Leseprobe Buchstäblich tot

1

Ruf Tante Lena an!!!

Stirnrunzelnd nahm Mia die drei Ausrufezeichen wahr, mit denen die SMS-Nachricht versehen war. Ihre Mum verwendete Satzzeichen? Was war denn jetzt passiert? Für gewöhnlich vertrat Laura Midway die Ansicht, dass sich ihre Tochter gefälligst dankbar zeigen sollte, überhaupt von ihr mit Textnachrichten beglückt zu werden. Also akzeptierte Mia für gewöhnlich die satzzeichenlosen Botschaften und entschlüsselte sie nach bestem Wissen und Gewissen. Hier gab es allerdings nichts zu entschlüsseln, die Aufforderung war eindeutig:

Ruf Tante Lena an!!!

Aber warum? Sie hatte nichts mehr von Tante Lena gehört, seit diese vor Jahren nach Cornwall ausgewandert war. Pennygrave lautete der Name des malerischen Ortes, wenn sie sich richtig erinnerte. Dort leitete Tante Lena nun die örtliche Bibliothek.

Ihre Liebe zu Büchern hatte von Anfang an eine besondere Verbindung zwischen den Midway-Frauen geschaffen. Tante Lena war Bibliothekarin aus Leidenschaft und hatte Mia von klein auf mit Lesestoff versorgt. Später – genau genommen die vergangenen zehn Jahre lang - hatte Mia dann als Deutschlehrerin an einer Privatschule versucht, ihre Liebe zum geschriebenen Wort an andere Kinder weiterzugeben, so wie es Tante Lena bei ihr getan hatte. Ein Traum, den Mia geträumt und verwirklicht hatte und der nun ebenso jäh wie bitter zerplatzt war.

Mit einem genervten Knurren legte sie das Handy neben sich aufs Sofa. Wollte ihre Mum vielleicht deshalb, dass sie Tante Lena anrief? Und wenn schon. Sie hatte nicht die geringste Lust, über die Umstände ihrer Entlassung zu sprechen, auch nicht mit ihrer Lieblingstante. Viel lieber wollte sie weiter mit ihrem Eimer voll Eis auf der Couch herumlümmeln und sich Trash-Sendungen im Fernsehen reinziehen. Hohl, sinnlos und Balsam für ihren verletzten Stolz.

Schmollend schob sie sich einen weiteren Esslöffel Schokoladeneis in den Mund und versuchte, das penetrante Piepen zu überhören, welches das Eintreffen einer weiteren Textnachricht verkündete. Ohne Erfolg.

Mia gab ein genervtes Knurren von sich, griff erneut nach dem Handy und las die zweite Nachricht:

Ruf sie an!!! Jetzt!!!!!

Später vielleicht

 

 

 

tippte Mia mit der linken Hand, da sie nicht gewillt war, den Löffel aus der rechten zu legen.

Jetzt! Ruf sie an! Jetzt sofort!!!

Warum denn?

…!!

Hä? Nur noch Satzzeichen? Was war denn jetzt los? Verwirrt starrte Mia auf die seltsame Kommunikation, die alles an Eigenartigkeit übertraf, was sie je mit ihrer Mum erlebt hatte, und da gab es wirklich so einiges. Schließlich obsiegte doch die Neugier.

Ich mach ja schon

tippte sie schnell, woraufhin lediglich ein erhobener Daumen-Emoji zurückkam. Laura Midway hatte die Emojis entdeckt? Dieser Abend steckte voller Überraschungen.

Seufzend scrollte Mia durch ihr Telefonbuch und drückte auf den Namen von Tante Lena.

Es tutete.

»Mia, wie schön, dass du dich meldest.«

»Ja, Überraschung«, brummte Mia missmutig.

Tante Lena lachte. »Nein, eigentlich nicht. Ich habe vorhin mit deiner Mutter gesprochen und sie hat sich bereit erklärt, dich mal zu fragen. Aber dass du dich so schnell entscheidest, damit hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet. Super, dass du es machst, das erspart mir einiges an Zeit und Aufwand. Sollen wir die Details sofort besprechen?«

»Ähem … was mache ich?«

»Na, die Bibliothek. Ich dachte, deshalb rufst du an?«

»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, weshalb ich anrufe«, gestand Mia. »Mum hat mich quasi gezwungen, mich bei dir zu melden.«

Tante Lenas helles Auflachen verriet, dass sie sich lebhaft vorstellen konnte, was sich zwischen ihrer jüngeren Schwester und deren Tochter abgespielt haben musste.

»Okay, kein Problem, mein Schatz, ich erkläre dir, um was es geht.«

Zwanzig Minuten später beendete Mia das Gespräch und starrte fassungslos auf das Telefon in ihrer Hand. Hatte sie eben wirklich zugesagt, morgen nach Cornwall zu fliegen und für zehn Monate Tante Lenas Bibliothek zu übernehmen? War sie komplett verrückt geworden? Sie hatte keine Ahnung, wie man eine Bibliothek leitete, und in Cornwall war sie lediglich einmal gewesen als sie – genau, da musste sie ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein. Damals hatte sie die Gegend mit ihren Eltern und ihrem Großvater besucht. Er stammte von dort und hatte seine Töchter samt Enkel nach Pennygrave eingeladen, um ihnen seine Heimat zu zeigen. Und nun würde sie morgen offenbar nach Pennygrave umziehen. In das Cottage von Tante Lena. Für zehn Monate. Weil diese spontan beschlossen hatte, eine Weltreise zu machen. Verrückt.

Das war alles total verrückt.

Sie musste dringend packen.

Mit einem Satz sprang Mia auf und eilte in ihr Schlafzimmer, wo sie den alten Koffer hinter dem Schrank hervorzog. Während sie sich Mühe gab, nur sinnvolle Kleidung einzupacken, durchflutete sie eine Welle prickelnder Abenteuerlust. Was sie vorhatte, mochte vollkommen verrückt sein, aber es war immer noch tausend Mal besser, als herumzusitzen und Trübsal zu blasen. Pennygrave war die perfekte Chance auf etwas Abstand, auf Neuorientierung und auf unerwartete Möglichkeiten. Sollte dieses kornische Dörfchen doch mal zeigen, was es zu bieten hatte.

Mit einem Mal überkam sie eine unbändige Gier nach neuen Erfahrungen. Neugier: Mias wohl ausgeprägtester Charakterzug und jener, bei dem sie sich bis heute nicht sicher war, ob es sich um einen Segen oder einen Fluch handelte. Denn wäre sie nicht so furchtbar neugierig gewesen, würde sie jetzt noch immer an dieser schicken Privatschule Deutsch und Englisch unterrichten und wäre nicht auf so peinliche Art und Weise entlassen worden.

Ach, sei es drum. Energisch klappte sie den Deckel des Koffers herunter und kniete sich darauf, um den Reißverschluss zuzuziehen. Sie würde erst einmal nur das Nötigste mitnehmen. Kleidung, Hygieneartikel und Zahnbürsten gab es in England auch zu kaufen, und um alles andere brauchte sie sich vorerst keine Gedanken zu machen, wie Tante Lena ihr versichert hatte.

Grinsend öffnete Mia den Laptop und checkte ihre Mails. Da war es auch schon: das Online-Ticket, das Tante Lena ihr zuzusenden versprochen hatte.

Mia druckte es aus und packte es gemeinsam mit ihrem Reisepass in die Handtasche. Morgen früh würde das Abenteuer beginnen: Pennygrave.

2

Unsicher blickte Eleonora Meil um sich, als sie aus dem kleinen Cottage trat. Genau hier war sie aufgewachsen, zwischen den ungleichförmigen Steinwänden, die im Sommer für angenehme Kühle sorgten und im Winter die Wärme des knackenden Kaminfeuers speicherten. Hier, in dem wilden Garten, in dem man sich so herrlich verstecken konnte und in dem es von Feen und Elfen nur so wimmelte. Wie viele Geschichten hatte sie sich dort auf dem kleinen Stein sitzend ausgedacht? Das alles hatte sie längst hinter sich gelassen. Ihre Erinnerungen hatten in Pennygrave ein würdiges Grab gefunden. Dass diese Bibliothekarin es geschafft hatte, sie zu einer Lesung zu überreden, war lediglich der Nostalgie geschuldet. Für einen einzigen Abend würde sie die Vergangenheit noch einmal aufleben lassen … wollte Pennygrave erleben, mit all ihren Sinnen, um dann endlich damit abschließen zu können, und zwar endgültig. Der Entschluss, ihr Elternhaus zu verkaufen, hatte sie große Überwindung gekostet, doch er war unumstößlich. In den vergangenen Jahren hatte das hübsche Cottage leer gestanden, und was nicht benutzt wurde, war dem Verfall preisgegeben, darin unterschieden sich Häuser nicht von Menschen. Ungenutztes verrottete, vergammelte und wurde unbrauchbar, ein Haus ebenso wie ein menschlicher Körper oder der Verstand. Sie hatte Glück, dass die Schäden im Haus noch kein größeres Ausmaß angenommen hatten, Glück und ihre treue Nachbarin Mrs Stanfield. Die gute Irma. Jahrelang hatte diese regelmäßig nach dem Rechten gesehen, den Garten gepflegt und sogar ab und zu im Haus sauber gemacht, in der unumstößlichen Hoffnung, dass Eleonora eines Tages zurückkehren würde. Seit sie denken konnte, war Irma da gewesen. Sie hatte sie bereits als Kind mit Süßigkeiten versorgt, wann immer sie aufeinandergetroffen waren. Dann und wann hatte sie ihr heimlich ein bisschen Geld für neue Bücher zugesteckt. Einfach so. Eleonora wusste, wie sehr sie von der alten Frau vergöttert wurde. Für die Achtzigjährige war sie noch immer die kleine Elli mit den großen Träumen. Dass sie diese längst verwirklicht hatte, schien Irma regelmäßig zu vergessen, aber das machte nichts. Es war sehr angenehm, wenigstens von einem Menschen so behandelt zu werden wie früher.

Mit einem Lächeln auf den Lippen schloss Eleonora Meil die Tür hinter sich ab und trat auf die Straße. Sofort spürte sie die Blicke. Es sah sie zwar niemand direkt an, doch Eleonora Meil wusste, dass sie starrten. Alle starrten sie an.

Während sie die Straße entlang zum Dorfplatz ging, auf dem sich wie jeden Mittwoch die Obst- und Gemüsestände reihten, zog sie den Kopf immer weiter ein. Niemand sprach sie an. Niemand begrüßte sie oder drückte seine Freude darüber aus, dass sie wieder hier war. Es war schrecklich. Entweder tuschelten die Menschen hinter vorgehaltener Hand, sahen ihr bewundernd hinterher oder warfen ihr missgünstige Blicke zu. Dabei waren es dieselben Menschen, mit denen sie aufgewachsen war. Dort hinten zum Beispiel stand Melanie McTrout. Mit ihr war sie zur Schule gegangen und man konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass sie sie auch erkannt hatte. Warum kam sie nicht einfach her und redete mir ihr? Auf der linken Seite am Brunnen lehnte Noah McCann. Okay, dass der nicht mit ihr reden wollte, konnte sie verstehen. Auch Merla Warrington war vermutlich nicht besonders gut auf sie zu sprechen. Dennoch war sich Eleonora sicher, die Funken, die aus Merlas Blick sprühten, nicht verdient zu haben. Rasch ging sie weiter. Wenn sie es bis an den Gemüsestand schaffte, konnte sie sich vielleicht auf ihren Einkauf konzentrieren, und Mary Skyler würde wohl oder übel mit ihr reden müssen, wenn sie bei ihr einkaufte.

Eleonora lief auf Marys Stand zu, machte dann aber abrupt kehrt, als sie dort Melody Clearmont im Gespräch mit Nora Wells entdeckte, die offenbar gerade versuchte, Melodys Gesprächssalven zu entgehen. Melody Clearmont war die neugierigste Person auf dem Planeten Erde, wenn nicht sogar darüber hinaus. Nichts schien dieser Frau zu entgehen. Trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre verfügte sie über einen messerscharfen Verstand und zögerte nicht, diesen einzusetzen. Nicht nur, dass sie leidenschaftlich gern andere Menschen beobachtete, nein, sie liebte auch nichts mehr als die kleinen Fehltritte ihrer Mitmenschen aufzudecken und zu diskutieren. Obwohl eigentlich nicht sie, sondern Reverend Morten die moralische Instanz in Pennygrave verkörperte, konnte es Melody Clearmont nicht lassen, moralische Verfehlungen der anderen an den öffentlichen Pranger zu stellen. Melodys Melodien wurden sie scherzhaft genannt, die endlosen Monologe, mit denen Melody die anderen regelmäßig über Verfehlungen in der Dorfgemeinschaft aufklärte, freiwillig oder unfreiwillig.

Schnell bog Eleonora nach links ab und versteckte ihr Gesicht hinter einem üppigen Strauß Margeriten.

»Keine Angst, hier will bestimmt niemand ein Autogramm«, keifte Clara Clottingham, die missgünstigste Person in der gesamten Umgebung. Eleonora zwang sich zu einem Lächeln, aber zu einer Antwort konnte sie sich dann doch nicht durchringen. Stattdessen machte sie auf dem Absatz kehrt und hastete zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie würde die gute Irma bitten, ein paar Dinge für sie einzukaufen.

Noch während sie sich vom Dorfplatz wegbewegte, spürte sie die Blicke der Einwohner von Pennygrave in ihrem Rücken.

Vielleicht war es doch eine dumme Idee gewesen, herzukommen.