Leseprobe Burning Ice

Kapitel 1

Matt

Oh, fuck. Ich bin hart gelandet. Ich höre das Wummern meines Herzens in meinen Ohren, laut wie drei Presslufthämmer, meinen eigenen, stoßartigen Atem. Kalt. Es ist kalt. Dunkel. Wo … was ist passiert? Ist etwas passiert? Das Dröhnen in meinen Ohren lässt nach, wird zu einem Rauschen im Hintergrund, wie es sich gehört. Mit jedem Wummern, das leiser wird, wird die Welt um mich herum lauter. Und heller. Sehr hell. Grelle Lichter, Stimmengewirr, jemand ruft. Ruft was? Meinen Namen?

„Matt? Ey, Mann, alles gut?” Der Besitzer der Stimme fummelt an meinem Helm herum. Aha. Helm. Ich bin bei … einem Spiel? Beim Training? Habe ich geschlafen? Bin ich aus dem Schlaf direkt aufs Eis gestürzt?

„Matt, wie viele Finger?“ Jemand fuchtelt vor meinem Gesicht herum.

Wie viele was? „Finger?” Halt doch mal still, wie soll ich denn so zählen? Ich blinzele. Grelles Scheinwerferlicht bohrt sich in meine Stirn und ich wimmere. Etwas uncool vielleicht. Was zur Hölle ist passiert?

„Matt?” Die Stimme kenne ich. Das ist Phil. „Hey, sag was, ja?”

„Wasch”, nuschle ich. Uargs. Metall im Mund. Ich spucke Blut aufs Eis, ein weißer Zahn schwimmt in der hellroten Pfütze. Auch das noch. Meine Zunge tastet nach der blutigen Stelle in meinem Mund. Ah, das bedeutet Zahnarzt und ich hasse Zahnärzte. Was für ein scheiß Tag! Vermute ich. „Was ist passiert?”

Phil grinst, aber etwas stimmt nicht. Er kniet in voller Montur über mir, hat seinen Helm abgenommen. Sein Blick ist besorgt und außerdem ist er verschwommen. Nicht sein Blick. Phil ist verschwommen. Verdammt. Ich blinzele, aber Phils gutmütiges Gesicht sieht immer noch aus, als würde er leicht vibrieren. Und das tut er sicher nicht. Phil vibriert grundsätzlich nicht. Nie. Und er schaukelt. Oder ist das der Hintergrund? Himmel, kann bitte mal kurz alles aufhören, zu schwanken?

„Trent ist passiert“, erklärt Phil.

„Trent?” Ich komme mir vor wie ein Papagei. Ein Papagei, den jemand aus großer Entfernung aufs Eis geklatscht hat. Vielleicht mithilfe eines Baseballschlägers. Oh, mein Kopf.

„Trent McAllister”, sagt Phil und nickt mir aufmunternd zu.

Ah. Mit genau dem Gesichtsausdruck hat er mir früher in der Schule vorgesagt. Immer der festen Überzeugung, dass ich die Antwort eigentlich kenne. Tue ich aber nicht. Phils Worte ergeben überhaupt keinen Sinn.

„Du hast seinen Puck volle Kanne …” Phil tippt sich gegen die Schläfe. „Wumms”, murmelt er etwas hilflos. „Ich dachte echt, jetzt hats dich erwischt. Bist umgefallen wie ein Baum.”

Und jetzt schiebt sich ein neues Gesicht in mein Sichtfeld. Auch dieses Gesicht kommt mir bekannt vor. Aus den Tiefen meines dröhnenden Schädels taucht eine Information auf. Ich kenne ihn aus Zeitungen. Aus dem Fernsehen. Klar doch! Trent McAllister im Trikot der Thunder Bay Bisons. Trent the Thunder McAllister! Ich fasse es nicht. Haben wir mit den Bisons trainiert? Oder träume ich immer noch?

„Sorry, Mann”, sagt Trent mit gequältem Gesichtsausdruck.

„Ein Autogramm hätts auch getan”, murmele ich. „Großer Fan.”

Trent runzelt die Stirn. „Fan?” Er hebt den Blick zu Phil. Ich sehe nur noch zwei stoppelige Kinns von unten.

„Das ist nicht gut”, raunt Trent.

Warum ist das nicht gut? Ich werd doch wohl Fan sein dürfen. Ich bin total begeistert von McAllisters Leistungen. Er ist einfach unglaublich! Er beherrscht den Puck wie kein anderer und seine Schläge sind so schnell, dass man kaum folgen kann.

Ich würde das gern sagen, aber meine Zunge fühlt sich zu groß für meinen Mund an. Irgendwie wattig.

Ich erinnere mich an ein Spiel, bei dem McAllister den entscheidenden Treffer in der letzten Sekunde erzielte. Er schoss den Puck mit einer Geschwindigkeit von über hundert Stundenkilometern ins Tor – das war echt beeindruckend! Wenn ich an McAllisters Spielerkarriere denke, werde ich richtig neidisch. Er hat schon in jungen Jahren begonnen und  hart trainiert, um seinen Traum zu verwirklichen. Mit achtzehn Jahren wurde er zum ersten Mal für die Nationalmannschaft nominiert und spielte bald darauf auch in der NHL. McAllister hat viele Auszeichnungen gewonnen, darunter MVP-Titel und Stanley-Cup-Siege.

Ich will unbedingt genauso erfolgreich sein wie er und arbeite hart daran, meine Fähigkeiten zu verbessern. Aber eins steht fest: Wenn ich je gegen McAllister spielen sollte, muss ich höllisch aufpassen! Der Kerl ist ja eine echte Gefahr für alle auf dem Eis. Wenn ein von ihm geschlagener Puck mir so derart das Licht ausknipst, dass ich nicht mehr weiß, wie ich hergekommen bin …

„Zur Seite”, bellt eine Stimme. Neben mir kniet eine Frau mit akkurat geschnittenen, schwarzen Haaren und sehr grimmigem Gesichtsausdruck. „Weißt du, wie du heißt?”

Ist das ein Witz? „Matt“, antworte ich genervt. „Matt Rye.“

Die Frau notiert etwas auf ihrem Block und steht dann auf. „Gut, Matt. Und wer bin ich?”

Ich blinzele. Woher zum Geier soll ich das wissen? Der Kleidung nach … „Sie sind Ärztin?”

Sie sieht mich ausdruckslos an. „Welchen Wochentag haben wir?”

„Wochentag?“ Das müsste ich wissen, oder? Ich habe das dringende Bedürfnis, diese Frage richtig zu beantworten. Man weiß doch, welcher Wochentag ist! Komm schon, Matt, das ist simpel. Wir haben offensichtlich Training. Das ist ein Hinweis – der es leider kaum einschränkt, weil ich eigentlich immer trainiere. „Mittwoch?”

„Weißt du, wo du bist?“

Sieht sie das nicht selbst? Ich schließe kurz die Augen. Verdammt, diese Fragen sind anstrengend. Alles ist anstrengend. Vielleicht sollte ich kurz ein Schläfchen machen und danach … hey! Ich werde hochgehoben und jemand gibt mir einen leichten Klaps auf die Schulter.

„Nicht schlafen”, befiehlt die Ärztin.

Himmel, ist ja gut! Muss die so streng sein? Mein Schädel dröhnt.

„Fünf Minuten“, lalle ich. Ich brauche wirklich nur eine kurze Pause, dann bin ich wieder fit. Sagen kann ich das allerdings nicht. Zu kompliziert. Zu anstrengend.

Plötzlich liege ich auf einer Trage und spüre, wie meine Welt langsam wieder verschwimmt. Hey, wie bin ich denn hierhergekommen? Ah, mein Kopf. Da war was. Hab was dagegen bekommen. Vermute ich. Ich habe eine Gehirnerschütterung. Wäre nicht das erste Mal. Aber wow, dieses Mal ist es wirklich heftig. Meine Augenlider werden schwerer und das Rauschen im Stadion wird leiser.

Plötzlich höre ich jemanden meinen Namen rufen: „Matt! Matt!“

Ich blinzele ein paar Mal und sehe eine Frau aufs Eis rennen. Sie schlittert direkt auf mich zu. Nie gesehen. Also, warum sieht sie so aufgelöst aus? Vielleicht ist sie Phils Freundin, denn er rennt ihr bereits entgegen. Aber wenn sie es wäre, müsste ich sie doch kennen … oder?

Phil ist jetzt neben ihr und hilft ihr, sich auf dem Eis zu halten. Wie bei einer Comicfigur rutschen ihre Füße hektisch übers Eis, wusch-wusch-wusch. Sie lehnt sich vor, um ihr Gleichgewicht zu halten, scheint aber von ihrem Hintern in eine andere Richtung gezogen zu werden. Sieht überaus amüsant aus, wie ihre Beine immer wieder auseinandergleiten, als wäre sie ein Rehkitz auf einem zugefrorenen See.

Außer mir scheint niemand die schlitternde Brünette lustig zu finden, nicht einmal Phil, der sonst alles ziemlich witzig findet. Er legt seinen Arm um sie und stützt sie, damit sie nicht ausrutscht. Sie fragt ihn etwas Unverständliches – anscheinend in großer Sorge um mich. Wie süß. Finde ich gut, dass Phil eine Frau gefunden hat, die so emotional ist. Passt zu ihm.

„Alles wird wieder gut“, höre ich Phil sagen.

Die Frau kommt näher an die Trage herangetreten und blickt besorgt hinab auf mein Gesicht. Große, dunkle Augen suchen in meinem Gesicht nach etwas, was offenbar nicht da ist. Meinen Zahn, vielleicht. Der liegt da hinten auf dem Eis. Ob den jemand in Milch packen könnte? Ich mochte den.

„Matt?“, haucht die Fremde.

Ich schließe die Augen.

„Ist alles okay mit ihm?“, fragt sie Phil noch einmal.

Ja, ist alles okay? Ich bin sehr gespannt auf die Antwort, doch dann merke ich nichts mehr um mich herum und sinke zurück in die Dunkelheit.

Kapitel 2

June

Seit einer gefühlten Ewigkeit gehe ich vor dem Thunder Bay Regional Health Sciences Centre auf und ab. Im Wartebereich habe ich es nicht mehr ausgehalten, ich wusste einfach nicht, wohin mit mir.

„June“, Lucy versucht, tröstlich sanft zu klingen. „Sie werden dir Bescheid sagen, sobald sie etwas wissen.“

Sie sitzt auf einer Bank am Parkplatz und sieht mir dabei zu, wie ich versuche, Kreise in den Asphalt zu laufen.

„Wie lange kann das dauern?“

Lucy macht eine Geste, die alles bedeuten kann. Als Ärztin und vielleicht gerade als Mannschaftsärztin hat sie deutlich mehr Geduld als ich in solchen Dingen. Und wirkt weniger aufgeregt als ich.

„Ich mache mir dieses Mal wirklich Sorgen. Er hat mich angesehen, als würde er mich überhaupt nicht kennen.“

„Schnucki, Liebes.“ Lucy grinst halbherzig. „Du weißt doch, wie Matt ist, er sieht immer so aus, als würde er die Welt nicht verstehen.“

Ich werfe ihr einen bösen Blick zu und sie seufzt mitfühlend. „Aber es stimmt. Er hat einen ziemlich harten Schlag abbekommen.“

Ich stelle fest, dass es kein bisschen besser ist, wenn sie mich nicht aufzieht. Wenn Lucy zugibt, dass etwas ernst ist … Ich sehe zum x-ten Mal nervös auf mein Handy. „Ich habe Phil unzählige Nachrichten geschickt, aber er antwortet nicht!“

„Matt wird nicht schneller aufwachen, wenn du mehr Nachrichten schickst.“ Sie guckt betreten nach unten. „Sorry, bin schon ruhig.“

Ich setze mich neben sie. „Schon gut, ich bin dir ja dankbar, dass du mitgekommen bist.“

„Hey!“ Sie sieht mit gespielter Entrüstung auf. „Beste Freundin und so? Das ist ja wohl mein Job. Tee holen, zuhören, mit ins Krankenhaus kommen. Mit mir hast du das ganze Paket.“

Ich lehne mich an ihre Schulter und schniefe leise. „Es ärgert mich nur so, dass sie mich nicht zu ihm lassen. Ich bin schließlich seine Verlobte!“

Lucy schüttelt den Kopf. „Ja, aber ihr seid Pappnasen. Phil konnte zu ihm, weil er als sein Notfallkontakt registriert ist. Immer noch!“

Jetzt klingt sie wieder ganz wie die strenge Ärztin, die Matt vorhin auf dem Eis behandelt hat. „Ja, das hätten wir vielleicht ändern sollen.“

„Vielleicht. Aber auf mich hört ja wieder keiner.“ Ich höre das Lächeln in ihrer Stimme. „Das wird schon, versprochen.“

„Wir hätten das wirklich ändern sollen.“ Ich springe wieder auf und kicke einen Kiesel gegen das Krankenhausschild. Wenn ich schon wegen der großen Dinge nichts machen kann, will ich mich wenigstens über Kleinkram gebührend aufregen.

Seit Lucy mich vorhin anrief, gehetzt und unterwegs zum Eisstadion, fühle ich mich einfach nur hilflos.

„Matt ist verletzt!“, keuchte meine Freundin ins Telefon.

Nur das. Mehr war gar nicht nötig. Sie klingt nie so … ernst. Genervt, gestresst, ja, aber nie betroffen.

Sofort habe ich alles stehen und liegen lassen und bin von meinem kleinen Büro am anderen Ende des Stadions losgerannt. Die Gänge kamen mir endlos vor, wie in einem dieser schrecklichen Albträume, in denen man durch nicht enden wollende Korridore rennt. Nur, dass es echt war.

Mit einem Hockeyspieler zusammen zu sein bedeutet auch immer, sich über Gefahr von Verletzungen bewusst zu sein. Aber eben über kleinere, gängige Sportverletzungen. Mal was gezerrt. Prellungen, Brüche. Gehirnerschütterungen von Stürzen, weil ständig irgendwer stürzt. Und natürlich der obligatorische ausgeschlagene Zahn. Dauernd reißt Matt Witze darüber, dass er eines Tages wie Austin Watson, der amerikanische Eishockeyspieler mit der riesigen Zahnlücke, in die Kameras grinsen wird. „Und du wirst mich trotzdem lieben“, hat er gesagt und mich in eine Umarmung gezogen. „Weil du gar nicht anders kannst!“

Wo er recht hat. Es ist unmöglich, ihn nicht zu lieben. Und normalerweise kann ich ihm bei seinen Verletzungen wenigstens ein Kühlpad bringen oder ihn aufziehen … aber jetzt?

Ich kann nichts tun! Überhaupt nichts! Ich kann nicht einmal recherchieren, was Matt hat, weil ich es nicht weiß. Außerdem würde mir Lucy sofort das Handy wegnehmen, wenn sie sähe, dass ich das Internet befrage. Aber nichts tun können? Das macht die Situation noch schlimmer für mich. Untätige Hilflosigkeit ist so furchtbar! Warum nehmen sie mir die Chance, bei ihm sein zu können? Wenn es ihm schlecht geht, sollte ich doch bei ihm sein und … Plötzlich höre ich Phils Stimme hinter mir: „Hey June!“

Ich drehe mich um und sehe Phil mit einem besorgten Blick auf uns zukommen. Phil und Matt sehen sich ähnlich, weshalb sie immer wieder für Brüder gehalten werden. Beide sind einschüchternd groß, haben blonde Haare und helle Augen. Doch anders als Matt wirkt Phil wie ein tollpatschiger Bär, solange er nicht auf Kufen steht. Dazu kommt sein gutmütiger Blick – Phil ist einfach ein großer, wandelnder Teddy, wohingegen Matt … Matt ist.

Als ich Matt das erste Mal sah, dachte ich nicht eine Sekunde, dass er Eishockeyspieler sein könnte. Was vielleicht an meinen Vorurteilen lag. Als ich den Job bei den Bisons antrat, dachte ich, dass Hockeyspieler raubeinige, aggressive Schläger wären. Vermutlich, weil Lucy immer die abenteuerlichsten Geschichten von den Verletzungen erzählt, die die Spieler sich nicht ganz unverschuldet einfangen. Aber Matt ist so … anders. Er ist höflich, lustig und elegant. Er bewegt sich auch ohne Schlittschuhe wie ein Raubtier. Und dann dieser Blick aus seinen grauen Augen … Mein Herz zieht sich zusammen.

„Wie geht es Matt?“ Ich wringe schon wieder meine Hände, weshalb Phil sie sofort ergreift und mir traurig in die Augen sieht.

Lucy steht sofort neben uns.

„June“, Phil atmet tief ein, als müsste er all seinen Mut für das Folgende zusammennehmen.

„O nein, Phil! Ist er …“

„Was? Nein!“ Phil lässt entsetzt meine Hände los. „Fuck, sorry, June. Er ist okay. Er ist wach. Er wurde bewusstlos vom Eis getragen – aber der Arzt sagt, dass er jetzt wach und stabil ist. Nix gebrochen.“

Lucy zischt irgendwas sehr Unfreundliches in Phils Richtung, aber meine Knie geben fast unter mir nach vor Freude. Als würde Phil das spüren, zieht er mich in eine feste Umarmung. Eine typische, beruhigende Phil-Umarmung. Es ist, wie von einem zotteligen, gutmütigen Bären gedrückt zu werden.

„Gott sei Dank“, flüstere ich in seine Jacke. „Darf ich jetzt auch endlich zu ihm?“

Phil lässt mich los und presst die Lippen zusammen, bevor er verlegen stammelt: „Äh. Ja. Aber vorher müssen wir dringend sprechen.“ Er führt mich zur Bank zurück.

„Phil, ich habe wirklich keine Geduld …“

„Musst du, das ist jetzt wichtig.“

„Ich warte seit Stunden”, sage ich mit zitternder Stimme. „Ich will endlich wissen, wie es ihm geht. Niemand sagt mir etwas!“

Phil nickt verständnisvoll und fügt hinzu: „Das will ich ja gerade ändern. Also.“

Aber dann kommt nichts. Phil sieht mich nur lange an und scheint nach Worten zu suchen.

Lucy steht vor uns und starrt Phil ungeduldig an. In ihrem Gesicht kann man lesen wie in einem Buch, Phil sieht leider immer leicht betreten aus, so dass ich überhaupt nicht weiß, woran ich bin.

„Phil.“ Ich bin so kurz davor, ihn anzubrüllen, dabei hat er das wirklich nicht verdient. „Sag es einfach. Schnell, als würdest du ein Pflaster abziehen. Was ist mit Matt?“

Phil nickt entschlossen und dann redet er sehr schnell und ohne mich anzusehen. „Die Ärzte sagen, es sind noch diverse Untersuchungen nötig. Im Moment sieht es so aus, als könnte Matt … Er kann sich an die letzten zwei Jahre nicht mehr erinnern. Alles weg. Er weiß nicht, dass er es zu den Bisons geschafft hat, er kann sich nicht erinnern, nach Thunder Bay gezogen zu sein, er kennt das Team nicht und … er weiß nichts von dir.“

Die Worte sind wie eine Ohrfeige. „Was? Wie ist das möglich? Hat … hat er eine Hirnverletzung? Wie schlimm ist es?“

Phil greift tröstend nach meiner Hand und Lucy macht ein kleines Geräusch, das wie ein Knurren klingt. „Hör mal, Süße, es ist noch viel zu früh, irgendwas zu sagen. Da müssen noch Test gemacht werden, CRT, MRT, neuropsychologische Tests … Das ist ja alles noch nicht passiert, richtig?“

„Ich weiß es auch nicht genau“, antwortet Phil leise. „n Puck von Mr Thunder persönlich gegen den Schädel zu bekommen, kann anscheinend alles ausradieren.“

„Phil!”, faucht Lucy und er zuckt zusammen.

„Äh … sorry, June. Ich wünschte, ich hätte schneller reagiert. Ich hätte den Puck erwischen können, Matt aus dem Weg stoßen …“

„Wo ist er jetzt?“, frage ich mit zitternder Stimme.

„Ich bringe dich zu ihm. Aber sein Arzt will noch mit dir reden. Komm, lass uns gehen”, sagt Phil. „Aber bevor wir gehen, möchte ich, dass du weißt: Ich bin immer für dich da, June. Immer. Okay?“

Wie in Trance folge ich ihm, Lucy marschiert neben uns her und hat eine tiefe Furche auf der Stirn. Sie murmelt leise medizinische Begriffe vor sich hin, Phil versucht, mir tröstend den Arm um die Schultern zu legen und alles, was ich denken kann ist: Das passiert nicht wirklich. Das kann einfach nicht wahr sein. Matt hat mich vergessen?

***

Ein freundlich aussehender älterer Arzt mit weißem Kittel führt uns in sein Sprechzimmer. Der Raum ist karg eingerichtet, mit einem Schreibtisch voller Aktenordner, doch auf dem schmalen Schreibtisch steht ein moderner Bildschirm mit einer winzigen Tastatur. Während ich noch immer komplett neben mir stehe, ist es Lucy gelungen, nachzuweisen, dass sie Matts Ärztin ist und ich sehr wohl Angehörige bin. Ich habe immer wieder meine zitternde Hand mit dem Verlobungsring gehoben, bis Phil sanft meine Hand ergriffen hat, damit ich aufhöre, dem netten Doktor damit vor der Nase herumzuwedeln.

Der Arzt setzt sich hinter seinen Tisch und schaut uns über seine Lesebrille hinweg an: „Ich bin Doktor Patel von der neurologischen Abteilung.“ Er scrollt durch irgendwelche Notizen auf seinem PC und murmelt dabei leise. Dann sieht er wieder zu mir. „Matt hat nach seinem Zusammenprall mit dem Puck eine schwere Gehirnerschütterung erlitten.“

„Ja, das wissen wir bereits“, unterbricht ihn Lucy ungeduldig.

Doktor Patel fährt an mich gerichtet fort: „Infolgedessen hat ihr Partner im Moment Schwierigkeiten, sich zu erinnern.“

„Wie meinen Sie das?“ Muss meine Stimme so zittern? Ich schlucke schwer.

Doktor Patel sieht mich mitfühlend an. „Er wusste nicht, in welcher Mannschaft er spielt. Welches Jahr ist, wusste er auch nicht. Er hat die Frage nach einer Partnerschaft verneint.“

Ich merke erst, dass ich weine, als Tränen auf meine Hand fallen. Lucy hält mir kommentarlos ein Taschentuch vors Gesicht.

Der Arzt fährt fort: „Sein Kurzzeitgedächtnis scheint stark beeinträchtigt, mehr können wir bis jetzt aber nicht sagen.“

Lucy räuspert sich fragend und ich nicke. Soll sie die wichtigen Fragen stellen, ich bin damit beschäftigt, meine Angst in den Griff zu bekommen. Sofort rasselt sie Fragen herunter, die sie sich offenbar auf dem Weg in Doktor Patels Büro zurechtgelegt hat. Ich höre sie wie durch Watte miteinander sprechen. Es geht um neurologische Untersuchungen, um die Gehirnfunktion zu bewerten, um die Überprüfung von Bewusstseinszustand, Orientierung, Gedächtnis und Reaktionen auf äußere Reize. Ich höre etwas von neuropsychologischen Tests, um das Ausmaß der Gedächtnisbeeinträchtigung und kognitiven Defizite zu bewerten und wimmere leise. Ausmaß der Gedächtnisbeeinträchtigung? Phil drückt meine Hand, während Lucy weiter die Punkte auf ihrer mentalen Frageliste abhakt.

Ich bin so froh, dass ich sie und Phil als externes Gedächtnis dabeihabe, ich kann mich später sicher nur noch an die Hälfte erinnern. Immerhin wäre ich damit nicht allein. Ich kichere schrill und alle drei sehen mich verwirrt an. Dann schüttelt Lucy sanft den Kopf und sie sprechen jetzt darüber, dass Amnesien nach Sportunfällen vorübergehend sein können.

Ich horche auf. „Das ist gut, oder?“ Ich sehe Lucy flehentlich an. „Das ist doch gut?“

Sie lächelt unverbindlich und nickt zu Doktor Patel.

„Ja“, er nickt zögerlich, „das liefert uns Grund genug, optimistisch zu sein. Es ist aber sehr wichtig, den Patienten über einen längeren Zeitraum zu beobachten und zu evaluieren, um festzustellen, ob sich das Gedächtnis und die kognitiven Fähigkeiten allmählich erholen.“

Erholen. Ich nicke.

„Nach der eindeutigen Diagnose können wir die Therapie für Mr Rye festlegen.“ Doktor Patel legt eine Broschüre auf den Tisch. „Wir arbeiten mit verschiedenen Verfahren, um das Gedächtnis langsam wiederherzustellen – von Medikamentengabe bis zu verschiedenen Therapieformen.“

Lucy nickt. „An was für Therapien denken Sie da?“

„Oh.“ Er lehnt sich zurück und legt die Fingerspitzen aneinander. „Wir haben da unter anderem die kognitive Rehabilitation. Eine Therapie, die darauf abzielt, kognitive Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis zu verbessern. Es kann helfen, die Auswirkungen einer Hirnverletzung zu minimieren.“

Hirnverletzung. Das alles kommt mir so unwirklich, so völlig surreal vor. Matt, mein kluger, humorvoller Matt, hat eine Hirnverletzung. Vor dem Spiel hat er noch Witze mit mir gemacht und jetzt … Was ist jetzt? Wer ist er jetzt? Ich habe das Gefühl, dass das alles viel zu schnell geht. Ich möchte bitte wieder auf dem Parkplatz warten, für dieses Gespräch bin ich doch noch nicht bereit, sorry, ich habe mich geirrt.

„Wir empfehlen unseren Patienten außerdem eine Psychotherapie.“ Doktor Patel spricht sanft und langsam weiter, als wäre ich diejenige, die einen Puck mit voller Wucht gegen den Kopf bekommen hat.

Und ganz ehrlich? So fühle ich mich auch. In meinem Kopf rennt ein panisches Kaninchen kreischend im Kreis und übertönt alles, was der Arzt sagt. Matt. Hirnverletzung. Matts wundervolles Gehirn, wo all seine albernen Witze und all seine guten Ideen entstehen, ist verletzt.

„Psychotherapie?“, echot jetzt auch Phil.

„Eine Behandlung, die dazu beitragen kann, emotionale Probleme wie Angstzustände oder Depressionen im Zusammenhang mit einer Hirnverletzung zu bewältigen.“

Phil und ich nicken langsam. Angstzustände. Aha. Und Depressionen? Oh, Gott.

„Aber keine Sorge.“ Doktor Patel zwinkert uns verschmitzt zu. „In Kombination mit der hervorragenden Betreuung durch Sie als Partnerin sowie durch seine Mannschaftskollegen …“

„… und Mannschaftsärztin“, sagt Lucy.

„… und Mannschaftsärztin, selbstverständlich, bin ich sicher, dass Matt bald wieder fit sein wird.“

Phil legt sanft seine Hand auf meine Schulter. „Siehst du? Wir werden ihn gemeinsam unterstützen! Ich werde dir jede Sekunde des Weges beistehen.“

„Wie?“, flüstere ich. Ich brauche einen Plan. Ich brauche eine Liste, etwas, woran ich mich festhalten kann, denn gerade habe ich das Gefühl, mich im freien Fall zu befinden.

Der Arzt redet weiter, und ich bin damit beschäftigt, mich zusammenzureißen. Ich möchte weinen, laut und unschön, mit sabbern und schniefen und allem Drum und Dran. Ich will mich auf den Boden werfen und mit den Fäusten trommeln, weil das alles so verdammt unfair ist. Gleichzeitig komme ich mir grauenhaft undankbar vor, weil er ja noch lebt. Er lebt! Damit ist doch alles gut. Oder kann gut werden.

Irgendwo in der Ferne höre ich Doktor Patel sprechen. „… Orte und Personen, die vielleicht eine Emotion, eine Erinnerung auslösen …“

Ja, das ist es. Genau. Matt hat bisher nur Ärzte gesehen. Lauter Fremde! Wie wollen sie wissen, woran er sich erinnert? Phil hat er schließlich sofort erkannt, richtig? Natürlich, denn er ist sein bester Freund, seit die beiden sieben Jahre alt sind. So etwas vergisst man nicht, egal, wie hart der Schlag war. Das sind Gefühle und Erinnerungen, so etwas muss doch ganz fest verankert sein, oder? Und für mich hat er auch Emotionen, viele davon. Also ist es doch ganz klar, was passieren wird: Ich marschiere zu ihm ins Krankenzimmer, er wird mich ansehen und sofort wissen, wer ich bin – die Frau, mit der er alt werden will.

„Danke für Ihre Hilfe, Doktor“, sage ich entschlossen. „Ich bin mir sicher, dass es nur vorübergehend ist.“

Doktor Patel nickt mitleidig. „Es ist durchaus möglich, dass sein Gedächtnis beeinträchtigt bleibt und er sich nie daran erinnern wird, was in den vergangenen Jahren geschehen ist.“

Nie.

Ich schüttele den Kopf und funkele Doktor Patel an.

Was weiß er schon! Matt liebt mich. Und ich ihn. Nichts kann ihn das vergessen lassen und schon gar nicht so ein verdammtes Stückchen Hartplastik.