Leseprobe Close to me

Kapitel 1

Brandon

Ich riss die Augen auf, als ich mich aus den Fängen meines Albtraumes befreite. Mein Atem ging stockend, mein Herz raste und ich war schweißgebadet. Also alles in allem wie jeden Morgen.

Mein Blick fiel auf meinen Radiowecker und sagte mir das, was ich sowieso schon wusste – es war fünf Uhr morgens. Jeden Tag wachte ich zur gleichen Zeit auf und kämpfte mich dann aus meinen Träumen. Das war mein Dauerzustand seit nunmehr drei Monaten. Ich hatte bereits als Kind mit Albträumen zu kämpfen gehabt, aber mit den Jahren war es besser geworden, was sicherlich zu großen Teilen meinen Eltern zu verdanken war, die ausnahmslos immer für mich da waren. Darüber hinaus spielte Zeit eine wesentliche Rolle. Ich schüttelte den Kopf, um die Bilder der Nacht loszuwerden und strampelte gähnend die Decke von mir. Als ich aufstand und mich streckte, merkte ich, wie sich mein Herzschlag allmählich beruhigte.

So heftig meine Nächte momentan auch waren, so schnell war alles wieder vergessen. Lag vielleicht daran, dass ich nun wahrlich kein Kind von Traurigkeit war.

Ich schlurfte aus meinem Zimmer und musste gegen den starken Impuls ankämpfen gegen die Tür meiner Mitbewohner zu treten, einfach nur, um sie ebenfalls aufzuwecken und zu nerven, konnte mich aber im letzten Moment beherrschen. Nur weil die beiden mich die halbe Nacht mit Sexgeräuschen wachgehalten hatten, musste ich sie ja nicht ebenfalls um ihren Schlaf bringen.

Seit vier Wochen wohnte ich mit meinen beiden besten Freunden River und Jace zusammen, die das ekelhaft glücklichste Paar der Welt waren. Ich liebte die beiden abgöttisch.

Wir hatten zusammen schon viel zu viel Scheiß erlebt, als in unserem Alter eigentlich angemessen wäre, was aber dazu geführt hatte, dass wir wie Pech und Schwefel zusammenhielten.

In der Küche angekommen, drückte ich auf meinen Kaffeevollautomaten, um mir einen Cappuccino zu machen. Nur, um ihn anschließend mit haufenweise Zucker und nicht unbedingt weniger Karamellsirup zu krönen – ich liebte Süßes.

Müde sank ich auf einen Stuhl am Tresen, der den Blick auf unser großes Wohnzimmer freigab. Wir hatten viel Platz, was wohl dem Umstand zu verdanken war, dass sowohl River als auch ich mehr Geld besaßen, als wir je ausgeben konnten. Leider änderte das auch nichts daran, dass wir zu faul waren, noch mehr Möbel zu organisieren. Ernsthaft, wir besaßen noch nicht mal einen Esstisch. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie die beiden Trottel es dennoch schafften, alles zuzumüllen. Sie ließen ihren Kram überall liegen, räumten ihr Geschirr nicht weg und Getränkeflaschen würden sich im Überfluss stapeln, wenn ich nicht alles wegräumen würde. Auch wenn ich oder vielmehr meine Eltern reich waren, hatte ich mich immer selbst um meinen Kram gekümmert und das sicherlich keine Putzfrau machen lassen. River war hingegen mit mehr Personal aufgewachsen, als er zählen konnte, weshalb er nun mal ein verzogener kleiner Idiot war. Und mürrisch. Keiner konnte so eine Fresse ziehen wie er.

Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken und das Ganze mit einem Keks verfeinert hatte, machte ich mich, wie jeden Morgen, ans Aufräumen. Die beiden waren so daran gewöhnt, aufzuwachen und eine saubere Wohnung vorzufinden, dass sie sicher einen kleinen Schock erleiden würden, wenn ich den Job mal nicht übernehmen würde. Was dachten die eigentlich, wer das machte? Kleine Zauberputzfeen, die immer dann auftauchten, wenn sie schliefen?

Egal. Jedenfalls hatten sie mit mir als Mitbewohner das große Los gezogen. Eindeutig.

Das Aufräumen dauerte nicht lange, auch wenn ich mindestens fünf Minuten damit verbracht hatte den Rest eines Was-auch-immer aus einer Vorratsbox zu kratzen, die sich im Kühlschrank versteckt hatte. Ernsthaft, wie hatten die beiden es bisher nur geschafft, ohne mich zu überleben, ohne sich ganz viele kleine Schimmel-Haustiere heranzuzüchten? Ab und an könnten sie auch mal selbst einen Finger rühren. Es war ja nicht so, dass mir Aufräumen einen Kick verpassen würde, ich war einfach nur schon von klein auf daran gewöhnt.

Als ich endlich geduscht und angezogen ins Wohnzimmer ging, machte sich allmählich die Aufregung in mir breit.

Heute ging es endlich los, heute fing unser erster richtiger Collegetag an und was noch viel wichtiger war: unser erstes Basketballtraining. Collegebasketball. Davon träumte ich schon mein ganzes Leben und ich konnte nicht fassen, dass sich dieser Wunsch nun endlich erfüllen würde. Dass ich all das mit meinen besten Freunden erleben durfte, setzte allem noch die Krone auf. Wir drei hatten bereits auf der High School in einem Team gespielt und würden dies nun weiterhin tun. Ich war total neugierig auf den Trainer und die anderen Jungs aus dem Team. Gleichzeitig machte ich mir aber insgeheim ein kleines bisschen Sorgen.

Es störte mich überhaupt nicht, dass River und Jace ein Paar waren – im Gegenteil, ich fand das klasse. Ich wusste aber auch, dass es viel zu viele Idioten auf dieser Welt gab, denen der Umstand, dass ein Mann einen Mann liebte, ausreichte, um sie zu verurteilen. Ich wollte nicht, dass den beiden das passierte. Um mich selbst machte ich mir da weniger Sorgen. Ich hatte zwar auch schon mehr als eine feuchtfröhliche Begegnung mit einem Typen gehabt, aber mich juckte es nicht sonderlich, wenn man über mich sprach. Das war mir herzlich egal. Nur wenn mich jemand grundsätzlich nicht leiden konnte, war ich beleidigt, denn mal im Ernst – ich war entzückend!

Über mich selbst grinsend, ging ich zum Kühlschrank, um mir einen Saft zu holen.

„Deine ekelhaft gute Laune am Morgen ist einfach nicht zu ertragen!“

„Whoa!“, zuckte ich zusammen und wirbelte in meiner Bewegung herum.

An der Küchentheke angelehnt, stand River und schlürfte seinen Kaffee. Fresse-ziehend versteht sich.

Theatralisch griff ich an mein Herz und tat so, als hätte ich beinahe einen Herzinfarkt erlitten, was mir aber nur ein Augenrollen einbrachte. Er war wirklich kein Morgenmensch.

„Du vergisst, dass sich meine Stimmung nicht auf den Morgen bezieht, sondern auf den ganzen Tag erstreckt. Ich habe immer gute Laune“, sagte ich zufrieden, während ich mir nun tatsächlich meinen Saft holte.

Er grummelte irgendetwas Unverständliches, folgte mir aber ins Wohnzimmer, wo wir uns auf die Couch plumpsen ließen.

„Schläft Jace noch?“

River drehte seinen Kopf in meine Richtung. „Nee, der duscht gerade.“

Mit das Beste an unserer Wohnung war die Tatsache, dass wir getrennte Badezimmer hatten, die an unsere Schlafzimmer angrenzten. Ich hatte echt keine Ahnung, was die beiden da drinnen so trieben, und wollte es auch gar nicht so genau wissen. Okay, das war gelogen, denn eigentlich interessierte mich das schon, aber ich wollte nicht später beim Duschen in irgendetwas treten oder versehentlich Zeuge des Ganzen werden. Die paar Male, die ich die beiden in den vier Wochen, die wir nun schon hier wohnten, beim Sex erwischt hatte, reichten mir vollkommen aus. Nicht, dass mir das peinlich gewesen wäre, aber die zwei hatten sich danach so ins Hemd gemacht, dass sie mir damit auf die Nerven gegangen waren. Sei es drum – sie lernten trotzdem nicht dazu.

Unsere Wohnung befand sich nur eine Querstraße vom Campus der University of Oregon entfernt, was großartig war. Wir hatten uns dafür entschieden nicht in ein Wohnheim oder eine Studentenwohnung zu ziehen, da wir regelmäßig Besuch von Rivers kleiner Schwester hatten. Sadie war vor Kurzem sechs Jahre alt geworden und die Beziehung zwischen ihr und River ging weit über ein normales Bruder-Schwester-Verhältnis hinaus. Sie war praktisch seine Tochter und er hatte sich um sie gekümmert, seit sie auf der Welt gewesen war. Es fiel ihm nicht leicht, dass sie nicht mehr dauerhaft bei ihm war, aber auch wenn er es niemals zugeben würde, tat es ihm verdammt gut.

River hatte eine beschissene Kindheit gehabt und war mit einem Tyrannen als Vater aufgewachsen, der seine Wut gern an ihm ausgelassen hatte. Zu allem Überfluss war dieser auch noch der verdammte Bürgermeister von Grove Hill, unserer Heimatstadt, gewesen. Nach außen hin hatte er immer auf Superdaddy gemacht, hinter verschlossenen Türen dann allerdings auf River eingeprügelt.

Die ganze Scheiße hatte dann vor drei Monaten ihren Höhepunkt gefunden, als Jace und ich mit ansehen mussten, wie River blutend zusammengebrochen war, weil sein sogenannter Vater auf ihn eingeschlagen hatte. Für einen kurzen Moment hatte ich wirklich geglaubt, er wäre tot. Tot, so wie sie. Seitdem waren meine Albträume zurückgekehrt.

Es hatte sich rausgestellt, dass dieser Abschaum von einem Vater gar nicht der wirkliche Vater von Sadie und River war. Ihr leiblicher Dad war ein feiner Kerl aus Sherwood und Sadie lebte nun auf eigenem Wunsch bei ihm. Wann immer es ging, verbrachte sie ihre Wochenenden bei uns und ich war der Kleinen absolut verfallen.

Und seit dem Ganzen standen River, Jace und ich uns näher denn je. Früher hatte ich nie sonderlich viel mit Jace anfangen können, was sich mittlerweile komplett geändert hatte. Ich hatte immer angenommen, dass er verklemmt und langweilig war. Nie hatte er über eine potentielle Freundin oder überhaupt über Mädchen gesprochen. Mittlerweile war ja klar, weshalb und ich wünschte ich hätte früher schon von seiner Homosexualität gewusst. Keine Frage, dass ich ein fantastischer Wing-Man gewesen wäre. Naja, immerhin wusste ich jetzt, dass Jace alles andere als verklemmt war – und langweilig schon gar nicht. Ich kannte keinen so guten Typen wie ihn. Außerdem war er sowas wie unsere Gewissens-Ampel, denn River und ich wussten manchmal einfach nicht unbedingt, wie man sich angemessen verhielt. Jedenfalls wenn man der Allgemeinheit Glauben schenken durfte. Ohne Witz – ohne Jace wären wir vermutlich völlig verloren. Ich riss meine Klappe viel zu oft auf, um Schwachsinn zu labern und River hatte die Impulskontrolle eines Grizzly-Bärs. Obwohl man ihm lassen musste, dass er sich mittlerweile echt gut im Griff hatte. Ich denke Jace hatte den größten Anteil daran.

So oder so hatten beide ein Herz aus Gold und waren die besten Typen, die man nur kennen konnte. Ich hoffte einfach, dass unsere neuen Teammitglieder das auch erkennen würden. Würde schon werden. Hals- und Beinbruch.

***

„Okay, wieso sind wir seit vier Wochen hier und haben bisher noch nicht mitbekommen, dass in unmittelbarer Nähe von uns ein Donutladen versteckt ist?“, fragte ich fassungslos, als wir den Weg zur Sporthalle einschlugen. Bisher hatten wir zwar unsere Umgebung und sogar den Campus erkundet, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, wie wir das nicht bemerken konnten. Nur eine Querstraße von unserer Wohnung entfernt, befand sich ein niedlicher, kleiner und knallpinker Donutladen, der sich Fluffy-Donuts nannte. Spätestens bei dem Namen hatte ich gewusst, dass das von nun an mein Lieblingsgeschäft werden würde. Wie konnte ich den bisher übersehen haben?

„O, den haben wir den einen Tag auf dem Weg zum Einkaufen schon gesehen“, murmelte River, während er kurz den Blick von seinem Handy hob, auf dem er herumtippte.

Ich blieb abrupt stehen.

„Okay, warte mal. WAS?“, schrie ich entsetzt.

Jace fing an zu lachen und auch River steckte sein Handy in seine Hosentasche und drehte sich zu mir um, da die beiden bereits einige Schritte vor mir waren. Ich ließ meine Sporttasche fallen und riss meine Arme gen Himmel.

„Da dachte ich, wir wären beste Freunde und dann tut ihr sowas?“

Ein paar Typen, die mich neugierig musterten, liefen an uns vorbei.

„Ich dachte, ich könnte euch vertrauen, aber nein. Ihr haltet mir einen Donutladen vor, EINEN DONUTLADEN!“, setzte ich meine theatralische Vorstellung fort.

Jace bekam sich vor Lachen kaum ein und die Typen, die eigentlich an uns vorbei wollten, blieben stehen und sahen mich amüsiert an. Ihren Sporttaschen entnahm ich, dass sie wahrscheinlich zu unserem Team gehörten. Jemand anderem wäre das Ganze vermutlich peinlich, aber bei mir war das Gegenteil der Fall. So war ich nun mal. Das konnten die anderen also gerne auch heute schon mitbekommen. Außerdem schien ich für allgemeine Erheiterung zu sorgen.

„Bist du fertig, du Baby?“, fragte River grinsend und deutete auf die Halle. „Ich für meinen Teil würde jetzt gerne Basketball spielen.“

„Wie kannst du jetzt nur an Basketball denken? Das hier ist verdammt ernst, River! Immerhin geht es hier um Verrat!“, konterte ich und legte meinen Unterarm über meine Augen.

Das Lachen um uns herum wurde lauter und ich war ganz in meinem Element. Wenn ich nervös wurde, laberte ich Schwachsinn, so einfach war das. Wenn jemand traurig war, versuchte ich ihn zum Lachen zu bringen. Das Leben war einfach zu kurz, um es mit Trübsalblasen zu verschwenden, das wusste ich leider nur zu gut. Um mich herum dachten immer alle, dass ich nichts wirklich ernst nehmen konnte, aber das war Bullshit! Ich konnte nur meine Sorgen wesentlich besser überspielen als andere.

„Es geht hier nur um einen Donutladen, du Trottel“, stößt Jace lachend hervor und musste sich dabei auf seinem Oberschenkel abstützen.

„Er heißt Fluffy-Donuts! Fucking Fluffy-Donuts! Das klingt wie ein Stripschuppen. Ernsthaft, habt ihr je etwas gehört, das mehr kickt?“

Ich schüttelte meinen Kopf und sah meine Freunde auffordernd an.

„Schön. Tut uns furchtbar leid, dass wir dir etwas so ungeheuer Wichtiges vorenthalten haben. Immerhin haben wir kein eigenes Leben und kümmern uns nur um dich“, gab River sarkastisch zurück.

Ich hob meine Tasche auf, schulterte sie und nickte zufrieden.

„Geht doch“, flötete ich und setze mich wieder in Bewegung.

Ich brachte damit nicht nur River und Jace zum Lachen, sondern auch die drei Jungs, die neben uns stehen geblieben waren.

„Hey, ich bin Brandon. Und die zwei Trottel hier sind River und Jace“, stellte ich uns grinsend vor und hielt meine Hand dem größten von ihnen entgegen, der ohne zu zögern lachend einschlug. Dabei fielen ihm seine blauen (ja blauen!) Haare in die braunen Augen. Er sah genau genommen ziemlich gut aus.

„Jake. Und das hier sind Malcolm und Jeff“, erwiderte er, nicht weniger grinsend als ich. „Bitte sag mir, dass ihr ab jetzt im Team seid!“

Ich salutierte vor ihm, was ihn nur weiter grinsen ließ.

„Seid ihr schon länger dabei?“, fragte Jace und begrüßte die Jungs ebenfalls.

Es stellte sich heraus, dass Jake bereits im dritten und die anderen beiden im zweiten Jahr dabei waren. Wenn man Malcolm und Jeff Glauben schenken durfte, war Jake sowas wie der Starspieler des Teams. Jeff saß nach eigenen Aussagen mehr auf der Bank, als dass er spielte, aber das schien ihn nicht sonderlich zu jucken, was ich verstehen konnte. Collegebasketball spielen zu können war schon krass genug. Nicht jeder konnte seine Minuten auf dem Platz bekommen. Mein Traum war genau das hier: College. Ich hatte nicht die Erwartung, zu den Stammspielern zu gehören, denn ich hatte nicht vor in der NBA zu landen, ganz im Gegensatz zu River, der nie etwas anderes gewollt hatte. Jace schien es auch vor allem um das Spiel selbst zu gehen. Tatsächlich spielten die beiden aber in einer so perfekten Symbiose, dass es mich wundern würde, wenn der Coach das nicht erkennen würde.

Mein Blick fiel auf Malcolm, der eher der stille Typ zu sein schien. Zumindest beteiligte er sich nicht aktiv an unserer Unterhaltung.

Alle gemeinsam betraten wir das Gebäude und ließen uns die Umkleidekabinen zeigen. Auf den Spinden standen bereits unsere Nachnamen, was mich innerlich beinahe ausflippen ließ. Ich machte ein Foto davon uns stellte es in die Familien-WhatsApp-Gruppe, die ich mit meinen Eltern hatte.

Wunderkind:
Seht ihr das? Euer Sohn ist berühmt!

BadMom:
Meinen die wirklich dich? Die müssen was durcheinandergebracht haben!

 

BigDaddy:
Wieso ist der Schrank nicht aus Gold?

 

Wunderkind:
Ich werde den Coach direkt fragen, wenn ich ihn kennengelernt habe!

BadMom:
Wir sind stolz auf dich! Rede nicht so viel – du wirkst schlauer, wenn du still bist!

 

BigDaddy:
Er wirkt schlau? Okay …

Wunderkind:
Ich liebe euch auch!

BigDaddy:
Mach sie fertig, mein Junge!

 

BadMom:
Wir sind stolz auf dich, Schatz! Wir lieben dich!

Wunderkind:
Melde mich später. 

 

Ich liebte diesen dämlichen Gruppenchat mit meinen Eltern. Unnötig zu erwähnen, dass die Namen ausschließlich meiner Feder entsprungen waren. Die beiden waren mit Abstand coolsten Menschen, die ich kannte und jeden Tag war ich dankbar dafür, sie zu haben. Meinen Humor konnte man wohl auch auf deren Konto verbuchen.

Ich steckte mein Handy in die Tasche und öffnete den Spind. Darin fand ich ein gelbes Trikot. In dieser Sekunde wurde es mir so richtig bewusst: Ich spielte von nun an für die Oregon Ducks, verdammte Scheiße! Das war der Hammer!

Grinsend lief ich wenige Minuten später in meinem neuen Trikot neben River und Jace und unseren drei neuen Kumpels, die ich jetzt einfach mal als solche bezeichnete, hinaus aufs Spielfeld.

Es waren schon einige Jungs damit beschäftigt Körbe zu werfen, aber den Coach sah ich nicht. Das hier war überwältigend. Das hier war verdammt episch. Nichts könnte mir jetzt die Laune versauen.

Wie sehr man sich doch irren konnte.

Wir waren keine drei Schritte gegangen, als ein Typ direkt in unser Blickfeld trat. Hellblonde Haare, strahlend grüne Augen und ein Engelsgesicht. Dazu das mit Abstand widerlichste, breiteste Lächeln der Welt. Blake.

„Fuck“, entfuhr es mir zähneknirschend.

Wieso, wieso, wieso?

Es hätte so perfekt sein können. Episch. EPISCH!

„Was zum Teufel“, knurrte River wütend.

Aus reiner Intuition heraus, hielt ich River an seinem Trikot fest, bevor er losstürmen und Blake den Kopf abreißen konnte. Seinem Gesichtsausdruck nach war das absolut denkbar.

„Was ist los?“ fragte Jake stirnrunzelnd, während Jace kreidebleich wurde. Seine perfekte Collegebasketballzeit hatte ihm vermutlich ebenfalls gerade vor seinem inneren Auge zugewinkt und war abgezischt.

Wenn man es genau nahm, war das hier ebenso witzig, wie es zum Kotzen war. Wie hoch war bitte die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier ausgerechnet auf diesen Hampelmann trafen? Immerhin war er der Exfreund von Jace und für River so ziemlich der größte Feind, was bei seiner familiären Vorgeschichte einiges zu heißen hatte. Ich konnte nicht fassen, dass wir ausgerechnet ihm gegenüberstanden.

Blake stand nun unmittelbar vor uns, warf den Ball zu einem anderen Spieler und drehte sich breit lächelnd zu uns herum.

Sein blödes Grinsen gefror ihm in dem Moment, als er erst den spürbar aggressiven River und anschließend den stummen Jace erblickte. Als er bei mir ankam, blinzelte er nur noch mit offenem Mund.

„Das darf doch nicht wahr sein“, fluchte er eine Sekunde später und starrte verzweifelt gen Himmel, so als könnte irgendeine höhere Macht ihn davor bewahren, was hier passierte. Konnte sie natürlich nicht. Idiot. Und wieso musste er ausgerechnet bei meinem Anblick meckern? Meine Erscheinung dürfte für ihn ja wohl nicht halb so schlimm sein wie die von River und Jace. Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen, obwohl ich es natürlich zum Kotzen fand, dass Blake hier war. Keine Ahnung, worüber ich mich am meisten ärgerte. Darüber, dass der Typ tatsächlich hier war und mir meine perfekte Zeit im Team der Ducks versaute oder dass er immer noch verdammt gut aussah. Nicht, dass ich das jemals zugegeben hätte.

Kapitel 2

Blake

Theoretisch war mir klar, was ich vor mir sah. Praktisch wollte mein Hirn einfach nicht begreifen, was hier abging.

In meinem früheren Leben musste ich irgendwann einmal Welpen getreten haben, anders konnte ich mir nicht erklären, weshalb ich so bestraft wurde.

Als wäre es nicht schon genug, dass ich gerade meinem Exfreund Jace gegenüberstand, der meinem Selbstwertgefühl einen gehörigen Dämpfer verpasst hatte, stand daneben sein gestörter Pitbull von festem Freund, dem Mordlust ins Gesicht geschrieben stand. Und für den er mich verlassen hatte. Von ihrem dämlichen Kumpel, der nur blöde Sprüche auf Lager hatte, wollte ich gar nicht erst anfangen. Ich rieb mir stöhnend über die Augen und war mit einem Mal einfach nur erschöpft.

River atmete schwer und presste heftig seinen Kiefer aufeinander. Er sah richtig wütend aus und leider musste ich zugeben, dass er mir ein bisschen Angst machte. Ich erinnerte mich noch gut ans letzte Mal.

„Okay, was ist das hier?“, fragte Jake Mitchell, Shooting-Guard der Ducks, den ich von ein paar Spielen kannte, die ich besucht hatte. Nur waren seine Haare beim letzten Mal noch nicht dunkelblau gewesen. Sie waren ein seltsamer Mix aus Schwarz und Blau. Wäre ich nicht grade so völlig von der Rolle, hätte ich mir vermutlich Zeit genommen, ihn zu bewundern, denn … Wahnsinn, sah dieser Typ gut aus. Aber zurück zur Frage, was das hier war … Keine Ahnung.

Was sollte ich darauf bitte antworten? So hatte ich mir meinen Collegestart bestimmt nicht vorgestellt. River und Jace sahen auch nicht so aus, als würden sie das hier witzig finden. Ihr Kumpel Brandon West sah allerdings ziemlich belustigt aus. Was stimmte denn mit dem nicht? An dieser Situation war rein gar nichts lustig. Dennoch waren seine Mundwinkel schmunzelnd verzogen, während seine grauen Augen leuchteten. Wow. Ich hatte noch nie solche Augen gesehen, die waren ja richtig hellgrau. Hinzu kamen seine schwarzen Haare, die so perfekt lagen, als hätte er einen persönlichen Stylisten. Wieso sahen hier eigentlich alle so dermaßen gut aus? Egal. Sein Grinsen nervte trotzdem höllisch. Es herrschte noch immer Stille und Jake sah uns alle mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Augenbrauen an.

„Naja, also Blakey-Boy hier“, setzte Brandon an und deutete auf mich, „hat in die Beziehung von Jace und River reingefunkt und sich zwischen sie gedrängt. Das fand River natürlich gar nicht lustig. Jace und River haben sich ihre ewige Liebe gestanden und Blakey-Boy konnte das nicht akzeptieren. River hasst also Blakey-Boy und möchte ihm gerne mit einem stumpfen Gegenstand die Augen ausstechen. So mal als Kurzfassung.“

Ich blinzelte schockiert. Spinnte der? Und hatte er mich eben ernsthaft Blakey-Boy genannt? Ich warf ihm einen bösen Blick zu, den er ungerührt und frech grinsend erwiderte. Ich schnaubte.

„Nicht schon wieder“, stöhnte Malcolm Fieldings, Center der Ducks und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

Ich kam jetzt gar nicht mehr mit. Was sollte das denn heißen?

„Wie schon wieder?“, fragte Brandon nach und seine Stimme machte irgendwas ganz Komisches mit mir. In ihr lag eine Unbeschwertheit, die mir eine Gänsehaut bescherte. Die Tonlage war dazu irgendwie … scharf. Na toll.

„Jake hatte im letzten Jahr so ein On-Off-Drama mit einem der Jungs aus dem Team, der jetzt für die NBA gedraftet wurde“, fuhr Malcolm murrend fort und wirkte keinesfalls begeistert.

Jake schlug ihm mit der flachen Hand an den Hinterkopf und rief empört: „Erzähl doch nicht so einen Schwachsinn!“

„Bitte, das war noch untertrieben. Ihr habt genug Stoff für eine verdammte Soap geboten!“, mischte sich nun auch ein etwas klein geratener Typ ein, den ich noch nie zuvor im Leben gesehen hatte.

„Ach bei den beiden braucht ihr euch keine Sorgen machen. Die sind so abartig glücklich zusammen, dass es da nicht sonderlich viel Drama geben wird. Der da“, er deutete mit seinem ausgestreckten Zeigefinger auf mich, „wird schon eher Probleme machen.“

Was zur Hölle? Was redete der Typ denn?

Zu allem Überfluss sahen mich jetzt auch noch alle an, so als wäre ich tatsächlich das Problem.

„Leute, können wir einfach Basketball spielen und den Rest hier heraushalten?“, fragte ich und sah dabei Jace an und nicht River oder den Deppen Brandon.

„Wissen wir nicht. Nicht, dass du Jace dann wieder aus der Halle lockst“, mischte sich Brandon aber natürlich wieder ein und spielte damit auf unser letztes Zusammentreffen an. Ich hatte mich Jace gegenüber wie ein Arsch benommen, weil ich so gefrustet davon gewesen war, dass er River mir vorgezogen hatte. Außerdem war an dem Tag noch eine ganze Menge mehr passiert und ich hätte Jace wirklich gebraucht. Ich war echt nicht stolz auf mein Verhalten und würde den Tag am liebsten löschen, aber leider lag das nicht in meiner Macht. Schön, dass Brandon das wieder hervorholte. Nicht.

„Blake hat Recht. Vielleicht kommen wir erstmal runter. Wir sind alle aus dem gleichen Grund hier: Collegebasketball. Den Rest vergessen wir einfach“, meldete sich Jace nun zum ersten Mal zu Wort. Er sah immer noch total süß aus, daran hatte sich nichts geändert. Seine braunen Haare waren wie immer top gestylt. Besonders an ihm waren allerdings die bernsteinfarbenen Augen, die mir jetzt, wo ich dieses heftige Grau von Brandon gesehen hatte, gar nicht mehr so besonders vorkamen. River gab nur ein verächtliches Schnauben von sich. Blöder Idiot.

„Komm schon, Babe. Alles ist gut“, sagte Jace nun leiser, nur an River gewandt und schlang ihm einen Arm um die Taille. Der Anblick versetzte mir einen Stich. Den Mist würde ich mir ab jetzt ständig geben müssen. Vielen Dank.

River atmete nochmal laut durch, entspannte sich aber sichtlich. Offensichtlich bestand jetzt keine Gefahr mehr.

„Los, lasst uns Körbe werfen, bis der Coach kommt“, forderte Malcolm die anderen auf, was alle nach und nach dazu veranlasste, sich in Bewegung zu setzen. Das tolle Trio warf mir natürlich noch bedeutungsvolle Blicke zu, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Von River erntete ich einen Hassblick, der quasi Pfeile in meine Richtung abschoss. Jace sah einfach nur nachdenklich aus. Brandon hingegen toppte alles. Er stellte ein herausforderndes Grinsen zur Schau, als er dicht an mir vorbeilief.

„Tu ja nichts Dummes“, raunte er mir zwinkernd zu und war nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Mich überlief eine Gänsehaut, die ich keinesfalls näher ergründen wollte. Der Typ war unglaublich nervig.

Tatsächlich brachte mich nicht sonderlich viel aus der Fassung, aber bei ihm würde ich am liebsten komplett ausflippen. Nicht einmal River hatte diese Wirkung auf mich und den fand ich ja nun absolut ätzend.

„Das war ja hässlich“, meldete sich Collin, mein Mitbewohner im Studentenwohnheim, zu Wort. Ich zuckte zusammen, denn ich hatte keine Ahnung, wo er plötzlich herkam.

„Scheiße“, stieß ich aus. „Wie lange stehst du da schon?“

„Lange genug“, sagte er bedeutungsvoll. „Alles okay?“

Ich lachte kurz auf. Wenn man es genau nahm, war gar nichts okay. Allerdings wusste ich nicht, wann überhaupt jemals alles okay gewesen war.

„Klar“, gab ich also nur als Antwort, denn was hätte ich auch sonst sagen sollen? Ich tat immer, als wäre alles in Ordnung, denn anders ging es nicht. Anders durfte es nicht sein.

Ich setzte mein gewohntes Lächeln auf mein Gesicht und widmete mich wieder dem, wofür ich hier war: Basketball.

***

Als Coach Weatherby uns entließ, war ich völlig am Ende. Ich hatte eigentlich immer angenommen, dass ich gut in Form war und bestimmt würde mithalten können. Memo an mich: Ich konnte es nicht. Alle anderen, die neu im Team waren, was im Prinzip nur River, Jace, Brandon, Collin und mich einschloss, sahen ebenfalls so aus, als ob sie jede Sekunde tot umfallen würden. Immerhin hatte ich nicht kotzen müssen, so wie Collin. Der Arme sah immer noch etwas grün um die Nase aus und tat mir jetzt schon leid. Die anderen Jungs im Team meinten allerdings, dass es jedes Jahr mindestens einem passieren würde. Dennoch wünschte ich das niemandem für seinen ersten Tag. Ich ließ mir Zeit und warf noch ein paar Körbe, was ausschließlich strategische Gründe hatte. Ich war sicher nicht so lebensmüde und stellte mich zur gleichen Zeit wie River und Jace unter die Dusche, nur um mir dann einen Kinnhaken einzufangen, weil River der Meinung war, ich hätte Jace angestarrt.

So war ich am Ende der letzte, der in die Dusche trat und hatte meine Ruhe. Als ich wenig später, mit meiner Sporttasche bewaffnet, aus der Halle trat, brannten meine Muskeln, was ich jedoch willkommen hieß. Basketball hatte mich schon immer sehr glücklich gemacht und das tat es auch jetzt noch. Nie bekam ich den Kopf so frei, wie ich es mit einem Basketball in der Hand bewerkstelligen konnte. Ohne diesen Sport wäre ich vermutlich längst durchgedreht.

Draußen war es bereits dunkel und ich reckte mein Gesicht gen Himmel. Ich liebte die Dunkelheit, denn das hieß, dass die Sterne sich endlich zeigten. Insgeheim hatte ich eine kleine Schwäche für Astrologie und alles, was mit dem Weltraum zu tun hatte. Mein Grandpa hatte mir sogar mal einen Stern zum Geburtstag geschenkt, der nach mir benannt war, das wohl weltbeste Geschenk, das mir jemals jemand gemacht hatte. Und nun, da mein Grandpa tot war, war er wohl selbst einer der Sterne am Himmel. Ein heftiger Kloß im Hals hinderte mich am Schlucken, als meine Gedanken zu meinen kleinen Brüdern wanderten. Quinn und Caleb waren Zwillinge und wohl die liebenswürdigsten und zeitgleich nervigsten Kreaturen des Planeten. Und Quinn war krank. Er hatte einen angeborenen Herzfehler, der ständig wie ein Elefant im Raum stand. Es war bereits im Alter von zwei Jahren festgestellt worden, als einem Arzt bei einer Routineuntersuchung die Herzrhytmusstörungen aufgefallen waren. Etliche Checks und Arztaufenthalte später hatten wir dann Gewissheit gehabt – Quinn hatte HCM. Sein Herzmuskel war nicht in Ordnung, eine Herzscheidewand war viel zu dick und eine Herzkammer deshalb viel zu klein. Genau genommen verstand ich auch nicht immer alles von dem, was die Ärzte uns erzählten. Was ich aber klar und deutlich kapierte, waren Quinns Krampfanfälle und die Herzrhythmusstörungen. Ständig wurde er überwacht, trug dauerhaft ein EKG, was für einen Sechsjährigen so ziemlich die größte Strafe überhaupt war. Er hatte bereits kleinere Herzinfarkte hinter sich und die Situation wurde ernster und ernster, je älter er wurde. Und ich konnte nichts tun, um ihm zu helfen, ich war völlig machtlos.

Wieder einmal checkte ich mein Handy, nur um erleichtert festzustellen, dass Mom mir nicht geschrieben hatte. Das war gut. Keine Nachrichten waren gut, schlimm wurde es, wenn sie schrieb.

Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich nicht aufs College gegangen und hätte mir einen Job gesucht, um Mom zu unterstützen. Ich hatte allerdings schnell gelernt, dass es ihr am besten ging, wenn sie sich um mich keine Sorgen machen musste. Meine Zusage zum College hatte sie so dermaßen erleichtert und glücklich gemacht, dass ich gar nicht anders gekonnt hatte, als den Platz anzunehmen. Da die University of Oregon auch noch die Uni war, die meinem Zuhause am nächsten lag, hatte das ebenfalls perfekt gepasst. Und nun war ich hier und meine Familie nicht. Mom kümmerte sich allein um die Zwillinge, wie sie es immer getan hatte, seit Dad gestorben war. Sie tat es, ohne sich zu beschweren. Nebenbei hielt sie uns über Wasser, indem sie vierzig Stunden die Woche arbeiten ging. Mit Hilfe der Lebensversicherung meines Dads, die meine Collegegebühren und den momentanen Unterricht der Jungs abdeckte, kamen wir halbwegs klar. Um meinen Lebensunterhalt am College bezahlen zu können, hatte ich mir einen Job in einem kleinen Donutladen gesucht. Der Name war zwar seltsam, doch die Bezahlung war klasse. Dass meine Uniform dafür rosa war, störte mich nicht im Mindesten.

Meinen Gedanken nachhängend, setzte ich mir meine Kopfhörer auf und ließ mich von Greenday beschallen, als ich über den Campus lief, auf dem für diese Uhrzeit noch ziemlich viel los war. Sekündlich wurde mir bewusster, dass ich allein hier herumlief. Ich hatte nicht das Glück, mit meinen Freunden hier zu sein, so wie River, Jace und dieser Vollclown Brandon es hatten. Meine besten Freunde studierten zusammen in Kalifornien und schickten ungefähr hundert Mal am Tag Bilder vom Strand. Ohne die beiden wäre ich vermutlich durchgedreht.

Bei meinem Wohnheimgebäude angekommen, kramte ich bereits meinen Schlüssel aus der Tasche. Ich konnte nicht behaupten, dass ich dem Wohnheim besonders viel abgewinnen konnte. Es war alles beengt und sprudelte nun auch nicht sonderlich vor Sauberkeit über. Leider zog sich das auch durch die Zimmer. Das Erste, was ich bei meinem Einzug gemacht hatte, war eine Grundreinigung. Leider hatte ich mit Collin auch nicht unbedingt die Mitbewohner-Lotterie gewonnen. Klar, ich mochte ihn gerne, aber er war ein ziemlicher Chaot, um es vorsichtig auszudrücken.

Genervt stöhnte ich auf, als ich unser Zimmer betrat. Auf Collins Seite des ohnehin schon schuhkartonkleinen Raums türmten sich die Energydrinkdosen. Ein noch offenstehender Pizzakarton mit Resten darin stand auf seinem Schreibtisch und seine Dreckwäschehaufen konkurrierten miteinander, wer höher war. Das alles hatte Collin in einer einzigen Woche geschafft. In der ich zwischendurch immer wieder seinen Scheiß weggeräumt hatte, da mir nur das blieb oder im Müll zu ersticken. Seine Wäsche ließ ich, wo sie war, denn sicher würde ich keine seiner Unterhosen anfassen.

Leider konnte man dem Typen nicht mal was übelnehmen. Mit seiner verpeilten Art und seinem unschuldigen Grinsen musste man ihn einfach mögen. Ob man nun wollte oder nicht.

Mit ein paar Handgriffen hatte ich das schlimmste Chaos beseitigt und ließ mich kurz darauf auf mein Bett fallen.

Ich war erschöpft. Dieser Tag war unglaublich kräftezehrend gewesen. Die Begegnung mit Jace warf mich mehr aus der Bahn, als ich zugeben wollte. Und noch mehr störte mich, wie dieser Brandon auf mich reagiert hatte. Wie er mir die ganze Schuld in die Schuhe geschoben hatte, obwohl ich nicht mehr getan hatte als mich zu verknallen und mich ein einziges Mal wie ein Arschloch zu verhalten. Dieser River benahm sich 24/7 wie ein Wichser und der wurde von allen vergöttert. Und Brandon redete den ganzen Tag nur Mist.

Keine Ahnung, weshalb meine Gedanken nun ausgerechnet bei ihm landeten. An seiner netten Persönlichkeit konnte es schon mal nicht liegen. Aber seine grauen Augen waren einfach sehr … einprägsam.

O Gott.

Über mich selbst die Augen verdrehend, schnappte ich mir meinen Laptop und startete Netflix.

Kapitel 3

Brandon

Leise vor mich hinmurmelnd verließ ich unser Apartment und joggte gutgelaunt die Treppe runter. Nachdem der Vormittag entspannt gestartet hatte, stand in weniger als einer Stunde Training auf dem Plan. Eigentlich hätte ich noch genügend Zeit gehabt, doch die eindeutigen Geräusche aus dem Zimmer meiner Mitbewohner hatten mich dann doch dazu bewogen, einfach schon mal früher aufzubrechen und ein paar Körbe zu werfen. Außerdem war die Stimmung beim Training diese Woche dermaßen beschissen gewesen, dass ich mich darauf freute, ein paar Minuten Entspannung in der Halle zu haben. Rund um die Uhr war ich damit beschäftigt, River davon abzuhalten, Blake eine runterzuhauen und das war genau genommen extrem nervig. Da River aber nun mal mein bester Freund war, konnte ich ihn nicht im Stich lassen. Leider genoss ich es gleichermaßen Blake zu provozieren und heizte die Stimmung damit nur noch mehr an, was mir schon zahlreiche mahnende Blicke von Jace eingehandelt hatte. Er war der ruhige, besonnene und friedliebende Typ. Wenn er konnte, hielt er sich von Ärger fern. Zu seinem Unglück zogen River und ich Ärger aber magisch an, vor allem River. Wir drei hatten bereits ein Krisengespräch geführt, in dem Jace uns eindringlich gebeten hatte, es gut sein zu lassen. Er und River waren widerlich glücklich, was selbst ein Blinder sehen konnte. Wir hatten versprochen uns zusammenzureißen und … naja. Wenn ich sagen würde, dass ich mich seitdem bemüht hatte, dann war das eine glatte Lüge.

Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und lief über die Ampel beim Fluffy-Donuts. Ich reckte mein Gesicht in Richtung der Sonne und genoss die Wärme, die von ihr ausging. Sommer war einfach das Größte und es ging nichts über einen wolkenlosen Tag, selbst wenn ich einen Großteil davon in der Halle verbringen würde. Fröhlich vor mich hin summend, lief ich über den grünen Campus. Alles in allem war es hier ziemlich cool und hübsch gehalten mit den vielen Grünflächen und stylisch beschnittenen Büschen. Nur die Gebäude wollten nicht recht zusammenpassen. Moderne Hightech-Gebäude wechselten sich mit alten, klassischen Backsteingebäuden ab. Mir gefiel es trotzdem.

Von weitem kam das Knight Law Center in Sicht, unsere große Basketballhalle. Wie jedes Mal durchlief mich ein Hauch von Aufregung, wenn ich daran dachte, dass ich nun hier spielte.

Das Hayward Field ragte dahinter in die Höhe und war nicht weniger beeindruckend. Ein ganzes Stadion für die Leichtathleten, die ich wahrlich für ihre Disziplin bewunderte. Sicherlich würde ich mir dort den ein oder anderen Wettkampf ansehen, allein schon, weil das Stadion an sich überwältigend war.

Ich riss die Tür zu der Halle auf und wurde von der Kühle der Klimaanlage begrüßt. Als ich meinen Schrank in der Umkleidekabine öffnete, hielt ich wie immer eine Sekunde inne, um mein Trikot anzusehen, auf dem mein Name stand. Niemals hätte ich gedacht jemals hier zu stehen. Wenn mein Dad mich vor einigen Jahren nicht zu einem Spiel der Lakers mitgenommen hätte, wäre diese Leidenschaft zum Basketball vermutlich nicht ausgebrochen. Doch Kobe Bryant hatte mich eines Besseren belehrt. Mit seiner Art zu spielen hatte er mich innerhalb von Sekunden mitgerissen und dafür gesorgt, dass ich nicht mehr ruhig auf meinem Platz hatte sitzen können. Nach dem Spiel hatte ich die Möglichkeit gehabt, zwei Worte mit ihm zu wechseln und mein erstes Trikot signieren zu lassen. Dieses zierte noch heute die Wand in meinem Zimmer in Grove Hill und war mein Heiligtum. Von diesem Tag an waren nicht nur die Lakers meine Lieblingsmannschaft, sondern auch Kobe Bryant mein Vorbild, mein Held und mein Superstar. Als er gestorben war, hatte ich eine komplette Nacht lang in mein Kissen geheult.

Nun trug ich mein eigenes Trikot und ein fettes Grinsen im Gesicht, als ich die Halle betrat. Was mir kurz darauf gefror. Ich war nicht allein. Am Rand der Halle stehend beobachtete ich Blake, wie er mit dem Basketball spielte und einen Korb nach dem nächsten warf. Er war völlig versunken und trug nicht, wie sonst, dieses ekelhafte Prinz-Charming-Grinsen im Gesicht. Noch hatte er mich nicht bemerkt und ich hatte in diesem Moment aus mir unerfindlichen Gründen keine Lust, auf mich aufmerksam zu machen. Ich starrte ihn an wie ein Stalker und fühlte mich in dieser Rolle viel zu wohl.

Blake war verschwitzt, was darauf hindeutete, dass er schon eine Weile trainierte. Seine Frisur war anders. Er trug einen Sidecut. Auf der einen Seite waren seine Haare raspelkurz und auf der anderen fielen sie ihm in die Stirn. Blake sah verdammt attraktiv aus, was wirklich nervig war. Zum Glück wusste er nicht, dass ich es wusste.

Ich verlor mich völlig in dem Anblick vom verschwitzten Blake, dessen Bizeps sich beim Spielen ständig anspannte. Fehlte nur noch, dass ich anfing zu sabbern.

Wieso fand ich ausgerechnet ihn so heiß?

Mir war klar, dass ich ihn hassen musste. River hasste ihn, also tat ich das ganz automatisch auch. Er hatte meinen besten Freund verletzt und allein dafür verdiente er, dass man ihm sein Lieblingseis wegaß.

Zeitgleich war es unfair, dass er das Gesicht des jungen Leonardo di Caprio und einen sportlichen Körper noch dazu besaß.

Wurde Zeit, dass er wieder anfing zu grinsen, denn dann verlor er sofort einiges an Attraktivitätspunkten für mich.

„Musst du eigentlich überall sein?“, rief ich laut, als ich lässig auf das Feld trat und mir einen Basketball schnappte, um ihn zu dribbeln.

Blake zuckte zusammen, bevor er sich zu mir umdrehte. Er stöhnte genervt auf, was mich wiederum sehr glücklich machte.

„Ich trainiere, wenn’s dir nichts ausmacht.“

Zack, da war es. Das gewohnte, unbekümmerte Grinsen lag wieder auf seinem Gesicht. Als wäre ich eine Oma, der er bei den Einkäufen half.

„Doch, klar macht mir das was aus“, antwortete ich frech.

Dachte Blake wirklich, dass ihm irgendjemand dieses Grinsen abkaufte? Ich war selbst ein sehr fröhlicher Mensch und grinste logischerweise viel, aber das, was er da tat, war gruselig. Mich bezeichnete jeder als frech, er hingegen mimte den Schwiegermuttertraum.

Blake verdrehte nur die Augen und wandte sich wieder seinem Basketball zu. Ich machte mich daran ihn weiter zu nerven, indem ich jedes Mal den Moment abpasste, wenn er den Ball warf. So knallte meiner direkt dagegen und verhinderte, dass er einen Korb machte. Anfangs tat er noch so, als würde es ihn nicht kümmern, doch man sah ihm die Anspannung deutlich an. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus.

„Was ist verdammt nochmal dein Problem, Brandon?“, fuhr er mich an, das Gesicht wütend verzogen. Keine Spur mehr von dem gewohnten Grinsen.

„O, keine Ahnung, was du meinst. Ich spiele hier nur so vor mich hin“, erwiderte ich betont fröhlich.

„Ach bitte, du hattest von der ersten Sekunde an ein Problem mit mir!“ Blake wirkte richtig aufgebracht.

Ich zuckte mit den Schultern. „Sicher, das ist doch verständlich.“

„Bitte was?“, fragte er fassungslos nach. Der Basketball, den er eben noch in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden und rollte einige Meter weit weg, was ihn nun nicht mehr kümmerte.

„Du hast in die Beziehung meiner besten Freunde gefunkt.“

„Einen Scheiß habe ich!“, zischte er mich an und riss wütend die Arme in die Luft. „Ich wusste nicht mal von den beiden, als das mit mir und Jace lief. Zu dem Zeitpunkt waren sie außerdem überhaupt nicht zusammen, also was habe ich bitte falsch gemacht, außer mich ein einziges Mal wie ein Arsch zu verhalten?“

„Siehst du. Das reicht doch.“ Wieder zuckte ich mit den Schultern.

„Bullshit! Dein toller Freund River benimmt sich am laufenden Band wie ein Wichser.“

Sieh an, er konnte ja richtig fluchen. Wenn das die alten Damen hören würden, die er vermutlich ehrenamtlich im Altenheim betreute. Das würde zu ihm passen.

„River ist der beste Typ, den es gibt“, verteidigte ich ihn automatisch, aber ich meinte es auch genauso.

„Bitte, der ist ein Psychopath, der mir einfach so mitten im Spiel die Nase gebrochen hat.“

Bei der Erinnerung musste ich ein wenig schmunzeln. Wir hatten gegen die High School-Mannschaft von Blake gespielt, kurz nachdem River sich seiner Gefühle für Jace im Klaren gewesen war und er ihn mit Blake beim Rummachen erwischt hatte. Es war River also, gelinde gesagt, ziemlich beschissen gegangen. Genau genommen war er am Ende gewesen. Da er generell große Schwierigkeiten mit seiner Impulskontrolle hatte, hatte er kurzerhand seinen Ellbogen ins Blakes Gesicht befördert und war dafür vom Platz geflogen.

„Das war doch nur ein Unfall“, sagte ich leichthin, auch wenn selbst mir klar war, dass das kompletter Schwachsinn war.

„O bitte, jetzt willst du mich komplett verarschen! River ist nichts weiter, als ein beschissener, verwöhnter Bürgermeisterjunge, der einfach nur gelangweilt und deshalb wahrscheinlich aggressiv ist.“

Verflogen war meine lustige Stimmung, als mein Puls automatisch höherschlug und mein Blut zu kochen begann. Mich brachte nicht vieles aus der Ruhe, aber wenn jemand etwas gegen meine Freunde sagte, sah ich rot.

Bedrohlich ging ich einige Schritte näher auf ihn zu.

„Pass gefälligst auf, was du sagt, Blakey-Boy. River ist mein bester Freund.“

Er wich nicht von mir zurück, sondern kam ebenfalls näher auf mich zu, bis sich unsere Nasenspitzen fast berührten.

„Augen auf bei der Freundeswahl, würde ich sagen“, knurrte er mich an, die Brauen zusammengezogen.

Plötzlich waren wir uns viel zu nah, die Luft zwischen uns schien elektrisch aufgeladen zu sein. Ein Prickeln überkam mich am ganzen Körper und bescherte mir eine Gänsehaut. Ich spürte seinen schnellen Atem auf meiner Wange und vernahm seinen Duft nach Himbeeren. Wieso zum Teufel duftete dieser Typ nach Himbeeren? Am liebsten hätte ich ihn abgeleckt, einfach weil dieser Duft mir völlig die Sinne vernebelte.

Ich war sauer, weil Blake eben meinen Freund beleidigt hatte und ich war wütend, weil hier gerade irgendwas passierte, das nicht passieren sollte. Nicht passieren durfte. Doch ich konnte mich nicht rühren. Auch Blake schien wie erstarrt zu sein und sah mich überrascht an. Ich konnte die Augen nicht von ihm nehmen. Seine neue Frisur stand im Kontrast zu seinem Engelsgesicht und verlieh ihm etwas badboy-mäßiges.

Bitte lass ihn das hier nicht auch fühlen!

Ich für meinen Teil wollte es tief in mir verschließen und auf ewig abstreiten.

Sein Blick fiel auf meine Lippen, was mich verwirrt blinzeln ließ. Mich überkam das Bedürfnis ihn zu berühren, ihn zu küssen, ihn …

Fuck!

Ich schüttelte leicht den Kopf und trat einen Schritt zurück. Dies schien auch ihn zur Besinnung zu bringen. Plötzlich lag das dämliche Grinsen wieder auf seinem Gesicht, was mich ohne Ende ankotzte.

„Rede nie wieder so über River, du Penner. Sonst bekommen wir beide Probleme“, raunte ich in seine Richtung und schnappte mir meinen Ball vom Boden, um zu dribbeln. Ich tat so, als hätte mich diese Situation eben völlig kaltgelassen, obwohl ich viel eher eine kalte Dusche benötigte. Gleichermaßen war ich völlig verwirrt.

Blake war unglaublich nervig. Er redete schlecht von meinem besten Freund und war ansonsten einfach nur fake. Sein hübsches Gesicht verschandelte er mit diesem aufgesetzten Grinsen. Also warum zum Teufel hatte er diese Wirkung auf mich?

„Wieso bin ich eigentlich der Böse in dieser Geschichte?“, fragte er, die Hände nach oben gerissen.

Ich musterte ihn betont abschätzig von oben bis unten, meine Antwort in die Länge ziehend.

„Weil das eben nun mal so ist. Gewöhn dich dran, Blakey-Boy.“

Mit diesen Worten wandte ich mich von ihm ab und lief zum entgegengesetzten Korb auf der anderen Seite des Platzes. Für mich war das Gespräch beendet. Ich war ohnehin damit beschäftigt, lässig Körbe zu werfen und so zu tun, als hätte mich das eben nicht völlig aus dem Konzept gebracht. Ich war Brandon West. Nichts brachte mich aus dem Konzept.

Und dennoch stand ich mit einer Gänsehaut hier in der Halle.

***

Das Training verlief so hart, dass ich keine Zeit mehr hatte, mir über Blake Gedanken zu machen. Selbst die Stammspieler schnauften und verzogen verbissen die Gesichter. Ich hatte das Gefühl, jede Sekunde zu krepieren. Gleichermaßen tat es aber unheimlich gut. Der Schweiß lief mir in Strömen über den Rücken und die Schläfen, während mein Atem stoßweise ging.

„So, Ladies. Ein paar Sprints zum Abschluss – stellt euch an der Linie auf. Ich will euch dreißigmal an der gegenüberliegenden Linie sehen und weil sie so schön ist, berührt ihr die mit der Hand. Da ihr allerdings Basketballer seid, werdet ihr dies natürlich nicht machen, ohne mit einem Ball zu dribbeln“, donnerte die Stimme des sonst so freundlichen Coach Weatherby durch die Halle.

„Scheiße, ist das sein Ernst? Sprinten und Dribbeln? Nach diesem Training, das wir gerade hatten?“, fragte ich an Jake und Jeff gewandt und bemerkte selbst, wie verzweifelt meine Stimme dabei klang. Viel zu sehr hoffte ich, dass der Coach nur einen Witz machte und da die Jungs ihn schon wesentlich länger kannten, würden sie es sicherlich wissen.

Jake verzog sein Gesicht. „Ich würde wirklich gerne nein sagen. Kann ich aber nicht.“ Auch er war völlig außer Atem. Wir schnappten uns jeder einen Ball, was das Einzige war, das mir etwas Kraft schenkte. Der Ball in meinen Händen fühlte sich gut und richtig an.

Wir begannen mit den Sprints, die mir völlig den Rest gaben. Ab der Hälfte musste ich die Übelkeit bekämpfen und wenn ich mich so in der Halle umsah, stellte ich fest, dass in allen Gesichtern das gleiche zu lesen war – Überanstrengung.

Dennoch war ich zufrieden. Das Training war das Beste, seit wir hier am College waren. Jeder von uns war vollkommen fokussiert. Auch wenn ich zu Beginn noch etwas von der Rolle wegen der Begegnung mit Blake gewesen war, war auch ich bei der Sache. Es schien eine Ruhe im Team eingekehrt zu sein, von der ich nicht wusste, woher sie kam. Selbst River war komplett auf sich konzentriert und verschwendete seine Zeit nicht wie sonst damit, Blake böse Blicke zuzuwerfen oder vernichtende Worte in seine Richtung zu schicken. Und ich ersparte mir heute weitere provozierende Kommentare.

Meine Muskeln brannten mittlerweile wie Feuer. Jedes einzelne Mal, wenn ich die Linie erreichte und mich nach unten beugen musste, um sie zu berühren, war ich sicher, dass ich es nicht wieder nach oben schaffen würde. Doch es gelang mir. Ich legte die letzten, rettenden Meter dribbelnd zurück. Der Basketball schien fest mit mir verankert zu sein. Zu keiner Sekunde hatte ich straucheln müssen, zu keinem Zeitpunkt war ich kurz davor gewesen den Ball zu verlieren. Als ich die Linie überquerte, schlich sich ein Grinsen auf mein Gesicht, auch wenn mein Körper danach verlangte mich einfach mit ausgestreckten Armen fallen zu lassen. Ich dribbelte weiter in Richtung Korb, setzte zu einem Sprungwurf an und versenkte den Ball gezielt. Danach stützte ich mich keuchend auf meinen Oberschenkeln ab. Das Zittern meiner Muskeln tat sein Übriges.

Zu meiner Zufriedenheit war ich einer der ersten, die fertig waren. River gesellte sich zu mir, das Gesicht knallrot, ebenfalls völlig verschwitzt. Allerdings wirkte er nicht so, als würde er jede Sekunde krepieren.

„Gut gemacht, Jungs“, sagte Coach Weatherby und klopfte uns gleichzeitig auf die Schulter. Dabei lächelte er, bevor er sich wieder zu denjenigen umwandte, die noch mit den Sprints beschäftigt waren. Er klatschte in die Hände und rief ihnen zu, dass sie sich beeilen sollten. Mein Herzschlag beruhigte sich allmählich, auch wenn ich noch immer das Gefühl hatte, dass ein Bus mich überrollt hatte.

Als der Coach wenig später das Training offiziell beendete, durchfuhr mich eine Welle der Erleichterung. So schnell ich konnte, lief ich in die Kabine und stand kurz darauf mit meinen brennenden Muskeln unter der Dusche. Ich schloss die Augen und ließ das Wasser auf meinen Rücken prasseln.

„Was geht noch heute Abend?“, fragte Jake in die Runde. Ich öffnete meine Augen wieder. Seine blauen Haare leuchteten in dem dunkel gehaltenen Raum, der mich völlig irritierte. War eine ausreichende Beleuchtung zu viel verlangt? Mal ehrlich, was dachten die Architekten dieser Halle denn eigentlich? Dass wir uns sonst alle dauerhaft gegenseitig auf den Penis starren würden?

Die meisten Leute behielten ihre Augen in der Dusche oben und selbst wenn man mal ein Ding sah, war das keine große Sache. Immerhin hatten wir alle eins.

Belustigt stellte ich fest, dass Blake wieder nicht hier war. Er ließ sich nach dem Training immer extra viel Zeit und duschte erst, wenn River und Jace fertig waren. Tatsächlich war ich nach der heutigen Situation aber ziemlich dankbar dafür. Auf keinen Fall wollte ich ihn nackt sehen! Oder so ähnlich.

„Wir sollten was trinken gehen“, schaltete sich Jeff ins Gespräch ein, wofür er von allen Seiten Zustimmung erntete. Im Prinzip war ich auch seiner Meinung, aber leider konnten wir heute nicht.

„Hey, ihr habt doch so eine geile große Wohnung, oder?“, richtete Jake das Wort an River, Jace und mich. „Können wir nicht dort eine Runde feiern?“

Es freute mich, dass das anfängliche Blake-Drama nicht dazu geführt hatte, dass die anderen uns blöd fanden. Auch meine Angst, dass es ein Problem für andere sein könnte, dass River und Jace ein Paar waren, hatte sich glücklicherweise nicht bestätigt. Jake hatte scheinbar die vergangenen Jahre genügend Vorarbeit geleistet, was Toleranz anging. In meiner Zeit als Basketballspieler hatte ich schon so einiges mitbekommen und wusste somit, dass es viel zu viele Teams gab, in denen man als schwuler Spieler weder akzeptiert, noch integriert wurde. Auch in der NBA konnte man die geouteten Spieler an einer Hand abzählen – was mit Sicherheit nicht daran lag, dass alle Männer dort hetero waren. Umso dankbarer war ich, dass River und Jace hier bei den Oregon Ducks keine Schwierigkeiten hatten, sondern behandelt wurden wie alle anderen auch.

„Im Prinzip schon. Aber meine kleine Schwester kommt heute und übernachtet bei uns“, antwortete River entschuldigend.

„Richtig. Heute gibt es höchstens einen Disney-Film“, setzte ich grinsend hinzu, was die anderen zum Lachen brachte.

„In eure Studentenbude kommt ein kleines Mädchen?“, fragte Jake belustigt nach.

„Klar, dafür hat sie ja ihr eigenes Zimmer.“

Nun sahen uns alle abwechselnd überrascht an. Was nicht weiter überraschend kam.

„Ernsthaft? Wieso das?“, fragte Collin, Blakes Mitbewohner irritiert nach. Ich hätte ihn gerne blöd gefunden, aber leider gelang es mir nicht.

„Wir haben beschissene Eltern.“ Wie immer war River ein Mann der knappen Worte, doch es schien zu genügen. Einige Jungs nickten verständnisvoll. Sicherlich kannte sich der ein oder andere ebenfalls mit scheiß Eltern aus. Wenn sie auch sicherlich nicht den Hauch einer Ahnung hatten, wie schlimm es bei ihm wirklich gewesen war. Allerdings ging das niemanden etwas an. Es reichte, dass man das Ganze im Internet fand, wenn man nur danach suchte. In Grove Hill war es eine absolute Sensation gewesen. Wochenlang hatten die Medien verrückt gespielt und über nichts anderes mehr berichtet. Sehr zum Leidwesen von River, der alles einfach nur vergessen wollte.

Das Thema war jedenfalls erledigt und wich lockerer Stimmung. Gut gelaunt verließen wir wenig später das Knight Law Center. Es war später Nachmittag und der Campus war dementsprechend belebt. Die ersten Kurse würden nächste Woche beginnen und doch waren bereits die meisten Studenten hier und lebten sich ein. Es hatten schon Einführungsveranstaltungen und Infostände stattgefunden, die ich allesamt ignoriert hatte. Jace hatte River überredet mit ihm zu sowas hinzugehen und so waren die beiden losgezogen und ich hatte in aller Ruhe kochen können. Ich kochte ziemlich gerne, aber nicht in Anwesenheit von River und Jace, die permanent helfen wollten und leider nichts auf die Reihe bekamen. Regelmäßig musste ich mein Essen vor ihnen in Sicherheit bringen.

„Rivi“, ertönte eine glockenhelle Mädchenstimme. Unsere Köpfe fuhren zur Seite, wo eine kleine, glückliche Sadie auf River zu rannte, die gar nicht mehr so klein wirkte, wie noch beim letzten Mal. Ihre hellblonden Haare reichten ihr bis zur Mitte des Rückens und ihre kleine Stupsnase war zum Niederknien. Das blaue Kleidchen, das sie trug, war über und über mit Meerjungfrauen bedruckt. Offenbar hatte da jemand die Piratenphase hinter sich gelassen.

River fing sie auf und wirbelte sie herum. Sadie kicherte glücklich und klammerte sich an ihm fest. Danach fiel sie erst mir und dann Jace in die Arme.

Ha!

Auch wenn Jace sie schon viel länger kannte und er Rivers fester Freund war, mochte sie mich viel lieber als ihn.

Bei den Geschehnissen vor ein paar Monaten, als River von seinem Nicht-Vater zusammengeschlagen wurde, hatte Sadie zusehen müssen. Ich selbst war bei seinem Anblick völlig in meinen Erinnerungen gefangen und wie erstarrt gewesen. Irgendwann hatte ich mitbekommen, was los war und hatte Sadie von dort weggebracht, damit sie das nicht weiter mit ansehen musste. Wir hatten uns beide so sehr aneinandergeklammert und uns Trost gespendet, dass uns seitdem ein unsichtbares Band verband. Wir verstanden einander, auch wenn sie erst sechs Jahre alt war.

Das kleine sture Mädchen weigerte sich seitdem mit einem Therapeuten zu reden. Nur mit mir sprach sie darüber und das eigentlich jedes Mal, wenn wir uns sahen. Sie tat das eher beiläufig, ebenso wie ich die Geschehnisse nicht verschwieg oder versuchte sie zu umgehen. Wir waren einfach ehrlich zueinander. Manchmal war ich vermutlich zu ehrlich, in Anbetracht der Tatsache, dass sie noch so jung war, aber ich machte mir darüber keine Sorgen. Die Kleine war tough und ließ sich von niemandem etwas gefallen.

Selbst mit River oder ihrem leiblichen Vater Lake wollte sie nicht sprechen, weshalb die beiden dankbar dafür waren, dass ich Zeit mit ihr verbrachte. Als wäre das irgendwie eine Last für mich, immerhin vergötterte ich Sadie.

Auch jetzt war sie wieder direkt an meiner Seite und nahm meine Hand. Dabei lächelte sie glücklich. Neben uns unterhielt River sich mit Lake, der Sadie hergefahren hatte. Es war seltsam die beiden zusammen zu sehen, da sie sich unglaublich ähnlich sahen. Lake sah aus, wie eine nicht viel ältere Version von River, nur nicht so verkniffen und muffelig.

Dennoch war es schön zu sehen, dass die beiden gut miteinander auskamen. River hatte eine halbwegs normale Familie weiß Gott verdient.

Ich beschloss, dass das hier zu langweilig für Sadie und mich wurde.

„Hast du Lust Donuts zu besorgen?“, fragte ich sie direkt.

Das glückliche Funkeln und das begierige Nicken brachten mich zum Lachen. Noch ein Grund, warum wir beide uns so gut verstanden – wir waren beide süchtig nach Süßkram.

„Wir gehen Donuts besorgen und sehen uns gleich zu Hause“, wandte ich mich an die Jungs und verabschiedete mich noch kurz bei Lake.

Auch Sadie hopste nochmal zu ihm und gab ihm einen Abschiedskuss.

Hand in Hand machten wir uns auf den Weg zum Fluffy-Donuts. Bei unserem Weg über den Campus erzählte Sadie wie ein Wasserfall von ihrer Schulwoche und ließ dabei kein Detail aus. Glücklich hörte ich ihr zu. Dabei entgingen mir nicht die Blicke, die uns zugeworfen wurden, weibliche Blicke versteht sich. Kleine Kinder waren sowas wie ein Frauenmagnet. Ich war nicht stolz darauf, aber ich hatte die Gelegenheit bereits ein paar Male genutzt. Nicht, dass ich Sadie benutzen würde, um irgendwen aufzureißen, aber geschenkte Gelegenheiten ließ ich nicht verstreichen. Wenn man mit einem kleinen Mädchen unterwegs war, das man abgöttisch liebte, mit der man Blödsinn anstellte und die die meiste Zeit glücklich lachte, dann bekam man haufenweise Telefonnummern zugesteckt. Und sicher war nichts falsch daran diese später dann auch zu benutzen. Jetzt ging es allerdings nur um Donuts. Ich hatte Hunger.

Ich nahm Sadie auf die Schultern und schlenderte zufrieden auf das Fluffy-Donuts zu.