Kapitel 1
Obwohl Alix gerade den dritten Schokoladenriegel mit einem halben Liter Cola hinuntergespült hatte, fühlte sie sich nur minimal besser. Wenigstens war ihr Heißhunger auf Zucker damit kurzzeitig gestillt. Bedauerlicherweise dauerte es bei solchen Aussetzern nicht lange, bis sich das schlechte Gewissen einstellte. Bevor sie weiter über das ungesunde Essen, das sie gerade zu sich genommen hatte, nachdenken konnte, griff sie nach der Vitamin C-Packung, die neben der Computertastatur lag. Eilig drückte sie gleich drei Tabletten aus dem Streifen. Mit einem Rest Cola schluckte sie die Dinger hinunter. Bestimmt würde das Vitamin C ihr Gewissen nicht vollständig in Schach halten. Aber eine Frau musste sich zu helfen wissen, wenn mal wieder einer dieser Tage anstand.
Alix war gelernte Hotelfachfrau und arbeitete gefühlt rund um die Uhr. Sie war Empfangsdame, Nachtportier, Zimmerkellnerin und zu guter Letzt war sie auch für das Gepäck der wenigen Hotelgäste verantwortlich, wenn sie denn welches hatten. Lediglich den Job als Tellerwäscher und Zimmermädchen erledigte Eddie, die Aushilfskraft, der einmal täglich für ein paar Stunden kam.
An diesem Montagmorgen erwartete sie zwei Gäste, die jeden Augenblick eintreffen konnten. Die Zimmer waren beide für zehn Uhr reserviert worden. Mr „Ich-bin-schön-prominent-und-berühmt“ hatte sich heute für den Purpursalon entschieden und der aufgeplusterte Geschäftsmann bevorzugte wie so oft das Waldzimmer mit der schönen Aussicht und den mediterranen Klängen.
Die Möchtegernberühmtheit würde drei Stunden bleiben und mindestens zwei Frauen dabeihaben. Der schweigsame Anzugträger reservierte seine Räumlichkeiten stets den ganzen Tag, auch wenn er nur ein paar Stunden blieb. Offenbar spielte Geld für ihn keine Rolle.
Das Three Rooms war im weitesten Sinne ein Seitensprunghotel, welches Alix gehörte und ihre Haupteinnahmequelle darstellte. Das zweistöckige Gebäude, auf dem gleich zwei Hypotheken lagen, befand sich in Shoreditch, einem hippen und sehr angesagten Stadtteil von London, und hatte einen makellosen Ruf.
Es gab im Three Rooms – wie der Name schon sagt – lediglich drei Räumlichkeiten, alle mit Bad und kleiner Küche ausgestattet. Da Alix bestrebt war, die Zimmer mehrmals täglich anzubieten, verlangte sie für einen Tag samt Übernachtung eine unerhört hohe Summe. Seit der reiche Geschäftsmann ihr Konzept mit seinen ständigen 24-Stunden-Buchungen ruiniert hatte, hatte sie den Preis allein für ihn schon dreimal angehoben. Es half nichts. Er blieb hartnäckig und kam ständig wieder. Eine Frau ‒ es war immer die gleiche, meist mit Aktentasche und Hosenanzug ‒ brachte er nur äußerst selten mit.
Alix hatte sich schon oft gefragt, was er in dem Zimmer, das einem ruhigen Waldplatz nachempfunden war, trieb. Denn keiner übernachtete in einem Seitensprunghotel, weil die Getränke der Minibar bei einer Tagesbuchung kostenlos waren. Auch das im Preis inbegriffene Essen, das sie beim Lieferservice bestellte, aß er höchst selten. Es wunderte sie nicht wirklich. Sein Äußeres ließ darauf schließen, dass er weitaus besseres als Pizza und Pasta gewohnt war. Alix konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum er ins Three Rooms kam. Höchstwahrscheinlich war er nur ein arbeitswütiger Singlemann mit Waldfetisch.
In den letzten zwei Jahren ihrer Selbstständigkeit hatte sie die Kundschaft, die bei ihr ein Zimmer reservierte, studieren und ein Gefühl für sie entwickeln können. Natürlich wusste sie es nicht mit Sicherheit, aber ihrer Vermutung nach befanden sich nur sehr wenige Ehebrecher unter den männlichen Hotelgästen.
Das Three Rooms wurde von den unterschiedlichsten Leuten besucht. Auch Frauen kamen mit großem Interesse und buchten sich eine Auszeit vom tagtäglichen Stress.
Eine alleinerziehende Mutter von vier kleinen Kindern kam immer mittwochs vormittags, sobald sie ihre Blagen los war und reservierte sich den Purpursalon für zwei Stunden. Das Zimmer besaß eine runde Badewanne mit Massagedüsen. Die Benutzung der unzähligen Duftkerzen und Badeöle war natürlich im Zimmerpreis inbegriffen. Außerdem gab es superflauschige Handtücher, die nach Lavendel rochen. Nur das Beste für die Gäste.
Alix musste jedes Mal schmunzeln, wenn die ausgeruhte Mutter nach zwei Stunden gut duftend und wunderbar entspannt mit ihrem Buch unter dem Arm abzog. Warum auch nicht? Hier hatte sie mehr Privatsphäre als in jedem Wellnesstempel, in den sie gehen konnte.
Leiser Tumult am Eingang ließ Alix hochschauen. Die Modelberühmtheit war im Anmarsch und hatte diesmal sogar drei Paparazzi an den Hacken. Beim letzten Mal war es nur einer gewesen. Busenwunder eins ging an seiner rechten Seite und Busenwunder zwei schmückte seine linke. Alle drei lächelten und machten hübsche Gesichter für die Fotografen, die nicht ganz so interessiert schienen wie die Modelberühmtheit es gerne gehabt hätte.
Dass Jason Toms ein gefragtes Männermodel war, wusste Alix, weil er ihr das erzählt hatte. Brühwarm und nicht nur einmal. Wenn sie ihn reden hörte, konnte man glatt glauben, er würde demnächst für die Wahl zum „Modelmann des Jahres“ kandidieren. Alix bezweifelte das.
Sie reckte das Kinn und starrte durch die verglaste Eingangstür nach draußen. Bestimmt würde Jason sich für die Paparazzi etwas einfallen lassen. Der Frauenschwarm war erfinderisch und bot seinen treuen Fans stets eine gute Show. Letzten Monat war es ein wenig geschickter Nippelblitzer seiner ständig wechselnden Begleitung gewesen. Neugierig verfolgte Alix das Treiben vor dem Hotel. Was es wohl diesmal zu sehen geben würde?
Auch wenn Jason Toms eindeutig ein zu großes Ego besaß, mochte sie den Casanova irgendwie. Sie kaufte ihm nicht eine Sekunde lang ab, dass er auf flotte Dreier stand, wie er alle glauben lassen wollte. Er war unglaublich nett, außerdem sorgte er stets dafür, dass seine Beliebtheit auch für sie Profit abwarf. Seit er das Three Rooms in regelmäßigen Abständen besuchte, hatten sich ihre Follower in den sozialen Netzwerken verdoppelt. Kein Wunder, wenn man bedachte, welchen Wirbel er bei jedem Kommen veranstaltete. Das ein oder andere Foto ihres kleinen aber feinen Hotels war so bereits mehrere tausend Mal geliked worden. Natürlich auch aus dem Grund, weil Jason sie freundlicherweise verlinkt hatte.
Sie kam nicht dazu, ihre Neugier zu befriedigen, da Gast Nummer zwei – der reiche Anzugträger – sich räusperte und nach Aufmerksamkeit verlangte. Colton West tippte ungeduldig mit seinem Autoschlüssel auf den Tresen, als würde er schon lange warten.
Alix war verwirrt. Wo kam er so plötzlich her? Wie war er hereingekommen? Hatte er den Hintereingang benutzt?
Dass Hotelgäste über den Notausgang ein- und ausgingen, war nicht üblich und hatte bei seinem letzten Besuch eine einmalige Ausnahme bleiben sollen. Wegen eines defekten Türscharniers hatte sie Mr West angeboten, das Hotel durch den hinteren Zugang zu verlassen. Offensichtlich fühlte er sich jetzt berechtigt, immer diese Abkürzung einzuschlagen.
„Guten Morgen, Mr West“, begrüßte sie ihn höflich und griff nach dem Schlüssel, an dem ein grüner Baumanhänger aus Holz baumelte. „Es wäre schön, wenn Sie demnächst wieder durch den vorderen Eingang kommen würden.“ Sie schob ihm den Schlüssel zu. „Auch wenn der Weg vom Parkplatz über den Hintereingang kürzer ist, bleibt er in der Regel allein den Angestellten des Hotels vorbehalten.“ Dass Eddie ihr einziger Angestellter war, behielt sie für sich.
Die Miene ihres Gastes zeigte kaum eine Regung. Nur ein Mundwinkel bewegte sich minimal. Wie immer trug er einen dunklen Anzug und eine akkurat gebundene Krawatte. „Ich benutze mit Vorliebe den Haupteingang, Ms Harrison, wenn er denn passierbar ist.“
Hä?
Wollte er sich über sie lustig machen? Das Scharnier war längst repariert. Der Handwerker hatte noch am selben Tag alles erledigt. Es gab keinen Grund, sich zu beschweren.
Verunsichert blickte Alix zum Eingang. Wo blieben Jason und seine Busenwunder überhaupt? War doch etwas mit der Tür nicht in Ordnung?
Ach du grüne Neune!
Alix klappte der Mund auf. Das Männermodel stellte vor ihren Augen und denen der Paparazzi seinen Bizeps unter Beweis, indem er versuchte, zwei Frauen gleichzeitig über die Schwelle zu tragen. Alle lachten und machten verrückte Posen für die Boulevardpresse. Am Ende nahm er das Blondchen huckepack und klemmte sich die Rothaarige unter den Arm. Es sah merkwürdig und für alle Beteiligten unbequem aus. Außerdem blockierte er mit der Zirkusnummer den kompletten Zugang zum Hotel. Sogar der Bürgersteig war wegen der Paparazzi kaum passierbar. Kein Wunder, dass West den Hintereingang gewählt hatte. Sie hätte es genauso gemacht.
„Es tut mir leid“, wandte sie sich an ihren Gast. „Bitte entschuldigen Sie.“ Alix deutete mit dem Kinn nach vorn. „Das Spektakel war nicht geplant.“ Wenn sie nicht bald versuchte, Jasons Ausgelassenheit unter Kontrolle zu bekommen, würden seine Besuche auf lange Sicht verlustbringend enden. Das musste sie unbedingt verhindern. Sie hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Neue Follower hin oder her.
Colton West steckte den Schlüssel ein und griff nach seinem Aktenkoffer, den er abgestellt hatte. Er warf einen wenig unauffälligen Blick auf das Schreibtischchaos, das sich völlig selbstständig neben ihrer Computertastatur ausgebreitet hatte und fing an zu grinsen. Verdammt, der Mann sah aus wie ein wahrgewordener Traum, wenn er seine Grübchen spielen ließ. Der leichte Bartschatten, den er eher selten trug, ließ ihn zudem wunderbar verführerisch wirken. Zum Anbeißen.
„PMS?“, fragte er und deutete auf die Schokoriegelverpackungen und die leere Flasche Cola. Dabei grinste er noch offensichtlicher, fast schon unverschämt.
Was? Frechheit!
Hatte er das wirklich gefragt? Alix’ Schlagfertigkeit blieb ihr im Halse stecken. Leider.
Was wussten Männer schon von den monatlichen Beschwerden und Unpässlichkeiten einer Frau? Gar nichts!
Bevor Alix etwas antworten konnte, zwinkerte er ihr zu und ließ sie im Anmeldebereich zurück. Als Dauergast kannte er natürlich den Weg und fühlte sich wie zu Hause.
Arrrgh.
Leider kam sie nicht dazu, ihm einen schlagfertigen Kommentar hinterherzurufen, weil Jason gerade seine Gespielinnen hereintrug und japsend nach dem Schlüssel verlangte. Offenbar wollte der verrückte Kerl die Frauen bis ins Bett tragen. Teufel auch! Alix musste einfach lachen, weil sich bereits erste Schweißtropfen auf seiner Oberlippe gebildet hatten. Anscheinend ließ die Fitness von Mr Supermodel zu wünschen übrig. Also doch nix mit „Modelmann des Jahres“.
Heute würde sie den Frauenhelden mit der Show, die sich von Mal zu Mal steigerte, durchkommen lassen.
Ausnahmsweise. Ein letztes Mal.
Kapitel 2
Als Alix keine Stunde später den Geruch von Zigarettenqualm wahrnahm, war es an der Zeit, Jason Toms ein paar Grenzen aufzuzeigen. Das Three Rooms war ein reines Nichtraucherhotel. Das galt auch für solche Spaßvögel wie ihn.
Der Nase folgend landete sie, wie sie vermutet hatte, vor dem Purpursalon. Sie klopfte und wenig später öffnete Jason ihr mit freiem Oberkörper und einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen die Tür. Leises Gekicher ließ Alix vermuten, dass seine Gespielinnen im Bett lagen.
„Lass mich raten“, er zeigte ihr die Kippe zwischen seinen Fingern, „du bist gekommen, um mir die Zigarette danach zu verwehren.“
Zigarette danach?
Beinahe hätte Alix laut gelacht. Glaubte dieser Supermacho wirklich, sie hätte so wenig Erfahrung in der Branche? Männer die kamen, um eine schnelle Nummer zu schieben, verhielten sich nicht wie Jason.
Sie unterdrückte ein Seufzen und begnügte sich mit einem minimalen Kopfschütteln. „Genau.“
Wenn er Wert darauf legte, spielte sie seine Spielchen eben mit. Der Kunde war schließlich König. Irgendwann würde sie herausfinden, warum er sich so viel Mühe gab, eine falsche Vorstellung zu erwecken.
„Dies ist ein Nichtraucherhotel“, informierte sie ihn. „Keine Zigaretten. Auch keine nach einem flotten Dreier.“ Na bitte. Bei dem Wort Dreier fing er gleich an zu strahlen. Das war es, was er hatte hören wollen. Ihr außerordentliches Gespür für besondere Gäste bestätigte sich mal wieder.
„Spielverderberin.“ Ihr Gegenüber zog ein letztes Mal am Glimmstängel und marschierte anschließend ins Badezimmer. Sie hörte Wasser rauschen und danach Jasons Stimme. „Erledigt. Ich hab sie ertränkt. Du kannst wieder durchatmen.“
Verrückter Kerl. „Danke.“
Schnell schloss sie die Tür, bevor sich Jason noch animiert fühlte, ihr in seinem Übermut zu beweisen, was für ein starker und potenter Mann er war.
Als Alix an den Anmeldebereich zurückkam, wartete ihr Bruder auf sie. Eindeutig ein Zeichen für Ärger. Dieser Montag schien aber auch von allem etwas parat zu haben.
„Hey“, begrüßte sie ihn reserviert und setzte sich zurück hinter den Tresen an ihren Schreibtisch.
Charly war deutlich größer als sie, hatte breite Schultern, eine schlanke Taille und die gleichen blauen Augen, die sie auch hatte. Die Beziehung zu ihrem kleinen Bruder war kompliziert und wurde ständig schwieriger. Früher hatten sie sich gut verstanden und sogar Gemeinsamkeiten geteilt. Aber das war lange bevor sie das Elternhaus verlassen hatten und nach London gezogen waren.
„Was treibt dich her?“, fragte sie argwöhnisch.
Alix ahnte nichts Gutes und wollte die Antwort eigentlich gar nicht hören. Es würde ihr nicht gefallen, was Charly zu sagen hatte. Sie war sich nicht sicher, aber seine erweiterten Pupillen ließen darauf schließen, dass er irgendetwas genommen hatte. Bis zum letzten Jahr war nur Alkohol sein großes Laster gewesen, aber nun schien noch ein weiteres Problem hinzugekommen zu sein. Es machte sie traurig, ein Familienmitglied in einem solchen Zustand zu sehen. Leider wusste sie nicht mal im Ansatz, wie sie ihm helfen sollte.
„Ich brauche ein Zimmer zum Pennen“, informierte er sie und grinste übertrieben. „Und da dachte ich, ich besuche mal meine fürsorgliche Schwester, die so ein hippes Hotel führt.“ Er taumelte leicht nach links und hielt sich an der Kante des Tresens fest. Anscheinend war er nicht nur high, sondern auch betrunken. Schlechte Kombination.
„Verdammt, Charly, es ist nicht mal Mittag. An einem Montag. Warum bist du nicht auf der Arbeit?“
„Wurde entlassen“, säuselte er, „schon letzte Woche.“ Sein Blick ging wild umher, als könnte er sich nicht auf einen Punkt konzentrieren. „Egal. War eh ein Scheißladen. Ohne den Job kann ich besser feiern und Party machen.“ Seine Miene verzog sich, wurde anmaßend. „Aber davon hast du natürlich keine Ahnung. Du bist immer brav und strebsam und möchtest mit deinem lächerlichen Minihotel“, er machte eine Kreisbewegung mit der Hand um den überschaubaren Anmeldebereich, „ein Vermögen verdienen.“ Er lachte und es klang hässlich. „Mit drei Zimmern. Welches Hotel hat denn nur drei Zimmer? Damit kann man doch kein Geld verdienen.“
Alix spürte Enttäuschung und Schmerz in sich aufsteigen. Ihr Bruder war momentan nicht zurechnungsfähig, versuchte sie ihn zu entschuldigen. Aber trotzdem verletzten sie seine Worte. Es waren dieselben, die ihre Eltern gebraucht hatten, um ihr die ungewöhnliche Idee auszureden. Zugegeben, es war nicht leicht und sie war bis über beide Ohren verschuldet, aber sie hielt sich über Wasser und hatte Spaß an ihrer Arbeit. Außerdem ermöglichte ihr die viele Zeit, die sie an der Anmeldung saß, ihren zweiten Job zu erledigen. Neben dem Hotel arbeitete sie freiberuflich als Webdesignerin. Sie hatte ihr Leben im Griff, Charly nicht.
„Geh nach Hause, Charly. Schlaf deinen Rausch aus.“ Sie deutete auf die Tür, was gleich eine nächste Lachattacke bei ihm auslöste.
„Geht nicht.“ Er beugte sich über den Tresen und blies ihr seine Alkoholfahne ins Gesicht. „Überraschung! Sie haben mich rausgeworfen. Kannst du dir das vorstellen? Ich besorge das Zeug, um richtig fett zu feiern und dann werfen meine verfickten Freunde mich aus der WG, nur weil ich in die Küche gekotzt habe.“
Oh Gott!
Hoffentlich hatten seine Mitbewohner ihn nicht dauerhaft rausgeworfen. In dem Fall würde er bei ihr unterkommen wollen. Das konnte nur in einer Katastrophe enden. Sie würde mit ihm darüber reden müssen, sobald er nüchtern war. Jetzt hatte das wenig Sinn. Alix gab sich einen Ruck. Er war schließlich ihr Bruder.
„Ich habe ein freies Zimmer für dich.“ Eigentlich erwartete sie in zwei Stunden Gäste, aber sie würde anrufen und behaupten, es gäbe einen Wasserschaden. Damit würde sie zwar die Einnahmen für einen ganzen Tag verlieren, aber sie konnte ihren Bruder in dem Zustand schlecht sich selbst überlassen. „Komm, ich helfe dir. Du musst aus den Klamotten raus und dich waschen.“ Erst jetzt nahm sie den Geruch von Erbrochenem wahr.
Charly klopfte mit der Handfläche auf den Tresen und lächelte selig. „Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, Alexandra.“ Er setzte sich in Bewegung und schwankte. „Du bist meine große Schwester.“ Er legte ihr einen Arm um die Schulter, als sie neben ihm auftauchte, um ihn zu stützen. „Meine Schwester ist immer für mich da, wusstest du das?“
Das wusste Alix nur zu gut.
Eine weitere Stunde später war es an der Zeit, Mr West sein Essen zu bestellen und den Purpursalon für das nächste Gästepaar herzurichten. Da Eddie heute nicht kommen würde, um ihr beim Zimmerservice zur Hand zu gehen, musste Alix das selbst übernehmen. In einem Hotel wie ihrem war Sauberkeit das oberste Gebot. Keiner wollte in einem Seitensprunghotel irgendwelche Spuren oder Rückstände von anderen Gästen vorfinden. Das war ein absolutes No-Go. Aus dem Grund wurden nicht nur Bettwäsche und Handtücher gewechselt, sobald ein Paar ausgecheckt hatte, auch das Badezimmer musste nach der Reinigung desinfiziert werden. Vielleicht war Alix in dem Bereich ein bisschen pingelig, aber da sie sich selbst vor einzelnen Haaren anderer Leute ekelte, legte sie besonderen Wert auf akribische Sauberkeit. Die vielen positiven Bewertungen, die ihr kleines Hotel auf den unterschiedlichsten Portalen einheimste, bewiesen, dass sich die Mühe lohnte.
Mit Gummihandschuhen und weniger Elan als gewöhnlich stellte sie sich dem Chaos, das Jason Toms und seine Freundinnen hinterlassen hatten.
Verdammte Supermodels! Beim nächsten Mal würde sie einen Aufschlag für die anschließende Säuberung verlangen. Was hatten die drei nur im Badezimmer veranstaltet? Die runde Badewanne mit den Massagedüsen war voller Farbe. Rot, Blau und ein senfähnliches Gelb zogen sich über den Wannenrand und die Wandfliesen. Auf dem Boden war ein Fußabdruck in grellpink und die Armaturen waren mit lila Sprenkeln übersäht. Wenn diese Schweinerei nicht mit Wasser und Seife wegzuwischen war, würde sie Jason die Hölle heiß machen und ihn anschließend kastrieren. Vor der nächsten Buchung war ein Gespräch fällig. Aber so was von.
Farbspuren in der Menge ließen darauf schließen, dass Toms das Badezimmer benutzt hatte, um Körper zu bemalen. Welche Körper, das war nicht schwer zu erraten. Auf den Brüsten seiner Spielkameradinnen hätten ganze Landschaften oder Stillleben Platz gefunden.
Alix griff nach der Brause und stellte das Wasser an.
Dem Himmel sei Dank! Die Schmierereien ließen sich leicht und mit wenig Mühe abwaschen. Die Farbreste mischten sich in der Wanne, sodass eine braune, wenig appetitliche Brühe entstand, die wenig später im Abfluss verschwand. Wenigstens etwas Gutes.
Ein Blick in den Badezimmermülleimer verriet ihr, dass Jason wie bei jedem Besuch leere Kondomverpackungen zurückgelassen hatte. Heute waren es sogar drei.
Alix musste lachen. Glaubte der Macho wirklich, sie würde ihm das abkaufen? Er musste ungeahnte Höhenflüge durchlitten haben. Welcher Mann konnte in so kurzer Zeit zweimal nachladen? Das war lächerlich.
Immer noch mit einem Schmunzeln auf den Lippen drehte sie sich um und sah Colton West im Türrahmen stehen. Offensichtlich hatte er sie gesucht und nicht an der Anmeldung vorgefunden. Warum hatte er nicht auf sie gewartet oder die Klingel, die für solche Fälle auf dem Tresen stand, gedrückt? Ihrer Meinung nach fühlte sich der geheimnisvolle Dauergast in letzter Zeit ein bisschen zu sehr wie zu Hause. Er war wie ein herrenloses Hündchen, das ihr ständig nachlief und Aufmerksamkeit verlangte.
„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte sie höflich, obwohl ihr nicht der Sinn danach stand, ihm bei irgendetwas zu helfen. Mit der frechen Bemerkung über PMS hatte er bei weitem keine Bonuspunkte gesammelt.
„Hat Eddie heute frei?“ Er deutete auf ihre wenig eleganten Gummihandschuhe, die ihr viel zu groß waren und grinste herausfordernd.
Hä?
Woher kannte er Eddie? Ihr einziger Angestellter sollte keine Freundschaften mit den Gästen schließen. Dafür war er nicht da. Eddie sollte seinen Job erledigen und keine unnötigen Schwätzchen halten. Noch jemand, mit dem sie in naher Zukunft reden musste.
Streitsucht kochte in ihr hoch und ließ den Unmut über diesen grottenschrecklichen Montag weiter anschwellen. Verdammte Hormone. Die Tage vor den Tagen waren eine Katastrophe.
„Entschuldigung, aber das geht Sie eigentlich nichts an. Eddie arbeitet nur in Teilzeit für das Three Rooms. Sie müssen heute mit mir vorliebnehmen.“
Vielleicht nahm sie seine PMS-Bemerkung doch mehr mit, als sie vermutet hatte. Sie spürte, wie sich wenig vorteilhafte Schweißtropfen über ihrer Oberlippe und auf der Stirn bildeten. Jason hatte die Heizung hochgedreht, weswegen nicht nur im Badezimmer saunaähnliche Temperaturen herrschten.
„Der Glückskeks fehlt“, informierte sie ihr Gast, ohne ihrem wenig freundlichen Kommentar Beachtung zu schenken.
Was? Hatte sie sich verhört?
„Wie bitte?“ Alix näherte sich diesem sonderbaren Individuum. Vielleicht schlug ihr die schlechte Laune auf die Ohren. Möglich konnte schließlich alles sein.
„Mein Glückskeks … er ist nicht in der Tüte vom Lieferservice.“ West hob die Transportbox vom Chinaimbiss an und deutete auf das Logo, als wäre sie schwer von Kapee. „Sehen Sie? Da hätte ein Keks drin sein müssen.“
Wollte er sie zur Weißglut treiben? Absichtlich?
Alix sah ihn einen Moment lang in fassungslosem Unglauben an. Sein Gesichtsausdruck verriet nicht, was er dachte. Unbestreitbar meinte dieser versnobte Anzugträger das ernst. Alix wusste nicht, was sie sagen sollte. Erfahrungsgemäß rührte er das Essen, was sie für ihn bestellte, gar nicht an. Und heute? Heute, wo Eddie nicht da war, verlangte er nach einem bescheuerten Glückskeks! Nicht zu glauben. Das Fass war bis zum Überlaufen voll.
Dem Siedepunkt nahe, zog sie sich die Gummihandschuhe von den Händen und ging zu dem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Zimmers. Sie nahm den Stift und schrieb etwas auf den Notizblock, der neben dem Telefon lag.
Bringen Sie das Putzteufelchen nicht auf die Palme, indem Sie es nach einem Glückskeks fragen. (Weisheit des Three Rooms)
Fachmännisch, als wäre sie in einem früheren Leben Glückskekshersteller gewesen, faltete sie den Spruch und reichte den Zettel an ihn weiter.
„Bitteschön. Ihr Glückskeksspruch. Heute ohne Kekshülle.“
Zufriedenheit erfüllte sie und umschloss sie wie eine warme Decke. Da sollte noch mal einer sagen, die Gäste würden ihr nicht am Herzen liegen. Wenn es möglich war, erfüllte sie jeden Wunsch. Auch verrückte, welche nicht nachzuvollziehen waren.
Womöglich hatte sie den Glückskeksliebhaber mit ihrer Ungezogenheit endgültig vergrault. Auch egal. Wenn er nicht wiederkam, würde ihr Hotel das überleben. Dann konnte sie das Waldzimmer an allen Tagen mehrmals vermieten. Das brachte sowieso mehr Geld in die Kasse.
Mr West faltete den Zettel auseinander. Anders als erwartet, verzog sich sein Mund zu einem charmanten Schmunzeln, samt Funkeln in den Augen. Warum sah bei ihm jedes noch so kleine Lächeln gut aus? Das war nicht fair.
Fand er ihr Geschreibsel etwa witzig? Es war nicht witzig gemeint. Nur das mit der Weisheit vielleicht.
Ihre Laune war wirklich unterirdisch schlecht. Am besten, sie sagte heute gar nichts mehr. Meist konnte sie sich selbst nicht leiden, wenn sie dermaßen kratzbürstig drauf war.
„Sie erinnern mich an meine kleine Schwester.“ Der glückselige Ausdruck in seinem Blick verschwand. „Der Spruch hätte auch von ihr stammen können.“ Er tippte mit dem Finger auf die Schrift und schien plötzlich in Gedanken versunken. Eine gewisse Schwermut umgab ihn von jetzt auf gleich.
Ihn so bekümmert zu sehen, die Niedergeschlagenheit zu spüren, ließ Alix’ Frust und den Unmut verrauchen.
„Gerne dürfen Sie mein Hotel ihrer Schwester weiterempfehlen“, sagte sie, weil die Situation irgendwie unangenehm war. Rasch zog sie die Putzhandschuhe wieder über. Sie war noch lange nicht fertig und sollte sich besser beeilen. Die nächsten Gäste würden in dreißig Minuten eintreffen.
„Danke für die humorvolle und sehr originelle Zurechtweisung. Ich habe verstanden.“ West sah aus, als hätte er wirklich verstanden. Alix bezweifelte das. „Sie sind anders, als die Leute, die mich für gewöhnlich umgeben. Bitte entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit.“
Wo kam das plötzlich her?
War das eine Beleidigung oder ein Kompliment? In jedem Fall eine Entschuldigung. Der Mann war ihr in vieler Hinsicht ein Rätsel.
Mit einem Nicken ließ er sie stehen und verschwand den Gang hinunter. Seine Schultern schienen ein Stück nach unten gesackt zu sein.
Verdammt! Gewissensbisse quälten sie. Hatte sie wirklich so unfreundlich sein müssen?
Alix schwor sich, beim nächsten Mal einen richtigen Glückskeks für ihn parat zu haben. Die Gedanken an seine kleine Schwester schienen ihn traurig gestimmt zu haben. Vielleicht war sie gestorben oder ihr war etwas anderes Schlimmes zugestoßen.
Alix sah auf die Uhr. Sie musste sich sputen und hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken.