Leseprobe Brandung der Rache

Prolog

Frühjahr 1944

Schritte hämmern im Gleichtakt über das Pflaster. Zwischendurch ein schnarrender Befehl. Stillstand. Das Rattern einer Maschinenpistole zerhackt die kurze Ruhe, bevor der monotone Rhythmus klackender Sohlen wieder einsetzt.

Die Frau in der Zelle verharrt kurz. Ihr Gesicht schmerzt, die Wunde an der Lippe pocht. Ihre Zunge gleitet über die Kruste, reibt sich daran. Sie sucht ihren Weg zurück, tastet sich durch die frisch geschlagene Lücke, an der sie das Blut noch schmeckt.

Wie zum Trotz bohrt sich ein Sonnenstrahl durch die Gitterstäbe. Er zeichnet einen hellen Streif auf den Boden. Staubkörner tanzen ihren Reigen. Die Frau schließt die Augen, legt die schwielige Hand auf ihren Leib. Er fühlt sich hohl an. Leer.

Draußen ist es wieder ruhig geworden. Als sei nichts geschehen. Eine Amsel beginnt ihr stakkatoartiges Rufen, das dann in fröhlichen Gesang übergeht und sich mit dem Zwitschern einer Meise vermischt. Ein schöner Tag. Eigentlich.

Die Frau setzt sich auf die Pritsche und vergräbt das Gesicht in den Händen. Dabei krallen sich die Fingernägel tief in Stirn und Haaransatz, hinterlassen kleine Halbmonde. Sie spürt den Schmerz nicht, sind Furcht und Bitterkeit in ihrem Herzen doch um so vieles stärker.

Sie hat ihn retten können. Er darf leben. Das allein zählt. Nicht das, was kommt. Was so oder so gekommen wäre.

Wie gern wäre sie jetzt noch einmal hinausgelaufen, hätte die Arme gen Himmel gestreckt und die Sonne um ihre Wärme angefleht. Ja, sogar diesen Gott, der sie vergessen hat, sogar den würde sie gern noch einmal anbeten.

 Wenn sie nur dieses Loch verlassen könnte. Das Loch, in dem jedes Geräusch metallisch und laut klingt, jeder Schritt sich wie ein Schuss in den Gehörgang setzt und dort explodiert.

Die Schritte kommen wieder. Eins, zwei, eins, zwei … Wenn sie nachher vor ihrer Zelle halten, werden sie eines der letzten Geräusche sein, das sie in den Ohren hat, bevor der Strick ihrem Leben ein Ende setzt. Der Strick. Die Frau fasst sich an den Hals. Er wird sich dort einschneiden. Sie hofft auf einen raschen Tod, hat Angst vor dem Ersticken.

Aber auch das wird sie ertragen. Hauptsache, er lebt. Nie wird sie sein Lachen hören. Nie wieder seine Augen sehen. Blaue Augen. Tiefe blaue Augen. Mit diesem Blick. Unergründlich und wissend wie jedes Neugeborene, das ins Leben schaut, als kenne es die Welt besser als ein alter Mensch. Diesen Moment wird sie in sich tragen. Bis zum Schluss. Sie weiß nicht, ob sie heute kommen. Vielleicht stehen sie erst morgen vor ihrer Tür. Oder übermorgen. Irgendwann werden sie kommen. Das ist sicher.

Die Schritte nähern sich dem Zellentrakt. Die Frau steht auf, ordnet ihr Haar, wo es nichts zu ordnen gibt, weil es kurz und stoppelig ist. Frauen wie sie werden geschoren, ihrer Weiblichkeit beraubt. Nicht einmal das Tuch haben sie ihr gelassen. Das Tuch, das ihre Kahlheit verdeckt.

Ihre Hand gleitet über den Mund. Die Wunde ist groß. Ein Halbkreis von der Größe eines Stiefelabsatzes. Sie habe keine Ehre. Sei eine triebhafte Bestie, die die Rasse zersetze, haben sie gesagt. Die Frau bedauert, ihre Sprache zu sprechen, sie zu verstehen. Es wäre besser, wenn es nicht so wäre.

Sie sind jetzt ganz nah. Ihr Herz klopft unwillkürlich schneller. Die Schritte verstummen. Nebenan. Sie ist noch nicht dran.

 Aus der Nachbarzelle dringt Schluchzen. Tief und kehlig röhrt es über den Gang, bis es mit einem Stöhnen verstummt. Eins, zwei, eins, zwei … Wieder entfernen sich die Tritte, laufen über das Pflaster, bleiben schließlich stehen. Pistolensalven. Ratternd. Endgültig. Manchmal hört man auch nichts. Wenn sie den Strick benutzen.

Und doch ist es eine laute Stille, die dann entsteht. Die Stille, mit der sie Frauen wie sie bestrafen. Es wäre besser gewesen, sie hätten sie zuerst geholt. Dann wäre es vorbei. Ihr ist schlecht.

Sie sieht sich um und taxiert den Raum. Man hat ihr nichts gelassen, mit dem sie auch nur den Versuch machen könnte, sich selbst zu erlösen. Das gönnen sie ihr nicht. Sie wollen es in der Hand haben, Herren über Leben und Tod sein.

Sie kommen zurück. Wie Maschinen. Abgehackt und immer im Takt. Keiner auch nur eine Sekunde schneller als der andere. Sie funktionieren. Immer. Tötende Menschenmaschinen. Ihre Gesichter zu Masken erstarrt, um das zu tun, was sie tun müssen. Töten. Einfach töten.

Dieses Mal verharrt sie nicht in Angst. Eine unbestimmte

Wut lässt sie sich aufrichten.

Metall quietscht. Die Tür. Das Schloss knackt. Sie erkennt nur die Umrisse der Person. Dahinter dunkle Schemen. Es sind mehrere.

Sie wartet. Dünne Hände greifen nach ihrer Schulter. Sie versucht ihm ins Auge zu sehen. Der Blick lässt sich nicht einfangen. Er ist noch jung, kaum älter als sie. Keine Falte durchzieht das fast noch kindliche Gesicht. Sie muss mitkommen.

Das Stolpern über die eigenen Füße zeigt ihre Furcht, als sie aus der Tür gezerrt wird. Zwei andere Zellentüren stehen offen. Hier wirft der Sonnenstrahl ebenfalls seinen Streif hinein. In der einen Zelle ist die Decke auf der Pritsche zerwühlt. Sicher verharrt darin noch ein Rest Körperwärme, die sich nun von Sekunde zu Sekunde mehr verflüchtigt.

Ein Leben auszulöschen ist leicht. Es gleicht dem Auspusten eines Streichholzes.

Der mechanische Schritt ihrer Bewacher dringt wieder zu ihr durch. Sie zögert einen Moment. Es ist so weit. Nicht morgen, nicht übermorgen. Jetzt.

Dann trifft sie die wärmende Sonne mitten ins Gesicht. Sie muss die Augen zusammenkneifen. Doch sie will sehen. Ein letztes Mal sehen. Die Amsel singt, als sie die Augen aufreißt. Auf der Mauer über ihr, den Kopf leicht angehoben. Unbeschwert.

Die Frau setzt ihren Fuß auf die erste Stufe des Podestes. Der Strick schneidet ein ovales Loch in das Blau des Himmels. Sie steckt den Kopf hinein, spürt das leichte Kratzen des Taus am Hals. Die Amsel stimmt ihr Lied wieder an. Es ist ihr Gesang, der ihr Ende begleitet.

1. Kapitel

Über den Kai hetzten Menschen. Ihre Regenschirme tanzten wie bunte Punkte über ihren Köpfen, nur mit großer Mühe konnten sie sie gegen den Wind ausbalancieren. Die Wellen im Hafenbecken trugen Schaumkronen, die immer wieder über die Kaimauer geweht wurden und die schlierig grüne Wand mit ihren Flocken benetzten. Nichts deutete darauf hin, dass eigentlich Sommer war, denn der hatte in diesem Jahr nur ein kurzes Gastspiel gegeben.

Hartmut Meckenwald sah von seinem Bürofenster auf den Hafen hinunter. Er rieb sich mit der rechten Hand die Knochen der linken. In seinem Alter konnte einem solche Witterung schon arg zusetzen.

Die Dämmerung senkte sich über die Stadt. Verschluckte nach und nach ihre Häuser und Bewohner. Richtig trotzig wirkten da die angehenden Lichter in den Fenstern, hatten sie doch auch Mühe, ihren Lichtschein durch die Regenwand dringen zu lassen.

Hartmut Meckenwald zog nichts nach Hause, obwohl Freitagabend war. Heute hatte er andere Pläne. Die Putzkolonnen hatten die Firma bereits verlassen, gleich würde er allein sein. Endlich das vollenden, was er vor Jahren schon hätte vollenden sollen.

Ein flüchtiges Lächeln zog über das zerfurchte Gesicht. Er strich sich über die Glatze, die nur noch an den äußersten Rändern von weißem Flaum umrankt wurde. Ein Blick in den Spiegel sagte ihm, dass er wirklich alt geworden war, auch wenn er das nur ungern wahrhaben wollte. Er seufzte. Früher war er einmal ein attraktiver Mann gewesen, jemand, der sich nicht darum sorgen musste, immer eine Frau neben sich aufwachen zu lassen. Seine Ehefrau hatte mit viel Konkurrenz zu leben gehabt, es aber immer wortlos geduldet. Geld bindet Frauen, hatte Hartmut damals festgestellt und sein eigenes Leben an ihrer Seite weitergelebt. Doch seit sie tot war, war er einsam. Komisch, dass ihm dieser Umstand erst bewusst geworden war, als er vor dem zugeschütteten Grab gestanden hatte.

Was sollte er also zu Hause? In seiner Villa würde er ohnehin allein sitzen, obwohl er mit seinem Enkel Carsten und dessen Frau Birthe unter einem Dach lebte. Entweder arbeiteten sie oder sie waren sich selbst genug. Nur Birthe machte manchmal eine Ausnahme. Birthe tat nicht nur seinem Enkel gut. Sie war der Lichtblick in seinem Leben. Auch für sie würde seine Überraschung ein Gewinn sein.

Er hörte Carsten oben in seinem Büro rumoren. Jetzt klang es allerdings so, als mache er sich zum Aufbruch bereit. Es war ja auch spät genug. Gleich neun. Sie hatten lange Arbeitstage hier.

Morgen wollte Hartmut seinem Enkel alles mitteilen. Etwas, womit er sicher nicht rechnete. Nur ein paar Andeutungen hatte er schon gemacht und dabei die freudige Erwartung in Carstens Augen gesehen. Er rechnete mit einer Entscheidung. Hartmut grinste. Sein Enkel scharrte schon mit den Hufen, weil er die Firma übernehmen wollte. Expansion war sein Stichwort, das er immer und überall anbrachte. Das sollte er auch alles tun. Aber auf eine andere Art, als er es sich vorstellte. Allerdings wusste Carsten davon noch nichts. Hartmut zog die Mundwinkel nach unten und nickte unmerklich. Carsten würde überrascht sein. Und wie.

Hoffentlich ging er bald nach Hause. Hartmut sah auf die Uhr. Der große Zeiger hatte die Zwölf jetzt knapp hinter sich gelassen. Das gleichmäßige Ticken der Wanduhr zerstückelte die Zeit in winzige Einheiten, zeigte deutlich, wie schnell die Zeit verging, aber auch, wie lang sich Minuten ausdehnten, wenn sie vergehen sollten. Manchmal kam es Hartmut vor, als verginge die Zeit gar nicht so gleichmäßig, wie die Uhren es suggerierten. Aber solche Gedanken passten nicht zu einem Geschäftsmann wie ihm. Deshalb behielt er sie lieber für sich. Die Leute würden ihn als leicht verrückten, alten Mann abstempeln. Sich bestätigt fühlen in dem, was sie schon lange dachten. Dass er mit Mitte achtzig keine Firma wie Meckenwald Immobilien mehr leiten sollte. Er war körperlich wahrlich nicht mehr so fit wie früher, aber er war alles andere als senil. Ihm war es wichtig, dass ihn jeder so sah, wie er sich fühlte. Für sein hohes Alter jung geblieben.

Hartmut hörte Schritte. Stimmengemurmel. Carsten schien seinen letzten Kunden zu verabschieden. Es war eine Frau. Sie war augenscheinlich nicht zufrieden. Dafür war ihre Stimme zu hoch, zu schrill. Im Laufe seiner Tätigkeit im Immobiliengeschäft hatte er ein Gehör für Zwischentöne entwickelt. Und hören tat er noch verdammt gut! Einzig sein Herz geriet hin und wieder außer Takt, aber das stand ihm seines Erachtens nach so langer Funktionsdauer auch zu.

Der Fahrstuhl surrte, das typische Ruckeln. Dann klapperte eine weitere Tür. Es klopfte. Schnelle, gezielte Schläge mit dem Fingergelenk. Seine Sekretärin, Mechthild Driefel, steckte ihren blonden Kopf ins Büro. »Ich gehe dann, Herr Meckenwald. Ich komme aber morgen wieder und arbeite den Rest weg.« Hartmut nickte und winkte ab. Mechthild. Die gute, die loyale Seele der Firma. Ohne sie würde hier vieles nicht laufen. Hartmut wusste die Qualität der Sekretärin sehr zu schätzen. Er hatte unbedingtes Vertrauen zu ihr.

Im Büro über ihm rollte ein Stuhl übers Parkett. Auch Carsten war endlich bereit für den Aufbruch. Wieder ruckelte der Fahrstuhl. Dann surrte er leise. Es wurde endlich ruhig im Gebäude.

Ein paar Minuten wollte Hartmut noch warten, sein Enkel sollte wirklich weg sein. Nicht, dass er noch etwas mitbekam. Hartmut Meckenwald öffnete die Schublade und nahm sich seine Abendration Tabletten heraus. Es waren bislang nur wenige, obwohl ihm jeder Arztbesuch ein weiteres kleines Gebrechen und neue Mitstreiter in Form von weißen und bunten Pillen bescherte. Ganz hinten lag die für ihn wichtigste Packung. Die, welche die dicken blauen Tabletten enthielt, die ihm jedes Mal beim Schlucken einen Würgereiz bescherten. Hartmut hatte sie ohne Rezept besorgt. Sie waren seine Versicherung auf etwas Spaß. Dazu brauchte er junges Fleisch, das sich nicht lange zierte. Hin und wieder gönnte er sich das. Es waren die einfachen, jungen Frauen, nicht die teuren, die ihn reizten.

Unter der Packung befand sich ein dickes Bündel Scheine, sorgfältig geschnürt. Die würde er nachher ganz sicher brauchen. Geld war immer eine Garantie dafür, dass er die Dinge so in der Spur hielt, wie er es für richtig befand. Hartmut griff in seine Hosentasche und faltete einen Zettel mit einer Handynummer auseinander. Eigentlich kannte er sie bereits auswendig. Die Zahlen hatten sich in sein Hirn eingebrannt. Er sog die Luft ein, lauschte in die Stille. Aber da war nur die tickende Uhr. Wie eine Zeitbombe, dachte er. Mit spitzem Finger begann Hartmut die Nummer in sein Telefon einzugeben. Aber dann stoppte er, drückte sie weg.

Es war ihm, als habe er ein Geräusch gehört.

Hartmut ging zum Fenster und sah hinaus. Der Regen hatte tatsächlich aufgehört, nur der Wind heulte mit unverminderter Stärke um die Häuserecken. Obwohl es um diese Jahreszeit normalerweise noch wesentlich heller war, hatte sich die Dämmerung weiter wie ein dunkles Tuch über den Hafen gelegt. Der Parkplatz lag verwaist, nur zwei spärliche Lampen spendeten etwas Licht, schafften es aber nicht, die ganze Fläche zu erhellen.

Hartmut drehte sich um und erkannte jetzt, woher das Geräusch kam. Der Wasserhahn des Waschbeckens in der Ecke tropfte. Er hatte ihn nicht richtig zugedreht. Er war wirklich ein vergesslicher, alter Narr. Immer öfter beschlich Hartmut in der letzten Zeit das Gefühl, des Teufels Fratze lache ihn schon aus allen Ecken an. Sein dreizackiger Schwanz streichle ihm schon hin und wieder über das Gesicht, und das Donnern seiner Hufe komme immer näher. Denn dass nicht der Himmel, sondern das Fegefeuer auf ihn wartete, daran zweifelte er nicht einen Augenblick.

***

Pawel Dzierwas Kleidung war eher unscheinbar, genau wie sein ganzes Äußeres. Die Jacke, farblich eine Mischung aus oliv, beige und braun, beulte sich über einer verwaschenen Jeans, die unten am Saum arg ausgefranst war. Seine Haltung war gebeugt, glich der eines Müllers, der in seinem Leben zu viele schwere Säcke hatte tragen müssen. Pawel stand am Rand des großen Parkplatzes der Firma Meckenwald Immobilien und versuchte, nicht zu sehr in den gelblichen Lichtkegel der beiden Parkplatzleuchten zu geraten. Der Abend schob sich zunehmend über den Hafen, die Türen der umliegenden Häuser spuckten Menschen aus, die sich ihren wohlverdienten Feierabend gönnten. Hier arbeiteten scheinbar alle lange, es schien verpönt, einen normalen Arbeitstag zu haben.

Pawel fröstelte, drang der für diese Region typische Wind doch durch alle Fasern seiner Kleidung. Immer wieder schlug er den Kragen höher, um seine Ohren zu schützen. Er drehte sich in alle Richtungen, taxierte das Leben um ihn herum. Dann glitt sein Blick die Bürofassade hinauf. Fenster für Fenster scannte er ab, prägte sich jede noch so kleine Kleinigkeit ein. Das also hatte sich Hartmut Meckenwald geschaffen. Es schien ihm gut gegangen zu sein in all den Jahren. Verdammt gut. Viel zu gut.

In einem Fenster brannte noch Licht, während die anderen nur vom spärlichen Nachtlicht erhellt waren. Pawel wusste nicht, wie er Hartmut Meckenwald gegenübertreten wollte. Er hatte so viele Jahre gesucht, war über Umwege hierhergekommen. Er hatte schon mehrfach auf diesem Parkplatz gestanden. Und nur geschaut, nachgedacht. Bis er sich getraut hatte. Nun musste er warten. Vielleicht würde er heute Abend wieder davongehen. Einfach so und unverrichteter Dinge.

Pawel sog die Luft scharf ein. Nein. Dieses Mal nicht. Dieses Mal würde er hineingehen. Wie mit Hartmut Meckenwald abgesprochen. Wenn sein Handy klingelte und er ihn zu sich rief. Dann würde er hineingehen. Und das vollenden, was seit 64 Jahren zu vollenden war.

Eine junge Frau kam von der Straße her auf die Firma zu. Dunkle, lange Haare, Mantel. Sie blieb an der nächsten Ecke stehen und zog eine Zigarette aus der Tasche. Sie wirkte nervös. Immer wieder sah sie sich um, versteckte sich dann in einem Hauseingang.

Pawel warf einen Blick auf seine Uhr. Die Zeiger hatten sich Stück für Stück weitergeschoben. Es war Viertel nach neun. Hartmut Meckenwald war jetzt hoffentlich allein. Sein Enkel hatte die Firma vorhin verlassen. Er kannte jedes Gesicht der Familie Meckenwald. Carsten war nicht allein herausgekommen. Er hatte eine Kundin dabeigehabt. Oder eine Angestellte. Vielleicht eine der Sekretärinnen der Firma.

Meckenwald Immobilien hatte bestimmt viele schöne Frauen, die ihre langen Fingernägel über die PC-Tastaturen gleiten ließen. Vielleicht war es auch seine Geliebte, wer wusste das schon. Diese Typen hatten doch alle Mätressen. Glaubte Pawel jedenfalls. Die Frau hatte teuer ausgesehen. In ihrem hochtoupierten Haar klemmte, trotz des schlechten Wetters, eine Sonnenbrille. Als Schmuck, nicht als Mittel zum Zweck. Sie hatte Carsten sichtlich angehimmelt, doch der schien nichts zu bemerken. Er hatte es eilig gehabt. Er war mit großen Schritten zu seinem Wagen gelaufen und förmlich in den schwarzen Audi hineingeglitten. Dort hatte er kurz telefoniert und war dann in die regennasse Straße abgebogen. Die blonde Frau war noch einmal kurz in Richtung Firmeneingang gelaufen. Pawel hatte aber nicht gesehen, ob sie auch hineingegangen war, weil genau in dem Moment ein Auto hupend die Straße entlanggerast war. Ein fataler Fehler, den Eingang aus den Augen zu lassen, nicht genauestens über alles informiert zu sein. Das durfte nicht passieren. Pawel spuckte in den Dreck und verrieb den Schaum mit seiner abgewetzten Schuhspitze. Nun musste er weiter abwarten, ob es ruhig blieb. Kein Risiko. Es war wichtig, dass er Hartmut Meckenwald allein antraf. Und dass er nicht gesehen wurde.

Am Rande des Parkplatzes trieb sich jetzt ein Junge mit einem Fahrrad herum. Er war zu jung, um sich zu dieser Uhrzeit allein in der Stadt aufzuhalten. Pawels Augen bohrten sich durch die aufkommende Dunkelheit. Der Junge schien Probleme mit seinem Fahrrad zu haben. Pawel beschloss, ihn zu ignorieren. Er wollte nicht auffallen und zog es daher vor, im Schutz der Schatten zu bleiben.

Der Junge schluchzte. Pawel schluckte. Er konnte weinende Kinder nicht ertragen. Weinen ging tief, zeigte verletzte Seelen. Davon hatte er zu viele gesehen, als dass er es aushalten konnte. Nun war er doch versucht, hinzugehen und dem Kind seine Hilfe anzubieten. Aber Jungen in dem Alter erinnerten sich. Und wie sie sich erinnerten. An jedes Detail, jeden Geruch, jedes Wort. Das wusste er so genau wie kein anderer. Also musste der Knirps allein klarkommen. Pawel konnte jetzt nicht helfen. Es würde ihn ablenken, vielleicht in seinem Entschluss wanken lassen, und das durfte nicht sein. Zu lange hatte er schon mit sich gekämpft. Zu viele Jahre waren bereits verflossen. Zu viele eigene Tränen hatte er schon geweint. Er musste es jetzt durchziehen, durfte sich nicht stören lassen. Sicher wohnte der Junge nicht weit von hier. Schließlich kümmerte sich ein Passant um das Kind und fummelte an dem Fahrrad herum. Pawel drückte sich hinter ein Auto. Niemand hatte ihn gesehen.

Pawel richtete sich wieder auf, als der Junge verschwunden war. Er fokussierte die Gedanken auf sein Ziel. Sein Atem ging stoßweise, doch er biss die Zähne so fest zusammen, dass die Wangenmuskulatur schmerzte.

Oben am Fenster sah er eine Silhouette. Das musste Hartmut Meckenwald sein. Sicher war er das. Das Rollo im Zimmer wurde heruntergelassen. In keinem anderen Zimmer brannte noch Licht, abgesehen von der fahlen Nachtbeleuchtung.

Pawel verließ den sicheren Platz hinter dem Auto. Dabei trat er versehentlich in den Schein der Laterne. Als er es bemerkte, sah er, dass die dunkelhaarige Frau mit dem Mantel noch immer an der Hausecke verharrte. Ihr Kopf schweifte ständig hin und her, dann zog sie zum wiederholten Male das Handy aus der Tasche und starrte auf das Display, das sich schließlich mit einem kurzen Aufglimmen verabschiedete. Ihre Haltung hatte etwas von einem verschreckten Kaninchen. Obwohl er ihre Gesichtszüge nicht erkennen konnte, wurde Pawel das Gefühl nicht los, dass sie Angst hatte. Angst kannte Pawel. Sie war eine Regung, die er schon von Weitem roch und über große Entfernungen spürte.

Die Frau nahm einen letzten Zug aus ihrer Zigarette und trat sie dann mit der Spitze ihres hochhackigen Schuhs aus. Dabei verharrte sie kurz. Pawel war sich sicher, dass sie ihn gesehen hatte. Nicht nur so. Nicht als Mensch, den man sah, aber nicht wirklich wahrnahm. Sie hatte ihn bewusst gesehen. Pawel zog sich zurück und ging ein Stück in Richtung Hafen, wo er kurz innehalten musste, da der Wind ihm die Luft nahm.

Wer wusste schon, wann dieser Meckenwald sich melden würde. Pawel ging ganz langsam. Wie ein zufälliger Spaziergänger. Nicht mehr. Schließlich hörte er, wie sich klackernde Absätze auf dem Asphalt entfernten.

***

»Kommt Hartmut heute wieder nicht nach Hause?« Birthe biss in ihr Brot und spülte gleich mit Tee nach. »Es ist doch Wochenende.«

Sie war spät von der Arbeit nach Hause gekommen. Ihr Mann Carsten saß bereits im Wohnzimmer der Meckenwald-Villa. Der Fernseher flimmerte mit irgendeiner Schnulze vor sich hin.

Carsten hatte seinen Business-Look bereits abgelegt und lümmelte in Jogginghose und T-Shirt vor dem Fernseher. Nur sein perfekt gegeltes blondes Haar, das er noch immer korrekt nach hinten gekämmt hatte, zeugte davon, dass er noch nicht allzu lange wieder zurück war.

»Er wird wohl wieder im Büro bleiben, nehme ich an. Warum?« Carsten schnappte sich die Fernbedienung. »Vorhin, als ich gegangen bin, war er jedenfalls noch da.«

Er sah auf die Uhr. Es war fast elf. Er drückte auf den Schaltern herum und zappte sich durch die Kanäle. »Bisschen Comedy«, grummelte er und stellte den Ton etwas lauter.

»Ich bin immer unruhig, wenn er nachts dortbleibt. Ich frage mich, wann er dir endlich die Firma übergibt und sich ein paar schöne Jahre macht.« Birthe strich sich durch das kurze Haar, das am Hinterkopf zerdrückt war.

Carsten goss sich etwas Rotwein ein, hielt das Glas ins Licht und schwenkte es sacht hin und her. Dabei legte er seine Stirn in Falten, wie er es gerne tat, wenn er sich Gedanken über etwas machte. »Die Arbeit ist für ihn das Schönste. Daneben gibt es nichts. Das war schon immer so.« Er lächelte seine Frau verschmitzt an. »Aber er hat ein bisschen signalisiert, dass er meinen Expansionsplänen gegenüber nicht mehr ganz so abgeneigt ist.«

Birthe griff nach der Hand ihres Mannes. »Ich hoffe, dass er dir langsam entgegenkommt und sich endlich zurückzieht. Er ist alt. Mir kommt es immer so vor, als verstecke er sich vor irgendwas und habe deshalb Furcht, aufzuhören, weil er dann nachdenken muss. Und das wird immer stärker, oder?«

Carsten nickte. Sein breites Grinsen ließ seine Stirnfalten sofort verschwinden. Birthe liebte sein Lächeln, das ihn um Jahre jünger wirken ließ, als er war und ihren recht großen Altersunterschied von zwölf Jahren oft vergessen machte. Doch dann änderte sich sein Gesichtsausdruck, nahm einen beinahe überheblichen Zug an. »Birthe, die große Pädagogin!«, sagte er. »Analysiere du mal deine Schwachköpfe! Opa ist völlig okay.« Dabei küsste er Birthe auf die Wange.

Sie schob ihn weg. Sie mochte es nicht, wenn Carsten so über ihre Jungs und Mädchen redete. »Ich arbeite mit Menschen mit Handicap, Carsten, nicht mit Schwachköpfen!«

Birthe ließ solche Dinge nie auf sich beruhen. Vielleicht konnte sich Carsten bei seinen Angestellten so aufspielen, aber nicht bei ihr! Sie wusste längst, dass es ihm und seinem Großvater lieber wäre, sie würde ihren Beruf im Sternenhimmel, einem Heim für Menschen mit Einschränkungen, aufgeben, um sich ganz in den Dienst des Familienunternehmens zu stellen. Wie oft hatte gerade Hartmut das angesprochen. Aber das würde sie mit Sicherheit nicht tun. Birthe hatte einfach keine Lust auf die Rolle »die Frau an seiner Seite«. Denn das würde Carsten bestärken, seine angeblich größere Lebenserfahrung, die er mit dem Altersunterschied begründete, noch stärker heraushängen zu lassen. Ihre Arbeit war Birthes Refugium, das sie um nichts in der Welt aufgeben würde. Sie sah ihren Mann an. »Außerdem darf ich mir wohl Gedanken über meinen Schwiegergroßvater machen.«

Carsten machte eine gönnerhafte Geste. »Bitte, nur zu. Aber verschone mich! War übrigens nur ein Spaß. Ich wollte deine Leute im Heim nicht niedermachen.«

Birthe presste die Lippen aufeinander. Dann holte sie tief Luft. »Hast du aber. Ich mag nicht, wenn du so bist.«

»Entschuldige.« Carsten griff nach ihrer Hand. Es schien ihm wirklich leidzutun. »War nicht so gemeint. Im Prinzip hast du ja recht. Ich glaube wirklich, mit der Übergabe dauert es nicht mehr lange.«

Birthe sah ihn fragend an.

»Er hat da etwas angedeutet.« Carsten legte die Füße auf den Tisch und klopfte mit den Fingern rhythmisch auf der Sofalehne herum. »Deshalb bleibt er sicher heute da.«

Über Birthes Gesicht glitt ein Lächeln. »Das wäre allerdings ein Grund. Hoffen wir, dass es so ist.« Sie legte ihre Hand auf seine trommelnden Finger. »Du bist richtig nervös deswegen, was?«

»Ach was. Warum auch? Ich weiß ja, was auf mich zukommt.«

»Du wirkst so. Unruhig eben.«

Carsten krauste die Nase, sog die Luft tief ein. Er war nervös, da konnte er seiner Frau nichts vormachen. Die nächste Comedy-Show begann und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Birthe nutzte die Zeit aufzustehen. »Ich rufe trotzdem noch einmal bei Großvater an. Besser ist es.«

Carsten antwortete nicht. Birthe wusste, dass er ihre Sorge als übertrieben empfand. Sie ging zum Telefon und wählte erst die Nummer des Firmenbüros, und als dort keiner ranging, versuchte sie es auf dem Handy. Doch auch da ging nur die Mailbox an. Ihr Schwiegergroßvater war nicht zu erreichen.

***

»Warum bist du nicht dortgeblieben? Das hätte dir wenigstens etwas Verdienst eingebracht! Bei so einem reichen Kerl!« Robins Augen hatten sich zu einem Schlitz verengt. »Die buchen sonst nicht solche wie dich!«

»Er wollte mich ja gar nicht.« Majas Wange brannte von dem Schlag.

»Du wolltest nicht! Ich weiß, was der Typ verlangt hat. Und dass du das nicht machst.« Erneut holte Robin aus. Der Zuhälter war nicht zimperlich.

Dieses Mal konnte sich Maja ducken. »Ich würde alles tun. Ich brauche das Geld doch auch.« Sie schluckte. »Erst musste ich draußen warten, bis er angerufen hat, dann hat er mich zum Teufel gejagt.«

Auf Robins Gesicht erschien ein breites Grinsen, was nichts Gutes bedeuten konnte. »Du würdest also alles tun, damit das Geld stimmt?«

Die junge Frau nickte. Sie hatte keine Chance, wusste, was jetzt kam.

»Das ist gut.« Robin packte sie am Stirnhaar und presste ihren Kopf in den Nacken. Maja fühlte, dass die Haut an ihrer Stirn zum Reißen gespannt war. Vielleicht würde er gleich ihren Skalp in den Händen halten, und alles wäre endlich vorbei.

Robin beugte sich über sie. Er roch nach billigem Parfüm. Eine osteuropäische Marke. Er hatte neue Ware erhalten und probierte sie gerade durch. Sein Atem roch nach Bier. Und Zigarillos. Robin rauchte Unmengen davon, wie seine gelblich verfärbten Zähne und die Fingerspitzen bewiesen.

Maja erinnerte sich daran, wie es war, als er sie eingestellt hatte. Erinnerte sich an den scharfen Geschmack seines Speichels, die fordernden Bewegungen seiner Zunge, die so rau war wie ein Reibeisen. Damals hatte sie gedacht, sie sei in der Hölle. Im Laufe der letzten Monate hatte Maja gelernt, dass Robin Wagenknecht nur die Vorstufe dorthin war.

Sein Gesicht kam ihrem immer näher. Maja spürte keinen Schmerz mehr. Irgendwann lernte man, ihn auf Kommando abzuschalten. Irgendwann auf dem Weg nach ganz unten.

Robins Zähne blitzten gelb vor Majas Augen auf, sein Atem wehte ihr ins Gesicht. »Ich weiß, dass du das letzte Mal gekotzt hast, als du es tun musstest«, raunte er. »Bin ein netter Typ, das weißt du.« Er lockerte den Griff etwas. Majas Stirn wurde heiß, als das Blut zurückschoss. »Aber ab jetzt preisen wir dich genau damit an. Mit ein bisschen Übung wirst du die Königin sein!« Robin lachte, sodass Maja seine schlechten Zähne sehen konnte. Und seine Zunge, die sich immer wieder ihren Weg durch die große Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen suchte.

Janina musste geredet und sie verpetzt haben. Weil sie Angst hatte. Alle hatten Angst vor Robin. Er strafte seine Mädchen, wenn sie nicht spurten. Vielleicht hatte sich auch ein Kunde beschwert. Es war eigentlich egal, woher Robin die Info hatte. Aber Janina war dabei gewesen, als sie sich vor ein paar Wochen schon vorab in diesem Büro am Bontekai übergeben musste, als sie nur die Gürtelschnalle klacken gehört hatte und der Mann in eindeutiger Absicht auf sie zugekommen war. Sie konnte das nicht tun mit fremden Männern, die sie nicht liebte. Diese Sache war der wahren Liebe vorbehalten. Es war zu intim, als dass sie den Kopf abschalten konnte. In ihrer Gier stießen sie ihr dann ihre Männlichkeit so rücksichtslos bis zum Ansatz in den Hals, dass sie nicht anders konnte, als zu würgen. Sie ekelte das. Diese Intimität stand ihnen einfach nicht zu. Niemals.

Maja rann eine Träne über das Gesicht, bahnte sich den Weg am Nasenflügel entlang und verlor sich dann am Mundwinkel. Sie spürte nur noch ein einziges Gefühl, und das war Ekel. Ekel vor sich selbst, Ekel, vor dem, was sie tat. Ekel vor allem. Viele Kerle merkten das.

Maja hörte das leise Klacken des Knopfes an Robins Hose auf dem Boden, als Robin die Hose fallen ließ und sich seine Hüfte ihrem Gesicht näherte.

***

»Kannst du nicht doch mal zum Büro fahren?« Birthe hatte in der letzten Stunde mehrfach vergebens versucht, Hartmut anzurufen. Carsten konnte das Eintippen der Nummer schon nicht mehr hören. »Nimm die Wahlwiederholung!«, knurrte er, aber Birthe ließ sich nicht beirren. »Er war so seltsam in der letzten Zeit«, setzte sie wieder an. »Ich fand ihn … durcheinander. Nicht, dass ihm etwas passiert ist. Ein Schlaganfall oder so.«

»Bleib mal ganz ruhig. Ich möchte jetzt eigentlich lieber ins Bett.« Carsten warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist schon viel zu spät, um hier noch rumzusitzen.«

»Nicht, dass er seine Tabletten kreuz und quer genommen hat. Weißt du was? Wenn du nicht fährst, dann mache ich das. Ich habe einfach ein komisches Gefühl.«

Carsten erhob sich widerwillig vom Sofa. Er reckte sich.

»Lass mal. Ich mache das schon.« Er ging in den Flur und suchte nach dem Autoschlüssel, der wie immer unauffindbar war. Er schmiss ihn beim Nachhausekommen immer in irgendeine Ecke und merkte sich nie, wo. »Weißt du, wo der Schlüssel ist?«

Birthe hatte ihn bereits am Zeigefinger baumeln. »Er lag unter dem Sofakissen.« Sie gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. »Beeilst du dich? Wenn etwas ist, rufe bitte sofort an, ja?«

»Was soll schon sein? Es ist nicht das erste Mal, dass Großvater die Nacht im Büro verbringt, das weißt du doch.« Hartmut Meckenwald hatte sich in der Tat in einem Raum neben dem Büro ein kleines privates Zimmer mit Dusche eingerichtet, das niemand sonst betreten durfte. Hin und wieder schlief er dort. Carsten wusste, warum. Vor allem, weshalb er oft am Wochenende dortblieb.

»Ich weiß schon, warum du so zögerst, Carsten.« Birthe sog die Luft scharf ein. »Ich weiß, was er dort manchmal abends treibt. Mit Frauen«, setzte sie hinzu. »Magst du deswegen nicht hinfahren?« Birthe schien Carstens Zögern nachvollziehen zu können.

»Es wäre so peinlich für ihn, weißt du. Ich glaube gar nicht, dass er noch kann, aber wenn es ihm was bringt …«

»Stimmt schon.« Birthe kaute am Nagel ihres Daumens.

»Was nun?«

»Ich fahre trotzdem hin, okay?« Carsten warf einen Blick auf die Uhr. Sie hatten lange diskutiert, Mitternacht war längst vorbei.

»Sei vorsichtig!«

»Nicht, dass ich mich auch noch bediene? Oder warum?« Birthe tat so, als trete sie ihrem Mann in den Hintern.

Die Straßen waren menschenleer, nur hin und wieder rauschte ein Wagen, voller junger Leute und mit laut aufgedrehter Musik, an ihm vorbei. Die Ampeln in der Stadt waren ausgeschaltet. Carsten hatte freie Fahrt.

Der Bürokomplex lag verlassen da, als seine Scheinwerfer die Wand streiften. Einzig das Nachtlicht strahlte sein dumpfes Licht aus den Fenstern, die meisten Rollos waren heruntergezogen. Carsten zögerte. Er wollte das Gebäude jetzt nicht betreten. Die Gegend war um diese Zeit einfach gottverlassen und leer. Der Gedanke, den Großvater in seinem Zimmer aufzusuchen, verursachte ihm Magenschmerzen. Wieder glitt Carstens Blick an der Fassade empor. Er hatte nie verstehen können, weshalb sein Großvater die Nächte gern in diesem einsamen Bürogebäude verbrachte. Schon als sie es neu gebaut hatten, war es zwischen ihm und seinem Großvater zu heftigen Auseinandersetzungen der Lage wegen gekommen. »Es ist zu teuer! Und zu pompös!«

»Ich liebe es, über den Hafen zu sehen und allein zu sein.«

Sein Großvater hatte sich stur gezeigt. »Ich mag die Einsamkeit der Nacht. Damit erfüllt sie Sinn und Zweck.« Er hatte Carstens Einwände weggewischt wie eine leichte Staubschicht, die zwar das Bild ein wenig beeinträchtigte, aber leicht zu beseitigen war. Carsten war sich sicher, dass ihm allein diese Diskussion ein paar Jahre Verzug eingebracht hatte, was die Übernahme der Meckenwald’schen Immobilienfirma anging. Seinem Großvater widersprach man einfach nicht. So lange Carsten sich erinnern konnte, was dies eine unumstößliche Tatsache gewesen. Er war ein Patriarch, der niemanden neben sich duldete. Es gab Augenblicke, wo ihn diese Sturheit wahnsinnig machte. Wobei Carsten zugeben musste, dass auch er in diese Richtung tendierte. Wenn man ihn lassen würde.

Er öffnete die Autotür, musste sie mit aller Kraft festhalten, da sich eine Böe mit ihm darum stritt. Er kletterte aus dem Wagen. Carsten schlug den Kragen hoch. Auch wenn es nicht mehr regnete, war die Nachtluft noch immer von einer unangenehmen Nässe, eindeutig zu kalt für August.

Seine Schritte knirschten, als er über den Parkplatz lief. Der Wind zerrte fast wütend am Stoff seines Mantels. Als er vor dem Eingang stand, war auch das Klatschen der Wellen gegen die Kaimauer nicht mehr zu überhören. Ihn fröstelte.

Mit steifen Fingern öffnete er die Tür und huschte ins Gebäude. Leise schloss sich der Eingang hinter ihm. Es war still, nur sein Atem wirkte laut und unregelmäßig. Er machte das Licht an und holte den Fahrstuhl. Die Türen zischten leise, als sie sich öffneten.

In der dritten Etage trat er in den Flur. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass er nicht allein war. Er schlich zum Büro seines Großvaters. Die Tür stand sperrangelweit auf. Der PC gab ein leises Ächzen von sich, er war noch nicht heruntergefahren worden.

Carsten glaubte ein Geräusch zu hören. Ein leises Rascheln, so wie es sich anhören musste, wenn eine Schlange über den Boden glitt. Er horchte in die Stille. Da war nichts, er hatte sich getäuscht. Sicher war es sein eigener Atem, der ihn so nervös machte.

»Hallo?«, raunte Carsten trotzdem. »Ist da wer?« Er durchquerte das Büro und seine Hand umschloss die Klinke der dahinterliegenden Tür, die zum Privatreich des Firmenchefs führte. »Hallo?«, rief er noch einmal. Langsam drückte er den Griff herunter. Die Tür klackte leicht. Der Raum war dunkel. Ein Hauch von billigem und süßem Parfüm wehte ihm entgegen. Carsten knipste das Licht an und schloss im selben Augenblick kurz die Augen, als wolle er gar nicht sehen, was ihn dort erwartete. Als er sie wieder öffnete, lag auf dem Boden vor ihm ein Chiffonschal in grellen Farben. Und seitlich vom Stuhl hinabgerutscht hing sein Großvater in merkwürdig verzerrter Haltung.

***

Fast hätte dieser Carsten ihn erwischt. Was tat er überhaupt hier, mitten in der Nacht? Pawel hatte gerade noch um die Ecke flitzen können. Noch bevor Carsten reagieren konnte, hatte Pawel sich von der Dunkelheit verschlucken lassen, war durchs Treppenhaus gehuscht und hatte das Firmengebäude unbemerkt verlassen. In so etwas war er geübt. Er, der Schattenmann mit dem Blut eines einsamen Wolfs in den Adern. Ein vom Rudel verstoßener Einzelgänger.

Pawel hastete am Ufer des Bontekais zurück. Noch war es früh genug, um in sein Versteck zurückzukehren. Lange würde er dort nicht bleiben können, weil er sich eine bessere Bleibe suchen musste. Ein paar Ersparnisse hatte er ja für sein großes Ziel mitgebracht.

Einen Schritt war er bereits weitergekommen, wenn auch anders als vorgesehen. Es war schiefgelaufen. Die Sache hatte eine nicht geplante Wendung genommen. Dennoch war ein Schritt in Richtung Gerechtigkeit getan. Vor zwei Wochen am Telefon hatte er Hartmut Meckenwald die entscheidende Information gegeben, die dieser sofort überprüfen lassen wollte. Danach hatte er sich aber nicht mehr gemeldet. Bis gestern, als Pawel mit ihm verabredet gewesen war. Nun galt es abzuwarten, alles neu auszuloten und dann weiterzuschauen.

Pawel hielt sich erst dicht an die Hauswände gedrückt, dann schlich er im Schutz der Büsche, die am Wegesrand wuchsen, weiter. Immer begleitet vom monotonen Glucksen der kleinen Wellen.

***

Das Telefon zerriss die nächtliche Stille. Die Finger der Kommissarin Petra Erdmann tasteten sich unter der Decke hervor und suchten nach dem Schalter der Nachttischlampe. Bevor sie den Hörer abnahm, stellte sie den Lautsprecher an, weil sie es hasste, den Hörer zwischen Schulter und Kinn festzuklemmen.

»Ein Toter in einer Firma am Bontekai«, schnarrte ihr die Stimme eines Kollegen entgegen.

»Ich bin gleich da.« Petras Stimme klang etwas heiser. Nachts verlor sie doch arg an Durchsetzungskraft, was vielleicht einer der Gründe war, weshalb Petra es nicht mochte, aus dem Schlaf gerissen zu werden.

Sie zwängte ihr schulterlanges Haar, das wegen einer missglückten Färbeaktion eine Mischung aus blond und rot war, in ein breites Gummiband. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr überdeutlich die Schwachstellen ihres Aussehens. Im Halbdunkel wirkten ihre Lippen unnatürlich aufgedunsen und das Gesicht verzerrte sich in ausgeprägt ovaler Form in die Länge. Petra warf im Vorübergehen einen Schal über den Spiegel. Beim Hineinschlüpfen in ihre Jeans überkam sie kurzzeitig das Gefühl, es könne nicht schaden, zwei Kilo weniger auf die Waage zu bringen.

Der Regen der vergangenen Tage hatte nachgelassen, jetzt waren sogar ein paar leuchtende Sterne zu sehen. Der Mond präsentierte sich als breite Sichel. Nur der Wind wehte mit unverminderter Stärke, aber das würde sich bestimmt auch bald geben. Die angekündigte Wetterbesserung schien sich tatsächlich zu bewahrheiten. Wenigstens etwas, dachte die Kommissarin, während ihr Wagen über den noch feuchten Asphalt glitt. Sie öffnete das Fenster einen Spalt und sog die klare Nachtluft ein.

Petra bog zum Bontekai ab. Ihre Kollegen hatten bereits alles abgesperrt. Sie fuhr quer über den Parkplatz. Noch im Wagen knöpfte sie ihren Mantel zu, auch wenn es nur ein paar Schritte waren. Kaum öffnete sie die Tür, blies ihr bereits eine kräftige Brise entgegen.

»Da entlang, Frau Erdmann!« Einer der Polizisten wies ihr den Weg. Petra umschlang sich selbst mit den Armen, um möglichst wenig Wind durch die Kleidung dringen zu lassen. Was war das für ein fürchterlicher Sommer. Sie trat rasch in den Eingang, wo sie Schutz fand.

Der Polizist geleitete sie mit dem Fahrstuhl nach oben. Es roch seltsam und irgendwie unangenehm in dem Gebäude. Immer wieder sog Petra die Luft ein, versuchte, den Geruch zu analysieren. Bald wusste sie, warum er ihr so zuwider war. Diese Firma roch sauber. So, als wäre sie bis in die hinterste Ecke gewienert und geputzt worden. Nirgends würde ein Staubkorn herumirren, wenn die Sonne durch die klaren Scheiben fiel. Die Räume hatten die Sterilität eines Operationssaals. Allerdings musste die Kommissarin zugeben, dass dem Ambiente, trotz der Reinheit, ein gewisser Charme und eine besondere Note nicht fehlten. Mit feinsinnigem Gespür für Perfektion waren außergewöhnliche Gemälde und Skulpturen platziert, die dem so sterilen Gebäude etwas Individualität verliehen. Und dezent darauf hinwiesen, dass man es hier mit einem Kunstkenner zu tun hatte.

Petra hatte nicht viel übrig für Kunst und für abstrakte Kunst schon gar nicht. Sie rümpfte die Nase. Unmerklich nur. Brauchte ja niemand mitzubekommen. Ein paar der Kollegen standen ja vielleicht auf so etwas.

»Klasse«, sagte der Kollege neben ihr auch gleich und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Hier sitzt der Schotter.«

Petra nickte. An Geld mangelte es der Familie Meckenwald sicher nicht. Sie folgte dem ausgestreckten Arm des Polizisten in ein Büro, das schon auf den ersten Blick erkennen ließ, wer in dieser Firma das Sagen hatte. Petra wusste nicht genau, woran sie das auf Anhieb erkannt hatte. Die überdimensionale Fensterfront dominierte die gesamte Fassade des Gebäudes, war aber keine Besonderheit. Der Schreibtisch war groß, hinter ihm verblassten sämtliche anderen Einrichtungsgegenstände im Raum. Aber auch das hatte Petra schon in vielen Büros gesehen. Vor der Fensterfront waren Stühle um einen runden Tisch platziert, auf dem eine Flasche Wasser und ein paar umgedrehte Gläser auf einer weißen Serviette standen.

In der rechten Ecke des Büros hing über Kopf eine augenlose Skulptur mit weit geöffnetem Mund und starrte seelenlos und gleichzeitig überaus lebendig auf die Menschen in dem Zimmer, sodass Petra sich augenblicklich wie ein Eindringling vorkam. Sie fröstelte. Es war diese Figur, die ihr ununterbrochen zuzuflüstern schien, dass man hier im Zentrum der Macht angelangt war. Sie sah sich weiter um, taxierte jede Ecke, bemerkte sogar, dass eine Spinne es tatsächlich geschafft hatte, hier einzudringen und dem Büro so etwas wie Realität zurückzugeben.

Aber – hier lag kein Toter. Als Petra den Blick weiterschweifen ließ, entdeckte sie in der Ecke des Büros eine Tür, die einen Spalt offen stand und hinter der eine gewisse Unruhe herrschte. Sie stieß die Tür mit dem Fuß auf, ignorierte das Gewusel in dem Raum und sog den Eindruck des ersten Augenblicks in sich auf.

Der Tote lag halb auf dem Boden, war seitlich vom Stuhl gerutscht. Dabei hatte sich das rechte Bein unter der Armlehne verfangen und hinderte die Leiche am vollständigen Abgleiten. Petra blieb zunächst im Türrahmen stehen und betrachtete dieses so ganz andere Zimmer. Das hier war ein Raum, in dem sie sich wohlgefühlt hätte. Sie entspannte sich merklich, fühlte ihren Atem wieder fließen. Weiße Wände, daran peruanische Webbilder. Möbel aus nachgedunkelter Kiefer, an den Ecken verschrammt. Es schien fast, als habe der Besitzer dieses Zimmers versucht, die Protzigkeit seines ganzen Lebens an dieser Stelle hinter sich zu lassen und bewusst Einfachheit zu demonstrieren. Über dem Bett tickte leise eine Wanduhr mit metallfarbigem Rand. Petra konnte sie sofort zuordnen, hatte sie doch selbst die gleiche in ihrer unaufgeräumten Küche hängen. Ein Billigmodell aus dem Möbelmarkt. Sehr unspektakulär.

Im hinteren Teil des Raumes befand sich eine kleine Tür, die nach Aussage des Kollegen zu einem winzigen Bad führte. Gleich daneben standen Bett und Nachttisch, auf dem außer einem Glas und einer dünnen Staubschicht nichts zu finden war. Auf dem Boden lagen, neben einem Flickenteppich, nicht nur ein grellfarbiger Schal, eine Mischung aus pink, lila und gelb, sondern auch ein Stapel Kleidung, nicht zu erkennen, ob sauber oder getragen. Trotzdem hauchte genau dieser Wäscheberg dem Zimmer ein Stück Leben ein, was angesichts des Toten ein bisschen paradox wirkte.

Sie trat einen Schritt näher. Der Tote war alt. Sein Gesicht von Furchen durchzogen, die Handrücken faltig und von Adern durchsetzt. Er trug eine überdimensionale Uhr, die an dem eher schmalen Handgelenk irgendwie deplatziert wirkte. Er war eindeutig erdrosselt worden. Nicht nur der auf dem Boden liegende Schal, sondern auch die feinen Einblutungen unter den Augen wiesen darauf hin. Insgesamt kein schöner Anblick.

»Schon ein Name bekannt?« Petras dunkle Stimme schien den Raum zu überrollen. Sie erkannte es an den Gesichtern, die beim ersten Ton kurz erstarrt, beinahe zusammengezuckt waren. Petra lächelte innerlich. Es kam ihr genau richtig vor. Sie blickte aus dem Fenster über den Hafen, in dessen Wasser sich der Mond und die Lampen des Kais spiegelten. Hektisch tanzende Blaulichter gaben dem Bild eine bizarre Note.

Petra wandte sich um. »Wer ist es denn jetzt?«

Ein junger Kollege schob seine Mütze zurecht: »Der Chef persönlich. Hartmut Meckenwald von Meckenwald Immobilien.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Der Enkel. Er ist nebenan und wartet auf seine Frau. Er ist völlig fertig.« Der Polizist rieb sich die Nase.

»Ungefährer Todeszeitpunkt bekannt?« Petra konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.

»Wohl so zwischen einundzwanzig Uhr und einundzwanzig Uhr dreißig. Genaueres wird natürlich erst die Obduktion ergeben.«

»Danke.« Petra nickte dem Kollegen zu. »Dann werde ich wohl jetzt mit dem Enkel sprechen müssen.« Gott, wie sie ihre Arbeit in solchen Momenten hasste.

Seufzend ging sie in Richtung Nebenzimmer.