Leseprobe Blutiger Fjord

Kapitel 1

Jäh fiel etwas Licht in den Raum.

Die Morgensonne musste hinter den Hügeln hervorgekommen sein. Sie schickte diffuse, kalte Schimmer durch die Glasscheibe über der Tür.

Das Licht traf auf das Gesicht eines bewusstlosen Mannes. Er riss urplötzlich die Augen auf, gab einen erstickten Laut von sich und rang hektisch nach Luft, wie ein Ertrinkender, der endlich an die Wasseroberfläche zurückkehrte. Seine Augenlider klebten zusammen. Blinzelnd richtete er sich langsam auf, das Hecheln ließ nach. Er schloss den Mund und wischte sich etwas getrockneten Speichel von der Wange, sah an sich hinab. Erschrocken sog er Luft ein; sein linker Arm war mit einer Handschelle an das Bettgestell gefesselt. Auch ein kraftloses Rütteln änderte nichts an der Situation.

Sein Blick schweifte verwundert durch den Raum. Nur eine sporadische Verkleidung der Rohbetonwände. Unbearbeitete, morsche Holzdielen auf dem Boden. An der Decke hatten sich weiße, feuchte Flecken gebildet. Keine Fenster. Nur die eine Tür. Befand er sich in einem Kellerraum?

Er sog erneut etwas Luft durch die Zähne, fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. Er hatte furchtbaren Durst.

Erneut zerrte er an der Handschelle, fluchte leise, kniff wieder die Augen zusammen. Dann sah er sich abermals in dem Raum um.

In der Mitte stand ein Campingtisch. Darauf eine Flasche, die vielleicht etwas Wasser enthielt? Er versuchte sich aufzusetzen, streckte den Arm aus, doch der Tisch befand sich außerhalb seiner Reichweite.

Der Mann grunzte schwach, rüttelte noch einmal träge an der Schelle an seinem Handgelenk, betastete mit der rechten Hand das kalte Metall, das bereits rote Kerben in seiner Haut hinterlassen hatte.

Ein stechender Schmerz in seinem Kopf ließ ihn zusammenzucken.

Was zum Teufel?

Mit der rechten Hand fuhr er sich über die Schläfe. Es war ein Pulsieren unter der Haut wahrzunehmen, schreckliche Kopfschmerzen. Zudem fühlte er sich benebelt, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Hatte er vielleicht getrunken? Nein, er trank doch niemals so viel, dass er das Gedächtnis verlor, hatte er nie getan. Es gab andere Laster, wer hatte die nicht? Aber dieser Kelch, die Trinksucht, war an ihm vorbeigegangen.

An seinem Hinterkopf ertastete er eine verkrustete Beule unter den Haaren. Er kratzte vorsichtig daran, stieß wieder einen leisen Fluch aus. Die Wunde war frisch, möglich, dass er am Abend in eine Rauferei geraten war. Aber das hier war keine Ausnüchterungszelle.

Er sah zu der winzigen Glasscheibe oben an der Tür, durch die fadenscheiniges Licht auf seine Schulter fiel, empor.

Seine Augen wurden wieder groß. War es vielleicht um das Geld gegangen?

Dann musterte er erneut das Bett, an das er gekettet war. Es war eine Art Feldbett, die dünne Matratze war nur auf das Rahmengestell aufgelegt. Vorsichtig schob er die Auflage zur Seite. Ein dünnes Metallgestell zog sich um das gesamte Bett herum. Der Mann bewegte den Arm und lächelte. Ja, er konnte die Schelle am Rahmen entlang verschieben. Doch wie sollte ihm das helfen?

Langsam atmete er aus und sah an sich hinab; da waren einige Blutflecken auf dem ehemals weißen Hemd, außerdem eine feuchte Stelle in seinem Schritt. Er hatte sich vollgepisst.

Ein Seufzen entfuhr seiner trockenen Kehle, während er die Augen schloss. Als er sie wieder öffnete, blickte er auf seine nackten, schmutzigen Füße.

Kristian setzte sich wieder auf die Kante des Feldbettes. Seine Augen hatten sich langsam an die Lichtverhältnisse gewöhnt und er erkannte nun immer mehr Details seines Gefängnisses. Er befand sich ganz sicher in einer Art Kellerraum. Die Decke war niedrig und von den Wänden fiel der Putz ab. Eine dicke Kellerassel bewegte sich langsam über den schmutzigen Boden. Es war kalt. Feucht und kalt. Und trotzdem schien sich hier gelegentlich jemand aufzuhalten. Essensreste, ein paar leere Bierdosen. Ringnes aus Oslo.

Wer trinkt denn noch mal dieses Zeug?

An der gegenüberliegenden Wand, auf einer klapprigen Kommode, stand ein alter Fernseher. Ein Röhrengerät. Sicher aus den 1980er-Jahren. Darüber hing ein Bild einer Naturszene, ein Elch vor einer abgeholzten skandinavischen Waldlandschaft. An der hinteren Wand war ebenfalls eine kitschige Malerei aufgehängt: ein farbenfroher Papagei, der ihn mit durchtriebenen Augen anblickte.

In der Ecke, neben der ehemals grünen Eingangstür, standen drei Plastikkanister aufeinandergestapelt, alle mit Warnhinweisen bedruckt. Kristian kniff die Augen zusammen: Flüssigkeit, die aus einem Reagenzglas auf eine Hand tropfte und diese zu verätzen schien.

Säure.

Daneben waren in einem Regal einige chemische Apparaturen aufgestellt. Laborgläser und Kolben, ein Bunsenbrenner. Da war noch mehr Kram, den er aus dem Chemieunterricht wiedererkannte und der in einer aufgeweichten Umzugskiste aufbewahrt wurde.

Sein Blick fiel wieder auf den Campingtisch. Das, was er zuvor für eine Trinkflasche gehalten hatte, war tatsächlich eine leere PET-Flasche. Dahinter erkannte er nun eine Autobatterie und davor lagen eine Federzange, ein Hammer und zwei Messer.

Kristian blickte auf seinen linken Arm in der Metallschelle, dann wieder auf die Werkzeuge auf dem Campingtisch. Erneut schnappte er nach Luft.

Wollen die mich foltern?

Er stieß einen Schwall Atem aus, versuchte sich zu beruhigen und wischte sich über das Gesicht. Ruhig, er musste ruhig bleiben. Nur dann hatte er eine Chance. Wieder schloss er kurz die Augen, versuchte sich zu konzentrieren.

Das schien zu helfen, der Nebel in seinem Kopf hatte sich etwas gelichtet. Plötzlich kam ihm ein Gedanke und Kristian war sich nun sicher, dass er schon einmal hier gewesen war, in eben diesem Raum. Eine Kindheitserinnerung vielleicht? Doch so sehr er auch versuchte sich zu konzentrieren, sein Gehirn schaffte es nicht, die letzte Hürde des Erinnerns zu überwinden und eine plausible Erklärung für seine Lage zu liefern.

Wieder sog er etwas Luft durch die Nase ein und verzog den Mund. Es roch modrig und feucht, doch da war noch ein anderer Geruch, der ihm bisher nicht aufgefallen war. Es stank nach chemischen Reinigungsmitteln. Kristian blickte wieder auf die Apparaturen in dem Regal, dann zu den Kanistern mit den Warnhinweisen.

Er fuhr zusammen, als plötzlich ein Geräusch von draußen die perfekte Stille durchbrach.

Eine Stimme!

Jemand schien sich draußen zu unterhalten. Lauschend verharrte er. Da war es wieder, gedämpft, kaum zu verstehen. Wahrscheinlich sprach die Person in ein Mobiltelefon, denn er konnte nur kurze Sätze, aber keine Antworten hören. Nur die eine Stimme, tief und monoton, männlich.

Sollte er um Hilfe rufen?

Ein Augenblick vollkommener Stille, auch die Kellerassel war aus dem Lichtkegel verschwunden.

Da war sie wieder, die Stimme. Es war kein Norwegisch, irgendetwas Slawisches, Russisch vielleicht. Nein, er kannte Russisch, hatte einige russische Angestellte, das klang anders, viel rauer. Kroatisch womöglich?

Kristian schluckte, sah wieder auf seinen gefesselten Arm, dann auf die Tür, schließlich auf die Folterwerkzeuge auf dem Tisch. Er konnte das Rauschen seines Blutes in seinen Ohren hören, sein Kopf pochte wie verrückt. Ruckartig stand er auf, riss an dem Campingbett. Es war leichter als er gedacht hatte und fiel mit einem Scheppern auf die Seite.

Kristian sah sich angstgelähmt um, lauschte. Doch der Kerl draußen schien ihn nicht gehört zu haben. Geschwind kniete er sich vor das Bett und rüttelte nun etwas vorsichtiger an der Handschelle. Die Streben des Gestells waren leicht, aber dennoch solide. Er hing am Bett fest, daran war nichts zu ändern. Vielleicht könnte er das Ding einfach hinter sich herziehen? Ein Blick zu der schmalen Tür. Nein, da würde er nicht durchkommen, das Bett war zu breit.

Er musterte nachdenklich die Stangenkonstruktion, an die er gefesselt war. Plötzlich neigte er verwundert den Kopf. Er kannte dieses Bett! Es hatte seinem Großvater gehört, er hatte damals zwei davon gehabt. Kristian und sein Bruder hatten als Kinder darauf geschlafen, im Pavillon im Garten des Sommerhauses.

Nun brach die Erinnerung durch die Nebelwand in seinem Kopf. Er musste beim Haus auf der Insel sein. Dem Ferienhaus, das sein Großvater gebaut hatte.

Ihm kam eine Idee. Als er herumfuhr fiel eine leere Bierdose um und stieß scheppernd gegen eine Weitere.

Wie erstarrt blieb er stehen, lauschte erneut. Doch zu seiner Erleichterung hörte er alsbald wieder die Stimme – den Kroaten? – in sein Handy sprechen.

Es musste nun schnell gehen. Kristian drehte das Campingbett herum und tatsächlich waren unter der Liegefläche die Stellschrauben. Wenn man sie löste, konnte man das Bett auseinanderbauen und zum Transport in einem Rucksack verstauen.

Fieberhaft legte er Zeigefinger und Daumen um eine der kleinen Schrauben, verzog das Gesicht zu einer angestrengten Maske und drehte. Doch der Bolzen saß hundsmäßig fest. Großvater hatte sie damals mit dem dazugehörigen Werkzeug gelöst, niemals mit den bloßen Fingern. Aber dieses Hilfsmittel hatte er nun mal nicht zur Hand, es musste halt so gehen.

Immer wieder rutschen seine verschwitzten Fingerkuppen ab, ohne dass sich die Schraube überhaupt bewegt hatte. Sie schien angerostet, sicher von der feuchten Kellerluft. Wieso hatte sein Großvater das Scheißding nicht eingeölt, er war doch sonst so ein ordentlicher Typ gewesen.

Kristian wischte sich die Finger am Hemd ab, machte sich wieder an sein Werk. Dabei warf er einen beiläufigen Blick auf die Tür, denn er hatte schon länger nichts mehr von dem Kroaten gehört. Würde er zu ihm herunterkommen wenn das Gespräch beendet war?

Ein Schmerz durchfuhr ihn. Der Nagel an seinem Zeigefinger war zur Hälfte abgebrochen. Er biss die Zähne aufeinander, unterdrückte einen Aufschrei. Dann kniff er die Finger erneut zusammen und sammelte all seine Kraft, drehte weiter.

Sie gab nach! Sie hatte tatsächlich nachgegeben!

Eilig schraubte er ein paar weitere Umdrehungen, dann hatte er die erste Schraube gelöst und sie fiel mit einem leisen Scheppern auf den Boden.

Kristian stieß einen erleichterten Seufzer aus. Hoffnung stieg in ihm auf und sofort machte er sich an den zweiten Bolzen, der am Kopfende der Liege die Stangen zusammen hielt. Natürlich saß auch diese Stellschraube bombenfest. Er biss sich auf die Unterlippe, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Doch es half nichts, er durfte nicht aufgeben. Ein leises, angestrengtes Stöhnen, als er seine gesamte Kraft in den Fingern konzentrierte, dann hatte er auch diese Schraube gelöst.

Mit einem nervösen Grinsen auf dem Gesicht fing er an die Stangen auseinanderzuziehen, die sich mit einem mechanischen Schaben aus den Gelenken lösten. Bebend vor Aufregung führte Kristian die Schelle am Gestell entlang zu dem Scharnier, zog seine Fessel über die Stange und war frei.

Langsam ließ er die aufgestaute Luft aus der Lunge entweichen und rieb sich das schmerzende Handgelenk. Dann drehte er sich um und war mit einem Schritt bei dem Tisch und musterte die beiden Messer. Er entschied sich für die Klinge mit einer Säge auf dem Rücken, genau die Art Feldmesser, die er als Junge im Militärshop in Alta gekauft hatte. Er und sein Bruder.

Er blickte auf das Messer, dann auf eine leere Bierdose auf dem Boden und stockte einen Augenblick.

Jakob! Sein Bruder Jakob trank Ringnes.

Natürlich, er war hier hergekommen, um Jakob zu suchen. Wie hatte er das vergessen können? Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und betastete vorsichtig seine Beule.

Hatte Jakob ihn niedergeschlagen, oder vielleicht sein kroatischer Freund? Hatte Jakob überhaupt kroatische Freunde?

Wenn er das war, dann bringe ich den Mistkerl um.

Kristian hielt die Klinge vor sich, ging langsam auf die Tür zu. Er stellte sich neben den Eingang, zog vorsichtig an der Klinke, die sich mit einem leisen Knarzen nach unten bewegte. Die Tür sprang einen Spalt auf.

Mattes Sonnenlicht fiel durch den Spalt auf den Tisch und das Campingbett bildete eine scharfe Schattengrenze, die den Rest seines Gefängnisses umfasste. Er hatte keine Zweifel mehr, er befand sich im Erdkeller bei dem Ferienhaus auf der Insel. Der Keller, in den er Jakob, als sie noch kleine Jungs gewesen waren, so oft eingesperrt hatte. Jetzt schien die Konstellation geändert, sein Bruder hatte möglicherweise ihn dort festgesetzt. Doch er war entwischt.

Kristian sah flüchtig durch die Türöffnung auf eine Steintreppe, die zu beiden Seiten von einem grasbewachsenen Erdwall eingerahmt war. Ihm kam kühle, feuchte Morgenluft entgegen.

Zitternd lauschte er einen Augenblick, konnte jedoch nur seinen eigenen unregelmäßigen Atem und das gelegentliche Klappern seiner Zähne hören.

Vorsichtig wagte er einen Schritt auf die Treppe, reckte den Hals, versuchte auf den Vorplatz, der über dem Eingang lag, zu blicken. Der grasbewachsene Platz war von einigen gedrungenen Birken umringt, die Blätter waren der Jahreszeit angemessen blutrot gefärbt. In der Mitte der Lichtung befand sich noch immer die Feuerstelle, daneben der niedrige Holzverschlag, in dem etwas Feuerholz aufgestapelt lag. Da war auch der alte Holzklotz, in dem die langstielige Axt steckte.

Er horchte erneut, konnte jedoch außer dem Schrei eines Vogels – einer Amsel – keinerlei Geräusche wahrnehmen.

Davon ermutigt stieg er zwei weitere Stufen nach oben. Von hier konnte er durch den Birkenhain und den Frühnebel, der faserig über den Baumkronen aufstieg, den Fjord sehen. Er glaubte zumindest das Blitzen der Sonne auf dem Wasser zu erahnen. Hier auf der Insel war es fast immer nebelig gewesen, besonders jetzt im Spätsommer.

Zu seiner Linken, zwischen den Bäumen, war das Dach des Haupthauses zu erkennen. Zu seiner Rechten, nur vielleicht fünfzehn Meter durch das Gehölz, befand sich der Anleger. Da musste sein Boot liegen.

Ja, er war mit dem Finnmaster gekommen, natürlich.

Aber was war dann passiert?

Er musste die ganze Nacht über ohnmächtig gewesen sein, konnte sich beim besten Willen noch immer nicht erinnern. Und wo war Jakob dieser Taugenichts? Sie mussten sich doch getroffen haben bevor er niedergeschlagen wurde.

Auch das spielte keine Rolle, die Erinnerungen würden wiederkommen. Wenn er es bis zum Anleger schaffte, könnte er nach Kirkenes fahren und die Sache der Polizei überlassen. Oder er würde das Ganze gegen Jakob verwenden, ihn zwingen zu unterschreiben. Dann musste der Kerl, der bestimmt wieder Ärger mit den Behörden hatte, zustimmen und er könnte mit der Insel und dem Rest des Erbes machen was er wollte.

Kristian lächelte und stieg von der letzten Stufe der Steintreppe auf das feuchte Gras vor der Feuerstelle und sah sich um. Die Luft war rein und er sprintete los in Richtung des Anlegers.

Urplötzlich durchfuhr ihn ein stechender Schmerz im Fuß. Er stieß einen gedämpften Schrei aus, sah an sich hinab und bemerkte eine lange Glasscherbe, die sich durch die feine Haut zwischen seinen Zehen gebohrt hatte. Sie musste im Gras gelegen haben. Er schniefte und kniff die Augen zusammen, bückte sich. Schließlich zog er den Splitter heraus. Als er wieder aufsah erblickte er ihn.

Kristian stand wie angewurzelt, beobachtete den Kerl. Der erwiderte seinen Blick jedoch völlig ausdruckslos. Um das schmale Gesicht lag schulterlanges graues Haar, das er nach hinten gekämmt trug. Der Typ trat näher. Er war nicht übermäßig groß, hatte ein merkwürdiges weißes Tuch um seinen Hals gelegt.

Kristian lief ein kalter Schauer den Rücken hinab. Er trat einen Schritt zurück. „Wer bist du?“, fragte er mit belegter Stimme. „Hast du mich da unten eingesperrt?“

Der Neuankömmling legte seine ausdruckslose Maske ab und ein bizarres Funkeln trat in seine Augen als er grinste. „Vesterbekkmo, zähl doch mal eins und eins zusammen.“ Sein Englisch klang gebrochen. „Du weißt doch, was wir von dir wollen. Du weißt, wer ich bin, Vesterbekkmo.“ Er sprach es Weester-Beck-Muh aus. Dann trat er noch einen weiteren Schritt auf Kristian zu, die beiden Männer trennte nun nur noch die Feuerstelle. „Meine Leute haben dir doch gesagt, was ihr zu tun habt. Wir hätten Freunde werden können, du und ich.“ Das Grinsen gefror wieder zu der ausdruckslosen Maske. „Aber dafür ist es jetzt zu spät, wir werden keine Freunde mehr, Vesterbekkmo.“

Kristian wich zitternd zurück. „Wovon redest du?“, stotterte er. „Ich kenn dich nicht.“

Der Mann antwortete nicht, blieb aber stehen.

Kristian Vesterbekkmo hob das Messer, fuchtelte mit der Klinge vor seiner eigenen Brust herum. „Ich habe ein Messer!“

Der Mann in der Militärjacke zog eine Augenbraue hoch. Dann trat er zur Seite an den Holzklotz, legte seine Hand um den Stiel der Axt und hatte sie mit einem Ruck gelöst. „Aber ihr wolltet ja nicht hören, Vesterbekkmo“, wiederholte er. „Die Leute wollen nie hören, bis es dann zu spät ist“, fügte er im Plauderton an. Nun legte er sich das Werkzeug auf die Schultern und hielt es mit seinen Händen hinter dem Kopf. So schlenderte er einen weiteren Schritt um die Feuerstelle herum auf Kristian zu, nahm dann die Axt von den Schultern und ließ den Stiel spielerisch von der einen in die andere Hand gleiten.

Kristian bemerkte eine Reflektion. Unter der Jacke trug der Kerl ein Pistolenhalfter, schwarzes, kaltes Metall, das kurz in der Sonne aufgeblitzt hatte. Gedanken rasten durch Kristians benebeltes Gehirn. Warum hatte er die Waffe nicht gezogen? Vielleicht wollte der Typ ihm nur Angst machen. Ging es doch um das Geld, was er dem Dänen schuldete, oder wollte Jakob ihm vielleicht eine Lektion erteilen?

„Willst du Geld? Geht es darum?“, fragte er.

Der Kerl antwortete nicht. Was sollte er ihm denn noch anbieten? Panik stieg in Kristian auf, er musste weg, das war seine einzige Chance. Er ließ das Messer sinken, fasste es an der Klinge an. Herrgott, seine Hand zitterte wie Espenlaub. Zu guter Letzt nahm er allen Mut und alle Kraft zusammen und warf das Messer auf den Kerl mit der Axt. Im selben Augenblick fuhr er herum und sprintete los.

Er hörte einen ärgerlichen Aufschrei hinter sich. Er schien ihn getroffen zu haben, hatte jedoch keine Zeit, das zu überprüfen. Kristian rannte weiter, den Blick auf das Gras vor sich gerichtet, denn er musste den Scherben ausweichen, durfte keine weiteren Verletzungen riskieren. Dann hatte er die ersten Birken erreicht. Er sprang durch einen vertrockneten Farn und war alsbald auf dem schmalen Trampelpfad, der zum Anleger führte.

War er entkommen? Er musste es wissen, blickte sich hastig über die Schulter um. Wo war der Typ? Da, zwischen den Bäumen trottete er langsam hinter ihm her, schien es nicht sonderlich eilig zu haben. Er hielt die Axt in seiner rechten Hand, sein Gesicht wieder die emotionslose Maske.

Oh Gott, dachte Kristian, was für ein Wahnsinniger!

Humpelnd bewegte er sich weiter, spürte wieder seinen Fuß. Bei jedem Tritt ein Pochen. War da noch eine Scherbe, hatte er es durch das Adrenalin nur nicht bemerkt?

Das Boot, er musste es nur bis zum Boot schaffen. So schnell es eben ging humpelte er weiter auf den Fjord zu. Inzwischen war das Wasser zu sehen, dunkelblau lag es dort zwischen den Bäumen in der Morgensonne. Wunderschön an jedem anderen Tag.

Erneut drehte er sich um. Der Mann war nirgendwo erkennbar, er hatte anscheinend etwas Vorsprung gewonnen. Kristian lief nun auf die Uferböschung zu. Dort, er sah den Steg. Und da lag auch sein Boot schaukelnd auf dem Wasser.

Fast hatte er es geschafft.

Kristian eilte über die breiten Holzbretter, ein verbissenes Grinsen auf dem Gesicht. Er hörte das leise Plätschern des Wassers, das sanft gegen den Rumpf des Bootes schlug. Dann hüpfte er vom Steg hinunter. Doch er war viel zu schnell, rutschte auf seinen blutigen Füßen aus und stürzte. Kristian rappelte sich auf und trat hektisch an das Pult, an dem das Steuer und die Bedienungselemente angebracht waren.

Irgendetwas hatte er vergessen.

Das Seil!

Natürlich. Hektisch fuhr er herum und sprang wieder an die Reling, riss an dem Tau, mit dem das Boot am Steg festgemacht war. Er zog die Schlinge von dem Poller, ließ sie ins Wasser fallen. Wie in einem Traum sah er auf die blutroten Fußabdrücke auf dem weißen Plastikboden hinab.

Dann war er erneut am Pult. Seine Hand suchte nach dem Anlasser; er musste nur den Zündschlüssel umdrehen, den Knopf drücken, dann würde der Motor anspringen. Und er würde wegfahren, weg von hier, weg von dem irrsinnigen Kroaten.

Doch wo war der Schlüssel? Sein Blick war auf seine zitternde Hand gerichtet, unter der der Schlüssel stecken sollte. Aber dort war keiner.

Kristian stieß einen erstickten Seufzer aus, drehte sich um. Der Kerl stand am Ufer und beobachtete ihn. Dann trat er auf den Steg und die schwarzen Militärstiefel verursachten ein lautes Knarzen, als der Mann auf eine lose Planke trat. Die Axt hatte er sich wieder über die Schulter gelegt.

Kristian hob beschwichtigend seine Hände. „In Ordnung. Lass uns reden. Wie viel willst du haben, hunderttausend Kronen? Kein Problem. Ich kann es gleich in Kirkenes abheben, du hast es heute Abend!“

Der Mann machte einen Schritt auf ihn zu, schüttelte dabei monoton den Kopf. „Dazu ist es zu spät, Vesterbekkmo. Zu spät. Mnogo prekasno.“ Er war auf dem Steg direkt über dem Boot angekommen, verweilte dort einen Augenblick. „Viel zu spät“, wiederholte er. Auf einmal hüpfte er leichtfüßig auf die Rückbank im Heck des Bootes.

Kristian legte eine Hand auf das hüfthohe Pult. Der Mann stand immer noch auf der Bank, überragte Kristian dadurch fast um einen Meter.

„Warte, nein“, schrie Kristian.

Mit einer fließenden Bewegung hob der Kroate die Axt über seinen Kopf. Dann schlug er zu.

Kapitel 2

Karl löste den Sicherheitsgurt. Er sah einen Augenblick aus dem Fenster über die laubbedeckte Auffahrt, hinauf zu dem gelben Holzhaus. Tief darüber hingen aschgraue Wolken. Es würde wohl Regen geben. Er drehte sich zum Fahrer, blickte in das fragende Gesicht seines Partners. Mats wartete noch immer auf eine Antwort. Karl lächelte.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte er und öffnete die Tür einen Spaltbreit. „Wir haben einfach noch nicht darüber gesprochen. Das bedeutet aber nicht, dass ich sie nicht mag.“

„Ja, das ist mir klar“, antwortete Mats. „Silja fragt nur immer wieder. Sie denkt, dass du mit mir über Sofia sprichst. Dass ich etwas weiß.“ Er lachte. „Sie denkt, dass Männer so was machen. Wenn sie wüsste, was für ein unzugänglicher Typ du bist.“

Karl runzelte die Stirn, antwortete aber nicht. Letztlich seufzte er, stieg aus und beugte sich in den Wagen. „Sag Silja, dass ich ihre Freundin mag. Den Rest kläre ich mit Sofia selbst. Sie kommt morgen zu mir. Dann werden wir sprechen wie zwei Erwachsene.“ Er lächelte den Kollegen ein letztes Mal an und schlug die Tür mit Wucht ins Schloss.

Anschließend ging er mit festen Schritten die Auffahrt zu seinem Haus hinauf, drehte sich erst wieder um, als er die Treppe zur Veranda erreicht hatte. Er konnte nur noch die Rücklichter des VW Passat sehen, der am Ende des Doktor Palmstrøms Vei Richtung Kirkenes abgebogen war. Eine ganze Weile blieb er dort stehen, atmete die kühle Herbstluft tief ein und lauschte: ein Luftzug, ein Rascheln der verwelkten Blätter in der Hecke.

Wo ist er denn?

Er pfiff, wartete.

„Nossan“, sagte er leise.

Zu guter Letzt pfiff er ein weiteres Mal. Wenn Nossan, der schwarze Kater seiner alten Nachbarin, in der Nähe gewesen wäre, dann wäre er nun aus der Hecke geschossen gekommen. Er wäre ihm um die Beine gestrichen, hätte sich hinter den Ohren kraulen lassen und sanft zu schnurren begonnen. Doch das tat er an diesem Nachmittag nicht. Karl wusste nicht, ob Nossan ihn mit dem Thunfisch in Verbindung brachte, den er dem Kater regelmäßig auftischte. Oder ob er seine Gesellschaft auf einer anderen Ebene genoss. Im Grunde war es egal. Karl mochte es einfach, das Tier bei sich zu haben. Trotzdem bildete er sich ein, dass sie beide so etwas wie Freunde waren, insofern Katzen Freunde hatten.

Nachdem er einen Moment still gewartet hatte und noch immer kein Anzeichen dafür erkennen konnte, dass Nossan ihm an diesem Abend Gesellschaft leisten würde, schloss er das Haus auf.

Er hatte die Essensreste des letzten Abends aufgewärmt und lustlos verzehrt, sich dann aufs Sofa gelegt. Nun schaltete er den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle, bis er bei NRK-Finnmark angekommen war, dem lokalen Nachrichtensender. Es liefen die Abendnachrichten. Früher hatte er sie fast jeden Abend mit seinem Vater geschaut. Wie für viele andere Norweger seiner Generation war das für Olav Pflichtprogramm gewesen und Karl hatte diese Tradition nach seinem Tod übernommen.

Der Nachrichtensprecher sprach über das nahende Unwetter: der erste richtige Herbststurm, der bereits die westlichen Teile der Finnmark erreicht hatte. Es war die Rede von Einschränkungen im Luftverkehr und Beschädigungen an Gebäuden. Besonders die Regionshauptstadt Alta schien es schwer erwischt zu haben, Menschen seien jedoch nicht zu Schaden gekommen. Dann wechselte der Sprecher das Thema und erklärte, dass in Kirkenes ein junger Mann nach dem Konsum einer neuartigen Droge zu Tode gekommen sei.

Karl stutzte. Er hatte auf dem Präsidium gehört, dass die Kollegen gestern ausgerückt waren. Ein Nachbar hatte sie alarmiert. Von irgendwelchen Drogen war da aber noch nicht die Rede gewesen. Allerdings war er den ganzen Tag mit Mats unterwegs gewesen, hatte auch nicht mit Aino, seiner Vorgesetzten und der Abteilungsleiterin der Ermittlungseinheit für Kapitalverbrechen, gesprochen. Er biss sich auf die Lippe. Es gab zwar einige Drogenabhängige in der Gegend, besonders junge Menschen, doch er konnte sich nicht erinnern wann in Kirkenes das letzte Mal einer dieser Junkies an einer Überdosis gestorben war. So etwas passierte hier oben nur selten. Er griff nach der Fernbedienung und schaltete die Lautstärke hoch.

„Den Namen des Opfers halten die Behörden noch unter Verschluss, bis die Angehörigen informiert werden konnten. Es scheint sich um eine neuartige, hochpotente Designerdroge zu handeln. Die genaue Zusammensetzung wird untersucht, die Polizei in Kirkenes bittet um etwas Geduld. Man versicherte uns, dass die Öffentlichkeit schnellstmöglich informiert werde. Zur Sorge bestünde jedoch keinerlei Anlass. Wie das Opfer genau zu Tode kam, ist ebenfalls nicht bekannt, aber es soll sich womöglich um einen Selbstmord handeln.“

Karl fuhr sich mit der Hand übers Kinn. Dann schaltete er das Fernsehgerät aus und trat ans Fenster. Sein Blick wanderte nachdenklich hinunter zu der Stadt am Fjord. Wer war dieser Drogentote? Hoffentlich kannte er die Familie des Opfers nicht. Kirkenes war ein kleiner Ort und über ein paar Ecken kannte man fast jeden. Er könnte Daniel Killgren im Drogendezernat anrufen, um Details zu erfahren. Nein, Killgren und die Kollegen hatten sicher genug zu tun. Er würde seine Neugierde bis zum nächsten Tag im Zaum halten.

***

Tatsächlich wurde die Ermittlungseinheit für Kapitalverbrechen, die von Aino Petersen geleitet wurde und der Karl und Mats angehörten, am darauffolgenden Morgen zu einem Informationsmeeting des Drogendezernats gerufen. In der E-Mail, die Aino an Karl weitergeleitet hatte, stand, dass man die Kollegen über die Ereignisse aufklären wolle und eventuell Hilfe benötigen könnte. Natürlich, so ein Drogentoter versetzte das ganze Präsidium in Aufruhr. Bald würden sich auch die Presse und anschließend die lokalen Politiker auf die Sache stürzen.

Karl trat mit einem Kaffeebecher in der Hand und mit Mats im Schlepptau in den Besprechungsraum im Erdgeschoss. Er nickte Sigurd Møller, dem Leiter des Drogendezernats, flüchtig zu. Møller, ein Mann in den Fünfzigern und außerordentlich schlank für seine Körpergröße, hatte bei der Berufsbekleidung nur die Wahl zwischen zu kurz und zu groß. Heute hatte er sich für zu groß entschieden und seine Uniform – richtig in der Länge, dafür viel zu weit – hing lose an ihm herab. Irgendwie tat der Kollege ihm leid, denn Møller hatte zudem eine weitläufige Glatze und Karl hatte sich schon häufig gefragt, warum er nicht einfach seinen Polizeihut trug, um dieses offensichtliche Zeichen des Alterns zu verdecken. Ansonsten wusste er nicht viel über ihn, da Møller selten an sozialen Zusammenkünften teilnahm. Was er wusste war, dass sein Kollege Daniel Killgren seinen Chef respektierte, ihn jedoch für einen humorlosen Bürokraten hielt. Diese Meinung hatten die meisten Kollegen bedenkenlos übernommen.

Karl blickte sich um: Die meisten Polizisten des Präsidiums schienen anwesend zu sein, an die dreißig Beamte. Neben Aino waren zwei Plätze frei und die Vorgesetzte nickte ihm abwesend zu. Bereits seit ein paar Tagen hatte er das Gefühl, dass etwas mit ihr nicht stimmte, sie energielos wirkte.

Mit einem Mal wurde es still und Sigurd Møller eröffnete das Meeting: „Guten Morgen und danke, dass ihr alle so kurzfristig erschienen seid.“

Karl unterdrückte ein Gähnen und trank einen Schluck Kaffee. Der Leiter des Drogendezernats begann nun damit, sie über die Ereignisse des Vortages aufzuklären: Eine Streife hatte auf einen Notruf im Soldatveien reagiert. Eine Nachbarin hatte angegeben, dass sie Tobias Lofthus – der Name sagte Karl nichts – im Flur angetroffen habe. Sie war davon ausgegangen, dass er betrunken war, da er unsinniges Zeug geredet habe, unter anderem, dass er verfolgt werde. Auf etwaige Fragen habe er nicht reagiert. Sie habe es vorerst dabei belassen, da Tobias immer schon ein seltsamer Typ gewesen sei. Später aber habe sie Schreie aus seiner Wohnung gehört und daraufhin den Notruf gewählt. Als die Kollegen den jungen Mann dann in seiner Behausung auffanden, hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten und der herbeigerufene Notarzt hatte nur noch seinen Tod feststellen können.

Karl biss sich auf die Lippe und sah Mats an. Es war totenstill im Raum. Møller machte eine längere Pause, zupfte an seiner Uniform. Es war offensichtlich, dass die Ereignisse auch an ihm als erfahrenem Polizisten nicht spurlos vorbeigingen.

Schließlich fuhr er fort und erklärte, dass die Beamten eine Tüte mit einem unbekannten Stoff bei dem Toten sichergestellt hatten: eine bläulich-weiße, steinige Substanz. Das Drogendezernat war daraufhin an den Tatort gerufen worden und hatte den Stoff schließlich optisch als Crystal Meth identifiziert.

„Wir haben das Zeug im Labor untersuchen lassen und die Gerichtsmedizin hat sich den Leichnam vorgenommen“, sagte Møller. „Erste Erkenntnisse bestätigen, dass es sich bei dem Betäubungsmittel um ein neuartiges, hochpotentes Amphetamin handelt. Wir gehen davon aus, dass schon geringe Mengen zu Halluzinationen und Wahnvorstellungen führen können.“ Er stützte sich auf das Rednerpult und blickte ernst in die Gesichter der Beamten, die in den ersten Reihen saßen. „Deshalb habe ich dieses Meeting einberufen. Wir wissen noch nicht, wo das Zeug herkommt und ob der Stoff auch an andere Konsumenten verkauft wurde. Aber wir bitten euch inständig die Augen offen zu halten. Wenn das hier ausartet haben wir möglicherweise ein riesiges Problem und Tobias Lofthus wird nicht das letzte Opfer sein.“

„Danke, Sigurd. Wirklich schrecklich das Ganze“, sagte nun Karl und räusperte sich. „Könnte es sein, dass das Zeug von Ivar Nielsen stammt? Er verkauft doch Meth, oder?“

Ivar Nielsen war ein örtlicher Kleinkrimineller, den Karl noch aus der Schule kannte. Er hatte ihm einst auf dem Schulhof die Nase gebrochen und Karl war seitdem nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen. Das letzte Mal hatten Mats und er im Rahmen der Ermittlungen zum Bjørnøya-Fall mit dem Kerl zu tun gehabt. Das war Ende des letzten Jahres gewesen, über zehn Monate waren seit ihrem ersten gemeinsamen Fall vergangen.

Daniel Killgren, der neben Møller saß, meldete sich auf die Frage hin zu Wort: „Nein, Karl. Natürlich haben wir darüber nachgedacht und wir werden Nielsen im Auge behalten. Aber das ist kein lokales Produkt. So etwas haben wir hier noch nie gesehen. Ich glaube eher, dass es importiert wurde. Wir wissen leider nicht, wo Lofthus das Meth gekauft hat, aber wir untersuchen das. Und ihr könnt alle helfen, die Verbreitung so schnell wie möglich einzudämmen.“

Eine Kollegin der Grenzeinheit, die für die Grenzstation Storskog, nur wenige Kilometer östlich von Kirkenes, eingeteilt war, stand auf. „Kann es sein, dass es über die Grenze kommt?“, fragte sie.

Karl sah Killgren an, der im Begriff war zu antworten, jedoch auf ein Handzeichen seines Vorgesetzten hin stumm blieb.

„Es kann natürlich sein“, sagte stattdessen Møller, „dass es über die Grenze aus Russland kommt. Wir wissen alle, dass das eine Möglichkeit ist. Beweise haben wir dafür allerdings keine und in Oslo hört man solche Theorien nicht gerne. Also behalten wir diese These fürs Erste für uns. Noch Fragen?“

Gleich nachdem das Meeting beendet worden war, eilte Karl Killgren hinterher, der bereits den Empfangsbereich des Präsidiums erreicht hatte.

„Daniel, warte.“ Er legte ihm die Hand auf die Schulter. „Was wolltest du eben eigentlich sagen, als Møller dich abgewürgt hat?“

Der rundliche Polizist mit dem grauen Vollbart lächelte. „Na, was meinst du wohl? Natürlich, dass der Stoff aus Russland kommt. Das weiß doch jeder hier.“

Karl sah ihn fragend an und Daniel blickte flüchtig den Korridor hinunter, fuhr dann mit einem wissenden Lächeln fort: „Du weißt doch, die haben im Juli einfach die Grenze aufgemacht, ohne einen Plan für so was zu haben. Was da alles rüber kommt, das können wir doch gar nicht kontrollieren. Auf jeden Fall nicht mit dem wenigen Personal, das uns zur Verfügung steht.“

„Du meinst, die Kontrollen sind nicht ausreichend?“

Killgren sah ihn einen Moment ausdruckslos an und Karl zuckte mit den Schultern, um zu signalisieren, dass er ihn nicht veräppeln wollte.

„Nein, natürlich nicht“, antwortete Killgren dann. „Wie sollten sie auch? Der Grenzverkehr hat schlagartig um mehrere hundert Prozent zugenommen und die Jungs waren vorher schon unterbemannt. Nur weil der Grenzkonflikt gelöst ist, heißt das doch nicht, dass Kontrollen nicht mehr nötig sind. Aber das ist Politik. In Oslo hat man Angst, dass gründliche Grenzkontrollen das Abkommen torpedieren könnten. Wenn Leute und Waren mehrere Stunden an der Grenze warten müssen, sorgt das nicht gerade für gute Stimmung.“ Der ältere Beamte nahm eine Packung Camel aus seiner Hosentasche und setzte sich wieder in Bewegung. „Ich bin mir sicher, dass da einiges rüberkommt. Sicher auch dieser neue Stoff. Aber das können wir nur sicher herausfinden, wenn wir endlich unsere verdammte Grenze kontrollieren. Wozu sind wir denn eigentlich da, wenn wir nicht mal das dürfen?“

Karl nickte, folgte dem Kollegen. „Und dass Nielsen doch etwas damit zu tun hat schließt du aus?“

Wieder blieb Killgren stehen. „Ivar Nielsen hat es dir wirklich angetan, oder?“ Er schlug Karl sanft gegen die Schulter, nahm sich eine Zigarette und steckte sie sich in den Mundwinkel. „Ich mag ihn auch nicht. Trotzdem glaube ich nicht, dass er den Stoff verkauft. Ein Informant sagte mir sogar, dass er momentan auf seiner Ware sitzenbleibt, weil die neue Droge viel potenter und billiger ist. Dieses Mal hat der Mistkerl wohl echt nichts mit unserem Problem zu tun. So, und jetzt lass mich nach draußen gehen und in Ruhe eine rauchen.“