Leseprobe Beinahe tot

1

Erschrocken fuhr Mia in ihrem Bett hoch. Was für ein wunderbarer Traum. Gemeinsam mit Sir William hatte sie auf der kleinen Bank an den Klippen gesessen, aufs Meer hinausgeschaut und die winzigen Schaumkronen bei ihrem wilden Tanz auf der Gischt beobachtet. Gerade war er aufgestanden und im selben Moment, als er eine kleine Schatulle aus seinem Revers ziehen wollte, hatte dieses eigenartige Geräusch sie aus dem Schlaf gerissen.

Intuitiv zog Mia die Decke bis zur Nasenspitze. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass das leise Kratzen real war und sie nicht auf einer Bank an den Klippen, sondern im Bett von Tante Lenas kleinem Cottage saß. Erneut hörte sie das kratzende Geräusch, sogar etwas lauter als zuvor. Mäuse? Igitt, das wäre ja ekelhaft. Nein, Moment, das waren keine Mäuse, da machte sich jemand an der Haustür zu schaffen. Irritiert sah sie aus dem Fenster. Draußen war es stockdunkel. Die Zeiger des altmodischen Weckers auf dem Nachttisch wiesen auf kurz nach Mitternacht. Wer um Himmels Willen tauchte mitten in der Nacht unangemeldet hier auf? Sir William? Nein, der war übers Wochenende in Vermögensangelegenheiten unterwegs und würde erst am Montag nach Gellam Manor zurückkehren.

Es klickte laut. Da malträtierte jemand das Türschloss. Einbrecher! Auch das noch. Als genügte es nicht, dass sie in den fünf Monaten, die sie in Pennygrave lebte, schon vier Morde und einige üble Geheimnisse aufgedeckt hatte. Ein Einbrecher fehlte gerade noch in der Verbrecherbiografie. Mist, Mist, Mist!

Als Tante Lena ihr vorübergehend die Leitung der Bibliothek von Pennygrave übertragen hatte, hatte sie diesen Ort als idyllisch angepriesen. Idyllisch? Mitnichten. Verrückt war dieses Dorf, geheimnisvoll, schrullig, voller menschlicher Abgründe, aber ganz sicher nicht idyllisch. Nicht, wenn man hinter die Fassade der hübsch hergerichteten Gärten und Menschen blickte.

Mit einer Mischung aus Verärgerung und Angst stieg Mia aus dem Bett, warf sich einen leichten Morgenmantel über und tappte barfuß die Treppe hinunter. Bei jedem Schritt knarzte das alte Holz, ein Geräusch, das sie für gewöhnlich liebte, unter diesen Umständen aber war es der blanke Horror.

Auf leisen Sohlen schlich sie in die Küche und schnappte sich die Bratpfanne. Wer auch immer versuchte, sich mitternächtlichen Zutritt zum Cottage zu verschaffen, würde morgen mit verdammt fiesen Kopfschmerzen aufwachen. Selbst wenn der Einbrecher sie letztendlich überwältigen sollte, den ersten Schlag würde sie gezielt platzieren. So leicht ließ sich eine Mia Midway nicht überfallen.

Geräuschlos stahl sie sich zum Eingang, die Pfanne zum Schlag bereit erhoben, riss die Haustür auf und ließ sie auf die Gestalt vor sich niedersausen.

Im letzten Moment wich die kleine Dame geschickt aus. „Ach du liebe Zeit, bist du verrückt geworden?“, rief Lady Sophie entsetzt und nahm der perplexen Mia flugs die Pfanne aus der Hand.

„Sag mal, bist du verrückt geworden? Ich hätte dich fast niedergeschlagen.“

„Das habe ich gemerkt.“

„Na zum Glück. Ich dachte, du wärst ein Einbrecher.“

„Sehe ich etwa so aus?“ Lady Sophie wies an sich hinab und Mia konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nein, wie ein Einbrecher sah die Achtundsechzigjährige wahrlich nicht aus, wie sie da in ihrem brokatbestickten Nachthemd vor ihr stand. Die Haare hatte sie mit großen Lockenwicklern akkurat aufgetürmt, ein langer Pelzmantel verhüllte das Schlafgewand notdürftig, war aber vorne nicht geschlossen und gewährte beinahe unzüchtige Einblicke.

Mia verschränkte die Arme vor der Brust. „Genaugenommen wolltest du trotzdem einbrechen. Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt, Sophie.“

„Tut mir leid. Ich hatte kurz überlegt, zu klingeln, aber ich habe kein Licht mehr gesehen und wollte dich nicht so unsanft aus dem Schlaf läuten.“

„Sehr rücksichtsvoll von dir. Noch rücksichtsvoller wäre es allerdings gewesen, bis morgen früh zu warten und dann zu klingeln.“ Mit gerunzelter Stirn musterte sie ihre Freundin. „Was ist denn überhaupt los? Ist was passiert?“

„Natürlich ist was passiert. Würde ich sonst mitten in der Nacht vor deiner Tür stehen? Noch dazu in diesem Aufzug?“

Erschrocken schlug Mia eine Hand vor den Mund. „O Gott, ist was mit William? Geht es ihm gut, hatte er einen Unfall? Ich hole meine Jacke.“ Schon war sie an der Garderobe, da spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.

„Keine Sorge, mit meinem Sohn ist alles in Ordnung. Er ist noch in der Stadt, um ein paar Dinge mit unserem Vermögensverwalter zu besprechen. Am Montag kommt er zurück.“

„Ja, davon weiß ich. Aber was ist denn dann passiert?“

Lady Sophie schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Aber natürlich weißt du das. Manchmal vergesse ich, dass ihr ja jetzt ein Paar seid. Nimm es deiner alten Sophie nicht übel.“

„Das Einzige, was ich dir übelnehme ist, dass du mich aus einem wunderschönen Traum reißt und dann nicht damit rausrücken willst, weshalb.“

„O natürlich, entschuldige vielmals.“ Sie schlüpfte aus ihrem Mantel und reichte ihn Mia, die ihn wie selbstverständlich an den Garderobenhaken hängte. „Ich muss heute bei dir schlafen.“

„Das kannst du gerne tun, aber warum?“

„Weil es auf Gellam Manor spukt.“

Mia prustete los. Empört stemmte Lady Sophie ihre Hände in die Taille. „Da gibt es gar nichts zu lachen, junge Dame. Es spukt dort wirklich. Und so lange William nicht im Haus ist, um mich zu beschützen, werde ich den alten Kasten nicht mehr betreten.“ Mit selbstbewussten Schritten marschierte sie ins Wohnzimmer und setzte sich in einen der kitschig bunten Blümchensessel, die Mia so ans Herz gewachsen waren. Sie folgte und blieb dann grinsend vor ihrer nächtlichen Besucherin stehen.

„Sophie, der alte Kasten ist dein Zuhause und das schon seit Jahrzehnten. Du selbst hast mir bei meinem ersten Besuch dort versichert, dass dieses Herrenhaus nicht mehr ist, als ein großes Haus mit vielen Zimmern und dass es nichts gibt, wovor man sich fürchten müsse. Deine Worte. Und die sind, nebenbei bemerkt, erst wenige Monate her, erinnerst du dich?“

„Natürlich. Ich bin alt, aber nicht senil.“ Sie zwinkerte ihr zu, zum Zeichen, dass sie ihr nicht böse war. Dann wurde sie wieder ernst. „Ich weiß, was ich gesagt habe. Und fast fünfzig Jahre lang hat diese Aussage auch der Wahrheit entsprochen. Aber jetzt spukt es. Kann ich doch nichts dafür.“

„Wenn du den Geist beschworen hast, schon.“

„Was bitte?“

„Nichts, nichts, nur ein Scherz.“

Mahnend hob Lady Sophie den Zeigefinger. „Darüber macht man keine Witze, meine Liebe. Wir müssen zusehen, dass wir diesen Geist wieder loswerden.“

„Wir?“

„Ja, du musst mir natürlich helfen. Du bist bestimmt eine bessere Geisterjägerin als ich und bei den ganzen Mordfällen haben wir doch auch prima zusammengearbeitet.“

„Ach, geht es dir etwa darum?“ Spöttisch verzog Mia die Mundwinkel und erntete einen verständnislosen Blick.

„Worum bitte?“

„Na darum, dass du ermitteln willst. Und da es aktuell nichts zu ermitteln gibt, weil erfreulicherweise mal kein Verbrechen geschehen ist, erfindest du kurzerhand Spukgeschichten? Wir können auch ein Escape Game spielen, wenn du dich nach Rätseln sehnst, wir haben welche im Bibliotheksbestand.“

„Also bitte.“ Mit einem verächtlichen Laut gab Lady Sophie zu verstehen, wie wenig sie diese Theorie ihrer Freundin schätzte. „Natürlich ermittle ich gerne und ja, es nervt mich sehr, dass es in Pennygrave schon so lange ruhig ist, aber ich erfinde doch keine Geister. Es spukt ganz real und ich wäre dir sehr verbunden, wenn du deine Energie in einen konstruktiven Vorschlag stecken würdest, wie wir diese mysteriösen Vorgänge beenden können, anstatt sie dafür zu verschwenden, dich über mich lustig zu machen. Ich kann uns gerne einen Tee kochen, während du nachdenkst.“

„Gegenvorschlag: Ich kümmere mich um den Tee und währenddessen erzählst du mir mehr von deinem Geist. Ehrlich gesagt glaube ich nicht an Gespenster.“

„Ich ja auch nicht, aber da ist eins.“

Gemeinsam gingen sie in die Küche. Während das Wasser kochte und der Tee zog, erzählte Lady Sophie, warum sie so fest von einem Spuk überzeugt war.

„Es fühlt sich an, als ob da jemand wäre, der vorher nicht da war“, erklärte sie in so verschwörerischem Tonfall, als erzählte sie eine Gruselgeschichte am Lagerfeuer. „Und nicht nur das. Manche Dinge verändern ihre Position, manche verschwinden sogar ganz.“

„Vielleicht hat Walter ein wenig aufgeräumt.“

„Ich bitte dich, Verehrteste, er ist der treueste und beste Butler, den wir jemals hatten. Er würde niemals etwas im Haus umstellen, ohne mir Bescheid zu geben.“

Mia goss den Pfefferminztee in zwei Tassen und reichte eine davon der Freundin. „Entschuldige, aber ich muss die Frage stellen: Verschwinden die Gegenstände vor deinen Augen? Und bist du dir sicher, dass du wach bist, während das geschieht?“

„Natürlich bin ich wach. Aber nein, die Gegenstände verschwinden nicht vor meinen Augen. Ich bin mir nicht einmal sicher, welche Dinge verschwinden, nur dass es geschieht. Ich spüre doch, wenn sich die Atmosphäre in einem Raum verändert.“

„Moment mal, du weißt gar nicht, was verschwindet? Du nimmst nur an, dass etwas fehlt?“

„Ich nehme nicht an, ich bin mir sicher.“

Skeptisch verzog Mia das Gesicht. „Vielleicht solltest du dich mal ordentlich ausschlafen und nicht nachts im Nachthemd durch Pennygrave düsen.“

„Ja, aber wie zum Henker soll man denn schlafen, wenn es die ganze Nacht rumpelt, poltert und klopft?“

„Ach, jetzt rumpelt es auch noch?“ Mia kicherte. „Vielleicht klopft jemand an, weil er bei dir übernachten will.“

„Sehr witzig.“

„Ja, irgendwie schon. Tut mir leid, Sophie. Ich kann mir das alles nicht vorstellen. Entweder gibt es eine logische Erklärung für deine Wahrnehmungen oder du bildest dir das alles nur ein.“

Lady Sophie rümpfte die Nase. „Du bist genau wie William. Der glaubt mir auch nicht. Ihr seid wahrlich ein wunderbares Paar. Aber ihr werdet schon sehen …“ Sie nahm ihre Tasse und erhob sich.

„Bist du jetzt böse auf mich?“ Mia hatte keineswegs die Absicht gehabt, ihre Freundin zu beleidigen. Vielleicht hatte sie ungerecht reagiert. Aber, bei aller Liebe, die Geschichte war nicht ernst zu nehmen.

„Ich bin dir nicht böse. Natürlich nicht. Nur müde. Wenn es in Ordnung ist, würde ich mich jetzt gern auf deinem Sofa zur Nachtruhe betten. Wir sollten dieses Thema bei Tageslicht weiter vertiefen. Außerdem ist morgen die Taufe von Elisa Ratherford. Da wäre es unschön, wenn wir in der Kirche um die Wette gähnen.“

Wie auf Kommando gähnte Mia herzhaft. „Du hast recht. Lass uns schlafen. Ich bringe dir gleich noch eine kuschelige Decke.“

„Danke. Das ist lieb von dir. Ich wusste doch, dass ich auf dich zählen kann.“

„Und wenn ein Geist kommt, verpass ihm bitte eine und lass mich weiterschlafen.“

Lady Sophie grinste. „Den konntest du dir jetzt nicht verkneifen, oder? Keine Sorge, ich schlafe neben der Bratpfanne.“

2

„Scht, ist ja gut, meine Kleine. Bitte nicht mehr weinen, du weckst ja noch deine Brüder auf und dann gnade uns Gott.“ Es kostete Sissi alle Mühe, ruhig zu bleiben. Sie wusste, dass ihre Empfindungen sich automatisch auf das Baby übertrugen. Wenn sie unruhig wurde, würde das Elisa nur noch mehr in Rage versetzen. Nichtsdestotrotz war es eine Herausforderung, nicht selbst loszuschreien, wenn man mitten in der Nacht stundenlang ein brüllendes Baby durch die Küche trug. Vom stetig wippenden Gehen taten Sissi bereits Knie und Knöchel weh und ihre Arme schmerzten, obwohl Elisa gerade mal fünfeinhalb Pfund auf die Waage brachte. Als fünftes Kind der Ratherfords war sie nicht nur das erste Mädchen, sondern auch ungewöhnlich leicht.

Sissi seufzte leise. Wenn sie es nicht bald schaffte, dieses schreiende Bündel zu beruhigen, würden am Ende wirklich noch die Jungs aufwachen und dann wäre es mit der Nachtruhe endgültig vorbei. Für ein vier Wochen altes Baby hatte Elisa eine enorm kräftige Stimme. Ein Wunder, dass bisher noch niemand aufgewacht war. Prompt näherten sich leise Schritte. Na toll.

Entgegen Sissis Befürchtungen war es keiner der Jungs, sondern Tristan, der verschlafen die Küche betrat.

„Was ist denn hier los? Warum schreit sie so? Ist sie krank?“

Sissi seufzte erschöpft. „Nein, ich glaube nicht. Zumindest nicht ernsthaft. Vielleicht hat sie Bauchschmerzen oder so.“

„Hm. Ich hoffe, sie hört bald auf. Da kann ja kein Mensch schlafen.“

Wut stieg in ihr auf. Was glaubte er eigentlich? Im Gegensatz zu ihm hatte sie seit Tagen keinen Schlaf bekommen. Zwar hatten sie sich ab der Geburt des ersten Sohnes auf eine klare Rollenverteilung verständigt ‒ er ging arbeiten und sie war für Haushalt und Kinder verantwortlich ‒ trotzdem hätte es ihn nicht umgebracht, sich mal eine Stunde um die Kinder zu kümmern, damit sie wenigstens kurz schlafen konnte.

„Ich hoffe auch, dass sie bald zur Ruhe kommt“, sagte sie ungewollt scharf. „Ich muss dringend mal die Augen zumachen und wenn es nur für ein paar Minuten ist, sonst weiß ich nicht, ob ich Elisas Taufe morgen durchstehe.“

Das wäre der perfekte Zeitpunkt für ihn, zu sagen: Komm Schatz, ich nehme sie eine Stunde, geh du ins Bett. Er sagte es nicht.

„Ich weiß sowieso nicht, warum immer so ein Gewese um die Taufe gemacht werden muss“, brummte er missmutig. „Diesen ganzen Aufwand hätten wir uns auch sparen können. Und die Kosten noch dazu.“

„Nicht dieses Thema wieder.“ Sissi ächzte. „Ich habe dir hundertmal erklärt, dass mir die Tauffeier für Elisa viel bedeutet.“

Sie hatte absolut keine Lust auf erneute Diskussionen. Nach alter Familientradition taufte man die Kinder in den ersten Wochen nach der Geburt im Rahmen eines Gottesdienstes. Dazu wurde die gesamte Gemeinde eingeladen. Es war eine schöne Tradition und es beruhigte Sissi innerlich, zu wissen, dass ihre Kinder bei Gott bekannt und geborgen waren. Nicht nur einmal war sie mit Tristan deswegen aneinandergeraten. Er war selbst gläubiger Christ und teilte die Meinung, dass man die Kinder direkt nach der Geburt taufen lassen sollte, jedoch sprach er sich vehement dagegen aus, die Gemeinde daran teilhaben zu lassen. Tristan hielt keine großen Stücke auf die Bürger von Pennygrave. Im Gegensatz zu seiner Frau hatte er sich hier nie richtig wohlgefühlt. Nicht nur einmal hatte er vorgeschlagen, wegzuziehen und dabei verschiedenste Argumente angeführt ‒ von der Umgebung, den Möglichkeiten, sich städtisch zu orientieren sowie den seltsam schrulligen Einwohnern von Pennygrave, von denen unzählige ihm ein Dorn im Auge waren. Clara Clottingham mit ihrer missgünstigen Art konnte er genauso wenig leiden wie Melody Clearmont, die nichts mehr liebte, als Gerüchte zu erfahren und zu verbreiten. Jeder in Pennygrave wusste, dass Melodys Melodien, wie man sie liebevoll nannte, mit Vorsicht zu genießen waren, genauso wie sich alle darüber amüsierten ‒ alle außer Tristan. Er fand beide Frauen gleichermaßen geschmacklos und war der Meinung, sie vergifteten die Atmosphäre des gesamten Ortes. Genauso wenig hielt er von der jungen deutschen Lehrerin, die vorübergehend die Leitung der Pennygraver Bibliothek übernommen hatte. Sissi dagegen fand Mia Midway nett, ebenso Lady Sophie Gellam, mit der die junge Frau inzwischen schon mehrere Kriminalfälle in Pennygrave gelöst hatte. Sissi liebte ihre Kinder, aber wenn sie ab und zu einen zufälligen Einblick bekam, was für ein Leben Mia Midway führte, dann konnte man schon neidisch werden.

Vollkommen in ihre Gedanken versunken hatte sie nun gar nicht mitbekommen, dass Tristan zu ihr getreten war und die schreiende Elisa auf ihrem Arm betrachtete.

„Vielleicht findet sie den Trubel, den du um die Taufe machst, genauso beknackt wie ich und brüllt deshalb.“ Er streichelte seinem Nesthäkchen vorsichtig über den Kopf, aber das brachte Elisa nur noch mehr auf. Ihr zartes Haar war vom vielen Brüllen schon ganz verschwitzt und jetzt wurde auch noch das kleine Gesichtchen rot. Mit einem Ruck drehte Sissi sich zur Seite, sodass Tristans Hand den Kontakt zu Elisas Stirn verlor.

„Ganz sicher hat sie kein Problem mit der Taufe. Geh doch einfach wieder ins Bett, Tristan. Dieses dämliche Geschwätz ist wirklich das Letzte, was ich gerade gebrauchen kann.“

„Jetzt sei doch nicht gleich so zickig.“ Mit der Hand, mit der er zuvor sein Kind gestreichelt hatte, berührte er sanft ihre Schulter, aber sie drehte sich erneut weg und schüttelte sie ab.

Tristan seufzte. „Ich habe ja gar nichts gegen die Taufe, im Gegenteil. Natürlich möchte ich, dass unsere kleine Prinzessin getauft wird. Aber ich habe sehr wohl ein Problem damit, dass du das alles wieder so übertreiben musst. Das Buffet für die Gottesdienstbesucher im Anschluss kostet Unsummen. Du weißt genauso gut wie ich, dass wir es nicht so üppig haben. Ich liebe jedes einzelne unserer Kinder, aber wir haben, Elisas Feier eingeschlossen, nun fünf Taufen bezahlt, fünfmal den ganzen Ort verköstigt. Es ist mir zuwider, dass sich auf Elisas Taufe zum wiederholten Mal Menschen auf unsere Kosten durchfressen, die mit uns ansonsten gar nichts zu tun haben. Könnten wir nicht einfach eine Feier im kleinen Kreis veranstalten? Das wäre mehr nach meinem Geschmack.“

„Es geht hier nicht um deinen Geschmack, sondern um Tradition, Tristan, und ich finde es unmöglich, dass wir das immer wieder …“ Mitten im Satz verstummte sie. Elisa hatte aufgehört zu schreien. Die Kleine war tatsächlich vor Erschöpfung eingeschlafen.

Eine endlos lang erscheinende Minute war es still im Raum. Weder Sissi noch Tristan wagten es, sich zu bewegen, aus Angst, dass sie wieder aufwachen könnte.

„Ich geh' wieder schlafen“, flüsterte Tristan.

Sissi rührte sich nicht.

„Kommst du auch?“, fragte er, trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie duckte sich darunter hinweg.

„Liebst du mich noch, Sissi?“, fragte er leise.

Als seine Frau noch immer nicht reagierte, drehte er sich um und verließ den Raum.