Kapitel 1
Obwohl sich der Kerzenleuchter mit rasender Geschwindigkeit auf seinen Kopf zubewegte, nahm Tom die Bewegung wie im Zeitlupentempo wahr. Deutlich spürte er, wie das Metall seine Schläfe traf und die Haut an dieser Stelle aufplatzte. Das Blut, das sofort zu fließen begann, kitzelte ihn. Dabei wartete er auf ganz andere Empfindungen: Schmerz und Angst, doch keine der beiden stellte sich ein. Zumindest fühlte er blankes Erstaunen.
Ein leichter Schwindel erfasste Tom und er erwog, sich an der Kommode festzuhalten, auf der der Kerzenleuchter gestanden hatte. Sie befand sich nur zwei Meter von ihm entfernt. Als er allerdings einen Schritt machen und die Hand ausstrecken wollte, gehorchten ihm weder Arme noch Beine. Er war wie gelähmt.
Wie war es nur dazu gekommen? Er versuchte, sich zu erinnern, aber alles, was vor dem Schlag stattgefunden hatte, lag wie hinter einer undurchdringlichen Mauer verborgen.
Der Boden wankt. Stehe ich auf einem Schiff? Tom senkte den Blick. Tatsächlich! Die Fliesen bewegten sich wellenförmig, jedoch vermochte er nicht, die Begriffe Fliesen und Schiff in Einklang zu bringen. Er dachte nicht länger darüber nach. Sein oberstes Ziel war, endlich irgendwo Halt zu finden.
Der zweite Schlag traf ihn unvermittelt. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort hervor. Zeitgleich wich jegliche Spannung aus seinem Körper und er verlor das Gleichgewicht.
Wie aus weiter Ferne hörte Tom einen ohrenbetäubenden Laut, etwas explodierte in seinem Inneren und eine Information drang in sein Bewusstsein vor: Ich bin hingefallen. Für einen Moment empfand er Erleichterung, weil er nun nicht mehr stehen musste, dann aber schien sich ein zentnerschwerer Stein auf seine Brust zu legen. Er konnte kaum noch atmen.
Jemand zog an seinem Bein. Intuitiv wollte er sich wegdrehen, doch seine Muskeln reagierten nicht auf den Befehl. Als die Person kurz darauf nach seinem Arm griff, ließ er es geschehen. Er erzitterte und jäh nahm ihn eine fremdartige Panik vollends ein – jetzt war die Angst da. Verzweifelt versuchte er, Luft durch seinen Mund einzusaugen, allerdings blockierte etwas seine Kehle. Schlucke, schrie es in ihm auf, aber er konnte sich nicht erinnern, wie das funktionierte.
Ein Schleier schob sich vor seine Sinne und langsam wurde es dunkel um ihn herum. Selbst die lodernde Furcht löste sich auf. Alles rückte von ihm fort, bis er schließlich nichts mehr wahrnahm.
Kapitel 2
Nick legte das Handy zur Seite, lehnte sich in dem Stuhl zurück und blickte aus dem Fenster.
»War das Samantha?«, fragte Luisa. Sie ging zu ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter.
Er nickte bloß.
»Lass mich raten: Sie kann morgen nicht mit dir nach München fahren?«
»Exakt. Es ist bereits das dritte Mal, dass Robert eine Überraschung für sie aus dem Hut zaubert, wenn sie mich zu einem Vortrag begleiten will. Offensichtlich reicht es ihm nicht aus, dass sie zeitgleich mit mir das Bundeskriminalamt verlassen hat und ohnehin nur noch phasenweise für mich arbeitet.« Im Grunde wollte Nick das Thema nicht schon wieder erörtern. Seit vielen Jahren verband ihn eine Hassliebe mit Robert Hofer. Er schätzte den Mann als Rechtsmediziner über alle Maßen, doch auf der zwischenmenschlichen Ebene fanden sie nicht zueinander. Dass seine ehemalige Assistentin Samantha Smith sich ausgerechnet in ihn verliebt hatte, würde er nie verstehen.
»Was hat Robert denn vor mit Sam?«, erkundigte sich Luisa.
»Drei Tage Urlaub in irgendeinem Wellness- und Golfressort.«
Luisa umrundete Nicks Stuhl und setzte sich rittlings auf den Schreibtisch. »Fehlt sie dir?«
»Sam?«
»Aber nein, ihr seht euch oft genug. Die Arbeit bei der Kriminalpolizei meine ich natürlich.«
Nick beugte sich vor und ergriff ihre Hände. »Ich höre diese Frage zu oft von dir. Warum glaubst du mir nicht, dass ich mich wohlfühle?«
»Du bist vielleicht Kriminalpsychologe und durchwühlst die Gehirne der Bösen, aber ich besitze eine herausragende Menschenkenntnis. Und diese sagt mir, dass dich weder das Buch noch deine Vorträge ausfüllen. Dir fehlen die realen Fälle. Samantha und Peter ergeht es genauso. Ich sehe doch das Blitzen in euren Augen, wenn ihr zusammensitzt und über die guten alten Zeiten redet.«
Nick antwortete nicht sofort. Luisa hatte bis zu einem gewissen Grad recht, aber seine Entscheidung, sich auf unbestimmte Zeit beurlauben zu lassen, war aus keinem spontanen Impuls heraus geschehen. Er hatte sich auch nicht gänzlich von seinem Beruf abgewandt, sondern schlicht Alternativen geschaffen. Die Vorträge ermöglichten es ihm, sein Wissen weiterhin – auf andere Art – einzusetzen, und das Schreiben seines Sachbuches Stille Schuld stand ohnedies auf einem eigenen Blatt Papier. Auf diese Weise hatte er verschiedene Ereignisse weitgehend verarbeiten können, die er im Zuge seiner Ermittlungen bisher erlebt hatte – allem voran die seiner beiden letzten großen Fälle. Der Erfolg des Werks war dabei nur die Cocktailkirsche auf dem Sahnehäubchen. »Ich bereue es wirklich nicht. Sam, Peter und ich waren ein tolles Team, darüber hinaus sind wir Freunde und deshalb sehen wir uns nach wie vor regelmäßig. Für jeden von uns war es auf seine Art von Vorteil, sich anderweitig zu orientieren. Peter hat den Abstand dringend gebraucht und seine Ausbildung als Privatdetektiv trägt Früchte. Und Samanthas Intention ist so eng mit meiner verknüpft, dass es ihr egal ist, ob sie für mich Mordfallrecherchen betreibt oder meine Termine koordiniert und die Vorträge plant.«
Luisa bedachte ihn mit einem offenkundig zweifelnden Blick. »Warum fragst du nicht Peter, ob er morgen Zeit hat?«
Nick wiegte den Kopf. »Das ist gar keine schlechte Idee.«
Sie rutschte von der Tischkante und küsste ihn. »Ich muss mich fertig machen. Mein Nachtdienst beginnt in einer Stunde.«
Nick hielt sie fest und flüsterte ihr zu: »Du bist das Beste, das ich mir aus meiner Polizeiarbeit herausgeholt habe.«
Ein sanfter Ausdruck erschien auf Luisas Gesicht. »Ich weiß es noch wie heute, als du im Krankenhaus aufgetaucht bist und mich über Anästhesien ausgefragt hast.« Sie befreite sich aus seiner Umarmung. »Ich muss echt los. Auch Sonntagnacht wollen Notfallpatienten nicht ohne Narkose operiert werden. Und ärgere dich nicht über Robert.«
Nick sah ihr mit einem versonnenen Lächeln nach, wie sie aus dem Zimmer eilte. Was er eben gesagt hatte, meinte er rundum ehrlich. Ihre Beziehung war nicht die einfachste und sie hatten seinetwegen einige Tiefen durchleben müssen. Erst war es sein ungezügeltes Leben gewesen, bald darauf seine persönliche Beteiligung an einem Fall, die sogar zur Trennung geführt hatte, und schließlich sein beruflicher Wandel. Dieser allerdings hatte die Beziehung vorangebracht. Obwohl Luisa ihn nicht zu der Entscheidung gedrängt hatte, war sie glücklich darüber und das wiederum bestärkte ihn.
Dabei war es ihm nicht leichtgefallen, sich ganz auf ein Leben mit ihr einzulassen. Der Schritt, seine Wohnung aufzugeben und gemeinsam mit Luisa ein neues Heim zu beziehen, war immens gewesen.
Nick riss sich aus seinen Gedanken los, griff nach dem Handy und tippte in der Anrufliste auf Peter Westernschmidts Namen.
Kapitel 3
Nick wartete, bis das Klopfen der Fingerknöchel auf den Tischen verebbte. »Wenn es keine weiteren Fragen gibt, möchte ich mich an dieser Stelle herzlich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.« Er machte eine kurze Pause. »Ich weiß, dass so mancher Geistesblitz erst im Nachhinein kommt. Sollte das der Fall sein, schreiben Sie mir eine E-Mail.« Er verstaute den Laptop und die Unterlagen in seiner Tasche, verließ das Podium und ging zu Peter, der in der letzten Reihe des Hörsaals Platz genommen hatte.
Peter stand sofort auf. »Du bist der geborene Professor. Ich habe die jungen Leute beobachtet, sie haben an deinen Lippen gehangen.«
»Ich spreche gern vor Psychologiestudenten. Ihre Überlegungen und die gedanklichen Herangehensweisen sind anders als bei Polizeifachkräften, weil die Gewichtung –« Nick brach mitten im Satz ab, als ein Mann – er war ihm bereits während des Vortrags aufgefallen – direkt auf ihn und Peter zusteuerte. Sowohl vom Alter, Nick schätzte ihn auf knapp vierzig Jahre, als auch von seiner kräftigen Statur und Größe hatte er herausgestochen.
»Herr Doktor Stein?«
»Ja. Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Name ist Axel Mayr. Ich bin von der Kriminalpolizei München.« Er reichte erst Nick und dann Peter die Hand.
Nick übernahm die Vorstellung. »Das ist mein ehemaliger Kollege beim BKA, Peter Westernschmidt.«
»Es freut mich, Herr Westernschmidt.« Axel Mayr lächelte, anschließend galt seine Aufmerksamkeit wieder Nick. »Als ich gehört habe, dass Sie in München einen Vortrag halten, wollte ich unbedingt …« Er räusperte sich. »Herr Doktor Stein, ich habe einen heiklen Fall und möchte Sie diesbezüglich um ein Gespräch bitten. Informell, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Nick sah auf seine Armbanduhr. »Wir fahren heute zurück nach Wien, wenn Sie allerdings jetzt Zeit haben, können wir uns gern unterhalten. Was meinst du dazu, Peter?«
»Natürlich, ja! Unbedingt. Ich bin zu allen Schandtaten bereit.«
»Hervorragend. Unweit der LMU gibt es einen Biergarten. Er ist nur wenige Minuten entfernt. Ich lade Sie ein«, entgegnete Axel Mayr.
»Offen gestanden hätte ich nichts gegen einen Kaffee«, antwortete Nick und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Da treffen Sie bei mir voll ins Schwarze, aber ich dachte, wenn Sie in München sind, ziehen Sie ein typisches Lokal vor. Das Café ist sogar noch näher. Ich kenne eine Abkürzung.« Axel Mayr wandte sich zum Gehen.
Nick und Peter folgten ihm durch das Gebäude zu einem Nebenausgang und überquerten die Straße.
Wie Axel Mayr gesagt hatte, befand sich das Café tatsächlich direkt bei der Universität. Sie wählten im Garten einen etwas abseits gelegenen Tisch und teilten der wartenden Kellnerin noch im Stehen ihre Bestellung mit: Nick und Axel Espresso, Peter Café Latte.
»Ich habe es nicht so mit starken Getränken, egal ob Alkohol oder Kaffee«, erklärte Peter, sobald sie Platz genommen hatten. »In meiner Jugend musste ich deshalb einige Scherze über mich ergehen lassen. Um diesen zu entgehen, habe ich so getan, als würden mir Wodka und Gin schmecken. Es war eine grauenhafte Zeit.«
Axel Mayr nickte. »Das verstehe ich. Ich zum Beispiel kann Bier nicht ausstehen, ein schauderhaftes Getränk, finde ich. Um nicht aufzufallen, habe ich es literweise getrunken, eine Mass nach der anderen.«
Während Peter sich mit Axel Mayr ungezwungen unterhielt, hatte Nick genügend Zeit, den Münchner Ermittler unauffällig zu beobachten. Vom Erscheinungsbild – Axel Mayr war wahrhaft ein Hüne – schien sein Naturell deutlich zu differieren. Er wirkte formgewandt und war überaus höflich. Seine Sprache wies nur eine dezente dialektische Färbung auf und er drückte sich in einem legeren Rahmen gewählt aus. Auch sein Bewegungsablauf bekräftigte die ruhige, gemäßigte Art.
Als die Kellnerin ihre Bestellung auf dem Tisch abstellte, hatte Nick seine Einschätzung weitgehend abgeschlossen: Vor ihm saß ein angenehmer, für sein Umfeld durchaus anregender Mensch. Er wartete, bis sich die Frau einige Meter entfernt hatte, und sagte: »Erzählen Sie uns von Ihrem Fall. Und beginnen Sie bitte ganz von vorn.«
Axel Mayr stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab und faltete die Hände. »Am dritten April erhielten wir knapp nach elf Uhr vormittags einen Notruf. Wir sind zur angegebenen Adresse gefahren und haben den Architekten Tom Lockwood erschlagen aufgefunden. Die Tatwaffe war ein metallener Kerzenleuchter. Seine Freundin, die uns angerufen hatte, lag mehr oder weniger ohnmächtig im Vorzimmer der Wohnung. Ich habe mich um sie gekümmert. Letztendlich war sie ansprechbar und konnte mir sogar einiges berichten, aber wir haben trotzdem den Notarzt gerufen. Ihr psychischer Zustand war kritisch. Sie hat sich in einer Art Schockzustand befunden.«
»Zählt sie zu den Verdächtigen?«, fragte Nick. Ihm war aufgefallen, dass Axel Mayrs Stimme bei der Erwähnung der Frau sanfter und etwas leiser geworden war.
»Sie hat ihn bloß gefunden«, antwortete Axel Mayr hastig, dann schien er sich zu besinnen. Kurz presste er die Lippen aufeinander und fügte hinzu: »Ich muss sie zu den Verdächtigen zählen, weil sie zur Tatzeit allein bei sich zu Hause gewesen ist. Außerdem hatten sie und Tom Lockwood am Vorabend eine Auseinandersetzung.«
Nick hob die Hand. »Moment, bitte. Es gab einen Streit, sie ist gegangen, am nächsten Tag zurückgekehrt und hat ihren Partner ermordet vorgefunden?«
»Ganz genau. Nach ihren Angaben hat sie Tom Lockwoods Wohnung etwa eine Stunde vor Mitternacht verlassen und ist am nächsten Tag um Punkt elf Uhr vormittags wiedergekommen. Es hat sich dabei um eine Art Ritual zwischen den beiden gehandelt. Offenbar haben sie sich das erste Mal um diese Uhrzeit geküsst. Gab es einen Krach, trafen sie sich am Tag darauf um elf Uhr zur Versöhnung.«
Auf der Stelle lagen Nick einige Fragen auf der Zunge. Er beschränkte sich auf jene, die ihm im Augenblick am wichtigsten erschien. »Sie persönlich schließen sie als Täterin komplett aus?«
Axel Mayr seufzte. »Mehr oder weniger, ja. Würden Sie Sylvia Schreiber kennen, wüssten Sie, warum. Außerdem habe ich ganz andere Kaliber von Verdächtigen an der Angel.«
»Und zwar?« Jetzt wird es interessant, dachte Nick.
»An dieser Stelle beginnt der Fall kompliziert und äußerst diffizil zu werden. Nummer eins ist der Exmann von Sylvia Schreiber, Mark Schreiber. Und Nummer zwei ein hiesiger Unterweltboss namens Juri Sanger.«
Peters Kopf ruckte hoch. »Mark Schreiber, der Name ist mir geläufig.«
»Ihm gehören die Schreiber Hotels. In Österreich habt ihr auch einige stehen. Zudem hat er bereits öfter Schlagzeilen wegen Steuerhinterziehung, Beamtenbestechung und so weiter gemacht.«
Nick zog die Brauen hoch. »Warum zählt er zu den Hauptverdächtigen?«
»Sylvia Schreiber und das Opfer haben sich noch während der Ehe kennengelernt. Mark Schreiber hatte Tom Lockwood für Umbauarbeiten an seinem Privathaus engagiert, und da hat das Schicksal seinen Lauf genommen. Ich habe mit Mark Schreiber gesprochen – ein beinharter Mann, kann ich nur sagen.«
»Wegen der Affäre ist er auf Tom Lockwood nicht gut zu sprechen gewesen, nehme ich an«, mutmaßte Nick.
»Nicht gut zu sprechen ist ein Hilfsausdruck. Er hat mir klipp und klar zu verstehen gegeben, dass er Lockwood gehasst hat und sein Tod kein Verlust für die Menschheit sei.« Axel Mayr verzog den Mund. »Mark Schreiber dürfte damals rasch bemerkt haben, dass es zwischen Sylvia und Lockwood knisterte. Also hat er kurzerhand ein Detektivbüro auf die beiden angesetzt, das sowieso permanent für ihn arbeitet.«
»So einen Kunden bräuchte ich ebenfalls«, murmelte Peter. »Entschuldigung, das gehört nicht hierher. Ich habe laut gedacht. Konnten Sie Einsicht in das Beschattungsmaterial nehmen?«
»Mark Schreiber hat es freiwillig herausgegeben. Auf diese Weise sind wir auch auf Juri Sanger, eigentlich auf Tassilo Welk, Juris rechte Hand, gekommen. Aber ich eile voraus.«
Nick winkte ab. »Das ist in Ordnung. Es geht jetzt ohnehin nur um einen groben Überblick. Zu Juri Sanger beziehungsweise diesen Tassilo Welk …«
»Auf den ersten Blick hatte das Opfer eine blütenweiße Weste. Er war gebürtiger Engländer, lebte jedoch seit vielen Jahren in München. Angesehener Architekt, untadelige Vergangenheit, seriös, bis auf seinen Ausrutscher mit Sylvia Schreiber, aber das fällt in eine andere Kategorie. Erst als wir auf einem Beschattungsvideo ein Telefonat mit eben diesem Tassilo Welk mitverfolgt haben, sind wir hellhörig geworden. Seine Konten haben uns dann die Wahrheit offenbart. Jahrelang hat Lockwood unter dem Radar für jemanden – ohne Zweifel Juri Sanger – Geld gewaschen.«
»Haben Sie Juri Sanger verhört?«, fragte Nick. Mit jedem Detail, das Axel Mayr darlegte, fand er den Fall spannender.
»An Sanger kommt man ohne wirklich guten Grund nicht heran, aber Tassilo Welk haben wir uns geholt. Wie Sie sich allerdings vorstellen können, ist dabei nichts herausgekommen. Als Krimineller erster Güte verhält er sich der Polizei gegenüber wie ein Eisblock.«
»Zumindest musste er doch den Anruf erklären«, bemerkte Peter.
»Das war ein simples Unterfangen für ihn. Lockwood hat in seiner Funktion als Architekt immer wieder für Sanger gearbeitet. Und da auf dem Video nichts Verfängliches besprochen wurde, hat er uns mit dieser offiziellen Begründung im wahrsten Sinn des Wortes abgespeist.«
Nick musterte Axel Mayr. »Das klingt tatsächlich nach einer schwierigen Aufgabe, aber da ist etwas, das sie ganz speziell macht, nicht wahr?« Mit seiner Frage schoss er nicht einfach ins Blaue. Sein Gefühl sagte ihm, dass Axel Mayr eine relevante Information noch nicht genannt hatte. Definitiv handelte es sich um einen vielschichtigen Fall mit berühmten Beteiligten, doch die bisher bekannten Fakten brachten einen erfahrenen Ermittler nicht aus der Ruhe. Es gab einen toten Architekten, der sich als Geldwäscher entpuppt hatte, die entsprechende Verbindung zur Unterwelt und einen hasserfüllten Hotelmagnaten – das war es.
Offensichtlich erstaunt zog Axel Mayr die Braunen hoch. »Sie haben recht, Herr Doktor Stein. Neben dem Kopf der Leiche haben wir einen Aquamarin gefunden. Mutmaßlich ist er dort mit Absicht platziert worden.«
»Einen Aquamarin?«, erkundigte sich Nick. Er wusste nicht, was der Ermittler meinte.
Peter beugte sich vor. »Wenn Sie von dem Edelstein reden, weiß ich Bescheid.« Er wartete Axel Mayrs Nicken ab und wandte sich Nick zu. »Das ist ein blauer bis blaugrüner Schmuckstein. Sein Name ist vom lateinischen aqua marina hergeleitet. In spirituellen Kreisen werden ihm alle möglichen Eigenschaften zugeschrieben.«
»Ach, der Edelstein! Ja, Aquamarin sagt mir etwas, aber warum kennst du dich so hervorragend aus?«, fragte Nick überrascht. Er hatte keine Ahnung von Peters Hobby gehabt. Egal, wie gut man einen Menschen kannte, es blieb doch immer etwas im Verborgenen.
»Als Junge habe ich Edelsteine gesammelt und auch heute noch widme ich mich gern dem Thema, wenn ich Zeit finde. Ich weiß viel mehr über den Aquamarin und andere Steine.«
Axel Mayr nickte. »Was Sie erzählt haben, Herr Westernschmidt, stimmt. In den vergangenen Wochen habe ich mich eingehend mit diesem Edelstein beschäftigt. Er steht für Glück, Reinheit und Liebe, ebenso für Heiterkeit, Freude, darüber hinaus steigert er unser Empfinden für Harmonie. Früher war er zudem Symbol für Unschuld und Keuschheit. Er kann unsere Gedächtnisleistung erhöhen und für Klarheit sorgen. Angeblich hilft er bei Depressionen und Atemwegserkrankungen, für die Augen ist er ebenfalls besonders gut. Habe ich etwas vergessen?«
Peter hob den Zeigefinger. »Sie haben die Eigenschaften ausführlich beschrieben. Einer Legende nach soll er Menschen dabei helfen, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Der Aquamarin zeigt dir, wer Freund oder Feind ist.«
»Richtig! Darüber habe ich auch gelesen.«
Nicks Blick schwenkte zwischen Axel Mayr und Peter hin und her. Seine Gedanken gingen längst einen Schritt weiter. »Einen solchen Stein zu platzieren, passt weder zu dem gehörnten Ehemann noch zu einem von ihm bezahlten Mörder und schon gar nicht zu einem Unterweltmord. Auch der Kerzenleuchter als Waffe kommt mir seltsam vor. Er deutet auf eine Affekthandlung hin. Aber das ist nur mein erster Eindruck auf Basis Ihrer Beschreibung. Genauso gut kann alles geplant vonstattengegangen sein und es handelt sich um gezielte Ablenkungsmanöver.« Nick strich sich über das Kinn. »Ich müsste mir die kompletten Unterlagen ansehen, um einen besseren Eindruck zu erhalten.«
Axel Mayr klatschte in die Hände. »Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen. Wir treten nämlich auf der Stelle und ich habe einige wichtige Personen im Nacken sitzen, die den Fall rasch gelöst haben wollen.«
»Nennen Sie mich doch bitte Nick. Und ja, ich sehe mir die Akten gern an.«
»Freut mich, ich bin Axel. Dann hole ich mir unverzüglich die notwendige Genehmigung und schicke dir alles zu. Ist das in Ordnung?«
Nick zog eine Visitenkarte aus seiner Sakkotasche und legte sie vor Axel auf den Tisch. »Bitte an die untere der beiden Mailadressen, die obere ist für Privates.« Er wandte sich an Peter. »Willst du mich dabei nicht unterstützen?«
»Natürlich. Das lasse ich mir nicht entgehen. Sam wird auch jubilieren.« Es war für Peter selbstverständlich, dass Samantha ebenfalls dabei sein würde.
»Sam?«, fragte Axel.
»Samantha Smith, meine ehemalige Assistentin beim BKA. Sie ist ein Recherchegenie, außerdem entgeht ihr nichts.«
Peter lächelte und fügte hinzu: »Ein Herz aus Gold und eine spitze Zunge aus Stahl. Sie stammt aus England, was ihrer bisweilen deftigen Ausdrucksweise einen besonderen Charme verleiht.«
Nick lehnte sich zurück. Deutlich spürte er das altbekannte Kribbeln in der Magengegend und unweigerlich musste er an Luisas Worte denken. Sie hat recht, ich vermisse die Arbeit.