomme, bemerke ich eine andere Frau, die augenscheinlich die gleiche Idee hatte. Sie ist jünger als ich, mit langem dunklem Haar und einem großen Schlapphut aus Stroh mit einer roten Schleife. Ich bleibe stehen und schaue mich nach einer Alternative um, wohlwissend, dass es keine gibt. Ich war hier schon unzählige Male und es gibt nur diesen einen schattigen Ort. Der Rest des Strandes ist fast leer. Ob sie es wohl seltsam finden würde, wenn ich mich direkt neben sie setze, obwohl es so viele andere Stellen gibt? Ich muss auf meine Haut achtgeben, also gehe ich weiter auf sie zu.

„Entschuldigen Sie“, sage ich, als ich mich ihr nähere, „ich hoffe, es stört Sie nicht, aber das ist der einzige Ort am Strand mit ein wenig Schatten, und ich wollte fragen …“

„Es ist ein freies Land. Setzen Sie sich“, erwidert sie mit einem Lächeln und schiebt ihre dunkle Sonnenbrille entlang ihrer perfekt geraden Nase ein Stückchen höher. „Mich stört es nicht, wenn Sie der Lärm nicht stört.“

Lärm? Ich sehe hinunter. In einem transportablen Autositz liegt ein Baby.

„Keine Sorge“, sagt sie mit einem leichten, aber hörbar slawischen Akzent, „er ist ein sehr guter Junge, er weint kaum.“

Ich lächle und lehne mich vor, um einen Blick auf das schlafende Kind zu werfen. Als ich sein Gesicht sehe, stockt mir der Atem. Zarte, hellbraune Haarsträhnen, winzige geschwungene, rote Lippen und die süßesten Pausbäckchen – er ist zauberhaft.

„Er ist wunderschön“, sage ich. „Wie alt ist er?“

Die Frau steht auf und enthüllt ihren marineblauen Einteiler. Sie streckt ihre Arme über die Brust, zuerst den einen, dann den anderen. Sie ist unglaublich durchtrainiert und ich bin ein wenig neidisch.

„Er ist vier Monate alt“, sagt sie, „und er ist die Liebe meines Lebens.“

Ich schaue zu ihm zurück und sehe, dass er ein blasses Geburtsmal zwischen den Augen hat. Ihr scheint aufgefallen zu sein, dass ich es betrachte, denn sie sagt: „Es war viel dunkler, als er geboren wurde. Die Ärzte sagen, sein Mal wird in ein paar Monaten verschwinden und alles wird perfekt sein.“

„Ich bin mir sicher, die Ärzte werden Recht behalten. Man kann es jetzt schon kaum mehr sehen.“

Sie nickt. „Ich hoffe es.“

„Sie sehen übrigens fantastisch aus“, sage ich voller Bewunderung für ihre Figur. Ich trainiere einmal die Woche mit einem Fitness-Trainer und sehe nicht halb so gut aus wie sie, und das kurz nach der Geburt. Das Leben kann so unfair sein.

Sie nickt. Ich lächle verlegen und lege mein Handtuch so weit von ihr entfernt wie möglich, aber immer noch im Schatten. Sobald ich mich arrangiert habe, lege ich mich hin und drehe mich auf den Rücken, um mich auszustrecken. Normalerweise kann ich stundenlang am Strand liegen, aber heute bin ich ruhelos. Ich warte ein paar Minuten und drehe mich wieder auf den Bauch, ziehe mein Buch heraus und beginne zu lesen. Trotz aller Bemühungen kann ich mich nicht konzentrieren. Etwas an dieser Frau mit dem Akzent und dem Baby fasziniert mich. Ich ertappe mich dabei, wie ich mehrfach zu ihnen hinüberspähe, während ich so tue, als würde ich lesen.

„Mir ist aufgefallen, dass Sie einen leichten Akzent haben“, rufe ich. „Wo kommen Sie her?“

Sie klappt die Krempe ihres Strohhuts zurück, späht mich über den Rand ihrer Sonnenbrille an und lächelt. Jetzt kann ich erkennen, dass sie dunkelbraune Augen hat, professionell geformte Brauen und einen kleinen Schönheitsfleck neben ihrem rechten Auge.

„Sie haben ein gutes Ohr“, sagt sie. „Den meisten Leuten fällt es nicht auf. Ich komme ursprünglich aus Tschechien, aber ich lebe in den USA, seit ich elf bin. Waren Sie schon mal in Prag?“

„Nein, aber ich hab gehört, dass es dort wunderschön sein soll.“

„Sie sollten es mal während der Frühlingszeit besuchen“, sagt sie, während sie nach ihrem Baby schaut. Sie fummelt an seinem Deckchen herum und legt sich dann wieder auf ihr Handtuch.

Es gibt nichts mehr zu sagen, also wende ich mich wieder meinem Buch zu, lasse aber die junge Frau aus Prag nicht ganz aus den Augen. Ich beende ein Kapitel und greife nach einem Kaugummi. Vielleicht ist es immer noch Interesse, vielleicht aber auch einfach nur Neugierde, aber ich rufe ihr zu: „Wollen Sie einen Kaugummi?“

Sie setzt sich auf und lächelt. „Liebend gern. Meine Kehle ist so trocken.“

Ich versuche, nicht zu ächzen, als ich mich aufrichte. Ich stehe auf, laufe durch den Sand auf sie zu und reiche ihr ein Stück. Sie dankt mir und ich kehre zu meinem Handtuch zurück.

„Ich liebe diesen Strand“, sage ich, laut genug, dass sie es hören kann, als ich mich hinsetze. „Nie überfüllt und es sind immer Rettungsschwimmer da. Lieber haben als brauchen.“

„Ich bin heute zum ersten Mal hier“, sagt sie. „Ich bin erst vor einer Woche aus Chicago hergezogen. Über den Sommer habe ich ein Airbnb gemietet. Morgen fange ich mit der Jobsuche an. Leben Sie hier?“

Ich schüttle meinen Kopf. „Ich bin für ein paar Wochen im Sommerhaus meiner Eltern, während sie in Europa sind. Mein Mann und ich leben in Brooklyn. Ich arbeite für eine Kunstgalerie in Manhattan.“

„Ich liebe Kunst. Und Ihr Mann?“

Ich lächle. „Er ist Schauspieler.“

„Sie haben also einen Filmstar geheiratet“, sagt sie mit einem Grinsen, als sie ihr rechtes Bein hochreckt, den Fuß streckt und das Bein mit den Armen an sich heranzieht.

Ich lache. „Nicht ganz. Daniel wartet noch auf seinen großen Durchbruch. Er hatte die ein oder andere Statistenrolle in ein paar Filmen und Fernsehserien. Er war auch in einigen Off-Off-Broadway-Stücken, aber nichts von Bedeutung. Er verdient sein Geld vor allem mit Modeljobs für Männermode und solchen Sachen.“

„Er muss sehr gut aussehend sein.“

Ich grinse. „Ich finde schon.“

„Haben Sie Kinder?“

Ich presse meine Lippen aufeinander, während ich versuche abzuwägen, wie viel ich von meinem Privatleben mit einer völlig Fremden teilen möchte. Ich beantworte ihre Frage ehrlich, weil mir nach Reden zumute ist und sie nett wirkt. Außerdem werde ich sie wahrscheinlich eh nie wiedersehen.

„Noch nicht“, sage ich. „Wir haben es versucht, aber hatten bisher kein Glück.“ Das scheint ihr Interesse zu wecken, denn sie dreht sich auf die Seite, stützt den Kopf auf die Hand und schaut mich direkt an. Ich habe ihre volle Aufmerksamkeit, also fahre ich fort. „Ich habe diese dumme Sache mit dem Herzen und meine Ärzte wollen, dass ich mich darauf konzentriere.“ Sie nickt und ich lenke die Unterhaltung auf sie zurück. „Sind Sie mit Ihrem Mann hier?“

„Es gibt nur mich und meinen Sohn“, sagt sie, streckt die Hand in den Tragekorb und streichelt ihren Sohn sanft. Ich beobachte diesen zärtlichen Moment zwischen Mutter und Sohn mit einem nagenden Gefühl des Neids. Ich will so sehr Mutter sein.

„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht bedrängen“, sage ich und hoffe, dass ich nicht zu aufdringlich war. Ich genieße unsere Unterhaltung. Ich will nicht, dass sie endet, weil ich zu indiskret war oder herablassend klang.

„Kein Problem“, sagt sie und setzt sich auf, um mich anzuschauen. „Ich habe Liams Vater auf einer riesigen Party in Chicago kennengelernt. Er hieß Jack … glaube ich. Ich habe nie seinen Nachnamen erfahren und bin mir auch bei seinem Vornamen nicht zu hundert Prozent sicher. Wir haben uns an der Bar mit Tequila volllaufen lassen, er sah gut aus und wir waren beide betrunken. Also haben wir die Feier früh verlassen und gingen in irgend so ein Hotel. Er zahlte das Zimmer in bar und am nächsten Morgen bin ich gegangen, während er noch schlief. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Sieben Wochen später machte ich einen Test und war schwanger.“

„Liams Vater hat keine Ahnung, dass er einen Sohn hat?“

Die Frau mit dem großen Schlapphut schüttelt den Kopf. „Er war geschäftlich in der Stadt. Er erzählte etwas von einem Freund eines Freundes, der ihn zur Party eingeladen hatte. Er hätte genauso gut verheiratet gewesen sein können. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn wiederzufinden, und ehrlich gesagt, wollte ich es auch nicht.“

„Was ist mit Ihrer Familie, Ihren Eltern?“

Sie lacht auf eine spöttische Art. „Ich habe seit Jahren nicht mehr mit ihnen geredet. Sie hatten andere Vorstellungen davon, wie ich mein Leben zu leben hatte. Ich habe sie einmal angerufen, nachdem Liam geboren war, aber bevor ich ihnen sagen konnte, dass sie einen Enkel haben, machten sie mir deutlich, dass sie nichts mit mir zu tun haben wollten. Bevor ich ihnen von Liam erzählen konnte, hatten sie aufgelegt.“

Mein Herz bricht für die junge Frau und ich suche nach den richtigen Worten. Als ich schließlich den Mund öffne, klingt es ungelenk und unpersönlich. „Es tut mir leid, das zu hören. Es muss eine schwierige Zeit für Sie gewesen sein.“ Igitt.

Sie stößt ein weiteres, sarkastisches Lachen aus. „Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Aber man tut, was man halt tun muss, um zu überleben, nicht wahr? Ich bin eine Kämpferin.“

Ich nicke solidarisch. „Vielleicht könnten Sie versuchen, sie anzurufen und …?“

„Nein“, sagt sie scharf, bevor ich meinen Satz beenden kann.

Sie tut mir so leid. Sie hat niemanden. Mein Leben ist das genaue Gegenteil. Ich habe unfassbare Unterstützung von meinen Eltern und Daniel. Ich kann mir nicht vorstellen, so komplett allein in der Welt zu sein wie sie. Ich weiß ehrlich nicht, was ich sagen soll, was selten vorkommt.

„Dass die Beziehung zu meinen Eltern in die Brüche ging, ist meine Schuld“, fährt sie fort. „Die Firma meines Vaters versetzte ihn nach Ohio, als ich elf war und mein Bruder sieben. Ohio ist so ganz anders als Tschechien. Wir erhielten alle die amerikanische Staatsbürgerschaft. Während meines letzten Jahres an der High School war ich schon eine waschechte Amerikanerin und erzählte meinen Eltern, dass ich nie wieder zurückkehren würde. Ich wollte feiern und tanzen gehen. Mir gefiel mein Leben hier.“

Ich nicke. Das verstehe ich. Mir gefällt mein Leben hier ebenfalls.

„Es gab viele laute Auseinandersetzungen“, fährt sie fort. „Dann kam ich eines Nachts zugedröhnt nach Hause und mein Vater schlug mich – heftig. Das war das Ende für mich. Am nächsten Morgen brannte ich mit meinem Freund auf seinem Motorrad durch und verschwand. Es gab nichts, was meine Eltern tun konnten. Ich war über achtzehn. Einige Monate später erfuhr ich, dass meine Eltern und mein Bruder nach Tschechien zurückgegangen waren, ohne mich.“

Mir fällt auf, dass die Lebensgeschichte dieser Frau viel spannender ist als der mittelmäßige Liebesroman, den ich lese. Ich stecke das Buch in meine Tasche und wende mich ihr zu, um unserem Gespräch meine volle Aufmerksamkeit zu schenken.

„Vielleicht könnten Sie mit ihnen jetzt in Kontakt treten“, sage ich in vollem Ernst. „Ein Baby verändert die Dinge oft.“

Sie schüttelt den Kopf. „Es ist zu spät. Sie sind jetzt auf der anderen Seite der Welt. Sie haben ihr Leben und ich habe meins. Ich bin übrigens Sasha“, ruft sie und winkt. „Ich mag Ihr Armband.“

„Tori“, sage ich laut und winke zurück, als ich auf das Goldkettchen mit dem Sternanhänger an meinem Handgelenk schaue. „Meine armenische Großmutter hat es mir geschenkt, als ich sechzehn wurde. Ihre Mutter gab es ihr, als sie meinen Großvater heiratete.“

„Man sieht, dass es nicht von hier ist. Es ist ziemlich einzigartig.“

Wir verbringen die nächsten zwanzig Minuten damit, über Millionen verschiedene Dinge zu plaudern. Vom ganzen Hin- und Herrufen spüre ich meine Kehle langsam rau werden und schlage vor, dass wir enger zusammenrücken. Sie nickt und ich ziehe mein Handtuch zu ihr hinüber und wir sprechen über ihre Anstellungsperspektiven.

„Es gibt im Sommer hier eine Menge Jobs im Gastgewerbe“, sage ich. „Die Hamptons sind voll von Touristen mit viel Geld. Du solltest irgendwas finden können.“

Sie grinst. „Viel Geld? Vielleicht finde ich einen reichen Vater für Liam und einen Sugar-Daddy für mich.“

Ich frage mich, ob sie scherzt. „Ich bin mir sicher, dass es nicht einfach ist als alleinerziehende Mutter“, antworte ich.

„Du hast ja keine Ahnung. Kurz nachdem ich meinen Sohn bekommen habe, was ironischerweise am Valentinstag war, wurde ich so depressiv. Ich war komplett allein und die erste Zeit war furchtbar.“

„Fühlst du dich immer noch niedergeschlagen?“

„Es war nicht wirklich Niedergeschlagenheit, als mehr ein Gefühl des Nichts. Ich hatte dieses wunderschöne Baby, aber im Inneren war ich völlig leer. Die ersten paar Wochen nach seiner Geburt waren schrecklich. Mittlerweile geht es mir viel besser. Ich versuche, mich mehr um mich selbst zu kümmern, genug Schlaf zu bekommen und mich regelmäßig massieren zu lassen. Das hilft viel.“

Ich nicke. Ich liebe Massagen ebenfalls, das kann ich also nachvollziehen.

„Gestern“, sagt sie und wird lebendiger, „hatte ich die beste Massage in der ganzen Stadt von so einer Frau namens Chloe. Kennst du sie? Sie hat einen kleinen Laden in der Einkaufsmeile neben dem Bauernmarkt. Ich sage nur zwei Worte – magische Finger. Als ich aus ihrem Laden raus bin, war ich eine völlig neue Frau. Du musst dahin gehen.“

Ich mache mir eine mentale Notiz zu ‚Chloe mit den magischen Fingern‘ beim Bauernmarkt, weil ich immer auf der Suche nach einer guten Massage bin. Wir sitzen eine Weile schweigend zusammen und schauen aufs Meer. Dann breche ich die Stille.

„Also, morgen beginnst du mit der Jobsuche?“

„Erstmal muss ich einen Gebrauchtwagen kaufen. Dann suche ich nach einem Job. Man kann hier nicht ohne Auto arbeiten. Öffentliche Verkehrsmittel sind rar gesät.“

„Wie bist du heute hergekommen?“

„Wir sind mit dem Bus aus dem Ortskern gekommen.“

„Mit den ganzen Babysachen?“

Ihr Sohn beginnt zu quengeln. Sasha nimmt eine Flasche aus ihrer Tasche und hebt ihn aus seinem Tragekorb. Sie wiegt ihn in ihren Armen und steckt den Aufsatz in seinen gierigen Mund. Zum ersten Mal sehe ich ihn in seiner ganzen Pracht und er ist absolut zum Anbeißen.

„Er ist perfekt“, sage ich.

„Er ist ein leichtes Baby. Schläft die Nächte durch und alles. Willst du ihn halten?“

Entzückt nehme ich den kleinen Jungen in meine Arme und füttere ihm den Rest seiner Flasche. Als er ausgetrunken hat, wird er schläfrig. Ich reiche ihn seiner Mutter zurück, die ihn über die Schulter legt, wartet, bis er ein Bäuerchen gemacht hat, und ihn dann zurück in seine provisorische Strandkrippe zurücklegt.

Es ist jetzt Mittag, die Sonne steht hoch am Himmel und es wird heißer. Der Baum bietet nicht mehr so viel Schutz und es ist nur noch ein kleines Stück Schatten zwischen uns übrig.

„Kann ich dich um einen riesigen Gefallen bitten?“, fragt Sasha und wischt sich über die Brauen, während sie mich über den Rand ihrer Brille anschaut.

„Klar.“

„Ich bin am Verbrutzeln. Da Liam schläft, würde es dir etwas ausmachen, ein paar Minuten auf ihn aufzupassen, sodass ich kurz zum Abkühlen ins Wasser springen kann? Wäre das okay? Ich schwimme ein paar Bahnen und komme direkt zurück.“

Ihre Bitte verwundert mich ein wenig, immerhin kennt sie mich kaum. Was für eine Mutter lässt ihr Kind bei einer völlig Fremden am Strand zurück? Klar, wir haben uns fast zwei Stunden lang unterhalten, also bin ich, technisch gesehen, keine Fremde. Und, wenn ich ehrlich bin, war unsere Unterhaltung so vertraut, dass ich mehr über Sasha weiß als über einige Leute, die ich seit Jahren kenne.

„Kein Problem“, sage ich, erfreut, dass sie mir so vertraut. „Lass dir Zeit. Ich liebe Babys.“