Leseprobe Bühne frei für den Tod

Kapitel 1

November 1899

Das Leben hat eine unbestechliche Art, Gutes mit Schlechtem auszugleichen, ein bisschen so wie Mathematik. Für alles Positive gibt es etwas Negatives, für jeden Gewinn einen Verlust und für jedes Plus ein Minus. Das Plus war in diesem Fall, dass meine Mutter, die seit der Hochzeit meiner Schwester letzten Monat bei mir gewohnt hatte, nach Paris reiste.

Juhu! Durfte ich es wagen, zu hoffen, dass endlich wieder Frieden in meinem Haushalt herrschen würde?

Während ihres Aufenthalts hatte sie unser Leben mit ständiger Kritik aufgemischt. Angefangen bei den Bediensteten, der Einrichtung ihres Zimmers, der Zeitung, die ich bekam, bis hin zu Dingen, die schlichtweg außerhalb meiner Kontrolle lagen, wie dem Wetter. Während ich auf dem Gehweg neben ihrer bestellten Kutsche stand und in die typisch feuchte Novemberluft gehüllt zitterte, konnte ich ihr die Kritik daran kaum verübeln.

Ein Sonnenstrahl brach durch – zumindest in meinen Gedanken – als meine achtjährige Tochter Rose den Gehweg zur Kutsche entlang hüpfte, sodass ihre dunklen Locken auf ihren Schultern aufsprangen.

Nanny folgte ihr auf gesittetere Art und Weise. Auch sie hatte genug davon, dass Mutter sich stets einmischte, ganz besonders, wenn es um Roses Routinen ging. Nanny hatte feste Uhrzeiten für Roses Mahlzeiten, ihren Unterricht, Freizeitbeschäftigungen und Schlaf festgelegt. Obwohl ich darauf beharrte, dass sie sich an Nannys Zeitplan halten sollte, hatte Mutter ihre eigenen Pläne – wann immer sie sich Gesellschaft wünschte, sollte man Rose freistellen. Meine Tochter liebte es. Nanny tat es nicht.

Meine Mutter hielt sich auch nicht mit ihren Meinungen zu mir zurück. Doch sie hatte mich nicht nur zur Welt gebracht, sie hatte mir vor wenigen Wochen erst das Leben gerettet, sodass ich ihr wohl zumindest etwas Narrenfreiheit schuldete.

Rose gab Tante Hetty einen Kuss, dann kam sie für eine letzte Umarmung zu mir, bevor der Stallbursche ihr in die Kutsche half. Sie setzte sich neben meine Mutter und war vor Aufregung ganz unruhig. Das war das Minus dieser ansonsten positiven Rechnung – Rose reiste mit ihr.

Der Bursche schloss die Tür und ich lehnte mich durch das Fenster. „Hör auf deine Großmutter, Rose.“ Ich sah zu meiner Mutter. „Und lass ihr nicht alles durchgehen.“ Das war gewiss nur möglich, weil Rose die einzige Person war, die vor ihrer scharfen Kritik sicher war. Ihrer Ansicht nach konnte Rose gar nichts verkehrt machen, was meine wilden Fantasien der ihnen bevorstehenden Woche nur anfeuerte.

„Es wird schon alles gut gehen, Frances.“ Meine Mutter tat meine Sorgen als Lappalien ab. „Wenn du so besorgt bist, solltest du uns begleiten.“

Wenn ich das doch nur könnte. Wir hatten die Reise zu dritt geplant, um Kleider für meine bevorstehende Verlobungsfeier zu bestellen, die die Schwester meines Verlobten für uns ausrichtete. Doch dann waren die Romanows in London eingetroffen: Grand Duke Michael Mikhailovich und seine Frau Sophie, die Countess de Torby. Die Elite der Gesellschaft hatte Einladungen oder vielmehr Anordnungen erhalten, diese Woche eine Reihe von Veranstaltungen zu ihren Ehren zu besuchen. Das schloss mich, die Countess of Harleigh, und meinen Verlobten, den Honorable George Hazelton, mit ein. Trotz all meiner Ermahnungen an meine Mutter, Rose nicht ständig nachzugeben, hatte ich genau das getan und ihr erlaubt, mit ihrer Großmama ohne mich nach Paris zu reisen.

Mit einem Klirren des Geschirrs und scharrenden Hufen setzte sich die Kutsche in Bewegung. Ich hielt mich an Hettys Arm fest und winkte mit der anderen Hand, während es mir schwer ums Herz wurde.

Hetty wischte sich eine Träne von der Wange. „Kopf hoch, Liebes. Die kleine Rose ist ein kluges Mädchen. Sie wird deine Mutter schon vor Ärger bewahren.“

Nanny gab ein Grummeln von sich, als wir unter den tief hängenden grauen Wolken zum Haus zurück trotteten. „Ich kann sie noch sehen“, sagte sie. „Es ist noch nicht zu spät, um sie zurückzurufen.“

„Meine Tante hat recht, Nanny.“ Ich hob das Kinn. „Wir sind grundlos besorgt. Bei all den Bediensteten, dem Hotelpersonal und meiner Mutter wird es Lady Rose schon gut ergehen. Meine Mutter hat schließlich mich großgezogen und aus mir ist ja auch etwas geworden.“

Sie presste die Lippen zusammen, während sie mich betont unbeeindruckt musterte.

„Zumindest ist mir nichts zugestoßen.“ Ich beschleunigte den Schritt. „Sie müssen sich auf Ihren Urlaub freuen. Sie besuchen Ihre Schwester, nicht wahr?“

Nanny murmelte etwas Unverständliches, knickste leicht und stürmte dann die Treppe zum Bediensteteneingang hinunter.

Hetty und ich wechselten einen Blick, als wir durch die Haustür in das Foyer traten. „Also wirklich, man könnte glauben, Rose wäre ihre Tochter“, sagte Hetty.

„Sie ist vielleicht nicht Nannys Tochter, aber sie ist ihr kleines Mädchen. Ich dachte jedoch, dass sie sich über den kurzen Urlaub freuen würde.“

Hetty und ich schlenderten vom Foyer in den Salon und setzten uns auf das Sofa, das Teil einer gemütlichen Sitzgruppe um den Teetisch war. Es war kein weitläufiger Salon, bloß ein üblicher rechteckiger Raum mit einem Kartentisch am vorderen Fenster, der Sitzgruppe am Kamin und einer Vitrine an der Wand dazwischen, in dem etwas Kleinod von sentimentalem Wert und ein geheimes Regal mit Spirituosen und Wein war. In meinen Augen war es ein angenehmer und einladender Ort.

„Ich vermute, das wahre Problem sind die Veränderungen im Haushalt, die bevorstehen“, sagte Hetty.

„Wir haben sie nur gebeten, nebenan einzuziehen, aber ich schätze, ich weiß, was du meinst.“

George und ich mussten noch ein Datum für die Hochzeit festlegen, doch wir hatten bereits Pläne geschmiedet. Ich würde zusammen mit Rose, Nanny und meiner Kammerzofe Bridget in sein Haus nebenan ziehen. Hetty würde mein Haus kaufen und die anderen Bediensteten behalten. Es war ein vernünftiger Plan. Mein Blick wanderte durch das gemütliche Zimmer. Dies war das erste Zuhause, das nur mir gehört hatte, und obwohl ich nur sechs Monate hier gelebt hatte, würde ich es vermissen.

Hier hatte ich George kennengelernt. Nein, das stimmte nicht. Ich hatte ihn vor Jahren kennengelernt, als ich mein Debüt in der Londoner Gesellschaft gehabt hatte. Das war, bevor ich Reggie geheiratet hatte und zur Countess of Harleigh wurde – noch bevor ich neun Jahre mit diesem fremdgehenden Schuft verheiratet war und dann noch ein Jahr nach seinem Tod in Trauer verbracht hatte. Danach war ich nach Belgravia in dieses reizende kleine Haus gezogen und hatte erfahren, dass George Hazelton mein Nachbar war. Es war, als hätte das Schicksal die Finger im Spiel gehabt.

„Es ist etwas zu früh, um so wehmütig dreinzublicken, Frances.“ Hettys Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. Sie lächelte. „Du bist noch nicht einmal fort und wenn du es bist, bist du jederzeit eingeladen, mich zu besuchen.“

„Darauf kannst du dich verlassen. Das Tor, das George zwischen unseren Gärten aufgebaut hat, war nicht nur für unseren Komfort. Es ist dazu da, dass Rose und ich dich leicht besuchen können, wenn dies dein Haus ist. Wie wird es dir gefallen, hier allein zu wohnen?“ Ich hielt inne, als mir ein Gedanke kam. „Wird dies das erste Haus, das du besitzt?“ Hettys Ehemann war an Influenza gestorben, als ich noch ein Kind war. Sie war zu unserer Familie gezogen und wurde eine Art zweite Mutter für mich und später für meine Schwester Lily, nachdem ich New York für London verließ.

Ein Lächeln zog sich über ihre Lippen und um ihre Augen traten feine Falten zum Vorschein. „Das wird mein erstes Haus – im Alter von fünfzig Jahren. Ist das zu glauben? Ich schätze, ich war damit zufrieden, bei deinen Eltern zu leben, und habe nie an ein eigenes Haus gedacht. Nun, da ich es habe, finde ich es sehr aufregend.“

„Nun, wenn ich es schon aufgeben muss, bin ich nur froh, dass du es übernimmst. Ich könnte mir keine bessere Nachbarin wünschen.“ Ich hatte meine Mühe damit, mir Tante Hetty als Fünfzigjährige vorzustellen. Im Gegensatz zu meiner Mutter, die Stunden auf ihr Schönheitsregime verwendete, ließ Hettys lebhafte Natur sie jünger wirken. Ich hoffte, ich würde so wie sie altern. Wir waren beide groß, doch ihre Figur war fülliger als meine. Ihre braunen Augen hatten ein paar Falten in den Augenwinkeln, doch ihr kantiges Kinn würde vermutlich niemals absacken. Bisher zeigte sich in ihrem dunklen Haar auch noch keine einzige graue Strähne.

Während ich sie musterte, zog etwas hinter mir ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ich warf einen Blick über die Schulter zum Fenster. „Überlegst du schon, die Vorhänge auszutauschen?“

„Vielleicht, aber gerade versuchte ich herauszufinden, wessen Kutsche vor dem Haus steht.“

Ich huschte zum Fenster und spähte hinaus, als eine zierliche, rothaarige Frau aus der Kutsche stieg. „Das ist Alicia Stoke-Whitney. Was könnte sie nur wollen?“

„Möchtest du, dass ich bei dir bleibe?“, fragte Hetty.

Ich ging zum Spiegel über dem Barschrank und zupfte die dunklen Locken um mein Gesicht herum zurecht. Ich hatte meine blauen Augen immer gemocht, doch nun waren sie gerötet, weil ich wegen Roses Abreise geweint hatte. Meine Nasenspitze war ebenfalls rot und meine Wangen blass. Als ich sie kniff, sah ich Hettys Blick im Spiegel und ich verstand ihre Frage erst nun.

„Wie bitte? Nein, nein. Ich bin für jede Angelegenheit, über die Alicia vielleicht sprechen will, bereit.“ Ich zuckte, als es an der Tür klingelte.

Hetty griff meinen Arm und zog mich herum. „Und deshalb bist du plötzlich so um dein Aussehen besorgt?“

Jedes Treffen mit der Geliebten meines verstorbenen Ehemanns hatte den Effekt, dass ich mein Aussehen in Frage stellte. Es half nicht, dass Alicia etwa Mitte dreißig war und mit jedem Jahr hübscher zu werden schien.

„Ich richte nur meine Frisur, nachdem ich draußen im Wind stand“, sagte ich. „Ich schätze es, dass du dich sorgst, und du bist herzlich eingeladen zu bleiben, wenn du möchtest. Aber es ist wirklich nicht notwendig.“

Hetty schürzte die Lippen. „Ich verzichte auf das Vergnügen, wenn es dir nichts ausmacht.“

Ich folgte ihr ins Foyer und sah ihr nach, als sie die Treppen hinaufhuschte, während Mrs. Thompson kam, um die Tür zu öffnen. „Das wird Mrs. Stoke-Whitney sein“, erzählte ich ihr. „Würden Sie sie in den Salon begleiten und dann Tee bringen lassen?“

Ich ging zurück in den Raum und holte tief Luft. Alicia und ich waren keine Freundinnen, doch der Tod meines Ehemanns hatte uns ein gemeinsames Geheimnis aufgezwungen. Wir konnten die Welt schlecht wissen lassen, dass Reggie in ihrem Bett gestorben war, und so hatten wir den guten Reggie mit Hilfe des stets ritterlichen George Hazelton in sein eigenes Bett gebracht. Diese List hatte zwischen uns eine Art Verbundenheit geschmiedet. Dabei hatte es geholfen, dass wir einander gesellschaftlich freundlich begegnen mussten, um die Gerüchte über ihre Affäre mit meinem Ehemann zu vertreiben. Ich nehme an, wenn man vorgibt, jemanden zu mögen, kann man es über die Zeit tatsächlich tun – zumindest ein Stück weit.

Die Tür ging auf. „Mrs. Stoke-Whitney, Mylady.“ Mrs. Thompson trat zur Seite, um Alicia eintreten zu lassen, die mit der Anmut eines Schwans hereinglitt. Wäre sie in eine andere Gesellschaftsschicht geboren worden, wäre sie vielleicht Tänzerin geworden, so schlank und graziös, wie sie war. Mit ihrem roten Haar und den grünen Augen wäre sie vermutlich ein Star gewesen. Stattdessen war sie die dritte Tochter einer Familie mit hohem Ansehen, doch wenig Geld. Sie hatte keine andere Wahl, als eine gute Partie zu machen. Ich hatte nie darüber nachgedacht, doch sie war die weibliche Version meines verstorbenen Ehemanns.

Alicia legte ihren Mantel ab, und zum Vorschein kam ein raffiniertes Tageskleid in Grau und Pink, das perfekt zu ihrem Hut passte. „Frances“, sagte sie und seufzte theatralisch. „Ich bin am Boden zerstört und benötige deine Hilfe.“

„Komm doch herein, Alicia.“ Ich deutete zur Sitzgruppe.

Mrs. Thompson nahm Alicias Mantel und ging, um für den Tee zu sorgen. Alicia und ich setzten uns möglichst weit voneinander entfernt auf das Sofa.

„Arthur ist ein solches Monster“, sagte sie und zupfte ihre winzigen Handschuhe von den Fingern.

„Ist er das?“ Arthur Stoke-Whitney war ihr Ehemann und ihr Ausweg aus vornehmer Armut gewesen. Er war gute fünfundzwanzig Jahre älter als sie und sie hatten nie damit hinter dem Berg gehalten, dass ihre Ehe nicht mehr als eine Allianz war. Er hatte bereits einen Erben und einen zweiten Sohn aus erster Ehe. Nach einigen Jahren als Witwer hatte er sich entschieden, nach einer hübschen Dame aus gutem Hause zu suchen, die seinen Tisch zierte und seiner politischen Karriere half. Er war reich genug, um keine Mitgift zu benötigen. Alicia war perfekt geeignet gewesen.

„Er verbannt mich aufs Land“, sagte sie. „Ich werde dort festsitzen, bis er mir erlaubt, in die Stadt zurückzukehren.“

Ich zog die Augenbrauen hoch und musste zugeben, dass es mir nicht leichtfiel, nicht zu grinsen. „Ein Fehltritt, Alicia?“

In diesem Augenblick betrat Mrs. Thompson den Salon mit dem Teetablett, was uns beide zwang, umsichtig zu sein, bis sie ging und leise die Tür hinter sich schloss.

Alicia warf mir einen bösen Blick zu. „Ich war diskret. Der betroffene Gentleman war es nicht.“

Ich reichte ihr eine Tasse Tee und lehnte mich zurück, als sie einen Löffel Zucker mit so viel Schwung in den Tee rührte, als wolle sie Rührei machen. Als ich eine Hand auf ihre legte, beruhigte sie sich.

„Ich werde nie wieder einen so jungen Mann wählen. Sie müssen einfach immer angeben.“ Sie schüttelte den Kopf, als ich ihr einen kleinen Teller mit einer Auswahl an Süßigkeiten anbot. „Natürlich erfuhr Arthur davon und war vollkommen außer sich.“

„Ohne Zweifel“, sagte ich. Stoke-Whitney war es gleich, was Alicia tat oder wie viele Affären sie hatte, solange kein Wörtchen über ihr Verhalten bekannt wurde. Er war Abgeordneter des Unterhauses und musste an die Wahlen denken. Seine Frau musste nicht ohne Tadel sein, doch sie musste den Anschein erwecken. Er war ein Pedant, wenn es um den äußeren Schein ging.

Ich verstand ihre Ehe wohl etwas besser, wenn ich mir in Erinnerung rief, dass er ein Politiker und eine Art Höfling war. Die Queen duldete nicht auch nur den Hauch eines Skandals unter den Adligen oder den Abgeordneten des Parlaments. Ich nahm einen Schluck von meinem Tee. Ihre Majestät war häufig enttäuscht, doch niemals von Arthur Stoke-Whitney – zumindest bisher nicht.

Alicia schob eine Locke zurück an ihren Platz. „Ja, ja. Es ist alles nachvollziehbar, aber schrecklich ungünstig.“

„Hast du in Betracht gezogen, deine Tändeleien gänzlich aufzugeben? Du bringst dich, deinen Ehemann und deine Familie in eine unangenehme Situation und riskierst euren Ruf für nicht mehr als einen flüchtigen Nervenkitzel.“ Ich bestrich ein Stück Scone mit dem dicken Rahm auf meinem Teller und schob es mir in den Mund, während ich darauf wartete, dass sie ihr Verhalten verteidigte.

Stattdessen warf sie mir einen Mitleid erregenden Blick zu. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dies als Möglichkeit zu betrachten, aber belehr mich nicht, Frances. Ich bin gekommen, um dich um Hilfe zu bitten.“

Das war verblüffend. „Wie soll ich helfen?“

„Nun, wie gesagt ist Arthur außer sich, und ich gehe davon aus, dass mein Aufenthalt auf dem Land länger andauert als sonst. Er wird nicht in einem oder zwei Monaten darüber hinweg sein. Er hat mir schon gesagt, dass ich mir keine Hoffnung auf eine neue Garderobe für die Ballsaison machen muss.“

„Das kann ich nur schwer glauben. Bei all den Veranstaltungen, die er ausrichtet, wird er dich brauchen.“

Alicia reckte das Kinn hoch. „Er sagte, wenn er eine Gastgeberin bräuchte, würde er seine Schwester bitten.“

Ich keuchte und verschluckte mich beinahe an einem weiteren Bissen Scone. Ein Schluck Tee half. „Du meinst doch nicht etwa Constance?“ Eine lächerliche Frage, da sie seine einzige Schwester war – eine Frau, deren einzige gesellschaftliche Qualität die Jagd war. Dass es ihr an Manieren und sogar dem grundlegendsten Verständnis von einer Rangordnung mangelte, war einer der Gründe, weshalb Stoke-Whitney ein zweites Mal geheiratet hatte. Sie war eine miserable Gastgeberin.

„Natürlich meine ich Constance. Ich sehe, du erkennst das Ausmaß meines Problems.“

„In der Tat, aber ich verstehe noch immer nicht, wie ich behilflich sein kann.“

„Das stimmt“, sagte sie. „Ich habe den entscheidenden Punkt ausgelassen. Unsere Tochter wird im Januar achtzehn. Harriet sollte der Queen präsentiert werden und im Frühjahr ihr Debüt machen. Als ich Arthur an unsere Verantwortung ihr gegenüber erinnerte, sagte er, dass Constance diese Kleinigkeit übernehmen würde.“

Ich fühlte mit Harriet. Die Präsentation bei der Queen war eine ehrwürdige, aber auch respekteinflößende Aufgabe für eine junge Frau, selbst unter den besten Umständen. Wenn jemand wie Constance einen auf diese komplexe Präsentation vorbereitete, nun ja, dann war das Desaster unvermeidlich.

„Gewiss würde er so etwas seiner eigenen Tochter nicht antun, oder?“

Alicia drehte die Tasse in der Hand hin und her, dass ich dachte, gleich würde sie zerbrechen. Sie stellte sie ab. „Seine Söhne bedeuten ihm alles, aber Arthur denkt kaum daran, dass er eine Tochter hat, daher kann ich die Drohung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Der einzige Weg, um Harriet vor einer vollkommenen Blamage zu bewahren, ist wenn du zustimmst, sie in die Gesellschaft einzuführen.“

„Ich?“

„Ja, du.“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Das tust du doch, oder nicht? Du hast deine Schwester und das andere amerikanische Mädchen protegiert und sie hatten beide erfolgreiche Ballsaisonen. Du würdest doch nicht die Nase über sie rümpfen, weil sie keine Amerikanerin ist, oder?“

„Natürlich nicht.“

Sie klatschte begeistert in die Hände. „Dann wirst du es also tun?“

„Ich bin noch nicht überzeugt, dass ich gebraucht werde. Und wird Mr. Stoke-Whitney einwilligen?“

„Einwilligen, dass Frances, Countess of Harleigh, bereit ist, seine Tochter zu protegieren? Arthur wird vor Freude aus dem Häuschen sein. Er könnte sogar Harriet in einem neuen Licht sehen. Und ich verspreche, dass ich dich nur um diesen Gefallen bitte, wenn ich im März immer noch im Exil bin.“

„Dann werde ich Harriet helfen, ja. Aber ich glaube nicht, dass du so lange im Exil, wie du es nennst, sein wirst. Er wird dich früher brauchen.“

„Ich hoffe, du hast recht. Und du hast mich auf eine neue Idee gebracht. Ich soll in der Stadt bleiben bis nach unserem Empfang diese Woche für die Romanows. Wenn ich mich vorbildlich benehme und ihm bei seiner schrecklichen Rede helfe, kann ich ihn vielleicht überzeugen, seine Meinung zu ändern und mich nicht fortzuschicken.“

„Hält er im Unterhaus eine Rede?“

„Nein. Es ist eine Rede für eine Frauenvereinigung, die sich für den Erhalt der Moral in der Politik stark macht. Ich weiß nicht, wie sie sich nennen – etwas mit allgemeinem Verfall.“ Sie machte eine abwinkende Handbewegung. „Sie haben Arthur bei der letzten Wahl unterstützt.“

Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, welche Art von Hilfe Alicia ihm bei einer solchen Rede bieten konnte. „Vielleicht könntest du ihn einfach daran erinnern, wie heikel es wäre, wenn Constance in einem Raum mit den Russen und dem Prince und der Princess of Wales wäre.“

Sie sah mir in die Augen. „Sehr gut. Daran werde ich denken.“ Sie nahm ihre Handschuhe vom Tisch und stand auf. „Ich bin dir zum Dank verpflichtet, meine Liebe. Du hast mir einen Grund zu hoffen gegeben.“

Ich klingelte nach Mrs. Thompson und begleitete Alicia in unsere Eingangshalle, wo meine Hausdame schon wartete, um ihr ihren Mantel zu bringen.

„Ich habe ganz versäumt, dir zu deinem wundervollen Verlobungsring zu gratulieren.“ Alicia musterte meinen Ring, während sie ihre Handschuhe anzog. „Hazelton hat einen fantastischen Geschmack.“ Sie hob den Blick und sah mich an. „Ich habe ihn in letzter Zeit nicht in der Gesellschaft gesehen. Wie ist es ihm ergangen?“

„Es könnte ihm nicht besser gehen, also komm auf keine dummen Gedanken.“ Ich öffnete die Tür und gab ihrem Kutscher ein Signal.

Alicia schmunzelte. „Als ob ich das tun würde. Jeder kann sehen, dass es eine Liebesheirat ist.“ Sie legte den Kopf schief, spähte durch die Tür und deutete auf die Straße. „Habe ich den Mann nicht schon einmal gesehen?“

„Vermutlich nur der Butler der Nachbarn. Wir nennen ihn das Klatschmaul von Chester Street. Er verbringt viel zu viel Zeit damit, unser aller Kommen und Gehen zu beobachten.“

„Der Mann ist kein Butler.“ Sie runzelte die Stirn. „Ist er nicht der Polizist, der mir letztes Frühjahr mit dem gestohlenen Armband geholfen hat?“

Ich trat an die Tür und blickte hinaus, als Mrs. Thompson gerade mit Alicias Mantel zurückkehrte. Inspektor Delaney stand tatsächlich draußen und er war in Begleitung einer jungen Dame. Er kam gerade von Georges Haustür und sah ratlos aus. Er sah sich auf der Straße um.

Da Alicia ihren Mantel trug, trat ich mit ihr hinaus. Delaney musste nach George gesucht haben, der gerade in seinem Club war.

Wir traten zum Gehweg hinunter, während Alicias Kutscher um die Ecke kam und vor dem Haus hielt, was Delaneys Aufmerksamkeit erregte. Als er mich erblickte, machte er einen entsetzten Gesichtsausdruck. Er machte einen Schritt zurück, doch die junge Dame kam begierig auf uns zu. Delaney folgte ihr zögerlich.

„Guten Tag, Inspektor“, sagte ich. „Sind Sie hier, um Mr. Hazelton zu besuchen?“

Er zog seinen Hut, sodass das graue und braune Gestrüpp, das sein Haar war, zum Vorschein kam. „Das waren wir in der Tat, Lady Harleigh. Leider ist er nicht abkömmlich.“

Delaneys Begleiterin stemmte eine Faust in die Hüfte und beobachtete mich mit einem überheblichen Blick. „Kennen Sie Hazelton?“ Ihr französischer Akzent überraschte mich.

„Natürlich. Ich bin seine Nachbarin.“

„Und seine Verlobte“, fügte Alicia hinzu.

Die Frau verengte die Augen. „Sind Sie das? Stell sich das einer vor.“ Sie drehte sich zu Delaney um. „Wussten Sie davon?“

Delaney drückte zwei Finger gegen die Schläfen.

Was für eine Unverschämtheit. „Und darf ich fragen, wer Sie sind, Miss?“

„Mrs.“ Sie zog einen Mundwinkel hoch. „Ich bin Mrs. George Hazelton.“

Ich blinzelte. Was hatte sie gerade gesagt?

Hinter mir sog Alicia scharf die Luft ein. „Sieh an, sieh an“, sagte sie und lehnte sich dichter an mein Ohr. „Und ich dachte, ich hätte Probleme.“

Kapitel 2

Irgendwie schaffte Delaney es, unser kleines Grüppchen in mein Haus zu bugsieren. Verführt vom Reiz eines Skandals, versuchte Alicia zu bleiben, doch er setzte sie bestimmt in ihre Kutsche und winkte den Kutscher fort. Als die Kutsche sich in Bewegung gesetzt hatte, erblickte ich Jackson, den neugierigen Butler von gegenüber, der die Geschehnisse mit hochgezogenen Augenbrauen und einem verkniffenen Gesichtsausdruck beobachtete. Wundervoll. Nun veranstalteten wir also ein Spektakel für meine Nachbarin. Ich nahm die Bagage am Arm und folgte Delaney ins Haus.

Ohne groß darüber nachzudenken, reichte ich Mrs. Thompson eine Notiz, die nebenan abgegeben werden sollte, in der ich George darum bat, mich sofort zu besuchen, wenn er nach Hause kam, um eine heikle Angelegenheit zu klären.

Mrs. Thompson nahm die Notiz aus meiner zitternden Hand und mit einem letzten argwöhnischen Blick zu den anderen verließ sie den Salon. Inzwischen hatte sich der Schock ein wenig gelegt, sodass ich nun etwas desorientiert und geradezu wutentbrannt war. Wie konnte sie es wagen, zu behaupten, mit George zu verheiratet zu sein? Mit meinem George! Was für ein Spiel spielte sie hier?

Ich holte tief Luft, um mich zu sammeln, bevor ich mich der ‚heiklen Angelegenheit‘, die es sich gerade auf einem meiner Sessel viel zu bequem machte, widmete. Sie bot einen sinnlichen und exotischen Anblick. Ihre wenigen Haarnadeln konnten die Masse dunkler Wellen, die ihr bis über die Schultern fielen, kaum bändigen. Sie umspielten ihr blasses, ovales Gesicht mit dunklen Augen und Brauen, die nach oben geschwungen waren. Als sie ihren Mantel ablegte, kam ein hauchdünnes Nachmittagskleid darunter zum Vorschein, die Sorte, die niemals die Heimlichkeit ihres eigenen Salons hätte verlassen sollen. Doch sie und ihr Kleid drapierten sich über einen meiner Sessel. Ich empfand instinktiv eine Abneigung gegen sie.

„Wo ist mein Ehemann?“ Wieder stutzte ich über den französischen Akzent, der in ihrer rauchigen Stimme lag. Ich warf Delaney einen raschen Blick zu, der sich auf den dazu passenden Sessel neben ihr gesetzt hatte. Er senkte den Kopf und ging seine Notizen gründlich durch, sodass ich nur sein drahtiges graumeliertes Haar und seinen knittrigen braunen Anzug zu Gesicht bekam.

Ich sah wieder zu der Frau. „Wenn Sie auf Mr. Hazelton Bezug nehmen, ich habe ihm eine Nachricht geschickt. Er wird herkommen, sobald er nach Hause kommt. Bis dahin könnten Sie mir vielleicht sagen, was Sie mit ihm zu tun haben? Ich glaube keinen Augenblick lang, dass Sie seine Ehefrau sind.“

„Vielleicht kennen Sie den Mann nicht so gut, wie Sie glauben.“

„Da bin ich anderer Ansicht. Ich kenne ihn besser als sonst jemand. Wir sind verlobt.“

Sie zuckte auf diese unhöflich französische Art mit den Schultern. „Das könnte ein Problem darstellen. Ich glaube nicht, dass das englische Gesetz mehr als eine Ehefrau zur selben Zeit erlaubt.“

Während wir sprachen, näherte ich mich ihr, bis ich förmlich über ihr stand. Delaney musste glauben, dass ich eine Gefahr darstellte, denn er stand auf und führte mich zu einem Sessel am anderen Ende des Tischs, bevor er wieder seinen Platz einnahm.

„Wer ist sie, Delaney? Und wo haben Sie sie gefunden?“

„Warum fange ich nicht damit an, zu erzählen, was ich weiß und warum ich sie hergebracht habe?“

Ich nickte ihm mürrisch zu und die Frau machte eine Handbewegung, als sei es ihr ganz gleich, was wir beide taten.

„Ich war auf der Wache, als ein Polizist sie dorthin brachte.“ Delaney sah auf das kleine Notizbuch hinab, das er stets bei sich trug. „Sie war vor dem Marlborough House verhaftet worden. Es scheint, sie hat versucht, den Grand Duke Michael Mikhailovich anzugreifen.“

Ich weiß nicht, was ich zu hören erwartet hatte, doch dies war es gewiss nicht. „Sie haben den Grand Duke angegriffen?“

„Wer immer das gesagt hat, hat aus der Angelegenheit mehr gemacht, als sie war. Ich habe bloß mit ihm zu sprechen gewünscht.“ Sie warf den Kopf in den Nacken. „Er hat einfach nicht zugehört. Er wollte einfach nicht.“

„Gibt es einen Grund, warum er mit Ihnen sprechen wollen würde?“, fragte ich.

„Er ist mein Cousin.“

Ich schnaubte. „Verstehe. Hazelton ist Ihr Ehemann und der Grand Duke Ihr Cousin.“ Wahrhaftig, die Frau musste Wahnvorstellungen haben.

Ihre Miene wurde grüblerisch. „Nun, ja, obwohl es eine entfernte Verwandtschaft ist. Ich bin froh, dass ich Ihnen mehr Verstand zurechnen kann als dem Polizisten, der mich verhaftet hat. Zumindest verstehen Sie eine einfache Aussage.“

Ich starrte Delaney fassungslos an, der so durcheinander aussah wie ich mich fühlte. „In dem Bericht steht nichts über Ihre Verwandtschaft mit dem Grand Duke“, sagte er.

„Ich vermute, der Polizist hat mir nicht geglaubt.“

„Das ist nachvollziehbar. Ihre Ausweispapiere sind französisch. Demnach heißen Sie Irena Teskey und sind vierundzwanzig Jahre alt.“ Er sah von seinen Notizen auf und zog eine Augenbraue hoch. „Ich weiß nicht viel über Russland und die königliche Familie, aber ich glaube, sie heißen Romanow. Teskey ist nicht Romanow.“

„Genauso wenig ist es Hazelton“, sagte ich und fühlte mich dadurch etwas besser. Delaney und ich lehnten uns zu ihr hin. Mal sehen, wie sie sich aus dieser Lüge herauswinden würde.

„Teskey ist der Name, den ich zu professionellen Zwecken benutze. So wie ein Schriftsteller einen Künstlernamen hat.“

„Sind Sie eine Schriftstellerin?“, fragte ich. Das würde ihre blühende Fantasie erklären.

Sie legte eine Hand an die Kehle und warf den Kopf in den Nacken. „Ich bin Schauspielerin.“ Mit einem Blick in unsere leeren Gesichter ließ sie von der Pose ab und seufzte ungeduldig. „Und ich besitze ein Theater hier in London.“

Delaney und ich starrten sie verblüfft und sprachlos an.

Ich fasste mich als Erste. „Lassen Sie mich sehen, ob ich es richtig verstehe. Sie sind eine französische Schauspielerin, die die Cousine eines russischen Grand Duke ist und Ehefrau des sehr englischen Mr. Hazelton. Oh, und Sie besitzen ein Theater hier in London. Stimmt das so?“

Sie kniff die Augen argwöhnisch zusammen. „Nun klingen Sie so, als würden Sie mir nicht glauben.“

„Dann stimmt zumindest alles mit Ihrem Gehör.“
„Wie können Sie es wagen? Sie, die eindeutig Amerikanerin sind, behaupten, eine englische Countess zu sein, und ich zweifle nicht an Ihrer Ehrlichkeit. Doch Sie behaupten außerdem, mit dem Mann verlobt zu sein, den ich als meinen Ehemann kenne, und ich mache keine abfälligen Bemerkungen über Ihre Integrität.“

„Weil ich die Wahrheit sage.“

„Genau wie ich!“

„Ladys!“ Delaney war aufgestanden. „Bitte. Ich muss Sie bitten, diese Unterhaltung anständig zu führen.“

Miss Teskey und ich setzten uns wieder auf unsere Plätze, doch die Feindseligkeit knisterte nur so zwischen uns.

Er warf uns beiden einen verwarnenden Blick zu, dann sah er wieder auf seine Notizen hinab. „Miss Teskey, Sie sagen, Sie sind vor drei Wochen in London angekommen. Warum haben Sie Mr. Hazelton nicht zu diesem Zeitpunkt aufgesucht?“

„Es kam mir nicht in den Sinn. Ich bin geschäftlich hier – um das Theater mit meinem neuen Partner zu eröffnen. Wir waren damit beschäftigt, Schauspieler anzustellen, Werbung zu machen und das Stück selbst auf die Bühne zu bringen.“ Sie hob die Hände. „Es ist eine ganze Menge Arbeit. Unsere Premiere war erst vor zwei Tagen. Da ich geplant hatte, London zu meinem Zuhause zu machen, gab es genug Zeit, zu Hazelton Kontakt aufzunehmen, wenn alles arrangiert ist. Außerdem war ich nicht sicher, wo er wohnt.“

„Ist das so? Wie genau haben Sie ihn aus den Augen verloren?“

Delaney stöhnte. „Lady Harleigh, ich muss doch bitten.“

Ich verstand Delaneys Frust, doch diese Scharade ging nun zu lange. „Wie um alles auf der Welt haben Sie Hazelton kennengelernt? Und wie kam es zu dieser Ehe? Und wenn sie Ehemann und Frau wären, warum haben sie sich getrennt? Um Himmels willen, sie leben in verschiedenen Ländern mit einer Menge Wasser zwischen ihnen.“

„Sie haben kein Recht darauf, alles über mich zu erfahren, Lady Harleigh, doch es genügt zu sagen, dass Hazelton vor einigen Jahren zu meiner Rettung kam, als ich von fürchterlichen Männern entführt wurde.“

Ich hatte nicht geglaubt, dass sie etwas sagen könne, das ihre Geschichte noch verrückter machte. „Entführt?“

„Von fürchterlichen Männern?“ Delaneys Miene verriet die gleiche Skepsis, die ich fühlte.

„Ja.“ Sie seufzte. „Es ist etwas, auf das ich nicht näher eingehen möchte.“

Ich stöhnte. „Und doch habe ich das Gefühl, dass Sie genau das gleich tun werden.“

„Es war eine abscheuliche Erfahrung.“ Sie stand langsam auf und ihr Blick war auf etwas in der Ferne fixiert. „Ich war gerade erst in Paris angekommen und lief durch einen Park, wobei ich meinen Text für ein Stück lernte, in dem ich eine Rolle zu ergattern hoffte. Urplötzlich tauchte ein Mann aus dem Gebüsch auf, ergriff mich und hob mich hoch, als sei ich nicht mehr als ein Arm voll Blumen.“ Die winzige elfenzarte Frau musterte mich offenkundig, als wolle sie mein Gewicht abschätzen. „Er trug mich zu einer wartenden Kutsche und ließ mich verschwinden. Wir fuhren stundenlang, bis ich die Gegend nicht mehr erkannte.“

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf uns, ihr Zwei-Personen-Publikum. „Ich weiß nicht, wie Hazelton mich nur gefunden hat.“

„Oder warum er sich die Mühe gemacht hat.“ Auf ihr Fauchen reagierte ich mit einem süßlichen Lächeln.

Sie runzelte konzentriert die Stirn, sodass zwischen ihren Augenbrauen eine kleine Falte entstand. „Ich glaube, mein Vater hat ihn geschickt – oder vielleicht war es Edward, der Prince of Wales.“

Und nun wurde noch der britische Thronfolger mit in ihre Geschichte hineingezogen.

„Wer immer ihn geschickt hat, er war mein Retter. Er befreite mich und brachte mich zurück in das kleine Dorf nahe Trouville, wo ich mit den Teskeys gelebt hatte.“

Delaney sah sie durchdringend an. „Teskey? Ist das Ihre Familie?“

Sie schüttelte leicht den Kopf und sackte in den Sessel zurück. „Sie sind die Leute, die mich großgezogen haben. Hazelton muss gespürt haben, dass ich meine Liebsten brauchte. Er ist so rücksichtsvoll in dieser Hinsicht. Die weite Strecke bedeutete jedoch, dass wir gezwungen waren, eine Nacht unterwegs zu verbringen. Wir lernten einander sehr gut kennen.“ Bei diesen Worten warf sie mir ein leicht höhnisches Grinsen zu.

„Natürlich tat er das einzig Ehrenhafte und heiratete mich. In der entzückenden Kapelle in unserem kleinen Dorf. Es war so romantisch.“ Sie sah mich durch ihre dunklen Wimpern an und erwischte mich dabei, wie ich mit den Zähnen knirschte. „Aber die Liebe löst nicht alle Probleme, nicht wahr? Er musste zu seiner Arbeit hier in London zurückkehren. Eine Weile lang wartete ich geduldig, doch dann rief die Bühne und ich kehrte nach Paris zurück. Vor nicht allzu langer Zeit hörte ich, dass Mr. Gilliam einen Partner für sein nächstes Theater suchte. Wir trafen uns, besprachen die Bedingungen und voilà, hier bin ich nun, nur ein Haus von meinem Ehemann entfernt. Ist das nicht schrecklich romantisch, Countess?“

„Wie im Märchen.“ Ich hatte Mühe, die Worte leichthin klingen zu lassen, doch selbst ich hörte, wie eisig meine Stimme klang. „Und genauso schwer zu glauben.“

„Sie wollen mir weder glauben, noch dass Hazelton Sie hinters Licht geführt hat. Es tut mir leid, werte Countess, aber Ihr Verlobter ist nun einmal mein Ehemann.“

„Ihre Geschichte ergibt nicht einmal Sinn. Warum sollte Hazelton geschickt worden sein, um Sie zu retten?“

Sie kniff ein Auge zusammen. „Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber tut er nicht etwas für Ihre Regierung?“

Ich konnte gerade noch ein Aufkeuchen unterdrücken, als ein Schauer meinen Rücken hinunterlief. Sie kam der Wahrheit mit dieser Aussage sehr nahe. Er tat tatsächlich ‚etwas für die Regierung‘. Eine weitere Wahrheit, die sie ausgesprochen hatte, war, dass ich ihre Geschichte nicht glauben wollte. Denn das würde bedeuten, dass George mir etwas vorgemacht hatte. Doch das traute ich ihm nicht zu. Er hätte niemals um meine Hand angehalten, wenn er nicht frei wäre. Ich hasste es, es zuzugeben, doch ein Großteil meiner Wut auf Miss Teskey stammte aus der Angst, sie könne die Wahrheit sagen.

Als mir diese Erkenntnis gerade kam, ging die Tür zum Salon auf und Hetty steckte den Kopf herein.

„Ach, da bist du ja, Frances. Schau mal, wen ich im Garten getroffen habe.“ Sie öffnete die Tür weiter und nun sah ich George neben ihr stehen. Er war tadellos in einen dunkelblauen Cutaway mit Krawatte gekleidet und sah wie ein eleganter Lebemann aus. Das Lächeln, das er mir schenkte, erinnerte mich jedoch an den bescheidenen, manchmal jedoch gefährlichen Mann, als den ich ihn auch kannte. Ja, der Mann, den ich nun vielleicht verlieren würde.

Hetty blieb abrupt stehen. „Inspektor Delaney. Es ist immer eine Freude, Sie hier zu sehen, wenn auch eine Überraschung. Gibt es Ärger?“

Delaney verbeugte sich leicht. „Guten Tag, Mrs. Chesney. Bloß eine kleine Angelegenheit, zu der wir Mr. Hazelton zu befragen wünschen.“

Miss Teskeys Miene erhellte sich, als sie Hazeltons Namen hörte. Sie saß mit dem Rücken zur Tür und dank des Sessels war sie nicht zu sehen. Bevor sie aufstehen konnte, erhob ich mich mit zittrigen Knien.

„Wir haben noch einen weiteren Gast“, sagte ich und deutete mit der Hand auf Miss Teskey.

Ich hielt den Atem an und beobachtete Georges Gesicht, als sie aufstand und sich zu ihm umdrehte.

Alle schienen einen Atemzug lang zu erstarren. Hetty runzelte die Stirn, als sie die Spannung im Raum wahrnahm. „Willst du deine Gäste einander nicht vorstellen, Frances?“

Doch ich konnte sehen, dass das für George nicht nötig war.

„Hazelton“, sagte Miss Teskey. „Da bist du ja endlich.“

„Irena?“

Aus Angst, meine Beine würden nachgeben, ließ ich mich in den Sessel sinken. Wenn es je einen Moment gab, in dem eine Frau sich wünschte, ohnmächtig zu werden, dann wäre es dieser – was immer es kostete, aus dieser Situation zu verschwinden.