Leseprobe Blutprotokoll

Prolog

Der Oktober bringt euch den TOD!

Mein Name ist Peter Groß. Ich saß regungslos in meinem Auto. Ich hatte am Straßenrand gehalten, nachdem ich aus der Tiefgarage gefahren war. Das Radio lief. Die Stimme der SWR3-Nachrichtensprecherin drang in mein Bewusstsein und mutierte zu unverständlichem Geschwätz. Wurde zum lästigen Hintergrundgeräusch der absonderlichen Bilder, die sich in meinen Kopf drängten. Regen platschte gegen die Autofenster. Die Tropfen brachen das Licht der Straßenlaternen wie Prismen, bevor die Scheibenwischer sie zerfetzten und wegfegten. Wie Splitter zerbrochenen Glases. Ihr Glitzern verwandelte meine Gedanken in surreale Szenerien. Nackte Menschenkörper auf gleißend hell beleuchteten Seziertischen, mit aufgesägten, leeren Schädeln, ihr Hirn lag neben ihnen in einer Schüssel. Wissenschaftler mit grellweißen Kitteln und irren Fratzen stocherten mit meterlangen Nadeln und Pipetten darin herum. Wenn sie fertig waren, zogen sie Saugrohre von der Decke, Schläuche wie überdimensionale, gefräßige Raupen, die gierig das unnütz gewordene Gewebe aus den Schüsseln verschlangen. Die Kittelträger auf der anderen Seite des Labors öffneten die Bäuche toter Schwangerer und zogen Föten aus ihren Gebärmuttern. Das auslaufende, geronnene Blut und das tote Gewebe schwappten auf die Seziertische. Es färbte ihre reinen Kittel rot, aber es störte sie nicht. Sie interessierten sich nur für die Föten, legten sie in Stahlwannen und griffen nach Skalpellen. Mir entfuhr ein gellender Schrei. Ich presste mir die Hand auf den Mund.

Der Oktober bringt euch den TOD!

Den Zettel hatte ich vor zwanzig Minuten in unserem Briefkasten gefunden. Ein kleines, unscheinbares Blatt Papier, das nur zweimal gefaltet und eingeworfen worden war. Ungläubig hatte ich die sechs handschriftlich verfassten Wörter angestarrt, mit zittrigen Händen, unfähig, mich zu rühren. Die Schrift war schmal, lang gezogen, zackig und kippte nach rechts. Es schien, als würden die ersten fünf Wörter dem TOD hinterherlaufen, und ihn überrennen, ihn auslöschen wollen, um den Oktober vor seinem bitteren Schicksal zu bewahren. Aber der TOD blieb stehen. Er ließ sich nicht abdrängen, nicht widerrufen, er war das Urteil der letzten Instanz. Wie eine ungerechte, unabwendbare Todesstrafe, die alles Vorherige sinnlos machte. Als ich die Bedeutung der anonymen Nachricht erfasst hatte, setzte mein Herzschlag für einen Moment aus, eine unsichtbare Hand drückte mir die Kehle zu.

Nachdem meine Atmung wieder eingesetzt hatte, war ich stolpernd losgegangen, hatte weder rechts noch links geschaut, hatte mich hinunter in die Tiefgarage geschleppt, ohne den Regen, den Wind und die Geräusche wahrzunehmen. Meine Gedanken, wie Scheuklappen, schotteten mich von der Umwelt ab. Es gab nur noch diesen Zettel. Ich steckte ihn in die Jackentasche, setzte mich in mein Auto, atmete tief ein und fuhr los. Mit dem Zettel. Er steckte noch immer in meiner Tasche. Ich konnte ihn nicht spüren, zu klein und formlos war er. Aber er war da. Ein winziger Zettel so schwer wie ein Betonklotz, ein Gewicht, dass einen herunterzog, tiefer, immer tiefer, bis in die Hölle. Eine Bedrohung, die einem jeden klaren Gedanken raubte, einen durchdrehen ließ.

Der Oktober bringt euch den TOD!

Es war früh am Morgen, noch dunkel. Ich startete den Motor, schwenkte vom Seitenrand auf die Fahrbahn und fuhr mit meinem alten Opel Kombi zum LKA. Häuserzeilen, Lichter und Bäume flogen an mir vorbei, aber ich nahm sie kaum wahr. Meine Hände und Füße kribbelten, blanke Angst davor, dass jede Sekunde etwas passieren könnte. Das Autoradio lief immer noch. Nachrichten, Wettervorhersage und Staumeldungen hatten mich nicht erreicht, aus den Lautsprechern plärrte jetzt Musik. Sie begann mich zu nerven, ich stellte es aus. Endlich Stille. Ich hörte nur noch den ruhigen Motor meines Kombis, das monotone Tackern, das nur hin und wieder von einem leisen Quietschen unterbrochen wurde. Der Keilriemen. Ein vertrautes Geräusch, seit Jahren. Es beruhigte mich, ich konnte wieder denken. Dann kam die Einsicht. Mir wurde heiß. Ich hatte einen entsetzlichen Fehler begangen.

Um die Schuldigen identifizieren zu können, musste ich alle Gesprächsnotizen, Protokolle und Berichte noch einmal durchgehen. Und nach meinem Fehler suchen. Das war jetzt das Wichtigste.

Der Oktober bringt euch den TOD!

Ich parkte vor dem LKA ein.

Mein Name ist Peter Groß. Heute war der 30. September 2019. Zwei Wochen war es erst her. Ich blieb in meinem Auto sitzen. Auf meinen Knien lag eine Kladde mit Protokollen, getarnt mit einer Urlaubskatalog-Hülle. Meine zittrigen Hände blätterten sie zögerlich durch, schlugen die Seiten zurück zum Anfang. Ich fing an zu lesen.