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An Dr. Gray
Ich danke Ihnen sehr für die Broschüren über das Buschwerk der afrikanischen Wildnis. Ich fühle mich dazu getrieben, meine Experimente anzupassen, um zu sehen, ob unsere Pflanzen hier in Lincolnshire sich dazu zwingen lassen, sich aus Durst so lange Wurzeln wachsen zu lassen. Es muss recht einsam sein als Gestrüpp in der Wüste. Sind Sie in Afrika gewesen und haben sie selbst erlebt?
Ich fürchte, dass sich in meiner Welt nicht viel verändert hat, seit Ihr Besuch vor wenigen Wochen zu Ende gegangen ist. Die Gicht meines Vaters hat sich sehr verbessert. Leticia – nunmehr Mrs. Turner – hat sich im Mühlhaus eingerichtet, und die ältere Mrs. Turner – oder Helen, wie ich angehalten wurde, sie zu nennen – ist so oft Gast in Bluestone Manor, dass Vater ihr ein ganzes eigenes Zimmer gegeben hat, wenn sie einmal wieder bis viel zu spät Cribbage mit ihm spielt.
Wenn ich das so durchlese, fällt mir auf, dass sich doch einiges verändert hat, wenn es sich auch nicht so anfühlt. Es scheint vielmehr so, als sei alles, wie es immer war oder immer sein sollte.
Ach, das hätte ich beinah vergessen: Es ist etwas Wunderbares passiert! Die Rosen sind diese Saison ein drittes Mal erblüht! Wie schön, frische Blüten noch so spät im Jahr zu bekommen. Ich glaube, ich habe das Mist-zu-Kalk-Verhältnis in meiner Düngeformel vervollkommnet.
Mit freundlichen Grüßen,
Miss Margaret Babcock
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An Miss Babcock
Es tut mir leid, Sie zu enttäuschen, doch ich bin noch nie in Afrika gewesen. Am weitesten südlich war ich mitten in Frankreich, und da es mitten im Krieg war, war ich froh, nicht weiter zu müssen. Die Broschüre stammt von einem meiner anderen akademischen Korrespondenten, der in Afrika gewesen ist und sie schrieb, um sie der Londoner Gartenbaugesellschaft zu präsentieren. Ich ging zu der Vorlesung und dachte, Sie könnten sie auch interessant finden.
Es ist schön, das von Ihres Vaters Gicht zu hören – sie war ein besonders ärgerlicher Fall und machte mir das Leben schwer – und dass Leticia und Mr. Turner sich eingelebt haben. John ist lange schon mein Freund und hat sein Glück verdient. Ich verstehe jedoch, was Sie damit meinen, dass alles sich verändert hat, es aber so wirkt, als habe sich nichts verändert. Es ist, wie wenn man das Resultat eines Experiments vorhersagt und dann recht bekommt, so wie, wenn mein Bruder zu Besuch kommt, ich ohne Weiteres der Theorie folgen kann, dass er mich um Geld bitten wird. Und ich behalte recht. Es hat sich etwas verändert, doch das Ergebnis ist genau das, was Sie erwartet hatten, also ist eigentlich alles gleich.
Es ist wunderbar, von der dritten Blüte zu hören. Die Londoner Gartenbaugesellschaft hat es geschafft, die Farbe mancher Blüten zu verändern, je nachdem, welches Mineral man der Erde beimengt. Ich frage mich, ob Sie das bei Ihren Rosen tun könnten.
Gruß, etc.
Dr. Rhys Gray
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Lieber Dr. Gray,
es kommt mir vor, dass meine Fragen oft so zahlreich sind, dass es leichter fällt, sie in Form einer Liste anzusprechen.
1. Ich bin nicht enttäuscht, dass Sie nicht in Afrika gewesen sind. Im Gegenteil, ich bin froh, dass Sie aus dem Krieg zurückgekehrt sind.
2. Ein „anderer“ akademischer Korrespondent? Heißt das, ich bin auch eine akademische Korrespondentin?
3. Ich wusste nicht, dass Sie einen Bruder haben.
4. Die Blumen, die Sie erwähnten, die die Farbe gewechselt haben, können meiner Meinung nach keine Rosen gewesen sein. Sie hören sich nach Hortensien an. Abhängig davon, welche Nahrung in der Erde ist, können diese rosa oder blau oder weiß oder eine Mischung daraus sein. Ich habe noch nie erfolgreich die Farbe von Rosen verändert.
Des Weiteren habe ich die Initiative ergriffen und mit dem Bau eines neuen Gewächshauses begonnen! Dieses wird eine trockene Umgebung werden, keine feuchte. (Ja, ich habe mich von der afrikanischen Broschüre inspirieren lassen.) Ich dachte, ich sollte Vater darum bitten, wurde dann aber von Leticia und Helen darauf hingewiesen, dass Vater Ausgaben infrage zu stellen pflegt und ich den Bau einfach anordnen und IHM nachher davon berichten sollte.
Er hat es noch nicht bemerkt.
Mit freundlichen Grüßen,
Miss Margaret Babcock
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Liebe Miss Margaret,
eine Liste sollte als solche beantwortet werden.
1. Danke sehr herzlich. Ich freue mich auch sehr, aus dem Krieg zurückgekehrt zu sein. Es hat mich von dem Bedürfnis befreit, zu verreisen, und ich fühle mich zu Hause in meinem Laboratorium glücklicher als anderswo.
2. Selbstverständlich sind wir akademische Korrespondenten. Sie wissen mehr über Pflanzen als sonst jemand, den ich kenne, und ich habe gerne Kontakt zu Menschen, die sich Kenntnis verschaffen.
3. Ich habe einen Bruder. Tatsächlich habe ich drei. Und drei Schwestern. Ich bin der zweite von sieben. Besagter Bruder aber heißt Daniel, und ich bin um beinah ein Jahrzehnt älter als er. Aus irgendeinem Grund findet er, dass ich deshalb ein trübseliger Langweiler bin. Ich hingegen finde, dass er achtlos ist und einem Mühe macht, doch meine Mutter und die allgemeine Ähnlichkeit versichern mir, dass wir tatsächlich verwandt sind.
Auch muss ich ein wenig familiäre Zuneigung gestehen. Ein klein wenig.
4. Ja, Hortensien! Ich hatte den Namen komplett vergessen. Meinem ungebildeten Auge schienen sie sehr flockig. Flockig bringe ich mit Rosen in Verbindung. Es tut mir leid, zu hören, dass Rosenfarbe nicht ähnlich abänderbar ist, doch wenn irgendwer es schafft, dann wären das wohl Sie.
5. Die beiden Mrs. Turner geben beide ausgezeichneten Rat. Ich nehme an, Ihr Vater wird es merken, sobald Sie afrikanische Steppenläufer auf dem Ostrasen wachsen lassen?
Gruß, etc.
Rhys Gray
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Rhys,
glückliche Weihnachten! Danke für das Geschenk, das Du Deinem letzten Brief beigelegt hast. Wo hast Du denn in London nur einen afrikanischen Busch gefunden?
Dein Geschenk ist folgender verlaufener Klatsch von Leticia, dass sie und John zu Neujahr vielleicht ein paar Tage lang nach London kommen, um bei der Bank ein paar Papiere zu unterzeichnen – John hat die Möglichkeit, eine weitere Mühle zu seinem wachsenden Imperium hinzuzukaufen. Ich weiß, Du hasst Überraschungen, also wirst Du vorbereitet sein, sollte er Mitte Januar in Greenwich in Deinem Labor mit böser Miene und der Absicht auftauchen, Dich bei der Arbeit zu stören.
Habe ich Dir schon gesagt, dass Miss Goodhue mich endlich dazu gebracht hat, zum öffentlichen Ball in Claxby zu gehen? Sie hat mich in einer sentimentalen Laune erwischt und angefleht, sie zu begleiten, da sie meinte, es wäre ihr viel angenehmer, wenn sie eine Freundin dabeihätte.
Also ging ich, und es war … nicht ganz so schlimm. Ich habe mit vier verschiedenen Gentlemen getanzt.
Ich war größer als sie alle.
Gibt es ein Heilmittel gegen Übergröße? Buckeln? Irgendeine Schrumpfformel, die ihr Mediziner euch ausgedacht habt?
Bis dahin glaube ich, dass ich meinen Winter lieber damit verbringen sollte, Rosen einzupfropfen. Ich finde mein eigenes Vergnügen.
Gruß, etc.
Margaret
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Liebe Margaret,
Folgendes ist die führende Verschreibung, mit Größenproblemen umzugehen:
- Schultern zurück
- Kopf hoch
- die höchsten Schuhe tragen, die man finden kann
- den Armen, die nicht mit Länge gesegnet sind, Sachen vom obersten Regal holen
Des Weiteren hat John mir selbst geschrieben und gesagt, er und Leticia würden in ein paar Wochen hier unten sein. Wir werden sehen, ob er sich wirklich von seinen Mühlen losreißen wird, um die Reise zu unternehmen. Er hat so viel Zeit in London verbracht, dass es mich wundert, dass er jemals zurückkommen will. Allerdings hat es doch seinen Charme – in Greenwich bin ich gerade weit genug weg, mich danach zu sehnen, was sich leicht mit ein paar Tagen Aufenthalt kurieren lässt.
Solltest Du jedoch jemals nach Süden reisen, würde ich mich bemühen, mich an demselben Datum nach London zu sehnen, an dem Du da wärst. Welche Kräfte wohl nötig wären, um Dich von Deinem geliebten Gewächshaus zu trennen?
Ich muss zugeben, dass ich jetzt, da der Winter sich über das Land gelegt hat, aufgrund der Stille und der Kälte die Behaglichkeit meines Laboratoriums mehr und mehr genieße. Die Feiertage und die dazugehörigen Verpflichtungen sind vorbei. Es ist jetzt Zeit für Arbeit, für Vorlesungen und Briefe, die geschrieben werden wollen. Die Leute scheinen sogar damit aufgehört zu haben, sich zu verletzen oder seltene Krankheiten zuzuziehen, also habe ich die Freiheit, mich umzutreiben. Ich finde auch mein eigenes Vergnügen.
Du bist vielleicht eine der einzigen aus meiner Bekanntschaft, die weiß, was ich meine.
Hingebungsvoll,
Rhys
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Lieber Rhys,
es ist Frühling! Es ist Frühling, Frühling, Frühling! Alles blüht endlich wieder und mein Glück kennt keine Grenzen. Natürlich behalte ich das alles für mich. Es gehörte sich ja nicht, dass jemand mich lächeln sähe – das würde zweifelsohne zu Schreckanfällen führen. Gott sei Dank ist aber der Frühling endlich gekommen und meine Arbeit kann wieder ernsthaft beginnen.
In Deinem letzten Brief (– oder war es der davor? Ehrlich, Du bist in Deiner Kommunikation so produktiv, dass ich nunmehr die Woche zwei bekomme. Nicht, dass ich klage –) hast Du erwähnt, dass Deine letzte Vorlesung im Seemannskrankenhaus vom Vorteil dessen handelte, eine Wunde in geflochtener Form abzubinden – und ich muss gestehen, dass ich es am Stamm eines Wacholderstrauches versucht habe, der an überfleißiger Beschneidung Schaden genommen hatte, doch der zugehörige Ast blieb recht gesund! Vielleicht kannst Du nächstes Mal Deine Vorlesung auf Flora wie auch Fauna ausdehnen.
Wenn ich wieder Rosen einpfropfen will, werde ich deine Wickelmethode verwenden. Gerade bin ich aber viel zu begeistert ob meiner Experimente mit der Kreuzung von Rosen, um mich der Verpfropfung zu widmen. Ich habe die Chinesische Rose meiner Mutter mit einer englischen Sorte gekreuzt und komme aus dem Staunen über das Ergebnis nicht heraus – ich habe eine detaillierte Gliederung meiner Kreuzungsmethode und die beobachteten Resultate beigelegt, also sag mir: Wage ich es, zu hoffen, dass die entstandenen Sträucher den ganzen Sommer über blühen werden?
Des Weiteren ist es hier sehr öde, seit Miss Goodhue nach London gefahren ist – ich hoffe, dass Du den Rhododendron bekommen hast, den ich ihr mitgegeben habe. Es ist hier allgemein öde gewesen … Was ich niemals zu sagen gedacht hätte. Für gewöhnlich gefällt mir die Stille. Pflanzen gedeihen nicht wirklich an Lärm und Wirrnis, weißt Du? Aus irgendeinem Grund aber fühle ich mich einfach etwas unruhig, als ob ich so lange ruhig gewesen wäre, dass ich mich frage, ob ich mich bewegen kann, wenn ich muss. Ich weiß aber, dass das albern ist. Ich tue ja alles Mögliche. Sogar außerhalb des Gewächshauses. Ich trinke mit Leticia Tee und gehe am Markttag nach Helmsley und ich war diesen Winter bei drei öffentlichen Bällen (ich muss noch mit einem Mann tanzen, der größer ist als ich. Ich bin mir sicher, dass es die gibt, sie wollen nur nicht tanzen), doch ich fühle immer noch dieses seltsame: „Was wäre wenn?“
Vielleicht brauche ich, was Du hast – die Möglichkeit, ein paar Tage lang etwas Spannendes aufzusuchen und zufrieden nach Hause zur Arbeit und zur Stille zu kommen.
Ich weiß, dass es sein albernes Gefühl ist, das vergeht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich jemals außerhalb von Helmsley und meines Gewächshauses wohlfühlen könnte, aber … der seltsame Gedanke bleibt doch.
Ich kann Dir gar nicht sagen, wie erfreulich es ist, einen Freund zu haben, der das versteht.
Wie immer freundlich,
Margaret
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Meine liebe Margaret,
selbstverständlich bin ich immer da, mir alberne Gedanken und seltsame Gefühle anzuhören. Wozu hat man denn Freunde?
Rhys
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Liebe Margaret,
erinnerst Du Dich, dass ich in meinem letzten Brief sagte, ein Gastdozent käme nach Greenwich? Es handelte sich um einen Sir Kingsley, und er sprach sehr eloquent über die Pflanzenkunde. Ich war mir so sicher, dass Du und er euch gleichgesinnt wärt, dass ich es mir erlaubt habe, ihm von Deinem letzten Experiment zu berichten. Er war von dem Fortschritt, den Du bei der Kreuzung Deiner Rosen gemacht hast, so erstaunt, dass er meinte, Du solltest nach London kommen und es ihnen vortragen – sagte ich schon, dass Sir K. Mitglied der Londoner Gartenbaugesellschaft ist?
Bitte sei mir nicht böse und denk nicht, dass ich Dein Vertrauen missbraucht habe. Ich weiß, dass Du dein Gewächshaus in Lincolnshire vorziehst, doch falls Du nach London kommen möchtest, Margaret … dann wisse, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, dass Dein Besuch sich lohnt.
Im Alter von zwanzig Jahren hatte Miss Margaret Babcock einige grundlegende Wahrheiten über sich erkannt.
Sie wusste, dass sie übermäßig groß war.
Sie wusste, dass sie sich am meisten in ihrem Gewächshaus zu Hause fühlte.
Sie wusste, dass sie – wie es ihre Mutter einmal ausgedrückt hatte – erst spät in die Blüte gekommen war.
Als ihre Mutter es zum ersten Mal sagte, da ergab es für Margaret keinen Sinn. Sie war kein Kirschbaum, der im Frühling weiß und rosa aufsprang. Sie trieb nicht aus und blühte nicht. Sie war ein Mädchen. Ein großes Mädchen, ja. Sie wuchs, würde es tun, bis sie damit aufhörte, und dann wäre sie erwachsen.
Doch dann bemerkte sie etwas Seltsames. Ja, sie wuchs auf, auf, auf … doch die anderen Mädchen im Dorf wuchsen hinaus, wurden rund wie Blütenblätter und ihre Haut weiß und rosig auf eine Weise, die die Aufmerksamkeit der jungen Männer auf sie zu zwingen schien. Sie ließen ihren Blick zur Seite gleiten, als ob sie etwas wüssten, was Margaret nicht wusste, und lachten leicht über einen Witz, den Margaret nicht verstand.
Und Margaret wurde nur immer größer.
Erst als sie an die sechzehn war, hörte dieses Aufwärtsstreben auf, und sie wartete geduldig darauf, dass das Auswärtsstreben beginnen würde. Und wartete. Und wartete.
»Wie ich schon sagte, du kommst einfach spät in die Blüte«, meinte ihre Mutter, als sie einen Feigenbaum umtopften. »Du holst noch auf.«
»Aber ich bin schon größer als alle anderen! Sollten die nicht mit mir aufholen?«
»Margaret«, sagte ihre Mutter mit einem Lächeln. »Du musst dich nicht so beeilen. Ich mag dich sehr, so wie du bist.«
So ungeduldig Margaret auch war, so wusste sie doch, dass ihre Mutter recht hatte. Das lag ihr so. Also summte sie wieder und pflanzte und fragte sich, wann ihr Verstand und ihr Körper und alles sich ändern würden und sie in das Geheimnis eingeweiht würde, das alle anderen Mädchen bereits zu kennen schienen.
Und anders wurde es, doch nicht so, wie man es sich vorgestellt hatte, denn in jenem Winter wurde Margarets Mutter krank, und die Erkältung ließ einfach nicht von ihr ab.
Man begrub ihre Mutter im Frühling auf dem Familienfriedhof in der hinteren Ecke des Gartens. Margaret pflanzte Rosen neben ihrem Grabstein. Damals sah sie ihren Vater zum einzigen Mal weinen, und plötzlich wollte Margaret nicht mehr, dass etwas sich veränderte.
Sie blieb in ihrem Gewächshaus. Sie arbeitete an ihren Pflanzen. Sie und ihre Mutter hatten immer etwas wachsen lassen.
Es war seltsam, doch es war auch eine Art Stetigkeit daran zuzusehen, wie ihre Obstbäume und Veilchen und Rosen sich durch die Jahreszeiten begaben. Es war ein Muster, das man vorhersagen konnte – und lenken.
Doch selbst mit gesenktem Kopf bemerkte sie, obwohl sie so sehr wollte, dass alles gleich bliebe, dass sich alles um sie veränderte. Erst beschloss ihr Vater, wieder zu heiraten, und brachte Lady Churzy in ihr gemeinsames Leben. Sie war eine Gräfin und wunderschön und brachte Margaret bei, dass ihre alten Röcke zu kurz geworden waren und dass, nur weil sie errötete, wenn sie an bestimmte Menschen vom anderen Geschlecht dachte, es ihr nicht vorbestimmt war, einen davon zu heiraten.
Genauso wie es Leticia nicht bestimmt war, Margarets Vater zu heiraten, wie sich herausstellte.
Und dann kam Dr. Rhys Gray ein paar Wochen lang bei den Babcocks in Bluestone Manor zu verweilen.
Er war als Freund Mr. Turners, des ortsansässigen Müllers, zu Besuch gekommen und hatte letztendlich den gichtgeplagten Fuß von Margarets Vater behandelt.
Und Margaret fand heraus, wie es war, einen Freund zu haben.
Oh, sie hatte sich mit Leticia angefreundet – letztendlich – und mit Miss Goodhue, der Lehrerin in Helmsley, die sich aus unbekanntem Grund an Margarets Kameradschaft zu erfreuen schien, doch bei Rhys lernte Margaret, was es hieß, eine Freundschaft aus gemeinsamen Interessen und gegenseitigem Verständnis aufzubauen.
Jedes Mal, wenn sie einen Brief von ihm bekam, sprang ihr Herz ein wenig, da sie das wächserne G brach, das die Seiten versiegelte, und ein »Ja!« ihr wie ein Schlag durch die Adern lief.
Als der Hausdiener also Rhys’ Brief ins Gewächshaus brachte, da hob ihr die gleiche Freude die Mundwinkel an, während sie einen relativ sauberen Gartenspaten verwendete, um das Siegel zu brechen.
Sie starrte den Brief in ihren Händen an und las ihn zum siebten Mal in gleich vielen Minuten. Dann faltete sie ihn und warf ihn auf ihren Arbeitstisch.
Dann schnappte sie ihn sich wieder und las ihn erneut; ihre Augen flitzten von selbst zu gewissen Stellen, um zum achten Mal zu bestätigen, dass sie tatsächlich echt waren.
… von Deinem letzten Experiment …
… Gartenbaugesellschaft …
… nach London kommen …
»Margaret, da bist du. Wir erwarten dich schon zum – hatschi! – zum Tee«, sagte Leticia Churzy – nunmehr Leticia Turner – da sie ihren Kopf zur Gewächshaustür hereinsteckte.
Margaret steckte den Brief eilends in die Tasche ihrer Schürze.
»Ich komme in ein paar Minuten, Leticia«, sagte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den kleinen Reben zu, die sie in einzelne Behälter eingetopft hatte. »Ich muss nur hiermit fertig werden.«
»Natürlich, deine … grünen Erbsen? Die können ja nicht warten«, sagte Leticia mit leicht hämischem Lächeln.
»Nein, können sie nicht«, gab Margaret zurück. Selten gab es Menschen, die verstanden, dass man an Pflanzen, obwohl diese unbewegt und geduldig wirken, in Wahrheit doch zur rechten Zeit arbeiten muss. Leticia gehörte trotz all ihrer guten Eigenschaften nicht zu diesen Menschen. »Ich probiere eine neue Formel für meinen Dünger aus – in jedem dieser Töpfe ist eine andere Menge Fischgedärme. Wenn ich sie alle zu verschiedenen Zeiten pflanze, kommt eine weitere Variable zum Experiment hinzu und macht alles zunichte.«
Leticia wurde blass um die Nase, da Fischgedärme zur Sprache kamen, trat aber dennoch vor. »Na, du bist ja fast fertig. Ich kann dir Gesellschaft leisten, während du … düngst.«
Margarets Mund hob sich an den Ecken. »Und du kannst sicherstellen, dass ich nicht die Zeit übersehe und es rechtzeitig zum Tee schaffe, richtig?«
»Ich gebe meine Hintergedanken zu. Sie bedeuten aber nicht, dass mich deine – hatschi! – Gesellschaft nicht erfreut.« Sie schluckte wieder. »Herrje, der Geruch.«
»Das muss sie, wenn du gewillt bist, deine Empfindlichkeit gegenüber Blumen zu überwinden, um hier zu sein«, sagte Margaret mit einem Lächeln dazu.
Margaret hatte Leticia zum ersten Mal vor einem Jahr in eben diesem Gewächshaus getroffen, aber das Treffen war damals drastisch anders verlaufen. Margaret war sehr wütend gewesen, irgendjemanden in ihrem Gewächshaus vorzufinden, obendrein jemanden, der behauptete, er werde in Bälde ihre Stiefmutter sein.
Es war das erste Mal gewesen, dass sie gezwungen war, zu begreifen, dass die Welt sich seit dem Tod ihrer Mutter weitergedreht hatte. Dass sie sich für ihren Vater, Sir Barty, weitergedreht hatte. Sie war ein zorniges, verlorenes Mädchen gewesen, das mit seiner Zunge und seiner sturen Natur um sich schlug.
In jenen Wochen, in denen Leticia mit Sir Barty verlobt gewesen war, war Margaret davon überzeugt, dass Leticia nicht nur alles in Bluestone veränderte, sondern sie obendrein auch versuchte, Margaret zu verändern. Ihre zu kurzen Kleider waren angeblich nicht mehr in Mode – sie waren für Mädchen in deren Jugend, nicht für eine junge Frau angefertigt. Dass sie zum Abendessen mit der Familie kommen sollte. Dass sie mit den Damen im Dorf Tee trinken sollte. Dass sie teilnehmen sollte – und Margaret hasste es.
Erst, als Leticia eine Hose für Margaret anfertigen ließ, in der sie arbeiten konnte – die Hose, die sie gerade trug – erkannte Margaret, dass sie sie nicht zu ändern versuchte. Nicht an den Grundlagen. Leticia hatte nur danach gestrebt, ihr eine Freundin zu werden.
Danach wurde alles viel besser. Margaret hätte beinah traurig sein können, dass Leticia letztendlich nicht ihre Stiefmutter geworden war. Beinah. Wenn sie jedoch sah, wie glücklich sie als Mr. Turners Frau war, und dass ihr Vater an Helen, Mr. Turners verwitweter Mutter, eine glückliche Gefährtin gefunden hatte, fühlte Margaret, dass alles so war, wie es sein sollte.
Nur …
Wenn die fünf sich zum Essen zusammensetzten – Leticia und Mr. Turner kamen oft zu Besuch – war es heimelig und freudig, doch Margaret kam nicht darum herum, zu fühlen, dass da noch ein Stuhl leer war, neben ihrem.
Sie fragte sich, für wen er gedacht war. Eine Zeit lang dachte sie, dass es ihre Mutter sei, doch jetzt … fragte sie sich, ob es jemand anderes war.
Vielleicht war es nicht der leere Stuhl, sondern stattdessen, dass der Tisch zu voll war. Vielleicht, dachte sie, sollte sie woanders sein.
Gedankenverloren langte sie in ihre Tasche und suchte nach dem Papier – das nicht da zu sein schien.
»Was ist das?«, fragte Leticia und bückte sich, um den gefalteten Brief an Margarets Füßen aufzuheben. Verflixt und zugenäht, in all der Eile, den Brief zu verstecken, musste sie ihre Tasche verfehlt haben.
»Nichts«, sagte Margaret geschwind und streckte sich nach dem Brief aus. Leticia, das musste man ihr lassen, gab ihn sofort her. »Nur ein Brief. Von Dr. Gray.«
Leticias Ausdruck nahm Besorgnis an. »Geht es wieder um die Gicht deines Vaters? Helen meinte, sie hätte ihn dazu angehalten, sich von reichhaltigen Soßen fernzuhalten, aber Mrs. Dillon sagte, die Köchin habe ihn mehr als einmal in der Speisekammer erwischt.«
»Nein, es hat nichts mit meinem Vater zu tun«, entgegnete Margaret, und da sie Leticias Blick völlig uninteressierten Interesses sah, da wusste sie, dass sie es zu erklären hatte. »Wir haben uns geschrieben.«
»Geschrieben?« Leticias Augenbrauen hoben sich bis zur Decke. »Du hast mit einem Mann geschrieben?«
»Nein … nicht so. Es ist akademische Korrespondenz.« Ach verflixt, sie wurde rot. Einst hatte sie gedacht, wenn ein Mann sie zum Erröten brachte, dann hieße es, dass sie auf ewig zusammen sein sollten, doch nunmehr wusste sie, dass es eine unschlüssige Theorie war, denn beinah jede Peinlichkeit brachte sie zum Erröten, und ihre Briefe an Rhys zu erklären, das war bestimmt peinlich.
»Akademisch?«, wiederholte Leticia. »Er fragt dich nach deiner Arbeit und so?«
»Ja«, antwortete sie. »Er hat mir einmal eine Broschüre über afrikanisches Buschwerk geschickt, die mich dazu inspiriert hat, das Trockengewächshaus zu bauen, und …«
Leticia blinzelte in Erwartung. »Und …«
»Und … na ja, ich weiß nicht, was ich tun soll, weil …« Margaret biss sich auf die Lippe, dann traf sie eine Entscheidung. »Lies das, bitte.« Sie hielt ihr den Brief hin.
Leticia nahm ihr behutsam das Papier ab. Sie entfaltete es und hielt ihre Züge stoisch neutral, während sie las.
Es war ein kurzes Sendschreiben von Rhys. Manchmal konnte er beide Seiten des Blattes mit Schrift füllen, wenn er ein besonders interessantes Experiment vornahm, das er zu erklären wünschte, doch Leticia hatte zu Ende gelesen, bevor Margaret auch nur eine weitere Erbsenschote pflanzen konnte.
»Na, das ist ja mal was, oder?«, sagte Leticia und lächelte. »Was für eine wunderbare Gelegenheit.«
»Wirklich?«
»Natürlich, nach London zu fahren und der Gartenbaugesellschaft deine … Blumen vorzuführen.«
»Es geht nicht nur um Blumen, Leticia«, wandte Margaret ungeduldig ein. »Es sind gekreuzte wiederblühende Rosen! Und die kann ich unmöglich nach London schaffen.«
Sie schwang ihre Hand auf die kleine, umständlich gezüchtete Rosenpflanze zu, die in ihrem Topf auf ihrem Platz am Nordfenster stand. Deren Blüten waren zart und weiß und sie war womöglich die wichtigste Pflanze im ganzen Gewächshaus.
Es war die Chinesische Rose ihrer Mutter. Sie war eine große Rosenzüchterin gewesen, und als ein Züchter Samenkörner aus dem Fernen Osten herangeschafft hatte, da hatte ihr Vater sie ihrer Mutter vor mehreren Jahren zum Geburtstag gekauft (zu einem erschreckenden Preis, darauf wies er immer hin).
Nur einer der Samen wuchs und wurde zu dem eingetopften Gestrüpp, das an jenem Tag auf Margarets Fenstersims stand. Die Chinesische Rose war nicht so zählebig wie ihre englischen und europäischen Verwandten, doch sie blühte fortwährend den Sommer über und bis in den Herbst. Sie hatte gerade erst letzten Monat zu blühen begonnen – hübsche, kleine, weiße Kelche mit weißen Blütenblättern. Margaret wusste jedoch, dass all die Blüten ihren Preis hatten, und wenn sie die Pflanze auch nur einen Tag nach draußen gebracht hätte, hätte sie es riskiert, dass sie zu nichts verwelkte.
Sie hatte jedoch große Hoffnung, was die Kinder der Chinesischen Rose anging.
Sie wuchsen aus der Erde gleich vor dem Nordfenster, wo – das dachte Margaret gerne – die Chinesische Rose sie im Auge behalten konnte. Sie waren zu verworrenen Stämmen und Dornen gesprossen und nun begann der neueste Satz Blumen zu knospen. Sie hatte die Chinesische Rose mit kräftigeren englischen Arten gepaart. In den vergangenen drei Jahren hatte sie versucht – und war dabei gescheitert – eine Rose hervorzubringen, die außerhalb eines Wintergartens blühen würde und leben konnte … doch dieses Jahr war es ihr vielleicht gelungen.
Die leichten, rosigen Blüten an der Dornenranke sahen nicht nach viel aus – noch nicht. Sie hatten jedoch letzten Monat einen späten Frost überlebt, und ihnen sprossen jeden Tag mehr und mehr Knospen.
Eine Rose, die den ganzen Sommer über blühte und draußen im englischen Klima überleben konnte.
Es musste sie nicht wundern, dass die Gartenbaugesellschaft daran interessiert war.
»Warum kannst du sie nicht nach London schaffen?«, fragte Leticia vorsichtig. »Anscheinend hält Dr. Gray dies für eine ziemliche Errungenschaft.«
»Aber … was, wenn sie die Reise nicht überstehen? Man müsste sie entwurzeln und entsorgen. Entsorgen, Leticia! Und was, wenn man in London nicht die richtige Erde und den richtigen Dünger hat? Was, wenn …«
»Margaret«, sagte Leticia in dem Tonfall, den sie im letzten Jahr so oft gebraucht hatte, wenn sie ihr ihre stiefmütterliche Weisheit anraten wollte. »In London gibt es Blumen, also gibt es genügend Dünger und Erde, nehme ich an. Und du mehr als jeder kannst eine Pflanze einen kurzen Ausflug nach Süden über am Leben halten. Von allem, worüber du dich sorgen könntest, würde ich nicht annehmen, dass es dein Talent für Pflanzen wäre.« Leticia sah sie eindringlich an. »Deshalb frage ich mich, was dir an London wirklich Sorgen bereitet.«
»Ich … also, um Himmels willen, kannst du dir mich in London vorstellen?«, fragte Margaret mit brandheißen Wangen, während sie an ihrem langen, blonden Zopf zog, der ihr über die Schulter hing. »Es ist eines, zu einem öffentlichen Ball in Claxby zu gehen, aber in London ist alles so äußerst fein, da würde ich hervorstechen wie … ein Unkraut im Treibhaus. Was sollte ich denn da nur machen?«
Leticia trat einen Schritt vor und brachte Margarets Hand sachte davon ab, ihr vor lauter Sorge den Zopf auszureißen. »Meine Güte, ist das alles?«, fragte sie, und ein schiefes Lächeln krümmte ihre Mundwinkel.
Margaret warf ihr die ganzen drei Sekunden lang, die sie es konnte, einen verächtlichen Blick zu.
»Erstens kann ich mir dich selbstverständlich in London vorstellen. Ich glaube, du traust dir zu wenig zu. Du bist eine junge Dame aus ausgezeichnetem Hause; du bist aus deiner Schale gekommen; und wenn du nicht gerade deine Arbeitskleidung trägst, stellst du dich sehr gut dar. Ganz anders als –«
Leticia hielt sich davon ab, den Satz zu beenden, doch es war zu spät.
»Anders als letztes Jahr?«, fragte Margaret trocken nach.
So schwer es auch war, es zuzugeben, hatte Margarets Sinn für Kleider sich im vergangenen Jahr doch zum Besseren verändert, und obwohl Leticia sie gleich bei ihrem ersten Treffen niederringen und ihr einen Petticoat von angebrachter Länge aufzwingen wollte, war es doch eher Schritt für Schritt geschehen.
Und es war wegen ihrer Mutter geschehen.
Seit Margaret auf ihren Stand als Spätentwicklerin hingewiesen worden war, zögerte sie ein wenig, Neues zu versuchen, sogar nach Helmsley zu gehen, damit sie nicht als Kuriosität auffallen würde. Ihre Mutter kannte sie jedoch besser und wusste das eine, was Margaret in die Welt hinausbefördern würde.
Sie pflegte sich vorzulehnen und Margaret sechs Zauberworte ins Ohr zu flüstern:
Ich wette, du traust dich nicht.
Margaret war nicht die Art Mensch, die auf etwas so Kindisches wie eine Mutprobe einging. Normalerweise war sie das genaue Gegenteil. Da war jedoch etwas daran, wie ihre Mutter sich vorgelehnt und Margarets Blick mit einem Funkeln im Auge erwidert hatte. Dann ging sie noch um eines Haares Breite weiter und fragte: »Was könnte denn so Schlimmes passieren?«
Dann wusste Margaret, dass es nichts zu fürchten gab.
Es waren Jahre vergangen, seit sie diese Worte zum letzten Mal gehört hatte, und da es niemanden gab, der sie ihr zuflüstern konnte, hatte sie sich in sich zurückgezogen, in ihr Gewächshaus, wo es sicher war und sie alles im Griff hatte.
Doch dann, nach Leticias Hochzeit mit Mr. Turner, und wenn Helen so oft kam und mit ihnen zu Abend am Esstisch saß, hatte Margaret begonnen, sich zu fragen, ob es da nicht etwas gab, was sie versäumt hatte.
Es begann, als sie an Mrs. Robertsons Kleidergeschäft vorbeikam. Da war ein Kleid in der Auslage in kräftigem Melonengrün. Etwas daran sprach Margaret an und ließ sie auf ihr altes, verwaschenes Kleid hinuntersehen, dessen Saum sie dreimal hatte verlängern lassen. Sie war es gewohnt, sich an die Sicherheit des alten Kleides zu klammern, doch als sie etwas in dem Fenster erblickte … Es sah wie ihre Mutter aus, und das Funkeln in ihren Augen sagte: Ich wette, du traust dich nicht.
Es waren einige Augenblicke nötig, bevor sie begriff, dass es nicht ihre Mutter war, sondern ihr eigenes Spiegelbild, doch das Funkeln war nach wie vor da. Was könnte denn so Schlimmes passieren?
Das Schlimmste, was passieren konnte, war es, dass die Melonenfarbe des Kleides sie seltsam kränklich wirken ließe. Und das war alles. Sie kaufte es nicht, doch da sie schon im Laden war, überzeugte Mrs. Robertson sie, sich ein anderes Material mit ähnlichem Schnitt anzusehen. Und dann noch eines. Und dann kam Leticia – zweifelsohne von Mrs. Robertsons Ladenhelferin von der Situation in Kenntnis gesetzt – und half ihr dabei, noch ein paar auszusuchen.
Dann fragte Miss Goodhue, die Schwester der Frau des Vikars, sie an jenem Sonntag, ob sie es in Erwägung ziehe, nächste Woche zur Versammlung im nächstgelegenen Dorf zu gehen, und da bekam sie im Kirchenfenster ihr Spiegelbild und das Funkeln in ihren Augen zu Gesicht.
Dann fragte Molly, das kleine Waschmädchen, das Leticias eigene Dienerin geworden war, sie, ob sie sich daran üben dürfte, Margaret das Haar hochzustecken, weil sie sich als Dienerin der Dame einer anderen örtlichen Familie bewerben wollte, da eine Müllersfrau sich einen solchen Luxus wahrscheinlich nicht leisten konnte.
Es war Margaret unmöglich, nein zu sagen.
Und so wurde ihr das lange Haar – das ihr normalerweise im Zopf über den Rücken fiel – hochgesteckt. Und sie ging zu einem Tanz. Und sie ging manchmal mit Miss Goodhue in Helmsley Tee trinken. Und sie verbrachte jeden Sonntag nach der Kirche mit Leticia und Mr. Turner in der Mühle. Und ihr Leben begann sich nur einen Spalt zu öffnen.
Es war erschreckend.
Doch es war auch nicht erschreckend. All die Furcht, die sie darauf angehäuft hatte, als etwas Merkwürdiges und schlecht Entwickeltes dargestellt zu werden, erwies sich als grundlos, und da sie sich in ihrer Rolle immer wohler fühlte, wurde sie sich ihrer auch sicherer.
London aber war dennoch ein anderes Paar Schuhe.
»Und was deine zweite Frage angeht«, fuhr Leticia fort und holte Margarets Gedanken zurück in die Gegenwart, »was würdest du in London tun?« Sie lächelte katzenhaft, wie sie es an sich hatte, als wäre sie einem im Tanz vier Schritte voraus. »Ich meine, du würdest tun, was immer du möchtest.«
»Was immer ich möchte?«, fragte Margaret.
»Selbstverständlich. Du würdest ja nicht eine ganze Saison lang in die Stadt fahren. Nur, um mit diesen Gentlemen von der Gartenbaugesellschaft zu sprechen. Also müsstest du den gesellschaftlichen Zirkus nicht über dich ergehen lassen, wenn du nicht möchtest. Und du musst ja auch nicht alle höheren Kreise abtanzen, um zu einer Oper oder einem Theaterstück zu gehen, wenn es von Interesse wäre. Oder zu den Gärten in Vauxhall.«
Da schoss Margarets Kopf hoch. Die Lustgärten von Vauxhall wären bestimmt etwas Interessantes zu unternehmen … soll heißen, wenn sie nach London müsste.
»Und falls du findest, dass du zu einer Feier oder zweien gehen möchtest, dann könnten wir dich bestimmt den richtigen Leuten vorstellen, und du wärst bei jedem gesellschaftlichen Ereignis mehr als willkommen.«
Na ja, jener Gedanke tötete etwas von Margarets Begeisterung ab … doch nicht alles.
»Und natürlich wird Dr. Gray dort sein«, sagte Leticia so nebenbei. Sie schaute hinunter auf den Brief von Rhys, den sie immer noch in der Hand hielt. »Dem Ton seines Briefes nach zu urteilen, ist er sehr darauf aus, deinen Aufenthalt unvergesslich zu machen.«
»Vielleicht … Vielleicht wäre ein Tanz oder zwei nicht so schlimm«, dachte Margaret laut nach. Immerhin war sie bei den Bällen in Claxby gewesen, und jene hatten sich zugegebenermaßen als eher erfreulich herausgestellt. Und wenn sie mit Rhys tanzen könnte, jemandem, den sie kannte – und von dem sie wusste, dass er zumindest gleich groß war wie sie, und sogar einen halben Zoll oder so größer – würde sie sich selbst und ihrem Vater keine Schande bringen.
»Ja, du könntest dich sogar amüsieren«, sagte Leticia mit einem Lächeln. »Und ich kann mir vorstellen, dass Rhys sich auch amüsieren würde.«
»Das hoffe ich«, sagte Margaret dazu; ihr Blick fiel wieder auf ihre Erbsenschoten, daher bemerkte sie den verschmitzten Stich in Leticias Augen erst Augenblicke später.
Doch dann sah sie ihn.
»Nein, Leticia«, sagte sie.
»Nein, was?«, fragte Leticia. »Ich sagte doch gar nichts.«
»Du musstest auch nichts sagen. Ich kann es an deinem Gesicht sehen.«
»Was glaubst du denn zu sehen?«
»Ich glaube, jemanden zu sehen, der eine Romanze zwischen zwei Menschen heraufbeschwören will, die nur … akademische Korrespondenten sind!«
Leticia warf ihr einen Blick überragender Skepsis zu. »Zugegebenermaßen habe ich im Grunde keine Erfahrung, was akademische Korrespondenz angeht, doch dies klingt nicht wie ein Schreiben an einen verstaubten, alten Chemiker oder Astronomen. Er schreibt einer lebendigen jungen Frau. Die einmal ein wenig in ihn verliebt war, oder nicht?«
Margaret fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. Ja, als sie Rhys zum ersten Mal traf, da hatte er sie zum Erröten gebracht, doch seit damals hatte sie viel mehr mit dem Kopf – oder besser gesagt, weniger wie ein Mädchen – an ihn gedacht, also hatte sie beschlossen, dass es nur ein flüchtiges Gefühl gewesen war.
»Das war vor einem Jahr; da war ich ein ganzes Jahr jünger. Und es dauerte nur kurz. Er ist in Greenwich gewesen und ich hier – und wir sind viel bessere Freunde als etwas anderes.«
»Freunde?« Leticias Augenbrauen gingen hoch. »Nicht akademische Korrespondenten?«
»Freunde und akademische Korrespondenten«, warf Margaret ein. »Es gibt aber noch ein Problem, das wir nicht angesprochen haben. Falls ich nach London gehe, was soll ich da wegen Vater machen? Er wird wegen der Kosten krächzen und toben, und dass er verreisen muss …«
»Überlass deinen Vater nur mir – oder eher Helen und mir – und ich weiß, dass sie überaus erfreut sein wird, dass du von einem fähigen Gentleman in die Stadt eingeladen wurdest.«
»Zum letzten Mal, Rhys – Dr. Gray – ist mein Freund. Das ist alles.«
»Nur Freunde?«
»Leticia …«
»Schon gut, schon gut«, sagte sie und hielt ihre Hände zur Friedensgeste auf. Als sie das tat, entglitt der Brief ihrem Griff und stürzte in einen der kleinen Töpfe für die Erbsen – der mit frischem Dünger gefüllt war.
»Herrje!«, rief Margaret, da sie sich auf die Nachricht stürzte und sie herauszog. »Hoffentlich ist er nicht ruiniert.«
»Du sorgst dich aber sehr um einen Brief von ›nur einem Freund‹«, sagte Leticia schelmisch.
Margaret errötete wieder, doch diesmal hielt sie ihren Blick abwärts auf die Töpfe vor ihr und schaffte etwas, was sie nie für möglich gehalten hätte.
Sie sprach die kleinste aller Notlügen aus.
»Du nimmst an, ich sorge mich um den Brief, wenn ich mich genauso gut um meine Erbsenschoten sorgen könnte.«