Kapitel 1
River
„River, achte bitte darauf, gerader zu sitzen. Du siehst aus wie Quasimodo, Herrgott“, raunte mein Vater mir zu, während sein Gesicht pure Glückseligkeit verströmte.
Ich unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen und tat, was er von mir verlangte, einfach, weil es den Ärger nicht wert war.
„Besser so?“, fragte ich lächelnd und setzte extra meine liebreizende Stimmlage auf, von der er genau wusste, dass sie gleichbedeutend mit du kannst mich mal war.
Dad war ein absoluter Profi, der zu jedem Zeitpunkt genau wusste, was er tat. Hier in der Öffentlichkeit würde er niemals das Gesicht verziehen. Leider.
„Vielen Dank, dass Sie mich zum Essen eingeladen haben, Mr und Mrs Scott“, meldete sich nun auch meine Freundin Penelope zu Wort, die direkt neben mir saß und unter dem Tisch meine Hand hielt.
Wieso standen Mädchen bloß auf dieses Händchenhalten?
„Ist uns eine Freude, Schätzchen. Du gehörst doch schon zur Familie“, antwortete meine Mutter mit einem strahlenden Lächeln, von dem ich wusste, dass es ehrlich war. Meine Mom liebte Penelope und hätte fast vor Freude geweint, als ich ihr vor ein paar Monaten erzählt hatte, dass wir ein Paar waren.
„Die Scotts und die Chamberlains passen eben in jeder Hinsicht wunderbar zusammen“, sagte Dad genau so laut, dass ihn auch ja alle anderen Gäste des überteuerten, französischen Restaurants hören konnten. Es war ihm wichtig, gesehen und gehört zu werden, schließlich hatte der Wahlkampf begonnen. Sollte bisher niemand mitbekommen haben, dass wir hier waren, dann taten sie es spätestens jetzt.
Ich wandte den Blick von meinen Eltern ab und schielte zu Penelope. Auf ihren leicht geschminkten Lippen lag ein Lächeln, während sie sich mit meiner Mom über das nächste Charity-Projekt unterhielt, das demnächst anstand und das meine Eltern ausrichteten, um auch die sozial eingestellten Wähler zu erreichen. Mein Vater war total konservativ und hatte zwar die Wählerstimmen der konservativen Wähler sicher, diese reichten aber nicht, um zu gewinnen. Meine Freude auf diese Wohltätigkeitsveranstaltung war so groß, dass ich mich am liebsten jetzt schon von einer Brücke gestürzt hätte. Öffentliche Veranstaltungen waren nicht mein Ding, denn dort ließ Dad immer die perfekte Familie heraushängen. So wie bei diesem Mittagessen hier.
Penelope strich sich eine Strähne ihrer glänzenden, blonden Haare hinter das Ohr und lachte.
„Was sagst du dazu, River?“, fragte sie nun direkt an mich gewandt.
Ich schüttelte leicht den Kopf und blinzelte sie verständnislos an. „Äh …“
„Du hast mir nicht zugehört, oder?“ Pen unterdrückte ein Grinsen.
„Doch, klar.“
„Okay.“ Sie kicherte. „Was ist denn dann deine Meinung dazu?“
Abwartend und mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck sah sie mich an und nahm dabei betont einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Sie war unheimlich hübsch, wenn sie so lächelte.
Natürlich hatte ich nicht zugehört. Fieberhaft überlegte ich, was ich antworten sollte. Leider hatte ich bereits aufgegessen und konnte somit keine Zeit mit Kauen schinden.
„Ich sehe das genauso wie du!“ Das war im Zweifel doch immer eine gute Antwort.
Penelope lachte laut auf, ebenso wie meine Mom. Verwirrt sah ich zwischen ihnen hin und her. Verschwörerisch grinsten die beiden sich an, als wären sie die besten Freundinnen und hätten sich gegen mich verschworen. Irgendwie war es gruselig, dass sich meine Mom und meine Freundin so gut verstanden.
Ich nutzte die Gelegenheit, Penelope meine Hand zu entziehen, verschränkte meine Hände miteinander und lehnte mich mit dem Kinn darauf.
„Du bist also der Meinung, dass dem Sport an den High Schools viel zu viel Gewicht beigemessen wird und der Fokus mehr auf die Fächer, wie Politik, Mathematik oder Naturwissenschaften gelegt werden sollte?“, fragte Pen und musste sich sichtlich das Lachen verkneifen.
„Fuck, nein!“, antwortete ich geschockt.
Wer dachte denn so einen Mist?
„River“, zischte mein Vater mir zu. „Achte auf deine Ausdrucksweise.“
Der Griff um meine eigenen Finger wurde automatisch fester, doch sonst zwang ich mich, ihn zu ignorieren und mir nichts anmerken zu lassen.
„Der Fokus auf dem Sport ist genau richtig“, sagte ich und zwinkerte meiner Freundin zu.
„Als Captain des Basketballteams solltest du das wohl auch so sehen. Trotzdem könntest du mir beim nächsten Mal durchaus zuhören.“
„Das ist nicht unbedingt seine Stärke“, mischte sich Dad schon wieder ein. Er klang, als hätte er einen Witz gemacht, doch leider wusste ich nur zu gut, dass er es ernst meinte. Pen aber nicht, denn sie kicherte, was ich ihr nicht einmal verdenken konnte. Immerhin wusste sie nicht, wie er wirklich war.
„Wenn das nicht Bürgermeister Scott ist“, riss mich die Stimme einer älteren Lady, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, aus meinen Gedanken. Dad schien sie zu kennen, denn er begrüßte sie freudestrahlend und stand sogar auf, um ihre Hand zu schütteln. Heuchler.
„Bürgermeister Scott, wir müssen dringend noch einmal über die geplante Verschönerungsaktion des Marktplatzes reden“, fuhr sie fort.
„Unbedingt. Vereinbaren Sie doch direkt einen Termin mit meiner Assistentin. Sie wissen, wie sehr mir dieses Projekt am Herzen liegt. Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie diesen Beitrag für uns, für Grove Hill, leisten“, antwortete mein Vater.
Während die alte Lady verzückt das Gesicht verzog, musste ich den Impuls unterdrücken, auf den Tisch zu kotzen. Dads aufgesetztes Getue war nicht zu ertragen.
„Sie sind großartig. Wie ich sehe, essen Sie mit ihrer Familie.“
Ach was, Sherlock.
Ziemlich penetrant starrte sie dabei ausschließlich Penelope und mich an. Gelassen starrte ich zurück. Mit den Jahren hatte ich gelernt, ein Pokerface aufzusetzen und mein Innerstes in mir zu verbergen. Als Sohn des Bürgermeisters stand ich viel zu oft im Zentrum der Aufmerksamkeit, wobei jedes Verhalten meinerseits auseinandergenommen und analysiert wurde.
„Ach, sie wissen doch, wie wichtig die Zeit mit der Familie ist. Und da mein Sohn seine Mannschaft verfrüht in die Playoffs gebracht hat, wollten wir das unbedingt noch gebührend feiern.“
Soweit ich mich erinnerte, hatte er meinen Sport heute Morgen noch als völlig unbedeutend und lächerlich hingestellt. Aber jetzt erfüllte es mal wieder seinen Zweck. Die Frau war völlig außer sich vor Freude, so als würde es sie persönlich betreffen. Ich bezweifelte, dass sie auch nur ein Spiel meiner Mannschaft gesehen hatte.
„Sie müssen so stolz sein.“
„Sie glauben gar nicht, wie sehr. River ist ein großartiger Junge.“
Das waren die schwersten Momente. Ich schluckte. Nach all der Zeit sollte es mich nicht mehr treffen, wenn er so etwas sagte, doch das Gegenteil war der Fall. Wann immer Fremde um uns herum waren, gab er mit mir an, als wäre ich ein Zirkuspony. Er beteuerte, wie stolz er war und wie sehr er mich liebte. Alles in allem das genaue Gegenteil von dem, was tatsächlich im Hause Scott ablief.
Ich atmete tief durch und biss mir auf die Zunge. Diese aufgesetzten Essen in der Öffentlichkeit kosteten mich einiges an Nerven und machten mich vor allem wütend.
„Wie ich sehe, ist auch Ihre bezaubernde Freundin hier, River“, quatsche sie nun direkt mich an. Ein weiteres Mal atmete ich durch. Wieso sprach diese Frau die ganze Zeit Dinge an, die vollkommen offensichtlich waren? Da es keine Option war, ihr die Zunge rauszustrecken, versuchte ich mich an einem Lächeln, das mir wohl nicht so ganz gelingen wollte. Jedenfalls entnahm ich das dem gequälten Gesichtsausdruck meiner Mom.
„Sind die beiden nicht hinreißend?“, übernahm sie für mich. Sie wusste, wie sehr ich es hier hasste und dass ich auch nicht mit der Frau reden wollte. Ich wollte nicht mal hier sein.
Mom hingegen wusste ganz genau, was zu tun war. Mit ihrem perfekt sitzenden, schwarzen Hosenanzug, dem kurz geschnittenen, dunkelblonden Bob und dem No-Make-up-Look, von dem ich wusste, dass er sie morgens fast eine Stunde kostete, strahlte sie Vertrauen aus und schüchterte, wie die meisten Frauen in ihrer Position, nicht ein. Ihr warmes Lächeln tat sein Übriges. Mann, es war kein Wunder, dass ganz Grove Hill unsere Familie für perfekt hielt.
Am Arsch!
Von perfekt war ich verdammt weit entfernt. Mein Leben war zum Kotzen, diese Familie war zum Kotzen und allen voran war mein Dad zum Kotzen. Und dennoch spielte ich meine Rolle.
„Ein Traumpaar die zwei.“
Mein Kopf fuhr zu Penelope herum und unsere Blicke trafen sich. Ihre Wangen waren leicht gerötet, doch man sah ihr an, wie glücklich sie diese Worte machten. Pens Dad war der Stellvertreter meines Vaters und all das, was ich an diesem Theater hier verabscheute, liebte sie. Und während mir so ziemlich am Arsch vorbeiging, ob dieser Lady gefiel, dass wir zusammen waren, freute es Pen.
„Seit wann sind sie denn eigentlich schon ein Paar?“, fragte die Frau meine Mom.
„Seit sechs Monaten“, grätschte ich dazwischen, weil mein Geduldsfaden so langsam, aber allmählich überstrapaziert war, wofür ich einen scharfen Blick von Dad kassierte.
„Nicht so bescheiden, Schatz“, winkte Mom ab. „River und Penelope kennen sich, seit sie kleine Kinder waren und haben bereits im Sandkasten zusammengespielt. Immer hatten sie die Köpfe zusammengesteckt. Sie hätten sehen müssen, wie die beiden sich immer angesehen haben.“ Moms verträumter Blick legte sich auf uns. Wahrscheinlich malte sie sich gerade aus, wie unsere Kinder einmal aussehen würden. Allein der Gedanke reichte aus, um mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen zu lassen.
„Eine Buddelkastenliebe, das ist ja wundervoll!“ Jetzt klatschte die alte Lady auch noch begeistert in ihre faltigen Hände. Das Geräusch ließ mich zusammenzucken. Ihre weißen Haare, die sie zu zwei Zöpfen gebunden trug, flogen auf und ab. Ich konnte nicht anders, als sie verstört anzublinzeln.
„Wir erwarten Großes von den beiden“, säuselte mein Vater dazwischen, was man durchaus als liebevoll hätte auffassen können, hätte sein scharfer, warnender Blick dabei nicht auf mir gelegen.
Mom schmückte währenddessen die Beziehung von Pen und mir weiter aus und ich ließ sie machen. Es hörte sich an, als wäre schon immer vorherbestimmt gewesen, dass wir ein Paar werden würden und vielleicht stimmte das sogar. Pen war immer meine Verbündete gegen Preston, die Pappnase, gewesen. Ihr Bruder war ein nerviger Streber, der von meinem Dad stets gegen mich benutzt wurde. Mit niemandem wurde ich so oft verglichen, wie mit ihm.
Pen hingegen war einer der nettesten Menschen, die ich kannte, also auch das Gegenteil von mir. Und sie war Captain der Cheerleader, womit wir so ziemlich jedes Klischee bedienten.
„Wieso hat es denn so lange gedauert, bis die beiden ein Paar geworden sind?“, quetschte die nervige Frau weiter meine Mom aus. Ich konnte doch nicht der Einzige sein, der sie tierisch unhöflich fand.
Diesmal sah mein Dad wieder seinen Moment zum Strahlen.
„Sie wissen doch, wie das mit den Männern ist. Bis wir unseren Mut zusammennehmen können, einer schönen Frau unsere Gefühle zu gestehen, dauert es seine Zeit.“
Albernes Gekicher von allen Seiten. Mittlerweile hörte schon das halbe Restaurant zu und ich wollte einfach nur weg. Dad war völlig in seinem Element. Seit der Wahlkampf für die Wiederwahl begonnen hatte, war ohnehin alles einfach nur noch schrecklich. Und mir fiel es zunehmend schwerer, diese alberne Tirade mitzuspielen.
„Wo ist denn eigentlich Ihre Tochter, Bürgermeister Scott?“ Ich konnte gar nicht anders als die alte Lady mit hochgezogener Augenbraue anzusehen. Mann, war die Frau neugierig.
Erwartungsvoll sah ich meinen Dad an, als ich meine Arme verschränkte und mich in meinem Stuhl zurücklehnte.
„Sie …“, setzte er mühsam um Worte ringend an, konnte seinen Satz jedoch nicht zu Ende bringen. Sein Blick fiel auf Mom, wobei sein Zahnpasta-Lächeln keine Sekunde verrutschte. Man musste ihn schon so gut kennen, wie ich, um zu erkennen, dass er in der Klemme steckte. Der Mistkerl hatte keine Ahnung, wo seine Tochter war. Mir wurde schlecht.
Während er wahrscheinlich kaum bemerkt hatte, dass sie nicht hier war, vermisste ich meine kleine Fee wie verrückt. Sadie war fünf Jahre alt und mein Ein und Alles. Allein sie war der Grund, warum ich jeden Scheiß zu Hause schluckte, warum ich überhaupt durchhielt.
„Sie ist für mehrere Tage auf einer Kindergartenfahrt“, rette meine Mom meinen Dad aus dieser Situation, wie sie es immer tat, obwohl er es definitiv nicht verdient hatte.
Leider war ich nicht mal überrascht – William Scott kümmerte sich vor allem um eines: sich selbst. Die ganze Stadt verehrte ihn wie einen Helden, dabei war er einfach nur ein Tyrann.
Einer, dem ich es einfach nicht recht machen konnte, egal wie verzweifelt ich es versuchte.
Doch all das behielt ich für mich. Der Einzige, der wusste, wie mein Vater wirklich war, war Jace. Vor ihm hatte ich keine Geheimnisse, denn er war mein bester Freund, mein engster Vertrauter. Mittlerweile drehte sich das Gespräch am Tisch nicht mehr um mein Liebesleben, was ich sehr begrüßte. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche, entsperrte es und ließ es laut lachend wieder sinken. Jace hatte mir ein Meme von Darth Vader geschickt, bei dem er ein Bild meines Dads reingeschnitten hatte. Immer wieder schaffte er es, alles etwas erträglicher für mich zu machen. Und wie immer war er für mein erstes echtes Lachen heute verantwortlich.
Alle Anwesenden sahen mich an, als wäre ich komplett verrückt, inklusive Penelope. Leider bekam ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf und schaffte es nicht, mein Grinsen zu unterdrücken. Ich hielt mir die Faust vor den Mund, um mich zu beruhigen, was mir leider nicht gelang.
Die Augen meines Dads funkelten mich an, während Mom die Aufmerksamkeit gekonnt wieder auf sich lenkte.
„Alles okay?“, fragte Penelope und beugte sich leicht in meine Richtung.
Belustigt sah ich sie an. „Alles super. Mach dir keine Gedanken.“
Sie sah mich noch einen Moment an, nickte dann enttäuscht und wandte sich wieder dem Gespräch am Tisch zu. Ein Stich durchfuhr mich. Ich wollte nicht, dass Pen traurig war. Nur leider war ich absolut schlecht darin, andere in meine Gedankengänge miteinzubeziehen.
Ich drückte ihr einen schnellen Kuss auf den Mund, wofür ich nicht nur ein Lächeln von ihr, sondern von so gut wie jedem in diesem Raum erntete. Am liebsten hätte ich allen den Mittelfinger gezeigt. Genau aus diesem Grund hasste ich Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit und vermied sie auch so gut es eben ging. Weil es irgendwelche Fremden nichts anging, wen ich küsste oder befummelte und ebendiese Leute einen immer anstarrten.
In manchen Bundesstaaten nannte man sowas auch Stalking.
Mein Handy vibrierte.
Jace.
Wo bleibst du? Deine Playstation läuft bereits.
Bin auf dem Weg.
„Wir müssen dann auch so langsam mal los, Mom.“
Ich richtete absichtlich meine Worte nur an meine Mutter, da ich genau wusste, wie sehr mein Dad es hasste, übergangen zu werden.
Überrascht zog Mom die Augenbrauen hoch. „Jetzt schon?“ Leichte Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit. Wieso taten Mütter das andauernd?
„Ja, leider. Du weißt doch, die Party.“ Ich stand bereits auf. Penelope blinzelte zwar überrascht, sprang aber ebenso schnell auf und ließ sich nichts anmerken. Sie wusste ebenso gut wie ich, dass bis zur Party, die ich am Abend bei mir zu Hause schmeißen durfte, noch mehr als genug Zeit war. Doch die Aussicht, bis dahin noch ein paar Stunden mit Jace zocken zu können, war einfach zu gut.
„Wir müssen noch so viel vorbereiten“, sagte Pen mit einem entschuldigenden Lächeln in Richtung meiner Eltern. Ich konnte nicht anders, als sie anzugrinsen. Deshalb waren wir wohl schon immer Komplizen gewesen. Für den anderen zu lügen war uns noch nie schwergefallen.
„Das verstehe ich natürlich. Habt viel Spaß ihr zwei. Aber nicht zu viel“, sagte Mom etwas leiser und zwinkerte uns zweideutig zu.
„Gott, Mom“, sagte ich gequält.
„Falls aber doch, River, habe ich dir zu Hause –“
„Himmel, hör auf zu reden, Mom!“, stoppte ich sie in der Sekunde, bevor sie tatsächlich laut aussprechen konnte, dass sie irgendwo Kondome hinterlegt hatte.
„Cynthia“, sagte nun auch mein Dad warnend in ihre Richtung.
Glücklicherweise hatte sich die nervige, alte Lady mittlerweile verzogen, aber wir saßen immer noch in einem vollen Restaurant. Dad verfolgte ein konservatives, familiäres Leitbild und seinem Sohn Kondome zum Vögeln zu kaufen, passte da nicht unbedingt hinein.
„Entschuldige, Liebling. Ich will nur sichergehen, dass die beiden sich schützen.“
„O mein Gott“, murmelte ich und vergrub mein Gesicht in meiner Hand. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Penelope nervös auf der Stelle trat, rot wie eine Tomate. Es war wirklich süß.
Nicht, dass wir beide keinen Sex hätten, aber es kam für sie nicht in Frage, darüber mit anderen zu reden oder es an die große Glocke zu hängen. Was den Sex keinesfalls langweilig machte.
„Dennoch ist das ein Gespräch für Zuhause.“ Nun war die Stimme meines Vaters so scharf, dass sie die Luft zerschneiden könnte.
Mom kniff den Mund zusammen. „Natürlich. Bitte entschuldige.“
„Vielleicht einigen wir uns einfach darauf, nie wieder darüber zu reden“, sagte ich mit einem gequälten Lächeln. „Wir müssen jetzt los. Mach’s gut, Mom.“ Ich ging um den Tisch herum und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Schnell griff ich nach Penelopes Hand und wollte so schnell es ging hier weg.
„River“, hielt Dad mich zurück.
Ich blieb stehen und schaute über die Schulter zu ihm zurück.
„Ich erwarte mein Haus morgen in tadellosem Zustand wieder vorzufinden.“
In seinen Augen stand nichts als Eiseskälte.
Ich nickte lediglich und stürmte, meine Freundin hinter mir herziehend, aus dem Restaurant.
Kühle Luft schlug uns entgegen, die ich gierig in meine Lungen einsaugte. Schweigend gingen wir zu meinem Wagen, der auf dem Parkplatz stand. Ich weigerte mich wie immer, mein Auto beim Parkservice abzugeben, einfach weil es total albern war.
„Mann, war das peinlich“, brach Penelope wenige Minuten später die Stille.
Ich lenkte den Wagen nachdenklich durch die Straßen von Grove Hill.
„Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie unangenehm das eben war“, stimmte ich ihr zu.
Sie kicherte und brachte mich damit ebenfalls zum Lächeln. Mein Kopf fuhr zu ihr herum, bevor ich mich wieder auf die Straße konzentrierte.
„Es war schon süß, wie die alte Mrs Connoly eben über uns gesprochen hat“, fuhr sie leise fort.
„Du meinst die nervige, neugierige Lady? Mir kam sie eher wie eine Stalkerin vor.“
Penelope lachte befreit auf. „Du bist schrecklich.“ Dann strich sie mir über den Nacken und sagte lachend: „Ich liebe dich.“
Meine Hände griffen fester ums Lenkrad, bis meine Fingerknöchel weiß hervortraten.
Ich liebe dich. Keine Worte verabscheute ich mehr. Ständig schmissen die Leute damit um sich, doch letzten Endes meinte sie sowieso niemand ernst. Penelope wusste, dass sie diese Worte von mir niemals hören würde, was aber nichts daran änderte, dass ich mich jedes Mal schlecht fühlte. Ich hatte sie nicht verdient, so viel war klar. Ich sollte mich täglich glücklich schätzen, dass das hübscheste und klügste Mädchen der Schule ausgerechnet mit mir zusammen sein wollte. Und doch … fühlte ich mich unbehaglich. Immer wenn wir allein waren, wurde ich das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Das zwischen uns sollte leicht sein. War es aber nicht, jedenfalls nicht für mich.
„Ich liebe diesen Song“, sagte Penelope glücklich und drehte das Radio lauter.
Ich lächelte, meinte es aber nicht so. Keine Ahnung, was mit mir los war. Naja, mal abgesehen von meiner katastrophalen Familie und der Wut, die ständig die Kontrolle über mich hatte und die ich einfach nicht in den Griff bekam, egal was ich auch versuchte. Meine Gedanken schweiften zu einem Vorfall ab, der über fünf Jahre zurücklag und der mir einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte, so prägend war er in meiner Erinnerung verankert.
„Wo warst du?“
Ich zuckte zusammen, kaum, dass ich die Haustür aufgeschlossen hatte. Dad stand inmitten unserer großen Eingangshalle im Dunkeln und wartete offenbar auf mich. Fuck.
„Hey, Dad“, murmelte ich und versuchte irgendwie den Umstand zu verstecken, dass ich etwas getrunken hatte.
„Wo, zum Teufel, bist du gewesen?“ Seine Stimme klang scharf, doch er beherrschte sich um eine passende Lautstärke. Vermutlich, um Mom nicht zu wecken. Seit sie schwanger war, ließ er sie in Ruhe, achtete aber umso mehr darauf, wie ich mich verhielt.
„Unterwegs.“
Dad trat bedrohlich einen Schritt näher und funkelte mich wütend an.
„Ich frage dich ein letztes Mal. Wo warst du?“
„Wir waren am Grove Lake“, gab ich leise zu.
„Hatte ich dir nicht gesagt, dass ihr dort abends nichts zu suchen habt?“
Ich verdrehte die Augen. Schließlich war ich kein kleines Kind mehr. Dad hatte nur Angst, dass ich ein schlechtes Licht auf ihn warf, nicht, dass ich mit dreizehn Bier trank.
„Ist keine große Sache, niemand hat mich gesehen.“
Er kam noch näher und stand nun direkt vor mir. Ich wich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Haustür stieß.
„Ich entscheide, ob es eine Sache ist, River. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass alles, was du tust, darüber entscheidet, wie man mich als Bürgermeister wahrnimmt?“ Er sprach aus zusammengebissenen Zähnen, eine Ader pochte verräterisch auf seiner Stirn und sein Atem roch nach Scotch.
Mein Herz begann wie wild zu klopfen, als mir klar wurde, dass heute wieder einer dieser Abende sein würde. Dabei war das letzte Mal erst gestern gewesen.
„Okay. Entschuldige, Dad“, murmelte ich, um ihn zu beschwichtigen. Nicht, weil mir irgendetwas leidtat.
Er blieb, wo er war, und sah mich weiterhin wütend an.
„Dein Mathelehrer hat angerufen.“
Gequält schloss ich die Augen. Was stimmte nur mit diesem Lehrer nicht, dass er jede Note von mir auf einem Silbertablett servierte?
„Ich habe mich wirklich angestrengt“, setzte ich zu einer Erklärung an, die nicht mal gelogen war. Mein Nachhilfelehrer war mein Zeuge.
Die schallende Ohrfeige traf mich ebenso unvorbereitet, wie ich sie erwartet hatte. Meine Wange brannte augenblicklich wie Feuer, was mir zeigte, dass er sich nicht zurückgehalten hatte. Wut überrollte mich. Am liebsten würde ich mich auf ihn stürzen und doch tat ich es nicht. Weil ich feige war.
„Es reicht nicht, dass du dich anstrengst. Wozu zahle ich Hunderte Dollar für Nachhilfe, wenn du es dann trotzdem nicht hinbekommst?“
Ich schluckte einen bissigen Kommentar, der mir nur noch mehr Ärger einbringen würde, herunter.
„Ich habe mein Bestes gegeben, Dad!“ Wieso konnte er das nicht sehen? Wieso konnte das nicht genug für ihn sein?
„Dein Bestes ist nicht gut genug!“, brüllte er mich an. Ich kannte die Worte zu Genüge, was nichts daran änderte, dass sie verflucht wehtaten.
Trotzig riss ich mich von ihm los und sah ihn mindestens ebenso wütend an, wie er mich.
„Fick dich“, knurrte ich ihn an.
Diesmal traf seine Faust meinen Bauch. Ich krümmte mich wimmernd zusammen und sank auf die Knie. Das saß.
„Geh ins Bett. Morgen haben wir einen Pressetermin, um das Geschlecht des Babys zu verkünden.“
Ich zuckte zusammen und sah geschockt zu ihm auf.
„Ihr kennt das Geschlecht bereits?“ Meine Stimme klang abgehackt.
Dad stand über mir, das Gesicht missbilligend verzogen.
„Es wird ein Mädchen“, sagte er, bevor er sich kopfschüttelnd von mir abwandte und hinter den großen Flügeltüren ins Wohnzimmer verschwand.
Auf meinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Ein Mädchen. Ich würde eine kleine Schwester bekommen.
Blinzelnd kehrte ich ins Hier und Jetzt zurück, während eine Gänsehaut meine Arme überzog. Mein Blick fiel auf den glitzernden Grove Lake, der umgeben von Wäldern und steinigen Hügeln am Straßenrand verlief und diesen Ort zu etwas so Besonderem machte. Auch wenn ich die Stadt und die meisten ihrer Bewohner verabscheute – der Grove Lake war all dies wert.
Er war besonders, er war strahlend und er war vor allem eines – unperfekt.
Er war unperfekt mit seinen steinigen Hügeln, den gefährlichen Klippen und den dennoch seichten Stellen am flachen Ufer. Er war wie ich.
Kapitel 2
River
Ich stieß die Tür zu meinem Zimmer auf, während Penelope fröhlich von ihren Plänen berichtete. Sie hatte tausende Ideen, wie wir den Wahlkampf unserer Eltern unterstützen könnten und ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass mir ebendieser komplett am Arsch vorbeiging.
„Wir könnten auch die Schüler viel mehr mit ins Boot holen. Wir könnten –“
Mitten im Satz brach sie abrupt ab und starrte auf mein Sofa. Jace saß vor der Playstation und zockte. Augenblicklich überrollte mich ein Gefühl von Wärme, als ich ihn dort sitzen sah. Seine weichen, braunen Haare waren locker gestylt und doch saß jede Strähne perfekt. Nicht, dass ich wirklich wusste, ob sie weich waren, aber so stellte ich es mir halt vor. Er steckte in einer engen, dunkelblauen Jeans und einem locker sitzenden Kapuzenpulli. Ein glückliches Grinsen legte sich auf meine Züge, als ich ihn begrüßte und mich sofort neben ihn auf die Couch fallen ließ. Endlich wurde der Tag wieder besser.
Penelope sah unzufrieden in seine Richtung. Die beiden mochten sich nicht sonderlich, was ich nicht recht verstand. Beide waren eher der nette, zuvorkommende Schlag Mensch und wichtiger Bestandteil meines Lebens.
„Jace. Was für eine Überraschung. Hast du kein Zuhause? Kannst du nicht mal vorher anrufen, bevor du hier einfach aufkreuzt? Es ist unhöflich, sich in Abwesenheit Anderer, einfach in ihr Zimmer zu setzen“, versuchte Penelope nicht einmal ihr Missfallen zu verstecken. Ich kannte kaum jemanden, zu dem sie unfreundlich war, aber bei Jace konnte sie irgendwie nicht anders.
Spöttisch schaute Jace zu ihr herüber. „Pennywise, ich gehe hier seit Jahren ein uns aus. Nur weil du meinst, seit ein paar Monaten das Vorrecht auf dieses Haus zu haben, lass dir gesagt sein – ich gehöre zum Inventar.“
Ich prustete los, was mir sofort einen bitterbösen Blick von Pen einbrachte, doch bei dem unerwarteten Spitznamen, der sie mit einem Horrorclown verglich, konnte ich nicht anders.
„Sorry. Er war zuerst da“, sagte ich und gab Jace ein High Five.
Penelope schnaubte laut auf und verschränkte augenrollend ihre Arme miteinander, wobei ihr Blick auf ihre glänzende Armbanduhr fiel.
„Sollen wir jetzt die Party vorbereiten, River?“, fragte sie stirnrunzelnd.
Überrascht sah ich auf. „Was soll ich da bitte vorbereiten? Ich habe haufenweise Alkohol besorgen lassen. Es ist also alles vorbereitet.“
Sie riss die Augen auf. „River, es geht hier um eine Mannschaftsparty. Es werden sicher haufenweise Bilder gemacht und wir sollten darauf achten, dass das Gesamtbild stimmt und eben nicht überall Alkohol herumsteht. Stell dir mal vor, das lädt jemand ins Internet, ausgerechnet während des Wahlkampfes. Am besten verbieten wir Fotos heute Abend komplett. Dad hat auch gesagt, dass das vermutlich eine kluge Entscheidung wäre.“ Sie fuhr sich durch die Haare.
„Na wenn Daddy das gesagt hat“, murmelte Jace leise neben mir, aber doch laut genug, damit Penelope ihn hören konnte.
Ich biss mir auf die Lippen, um nicht laut loszulachen, was Penelope aber registrierte und die Augen verengte. Ihr strafender Blick fand aber wieder einmal Jace und nicht mich.
„Schön, wie ihr wollt. Ich gehe gleich rüber, Heather und die anderen Mädels wollen sich bei mir fertigmachen. Ich bin rechtzeitig wieder hier, bevor die ganzen Gäste da sind.“ Jace grinste zustimmend bei ihren Worten, was mir wieder ein wohlig warmes Gefühl durch den Körper schickte.
Heather war Penelopes allerbeste Freundin und die beiden in Kombination waren wirklich mit Vorsicht zu genießen. Sie vergaßen nichts und konnten stumm ellenlange Gespräche über den Tisch hinweg führen, alles nur mit ihren Blicken. Was die eine nicht sah, bekam definitiv die andere mit.
Demonstrativ kam meine Freundin auf mich zu, stellte sich vor mich und versperrte die Sicht auf den Bildschirm. Sie legte ihre Lippen auf meinen Mund und gab mir einen sanften Kuss. „Bis später“, sagte sie lächelnd, warf Jace einen letzten Blick zu und ging aus meinem Zimmer. Kaum, dass sich die Tür hinter ihr schloss, atmete ich erleichtert auf.
Das laute Lachen von Jace riss mich aus meinen Gedanken und handelte ihm einen Schlag in die Seite ein.
„Hast du gerade erleichtert aufgestöhnt?“ Eine braune Strähne fiel ihm über die Augen und ich widerstand dem Drang sie ihm zurückzustreichen. Stirnrunzelnd fragte ich mich, woher dieses Bedürfnis kam. Wir waren seit Jahren die besten Freunde, aber in letzter Zeit konnte ich ihm gar nicht nahe genug sein. Das war ziemlich schräg, aber vermutlich lag es daran, dass er der einzige normale Mensch in meinem Leben war.
Ich startete Mario Kart auf der Switch und drückte ihm den zweiten Controller in die Hand.
„Nein, habe ich nicht.“
Spöttisch sah Jace mich an. „Bitte.“
Ich legte den Kopf in den Nacken und schnaufte ein weiteres Mal durch.
„Shit, ich weiß doch auch nicht.“
Ich schluckte. Die ausgelassene Stimmung war vorüber. Jedes ernste Gespräch, das wir bis jetzt miteinander geführt hatten, war immer beim Zocken gewesen. Über meinen Dad. Über alles.
„Was ist los mit dir?“, fragte Jace, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen. Wir wählten unsere Charaktere aus. Ich war wie immer Yoshi, während er den kleinen Pilzkopf bevorzugte. „Ist es wegen Penelope?“
Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte fieberhaft, was ich darauf antworten sollte.
„Nein. Doch. Ach, ich weiß es nicht, vielleicht.“
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich sein Stirnrunzeln.
„Könntest du das etwas näher ausführen?“ Er spannte sich an, weil das Rennen startete und lehnte sich etwas weiter vor. Ich tat es ihm gleich, denn ich hatte nicht vor, gegen ihn zu verlieren.
„Ich weiß nicht. Eigentlich ist alles in Ordnung.“
Jace lachte spöttisch auf. „Ja, klar. Ist ja auch nicht zu übersehen. Ehrlich gesagt, verstehe ich bis heute nicht, was du an ihr findest.“
„Was hast du gegen Pen?“
„Nichts. Sie ist nur so nett und unschuldig. So … perfekt, tut immer, was ihr Daddy ihr sagt. Sie passt nicht zu dir.“
„Du bist auch nett“, rief ich ihm ins Gedächtnis, denn das war er zweifelsohne.
„Ja, zumindest so lange, bis du mich in irgendeine Scheiße mit reinziehst.“ Wie verrückt drückte er auf seinem Controller herum. Kurz darauf wurde meine Figur von einem Panzer attackiert.
„Fuck, warst du das?“, fragte ich ihn entsetzt, da ich nun nicht mehr auf dem ersten Platz lag.
Ein dreckiges Lachen seinerseits verriet mir, was ich wissen musste.
„Na warte“, murmelte ich und konzentrierte mich weiter aufs Spiel.
„Aber jetzt mal ohne Witz. Wieso bist du eigentlich mit Penelope zusammen?“ In Jace’ Stimme schwang irgendetwas mit, was ich nicht zuordnen konnte. Er versuchte, beiläufig zu klingen, aber es gelang ihm nicht.
„Naja“, setzte ich an. „Zum Schulanfang haben wir irgendwie wieder angefangen miteinander rumzuhängen. Ich war down wegen der Trennung von Haley und irgendwie hatte ich gedacht, dass es eine gute Idee wäre sie zu küssen. Hat sich in dem Moment auch richtig angefühlt. Aber jetzt. Keine Ahnung. Irgendwie ist es komisch.“
„In letzter Zeit wirkst du nicht sonderlich happy mit ihr.“
Ich biss mir auf die Unterlippe.
„Bin ich auch nicht“, gab ich zum ersten Mal zu und fühlte mich augenblicklich schlecht. „Ich weiß nicht, was los ist. Eigentlich müsste alles super sein.“
„Ist es aber nicht“, stellte er klar.
„Nein“, antwortete ich leise. „Und ich weiß nicht mal, wo das scheiß Problem ist.“
Das Rennen bei Mario Kart endete und wie zu erwarten war, hatte ich verloren. Ich schmiss den Controller neben mich und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare, die Ellbogen auf meine Knie gestützt.
„Ich komme aus der Nummer einfach nicht wieder heraus“, murmelte ich. „Meine Eltern killen mich, wenn ich die Beziehung während des Wahlkampfs vergeige. Außerdem will ich ihr nicht wehtun. Sie bedeutet mir viel. Ich weiß ja nicht mal, was mit mir los ist oder ob ich überhaupt mit ihr schlussmachen will. Der Sex ist super.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Toll, jetzt hör ich mich auch noch wie ein Arschloch an.“ Ich schnaufte. Das war alles so … verwirrend. Und ätzend.
Jace legte seinen Controller weg und drehte sich zu mir.
„Das ist doch Bullshit, Alter. Kann sich dein Dad nicht wenigstens bei deinen Schwanzangelegenheiten raushalten?“
Ich lachte laut auf. Jace wusste, wie man die Situation wieder auflockern konnte. Deshalb war er mein bester Freund. Er kannte meine Stimmungen, wusste, wann ich reden musste und wann es auch wieder gut war. Er wusste, dass man mich nicht drängen durfte. Er wusste, wie kaputt ich eigentlich war und seine ruhige Art hatte mir schon so manches Mal den Arsch gerettet.
„Alter, ich glaube du solltest lieber selbst mal wieder einen wegstecken. Ich weiß, du stehst auf mich, aber mein Schwanz interessiert dich heute etwas zu sehr.“
Jace grinste sein breites Grinsen. „Zufällig hatte ich erst letzte Woche Sex, ich habe also aktuell keine Probleme.“
„Was? Wann? Mit wem? Kenne ich sie?“
Er bekam das fette Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. „Es war ein One-Night-Stand aus einer Bar. Ein verdammt guter.“
Verdammt, wieso hatte er mir das nicht erzählt?
„Du warst ohne mich in einer Bar? Was soll das?“, fragte ich ihn gespielt empört, auch wenn ich tatsächlich etwas beleidigt war. Normalerweise machten wir alles, was Spaß machte, zusammen.
„Ach, ich war mit ein paar anderen da“, sagte er betont beiläufig.
Ich runzelte die Stirn. Ich kannte diesen Ton. Ich kannte diese Art. Die setzte er immer dann auf, wenn er besonders desinteressiert klingen wollte, weil er eigentlich etwas nicht erzählen wollte. Er war mit anderen dort gewesen. Den Code verstand ich. Ich wusste genau, wen er meinte.
„Wie geht’s ihr?“, fragte ich also. Ich wusste, dass er mit seiner Cousine in der Bar gewesen war – Haley, meiner Exfreundin.
Er lächelte. „Es geht ihr gut. Sie hat momentan ein Praktikum in der Nähe. Praxissemester oder irgend sowas.“
Ich nickte und grinste dabei. Haley war intelligent. Sie studierte Jura und ich wusste, sie würde irgendwann groß rauskommen.
„Gibt es sonst was Neues bei ihr? Ist sie glücklich?“ Ich sah ihn direkt an, um keine Regung zu verpassen. Die Trennung von ihr hatte mich ganz schön aus der Bahn geworfen.
„Nö, nichts Neues. Alles bestens.“ Wieder dieser Tonfall. Er verheimlichte was.
Ich runzelte die Stirn. „Spuck’s schon aus.“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Diesmal wurde seine Stimme noch merkwürdiger und er zuckte dabei ganz seltsam mit den Schultern, als hätte er einen epileptischen Anfall. Eine Karriere bei der CSI hatte er wohl nicht vor sich. Professioneller Pokerspieler fiel wohl auch aus.
Ich verdrehte die Augen. „Jetzt sag es einfach. Ich werde schon nicht durchdrehen.“
Er seufzte. „Muss ich dich daran erinnern, dass du nach eurer Trennung sehr wohl durchgedreht bist und dich durch ganz Grove Hill und Umgebung gevögelt hast?“ Abwartend musterte er mich.
„Jetzt übertreib mal nicht.“
„Ich übertreibe keineswegs. Du warst komplett am Ende.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ja okay, vielleicht. Sie war halt meine erste große Liebe.“
Jace’ Blick fand meinen und kurz sahen wir uns einfach nur schweigend an. Wieder wurde mir ganz warm und ich war nicht fähig wegzusehen. Was war das in letzter Zeit? Jace’ Lippen öffneten sich leicht. Er hatte schöne, volle Lippen.
Dachte ich gerade ernsthaft über seine Lippen nach?
Peinlich berührt räusperte ich mich und zwang mich auf meine Finger herunterzusehen und mich abzuwenden. Irgendetwas stimmte ganz gewaltig nicht mehr mit mir.
„Sie wird heiraten. Sie hat sich verlobt.“ Die Worte hallten in meinem Zimmer wider und machten mein Gedankenchaos komplett.
Perplex starrte ich ihn an. Ich hatte jetzt sicherlich mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Das musste ein Witz sein. Ich durchforstete sein Gesicht nach einer Regung, die mir zeigte, dass er bloß einen Scherz machte, aber die war nicht zu sehen. Er sah mich ernst an, fast schon mitleidig. Ich wollte nicht bemitleidet werden, das hatte ich noch nie gewollt. Ich war stark. Der starke River.
Ich fuhr mit den Fingern durch meine Haare, stand auf und tigerte durchs Zimmer. Keine Ahnung, weshalb ich so reagierte. Ich war definitiv nicht mehr in sie verliebt und hatte schon eine ganze Weile nicht mehr an sie gedacht. Irgendwie hatte ich aber wohl immer angenommen, dass wir irgendwann wieder zusammenkommen würden. Was gar keinen Sinn ergab. Dieser Tag war einfach ätzend.
„Ist doch gut für sie, ich meine der Typ scheint sie doch wirklich glücklich zu machen, oder? Jedenfalls sieht das auf ihren Bildern bei Instagram immer so aus. Schön für sie.“ Nun war es an mir, beiläufig mit den Schultern zu zucken. Er nahm es mir nicht ab. Er sah mich eher an, als hätte ich einen Knall. Allerdings war er clever genug, das Ganze nicht zu kommentieren.
Ich vermisste Haley. Seit einem Jahr habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Anfangs hatte ich es noch oft versucht, aber vergeblich.
Jace sah mich an, wobei ich wieder wie automatisch von seinen Lippen angezogen wurde.
Ich brauchte ein Bier. Oder Stärkeres. Bevor ich noch irgendwo gegen treten musste.
„Bereit zum Partymachen?“, grölte mein Kumpel Tristan, kaum dass er unser geräumiges Wohnzimmer betreten hatte. Die Eingangstüren standen offen und so kamen bereits die ersten Jungs hereingestürmt. Erleichtert stellte ich fest, dass es sich nur um wenige handelte. Es war klar, dass es heute noch voll werden würde, aber ich war dankbar, als ich zunächst nur die Jungs erblickte, die den Kern unserer Mannschaft bildeten. Seit dem Gespräch mit Jace war ich irgendwie von der Rolle.
Tristans weißblonde Haare strahlten im schummrigen Licht des Zimmers, wohingegen Brandon fast unterging, so schwarz waren seine. Die beiden waren wie Ying und Yang. Sie waren sehr enge Freunde und häufig zusammen anzutreffen. Aber, wo Brandon laut und frech war, wirkte Tristan ausgeglichen und ruhig. Während Brandon stets wie ein arrogantes Supermodel aussah, der das Herz auf der Zunge trug, versprühte Tristan eher seinen nice-boy-next-door-Charme. Ich mochte beide extrem gerne – neben Jace waren sie meine besten Freunde.
„Bitte, die sind doch beide schon voll“, gab Brandon lachend zum Besten. Seine kurzen schwarzen Haare saßen perfekt und er trug ein schickes, dunkles Hemd zu einer engen Hose und limitierten Air Jordans.
Ich grinste nur dümmlich in die Runde und begutachtete dann den Alkohol, der ausgebreitet auf dem Tisch stand. Es war gar nicht so leicht gewesen, da heranzukommen. Mit den gefälschten Ausweisen brauchten wir es in Grove Hill gar nicht versuchen und so hatten wir eine Weile fahren müssen, um alles zu organisieren.
Auch Tyler und Sam kamen lachend mit einem Fass Bier, von dem ich wusste, dass Tylers Dad es ihm gekauft hatte, herein und stellten es auf dem massiven Holztisch ab, der den Großteil des Essbereiches einnahm und den mein Vater mehr liebte als jede Person in diesem Haus.
Ich hoffe er hat einen fetten Kratzer abbekommen.
Beide gehörten zur Mannschaft und zu unserer Gruppe. Dennoch wurde ich mit beiden nicht so richtig warm.
„Hey Jungs, ihr seid ja schon hier.“ Penelope kam herein, ihre Freundinnen im Schlepptau und wurde sofort freudestrahlend von allen begrüßt.
Ich lächelte kurz in ihre Richtung, konzentrierte mich aber wieder auf den Tisch mit dem Alkohol, so als müsste ich dort noch irgendetwas richten. Nur Tristan schien seinen Blick nicht von den Mädchen losreißen zu können. Welche ihm wohl gefiel? Er war da wesentlich zurückhaltender als Brandon, der gerne seine Aufreißergeschichten erzählte. Tristan wurde leicht rot und ich musste mich fragen, ob er sich verknallt hatte. Ich nahm mir fest vor, ihn bei nächster Gelegenheit auszuquetschen.
Penelope und ihre Freundinnen kamen zu uns herüber. Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Ich spürte sofort den Lipgloss und wischte mir unweigerlich mit der Hand darüber.
„Bäh, ich hasse dieses Zeug“, jammerte ich und erntete einige Lacher von den Mädchen, Pen eingeschlossen.
„Wir holen uns mal was zu trinken“, flüsterte sie in mein Ohr und verschwand kurz darauf in der Küche. Ich konzentrierte mich auf den Shot, den Brandon mir in die Hand drückte und kippte ihn herunter. Es folgten weitere und bereits nach kurzer Zeit war ich so betrunken, dass ich kaum wahrnahm, wie sich das Haus füllte. Musik wummerte aus den Boxen, Bier Pong wurde gespielt und draußen am Pool wurde weitergefeiert. Wohin ich auch sah, blickte ich in strahlende Gesichter. Sie nervten mich extrem. Gedankenverloren nippte ich an meinen Drinks und konzentrierte mich auf meine Freunde. Und auf Jace. Er war ebenfalls total betrunken. Auf seinen Wangen lag eine leichte Röte, er grinste breit und seine bernsteinfarbenen Augen funkelten. Ich könnte ihn den ganzen Abend ansehen und doch wusste ich nicht weshalb.
Ehe ich mich versah, spielten Jace, Brandon, Tristan und ich eine Runde Bier Pong, in der Jace und ich gnadenlos verloren.
„Ihr seid so schlecht, wenn ihr betrunken seid“, zog Brandon uns lachend auf.
„Du bist selber betrunken“, korrigierte ihn Tristan.
„Ja, aber manche Menschen sind unter Alkoholeinfluss eben Naturtalente. So wie ich. Selbst Sex kann ich besser betrunken.“
Ich schnaubte. „Ist klar.“
„Nur kein Neid, weil du zu der Sorte gehörst, die sich unter Alkoholeinfluss in dämliche Volltrottel verwandeln.“
„Ich bin nicht …“, setzte ich an, gerade, als ich meinen Tischtennisball neben einen Becher warf.
Brandon lachte mich offenkundig aus und zeigte mit dem Finger auf mich. „Siehst du. Sag ich doch. Dämlicher Volltrottel. Wie unkoordiniert kann man sein, Mr Basketballsuperstar?“
Jetzt musste sogar ich lachen.
Die Drinks, die wir hatten, machten sich deutlich bemerkbar und möglicherweise trug der Joint, der eben herumgereicht wurde, auch nicht unbedingt dazu bei, dass wir besser wurden. Aber es war definitiv lustiger. Alle schienen den ausgelassenen River gut zu finden – und ich fand ihn eigentlich auch besser. Er hatte um einiges bessere Laune.
Leider hielt die nicht so lange an, wie es mir liebgewesen wäre. Viel zu schnell kreisten meine Gedanken wieder um Penelope, meinen Dad und meine komischen Reaktionen auf Jace. Über nichts davon wollte ich nachdenken, schon gar nicht, wenn Pen mir immer wieder verliebte Blicke zuwarf.
Kurzerhand torkelte ich auf die Bar meines Dads zu und griff wahllos zu. Tequila. Auch gut. Irgendeine sauteure Marke, die er von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte und wegen der er mir die Hölle heißmachen würde.
In diesem Moment war es mir komplett egal. Jace half mir die Flasche zu vernichten.
„Hey, hast du Lust zu tanzen?“, wurde ich aus meinem Gedankenkarussell gerissen. Ein braunhaariges Mädchen stand vor mir. Glaubte ich. Denn so ganz scharf war mein Sichtfeld nicht mehr.
Ehe ich antworten konnte, stand Penelope wieder an meiner Seite und legte leicht ihren Arm um meine Hüfte. „Hier steckst du, Honey“, sagte sie lächelnd und tat so, als würde sie das Mädchen jetzt erst bemerken.
„Oh, hey“, begrüße sie das Mädchen lächelnd und streckte ihr die Hand hin. „Ich bin Penelope. Rivers Freundin.“
Ich konnte zwar durchaus selbst für mich sprechen – normalerweise –, aber momentan war ich ganz dankbar dafür, dass sie das übernahm.
Die Jungs um uns herum prusteten los vor Lachen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie wieder bei uns standen. Die Kleine zog sich eingeschüchtert zurück, obwohl Pen nicht mal fies zu ihr gewesen war.
Sie schmiegte sich an mich und sah lächelnd zu mir auf. „Ich liebe dich“, flüsterte sie mir zu.
Mein Körper versteifte sich, während ich versuchte, nicht noch weiter durchzudrehen.
Ich drückte ihr nur einen Kuss aufs Haar, wobei sie ihre Enttäuschung nicht ganz verbergen konnte.
Ein Lachen löste sich aus meiner Kehle, als Brandon erzählte, dass er letztes Wochenende eine Collegestudentin flachgelegt hatte. Sowas brachte nur er fertig. Und mir wurde klar, wie spürbar mein IQ mit jedem Glas sank. Normalerweise war ich kein großer Trinker. Ich wollte immer voll und ganz für Basketball da sein, doch heute Abend tat es verflucht gut. Und es war nötig. Es verdrängte mein inneres Chaos.
„Meine Güte, wie betrunken bist du denn bitte?“, fragte Penelope leise und ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht irgendetwas zu sagen, was ich hinterher bereuen würde. Schließlich meinte sie es nur gut. Das tat sie immer.
„Die Kavallerie ist da“, zog Jace sie an meiner Stelle auf. Ich konnte nichts gegen das Grinsen machen, das mich übermannte.
Penelope wollte sich gerade von mir losreißen, als ich sie zurückhielt.
„Komm schon, er hat nur einen Witz gemacht“, verteidigte ich Jace ganz automatisch. Ich nahm ihre beiden Hände in meine.
Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, zog ich sie dicht an mich heran und küsste sie. Säufer-River fand das eigentlich ganz gut. Säufer-Jace sah eher aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
Pen war zunächst überrascht von meiner Zuneigungsbekundung in der Öffentlichkeit, doch sie genoss es sichtlich und intensivierte den Kuss. Ich löste mich von ihr und überlegte eine Sekunde.
„Wollen wir nach oben?“, fragte ich. Vielleicht würde ich ja wieder halbwegs klarkommen, wenn wir miteinander schliefen.
Pen lächelte und nickte zustimmend.
Ich stieß meine Zimmertür auf, während unsere Münder aufeinanderlagen. Meine Hände wanderten zu Penelopes Brüsten, während sie an meinem Shirt zog, um es mir auszuziehen. In Rekordzeit schlängelte sie sich aus ihrem Kleid und stand in ihrem rosa Spitzen-BH und dem dazu passenden Slip vor mir. Pen sah fantastisch aus. Sie warf ihre langen blonden Haare über ihre Schulter, stieß mich auf mein Bett und setzte sich rittlings auf mich. Das letzte Mal war gut zwei Wochen her, da wir ständig von irgendwas unterbrochen wurden. Mein Kopf drehte sich. Halleluja, ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich jemals so betrunken gewesen war. Penelope beugte sich zu mir herunter und presste ihre Lippen auf meine. Ein Stöhnen entfuhr meiner Kehle, als sie anfing sich auf mir zu bewegen und Druck an genau der richtigen Stelle auszuüben. Ich ignorierte die Tatsache, dass irgendwas nicht richtig war, denn genau genommen war seit sechs Monaten nichts mehr richtig. Sie knabberte sich meinen Hals entlang und stoppte an meinem Ohrläppchen. „Ich liebe dich“, flüsterte sie heiser. Erneut.
Meine Güte, nicht schon wieder. „Du bist so sexy, du machst mich ganz verrückt“, antwortete ich kurzatmig. Sie hielt in der Bewegung inne. Offensichtlich hatte sie angenommen, dass ich die Worte in meinem benebelten, erregten Zustand einfach sagen würde. Würde ich nicht.
Mit einem Ruck setzte sie sich auf und sah ungläubig auf mich herab. „Ist das dein Ernst, River? Nicht mal jetzt kannst du es mir sagen?“
Ich stöhnte genervt auf und schob sie von mir herunter. Nicht mal das hier funktionierte.
„Penelope, ich habe es dir schon oft genug erklärt. Ich werde diese Worte nicht sagen. Akzeptier es oder lass es.“
Ich erkannte den Schock in ihren Augen.
„Willst du mich verlassen?“, fragte sie mit zitternder Stimme.
Was? O Gott, ich war zu betrunken, um ihren Gedanken folgen zu können.
„Hä?“, fragte ich also weniger intelligent. „Wieso denn verlassen?“ Ich stand auf und sah sie an.
„Es klang so, als wolltest du mich verlassen, wenn ich nicht damit aufhöre“, sagte sie verunsichert.
„Nein. Ich will dich nicht verlassen. Ich meinte, dass du mich doch verlassen kannst … Nein warte, das ist auch irgendwie falsch.“ Verwirrt strich ich mit den Fingern über meine Augen. Was hatte ich jetzt genau sagen wollen? Eigentlich hatte ich eh schon wieder vergessen, was ich gesagt hatte. „Was wolltest du jetzt eigentlich wissen?“
Mit schräg gelegtem Kopf sah sie zu mir herüber, bevor sie in lautes Kichern ausbrach. Keine Ahnung, warum, aber irgendwie war ihr Lachen so ansteckend, dass ich einfach mitlachen musste. Worüber wusste ich allerdings nicht. Wieder drehte sich das Zimmer und ich schwankte. Ihr liefen vor Lachen Tränen übers Gesicht, die sie sofort wegwischte.
„Es ist herrlich, dich so betrunken zu sehen, Honey. Komm her“, winkte sie mich lächelnd zu sich. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und kniete mich zu ihr aufs Bett. Ich nahm ihr Gesicht in beide Hände und verschloss ihren Mund wieder mit meinen Lippen, um das seltsame Gefühl in mir zum Schweigen zu bringen.
Das Klingeln ihres Handys unterbrach uns. Ernsthaft?
„Vergiss es“, knurrte ich an ihren Lippen, doch ehe ich mich versah, schlüpfte sie aus dem Bett und rannte zu ihrem Handy.
„Das ist der Klingelton von meinem Dad, River, da muss ich rangehen“, sagte sie panisch.
Dad. Hey, wie sexy. Frustriert schmiss ich mich aufs Bett und versteckte mein Gesicht im Kissen. In meinem Kopf drehte sich alles.
„Honey, ich muss los.“
Ich hob den Kopf. Hä? Hatte sie schon telefoniert? Hatte ich gar nicht mitbekommen.
„Komm schon, ich mache auch ganz schnell“, bettelte ich sie an und setzte mich auf.
Sie lachte. „Es tut mir so leid. Dad will, dass ich nach Hause komme. Morgen früh ist der wichtige Wohltätigkeitsbrunch und er hat Panik, dass wir dort unangenehm auffallen. Er hat Angst, dass die Party eskaliert. Also, du gehst besser auch schlafen, sonst flippen unsere Väter morgen unnötig aus.“
Ich hatte noch Mühe, ihre Worte zu verarbeiten, als sie mir schon einen Kuss auf den Mund drückte und die Tür hinter sich zu donnerte.
Wirklich jetzt? Ich lag in Boxershorts in meinem Bett. Wann hatte ich denn meine Hose verloren? Frustriert stöhnte ich auf, drehte mich auf den Rücken und legte den Unterarm über meine Augen. Das Deckenlicht nervte mich, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, aufzustehen und es auszumachen. Der Raum drehte sich schwindelerregend schnell. Meine Gedanken waren wie leergefegt.
Aus dem Nichts öffnete sich meine Zimmertür und Jace stolperte herein.
„Hey, Mann“, nuschelte er. „Ich muss dringend pennen, irgendwie ist Laufen heute total schwer. Ich habe Ewigkeiten die Treppe hochgebraucht.“
Ich nahm den Unterarm von meinem Gesicht und sah zu ihm rüber. „Welche Treppe?“
„Die Treppe bei dir, die da draußen vor deinem Flur ist. Die, die da in dieses große Dings führt“, antwortete er mit sichtlicher Anstrengung. Ich nickte. Diese Treppe meinte er.
„Wo ist Penelope?“ Er sah sich um, als ob sie sich irgendwo versteckt hätte.
„Musste gehen. Daddy hat gerufen“, brummte ich verärgert.
„O, ist da jemand nicht zum Abschluss gekommen?“ Er lachte. Penner.
„Du mich auch, du Wichser.“ Ich zeigte ihm den Mittelfinger. Er lachte wieder, diesmal noch lauter. Torkelnd lief er durch den Raum auf mich zu.
„Rutsch rüber.“ Nun stand er neben meinem Bett. Ich schnaubte auf. „Ich bewege mich keinen Zentimeter. Kannst du komplett vergessen. Bewegen geht nicht.“
Jace machte einen jammernden Gesichtsausdruck und versuchte, über mich zu krabbeln. Dabei war er ungefähr so elegant wie ein Schwein, was mich augenblicklich zum Lachen brachte. Er versuchte, weiter über mich zu kriechen, als er mit dem Arm wegrutschte und mit dem Kopf auf meinem Bauch landete. Mein Lachen wurde lauter und er stimmte mit ein. Alkohol war lustig. Und Gras. Das sollte ich öfter rauchen, so lustig war mein Leben sonst nie. Er stütze sich auf seine Hände und war nun direkt über mir. Jace hielt inne und starrte mich an. Seine bernsteinfarbenen Augen verdunkelten sich, während seine Haare ihm über die Stirn fielen. Ich strich sie ihm zurück. Einfach so. Und sie waren genau so weich, wie ich es mir ausgemalt hatte.
Er sieht unglaublich heiß aus.
Warte … was? Hatte ich gedanklich gerade meinen besten Freund als heiß bezeichnet?
Definitiv.
Jace atmete schwer. Keiner von uns beiden bewegte sich. Was war das hier? Irgendwas lief hier doch total falsch. Seine Augen wanderten zu meinem Mund und er knabberte an seiner Unterlippe. Augenblicklich wurde ich hart, was er bemerkt haben musste, denn seine Augen weiteten sich. Sanft strich er mit dem Daumen über meine Lippen und senkte langsam, wie in Zeitlupe, den Kopf. Ganz sachte fuhren seine Lippen über meine.
Fuck.
Wie konnte diese winzig kleine Berührung so ein Feuerwerk in mir auslösen? Mein Körper kribbelte bis in die Fingerspitzen und meine Lippen brannten von seiner Berührung. Nun konnte ich auch seine Härte an meinem Bein spüren. Das war der Moment, in dem ich meinen Kopf komplett ausschaltete und nur noch fühlte. Nur noch machte, was sich richtig anfühlte.
Mit einem Ruck riss ich ihn herum, sodass er nun unter mir lag. Seine Augen weiteten sich vor Schock. Ich presste hungrig meine Lippen auf seine. Er stieß mich nicht weg, sondern vergrub seine Hände in meinem Haar und zog dabei leicht daran. Ein tiefes Stöhnen entfuhr mir. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich jemals so scharf gewesen war. Ihm ging es offensichtlich ähnlich, denn auch er stöhnte heftig, als ich mit meiner Zunge seinen Mund erforschte. Shit, er hatte viel zu viel an. Ich ließ von ihm ab und zerrte ihm sein Shirt über den Kopf. Daraufhin strichen meine Finger über seine definierten Bauchmuskeln, was ihn unter mir zum Erzittern brachte.
Was zur Hölle?
Ich bedeckte seine Brust mit Küssen, was ihn immer wieder aufstöhnen ließ. Das aufregendste Geräusch, das ich je gehört hatte. Seine Hände wanderten überall an meinem Körper entlang, bis er endlich dahin gelangte, wo ich ihn haben wollte. In meine Boxershorts.
„Fuck“, stöhnte ich tief.
Irgendwie hatten wir es geschafft, auch ihn von seiner Hose zu trennen.
Von unten drang das laute Wummern des Basses in mein Zimmer, was mir vorher gar nicht aufgefallen war. Eminems Stimme war zu hören.
Als ich auch endlich meine Hand in seine Boxershorts gleiten ließ, sog Jace scharf die Luft ein. „O Gott, River.“
Wenig später stieß er mich sanft nach oben und rutschte über mein Bett zu meinem Nachttisch. Wir beide wussten genau, was dort drinnen war. Meine Kondome. Sie lagen immer dort, falls er oder ich welche brauchten. Er holte eines heraus und hielt es mir hin. Meine Augen weiteten sich. Meinte er …? Er nickte und leckte sich über die Lippen, während er seine Boxershorts auszog und in all seiner Pracht auf meinem Bett kniete. Ich hatte ihn schon oft nackt gesehen, aber ich hatte ihn bisher noch nie auf diese Weise wahrgenommen. Außerdem war er bisher nie erregt dabei gewesen. Mehr Aufforderung brauchte ich nicht. Ich entledigte mich meiner Boxershorts und streifte mir das Kondom über. Davon abgesehen, hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich hier eigentlich tat. Er scheinbar schon, denn er hatte eine kleine Packung aus seiner Hosentasche gezogen. Gleitgel. An so etwas hatte ich gar nicht gedacht. War das wichtig? Jace begann selbst, sich damit vorzubereiten und ihm dabei zuzusehen war extrem heiß. Ich küsste ihn noch einmal intensiv, bis ich es nicht mehr erwarten konnte. Ich drückte ihn mit seinem Bauch in meine Kissen, positionierte mich und schob mich endlich in ihn. „Fuck“, keuchte ich schwer atmend auf. Auch er stöhnte heftig. Ich wartete ein paar Sekunden und fing dann an mich zu bewegen. Laute Musik dröhnte aus den wummernden Boxen im Haus zu uns. Eminems und Ed Sheerans „River“ war in Dauerschleife zu hören. Wie passend.
Die Musik vermischte sich mit unserem Keuchen. Das hier war so verdammt gut. Nie hatte sich etwas so richtig angefühlt. Auch wenn sich das Zimmer immer noch um mich drehte, war das hier der Himmel auf Erden. Mein ganzer Körper stand in Flammen. Jede Pore meines Körpers kribbelte. Ich ließ meine Hände über seinen Körper wandern, musste so viel wie möglich von ihm berühren.
Ich bewegte mich immer schneller. Es wurde immer besser. Ich war so nah dran. Jace stöhnte laut meinen Namen, als er kam, was auch mich mitriss und wie ein elektrischer Stoß durch mich hindurchwanderte. Mein ganzer Körper spannte sich an und zuckte, als ich losließ.
Heilige. Scheiße.
Ich zog mich aus Jace zurück und brach direkt vor Erschöpfung und etwas benebelt neben ihm zusammen. Ich zog ihn fest an mich, sodass wir Löffelchen lagen und schloss meine Augen. Ich fühlte mich so leicht. So zufrieden.
Fuck, war ich vielleicht müde.