Kapitel 1
Ava
Ich komme keine zehn Meter weit, da werde ich hart von der Seite angerempelt. Ein spitzer Ellbogen bohrt sich schmerzhaft in meine Rippen. „Aua“, schreie ich. Gleichzeitig kracht der Karton, den ich in den Händen halte, zu Boden. Meine Habseligkeiten liegen verstreut vor mir auf dem Gehweg. Genervt drehe ich den Kopf und blicke in drei süffisant lächelnde Gesichter.
„Pass doch auf, wo du hinläufst“, zischt eine der drei jungen Frauen mit eisiger Stimme und wickelt sich eine platinblonde Haarsträhne um den Finger. Ihre beiden Begleiterinnen nicken zustimmend.
„Wie bitte?“ Ich kneife die Augen zusammen. „Du bist in mich hineingelaufen.“ Was erlaubt sie sich, mir die Schuld an unserem Zusammenstoß zu geben?
„Du musst nicht pampig werden.“ Die selbst ernannte Anführerin zieht die rechte Augenbraue warnend nach oben und stemmt die Hände in die Hüften. „Du bist neu auf dem Campus und wenn du nicht willst, dass dein Aufenthalt hier zu deiner persönlichen Hölle wird, gehst du uns aus dem Weg. Noch besser, du machst einen großen Bogen um uns.“
„Du leidest eindeutig an Größenwahn“, erwidere ich nüchtern und schüttle abschätzig den Kopf. Auf diese Konfrontation will ich mich nicht einlassen.
Die Auseinandersetzung mit den drei Mädels bleibt nicht unbemerkt. Etliche Studenten beobachten das Geschehen.
Mir fällt ein Typ in schwarzen Boots und Lederjacke auf. Lässig lehnt er an einem Baumstamm. Sein rechtes Bein hat er angewinkelt, in seinem Mund steckt eine Zigarette. Er zieht daran, stößt den Rauch aus und schnippt die Kippe ins Gras.
Ich knie mich hin, stelle die Umhängetasche neben mich und greife nach einem der silbernen Bilderrahmen, der beim Aufprall auf dem Boden zerbrochen ist. Vorsichtig lege ich ihn in die Schachtel. Wenigstens ist das Foto, das Mum und mich am Strand zeigt, heil geblieben. Der zweite Rahmen hat keinen Kratzer abbekommen. Ich strecke die Hand aus, um ihn aufzuheben. Es ist ein Schnappschuss von meinem ersten Weihnachtsfest. Mum, Dad und ich vor einem geschmückten Tannenbaum. Ich berühre beinahe das Metall des Rahmens, als ein schwarzer Pump erscheint. Die Sohle senkt sich, ein Klirren ist zu hören, gefolgt von einem Knirschen. Abrupt springe ich auf und balle die Fäuste. Wenn sie sich auf Biegen und Brechen mit mir anlegen will, bitte schön, das kann sie haben.
„Was fällt dir ein, du …?“, poltere ich.
„Entschuldige dich, Mandy, sofort“, höre ich eine Männerstimme unerbittlich hinter mir sagen.
Mandy presst die Lippen zusammen und schnaubt verächtlich. Dennoch öffnet sich ihr Mund. „Es tut mir leid“, säuselt sie. Es ist nicht zu überhören, dass sie es nicht ernst meint. Abermals wickelt sie sich eine Haarsträhne um den Finger. Dann dreht sie sich schwungvoll um und schreitet, flankiert von ihren zwei Freundinnen, mit hocherhobenem Haupt davon.
„Lass mich dir helfen.“
Ich drehe mich um und blicke in ein kantiges Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und grünen Augen.
Der junge Mann mustert mich aufmerksam. „Ich bin Liam.“ Er verzieht den Mund zu einem hinreißenden Grinsen, während ich ihn ausgiebig betrachte. Er trägt beigefarbene Stoffhosen und ein weißes Poloshirt. Darüber eine Jacke mit den Initialen des Colleges. Seine Schultern sind breit und er ist hochgewachsen.
„Danke, aber das ist nicht nötig“, murmle ich, angetan von seinem Äußern und knie mich erneut hin. Ich sammle meine Habseligkeiten wieder ein und verstaue sie im Karton. Liam geht neben mir in die Hocke und hebt den Bilderrahmen hoch, den Mandy böswillig zerbrochen hat.
„Das Foto ist etwas zerfleddert“, bemerkt er, nachdem er die Glasscherben entfernt hat. Traurig nehme ich ihm das Bild ab. Es ist das einzige, das ich von meinem Dad besitze. Er ist kurz nach Weihnachten einfach abgehauen und hat Mum und mich allein zurückgelassen, als ich sechs Monate alt war. Oft habe ich mich gefragt, warum er gegangen ist und wie es gewesen wäre, mit ihm aufzuwachsen.
Nie hatte ich das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Mum hat sich liebevoll um mich gekümmert und es hat uns an nichts gemangelt. Dennoch wäre es für mich eine Bereicherung gewesen, meinen Dad kennenzulernen.
Eigentlich hätte ich das Bild längst entsorgen sollen. Dad hat es nicht verdient, dass ich es eingerahmt und im Zimmer aufgestellt habe, und nun schleppe ich es auch noch mit ins Studentenwohnheim.
„Danke, Liam“, sage ich nachdenklich und richte mich auf.
„Doch nicht hierfür.“ Er steht ebenfalls auf, nicht ohne sich am Karton festzuhalten. Mühelos hebt er ihn hoch, obwohl er schwer ist. „In welchem Wohnheim wohnst du?“
„Gute Frage.“ Ich ziehe den Plan vom Campus aus der linken Gesäßtasche der Jeans. Das Areal ist weitläufig und es befinden sich etliche Gebäude darauf. „In dem hier.“ Ich zeige auf das Haus, das ich mit einem roten Marker umkreist habe.
„Wenn du möchtest, kann ich dir den Weg zeigen. Ich weiß, wo es langgeht.“ Dankbar nicke ich und greife nach der Tasche, um sie mir umzuhängen.
„Mandy kann ziemlich gemein sein“, sagt er, nachdem wir uns in Bewegung gesetzt haben. Als müsste er mir das erzählen. Ich habe es doch hautnah mitbekommen. „Sie sieht sich selbst als die Königin des Colleges.“ Liam verdreht die Augen. „Und das nur, weil ihr Vater der Rektor ist.“
„Dann rempelt sie wahllos Leute an und wird dann auch noch unverschämt?“ Ich kratze mich an der Stirn. Wenn hier alle so drauf sind wie Mandy, werden das anstrengende vier Jahre.
„Nein, eigentlich nicht. Vermutlich hat sie einen schlechten Tag.“ Liam bleibt an einer Straße stehen, die mitten durchs Collegegelände führt, und sieht zuerst nach links und dann nach rechts, bevor er sie überquert.
„Bist du mit ihr befreundet?“ Hoffentlich nicht. Er ist die Freundlichkeit in Person und sie eine unberechenbare Diva.
„Nein, aber wir belegen zum Teil dieselben Vorlesungen. Hast du Lust, dass ich dich morgen ein bisschen auf dem Campus herumführe?“
„Ja, sehr gerne.“ Die Vorstellung, Liam näher kennenzulernen, gefällt mir. „In welchem Jahr bist du?“ Vor uns taucht eine Ansammlung von zweistöckigen Häusern auf.
„Im dritten. Ich studiere Wirtschaft und bin im Football-Team.“
„Das studiere ich auch, du musst mir unbedingt erzählen, wie die Professoren sind.“ Es kann nicht schaden, wenn ich weiß, worauf ich in den Vorlesungen achten muss. Vielleicht überlässt er mir die eine oder andere Klausur, die er schreiben musste. Das wäre perfekt, um mich noch besser mit dem Stoff auseinanderzusetzen.
Dass ich ein Stipendium erhalten habe, ist meinem Ehrgeiz und meinem Fleiß zu verdanken. Mum hätte sich dieses College nicht leisten können. Es ist eines der besten des Landes und es war immer mein Traum, hier angenommen zu werden.
„Sicher doch. Ich trage dir den Karton noch bis zu deinem Zimmer. In welchem Stock liegt es?“ Abermals ziehe ich den Plan hervor.
„Zweihundertzwölf, also in der obersten Etage.“
Liam geht voran und ich folge ihm. Im Inneren wimmelt es von Neuankömmlingen. Er bahnt sich einen Weg durch das Gewusel und ich gebe mein Bestes, damit ich nicht den Anschluss verliere. Mehr als einmal muss ich stoppen, um nicht mit einem meiner Mitstudenten zusammenzustoßen. Der Gang ist eng und das Stimmengewirr ohrenbetäubend.
Liam deutet mit dem Kopf auf eine Tür. Ich schließe zu ihm auf und erkenne die zweihundertzwölf darauf. Gespannt drücke ich die Klinke nach unten.
Das Zimmer ist leer und nicht gerade geräumig. Links und rechts an der Wand steht je ein Bett, daneben jeweils eine Kommode. Auf dem linken Bett liegen Klamotten, somit stelle ich die Tasche auf dem rechten ab. Liam hievt den Karton auf die Kommode.
„Gib mir doch deine Telefonnummer, dann melde ich mich morgen bei dir.“ Er wuschelt sich mit der Hand durchs kurze, blonde Haar und lächelt verschmitzt. Bei seinem hinreißenden Anblick schmelze ich unweigerlich ein kleines Stück dahin. Ich nenne ihm meine Nummer und als ich ende, sieht er mich mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an. „Verrätst du mir noch deinen Namen?“
„Ava“, krächze ich mit belegter Stimme und könnte mir eine Ohrfeige verpassen. Jetzt hat er sicherlich mitbekommen, dass er mir gefällt.
„Wir sehen uns“, raunt Liam verführerisch und dreht sich um. Er verlässt den Raum und stößt um Haaresbreite mit einer mir unbekannten Frau zusammen. Sie muss meine Mitbewohnerin sein.
Ihr Blick heftet sich auf Liams Rücken. Minuten später sieht sie ihm immer noch nach, obwohl er längst verschwunden ist. „Was macht einer der angesagtesten Typen des Colleges in unserem Zimmer?“ Während sie spricht, dreht sie sich zu mir um. „Ich bin nun schon seit einem Jahr hier und Liam weiß nicht einmal, dass ich existiere.“ Theatralisch wirft sie die Hände in die Luft. „Und du bekommst ihn an deinem ersten Tag dazu, hier aufzukreuzen.“ Ungläubig schüttelt sie den Kopf. Die Spitzen ihres braunen Bobs wippen hin und her.
„Er hat meinen Karton getragen“, erwidere ich zögernd, überrascht von ihrem aufgebrachten Gemütszustand. Meine Mitbewohnerin plumpst aufs Bett und streift sich die Sneaker von den Füßen.
„Wow“, ruft sie und ihre blauen Augen werden groß. „Das hätte ich von Mister Oberheiß, der nur mit seiner Clique abhängt und sich benimmt, als hätte er auf dem Campus das Sagen, nicht erwartet.“ Sie erhebt sich und hält mir die Hand hin. „Madison.“
Ich ergreife und schüttle sie. „Ava, es freut mich, dich kennenzulernen.“
Madison hat ein hübsches Gesicht und eine Stupsnase. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir uns gut verstehen werden, auch wenn sie zur Dramatik zu neigen scheint.
„Soll ich dir beim Auspacken helfen?“ Sie zieht die oberste Schublade der Kommode heraus.
„Sehr gerne, das ist lieb von dir.“ Ich öffne die Tasche und reiche ihr einen Stapel Kleider nach dem anderen. Sie verstaut diese in den Schubladen und ich komme nicht umhin, mir ihre Worte noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. So wie sie Liam vorhin beschrieben hat, ist er nicht gerade ein feiner Kerl. Mit Überheblichkeit und Arroganz habe ich Mühe. Dennoch werde ich mir morgen von ihm den Campus zeigen lassen. Dabei werde ich schnell herausfinden, ob sie mit ihrer Beschreibung von ihm richtig liegt.
„Woher kommst du?“, frage ich, falte die leere Tasche zusammen und schiebe sie unters Bett.
„Boston.“ Madison schließt die Schublade der Kommode und betrachtet mich aufmerksam. „Deine Haut ist sonnengebräunt. Ich tippe auf Kalifornien, Hawaii oder Florida. Du hast etwas von einem Beachgirl mit deinen langen, blonden Haaren und den blauen Augen.“
„Los Angeles“, erwidere ich lachend. „Aber surfen kann ich nicht.“
„Wenn ich mit dem Studium fertig bin, will ich nach L. A. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, möchte ich mich als Schauspielerin versuchen. Deswegen studiere ich neben Jura noch Theaterwissenschaften.“ Sie räuspert sich und hält sich den Handrücken an die Stirn. „Ich fühle mich auf einmal so schwach.“ Leicht schwankt sie hin und her. „Liam, hat deinen Karton getragen.“ Sie taumelt rückwärts aufs Bett zu. „Oh, das haut mich aus den Latschen.“
Ich pruste los und klatsche, während sie ächzend aufs Bett fällt.
Talent hat sie auf jeden Fall, wenn sie es nicht in Filmen zum Einsatz bringen kann, dann im Gerichtssaal. Dort kann Theatralik nicht schaden, um die Geschworenen zu beeinflussen. Auch gefällt mir ihre Einstellung, sich nicht nur auf ihren Traum zu fokussieren, sondern noch einen Plan B in der Hinterhand zu haben.
Es klopft an der Tür, die sogleich geöffnet wird.
„Bist du so weit?“, fragt ein schlaksiger Mann mit einer Brille auf der Nase.
„Jap“, meint Madison an ihn gewandt, richtet sich auf, schlüpft in die Sneakers und läuft auf ihn zu. „Möchtest du mitkommen, wir gehen in die Stadt.“ Sie dreht den Kopf und sieht mich über die Schulter hinweg an.
„Nein, ich möchte noch die restlichen Sachen auspacken und dann meine Mum anrufen.“ Ich winke ihr zum Abschied zu.
Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss und ich räume den Karton aus. Das Bild von Mum und mir stelle ich auf die Kommode. Den Schnappschuss mit Dad lege ich in die Tasche unter dem Bett. Es ist an der Zeit, dass ich mich von dem Wunsch befreie, ihn kennenzulernen. Als würde er sich nach so vielen Jahren einfach bei mir melden.
Ich nehme das Smartphone und lege mich auf die Matratze. Es klingelt eine Ewigkeit, bis Mum rangeht.
„Hallo, Sonnenschein“, sagt sie und ich verdrehe die Augen. Ich bin keine zehn mehr, wann hört sie endlich auf, mich so zu nennen?
„Mum.“ Ich stöhne und ihr helles Lachen dringt an mein Ohr.
„Du wirst immer mein Sonnenschein sein.“ Der neckende Unterton in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Abermals gebe ich einen gequälten Laut von mir. „Hast du dich gut eingelebt?“
„So weit, so gut, aber von eingelebt kann nicht die Rede sein. Ich bin erst seit drei Stunden hier.“
„Ich fühle mich schrecklich, dass ich dich nicht begleiten konnte.“ Sie klingt traurig.
„Ich habe es dir zwar schon schätzungsweise hundertmal gesagt, dennoch wiederhole ich mich gerne noch einmal: Es ist kein Problem für mich, dass du nicht mitgekommen bist.“ Kurz halte ich inne, um meinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. „Nie hätte ich gewollt, dass du die Flitterwochen mit Alexander sausen lässt, nur damit du hier sein kannst.“
Mum kennt Alexander zwar erst seit ein paar Monaten, aber die beiden haben sich Knall auf Fall ineinander verliebt. Ich bin überglücklich, dass Mum nach all den Jahren ihr perfektes Gegenstück gefunden hat. Seit sich die zwei kennen, strahlt sie unentwegt. Kurz bevor ich zum College aufgebrochen bin, haben sie sich das Jawort gegeben und am Tag darauf sind sie nach Hawaii geflogen.
Ich mochte Alexander vom ersten Moment an. Er strahlt eine Ruhe und Gelassenheit aus, die ansteckend ist. Somit ist er der passende Gegenpol zu meiner quirligen Mum.
„Ich weiß, dennoch fühle ich mich schlecht.“
„Musst du nicht und nun schwimm eine Runde im Pool oder schlürfe einen Cocktail.“
„Wenn du darauf bestehst.“ Mums Stimme klingt nun wieder unbeschwert. „Ich habe dich lieb und wenn irgendetwas ist, melde dich.“
„Werde ich, versprochen.“ Ich lege das Telefon zur Seite und schließe die Lider. Die Fahrt zum Campus war lang und eine bleierne Müdigkeit legt sich auf mich. Es dauert nicht lange, bis ich einnicke.
Tyler
Wenn ich das Treiben auf dem Campus beobachte, fühle ich mich wie im Kindergarten. Reiche, versnobte Kids benehmen sich, wie es ihnen gefällt. Nur mich lassen sie in Ruhe, weil sie sich vor mir fürchten. Mein Ruf eilt mir voraus. Auch wenn nicht alles davon der Wahrheit entspricht, denke ich nicht daran, das aufzuklären. Ist der Ruf erst einmal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. In diesen Worten steckt mehr Wahrheit, als ich für möglich gehalten hätte. Wenn ich mich den anderen Studenten nähere, weichen sie eingeschüchtert zurück und lassen mich dabei nicht aus den Augen.
Mandy und ihre Freundinnen haben ein neues Opfer gefunden. Die Blondine kann einem leidtun. Angewidert über Mandys Verhalten, sehe ich zu, wie sich die blonde Frau bückt, um ihre Sachen einzusammeln. Dabei streckt sie ihren wohlgeformten Hintern in meine Richtung. Ein Anblick, der mir gefällt. Wenn die Umstände anders wären, würde er mir noch besser gefallen. Ihre nackte Kehrseite vor mir wäre eine nette Versuchung.
Jetzt tritt die dumme Kuh auch noch auf einen Gegenstand, der auf dem Boden liegt. Kurz bin ich geneigt, mich vom Baum abzustoßen und hinüberzugehen. Aber ich halte mich aus den perfiden Spielchen raus, die sich vor meinen Augen abspielen. Ich widerstehe dem Drang, meine Regel Nummer eins, mich in fremde Angelegenheiten einzumischen, zu brechen, und verharre.
Ein Knurren löst sich aus meinem Mund. Ausgerechnet Liam, der aufgeblasene Arsch, eilt der Blondine zu Hilfe. Was wird hier gespielt? Ich will es gar nicht wissen, für mich zählt nur, mein Studium in einem Jahr erfolgreich abzuschließen, ohne gegen die Bewährungsauflagen zu verstoßen und nochmals im Knast zu landen. Der Rest ist mir verdammt noch mal egal.
Kapitel 2
Ava
Wie vereinbart warte ich vor dem Studentenwohnheim auf Liam. Madison lag noch schnarchend im Bett, als ich das Zimmer verlassen hatte. Dabei hätte ich sie gerne gefragt, ob sie in Liam verschossen ist, und ich wollte ihr sagen, dass ich mich mit ihm treffe, was ich nun nicht konnte.
„Ava“, ruft Liam und kommt auf mich zu. Ich gehe ihm entgegen. Zu meiner Überraschung umarmt er mich zur Begrüßung, was sich aufregend anfühlt. Obwohl ich weiche Knie bekomme, bewahre ich einen kühlen Kopf. Mir ist nicht entgangen, wie uns einige der umstehenden Studenten verblüfft ansehen.
„Wo fangen wir an?“, frage ich und löse mich von ihm.
„Mit den Vorlesungsräumen, die du für dein Studium brauchst.“ Ich nicke und schlendere neben ihm her.
Zwei Stunden später weiß ich nicht nur, wo sich die Räume befinden, sondern habe auch eine Zusammenfassung zu jedem Professor erhalten. Ich kann es kaum erwarten, bis die Vorlesungen am Montag beginnen.
„Wir könnten noch einen Kaffee trinken“, meint Liam, als wir das Hauptgebäude hinter uns lassen.
„Gerne, ich lade dich ein“, erwidere ich und laufe los.
„Das ist die falsche Richtung.“ Liam lacht, greift nach meiner Hand und zieht mich zu sich heran. „Wir müssen da entlang.“ Er deutet mit dem Zeigefinger der linken Hand hinter sich.
„Aber die Cafeteria ist doch dort drüben.“ Nun bin ich es, die hinter sich deutet.
„Du hast gut aufgepasst“, sagt er und tritt noch einen Schritt näher an mich heran. „Aber ich möchte in die Stadt, dort sind wir ungestört. Außerdem kenne ich das beste Café weit und breit.“ Das leise Knurren meines Magens erinnert mich daran, dass ich heute noch nichts gegessen habe.
„Du hast mich überzeugt.“ Langsam trete ich einen Schritt zurück. Kaum zehn Zentimeter vor Liam zu stehen, lässt meine Hormone tanzen. Dass er mir unentwegt tief in die Augen sieht und ich seinen herben Geruch einatme, macht es nur noch schlimmer. Dabei will ich mich doch zuerst versichern, dass er nicht so ist, wie Madison angedeutet hat.
„Ich fahre.“ Liam lässt meine Hand los und zwinkert mir zu. Wir erreichen die Parkplätze, er steuert auf einen roten Sportwagen zu und öffnet die Beifahrertür, damit ich einsteigen kann, dann schließt er sie wieder. Liam lässt sich auf den Fahrersitz gleiten und startet den Motor. Laute Musik dröhnt durch das Wageninnere. Er macht sie aus und fährt los.
„Du bist wirklich hübsch“, durchbricht er nach einer Weile die Stille und sieht flüchtig zu mir hinüber.
„Danke“, stammle ich verlegen. Eine verräterische Wärme breitet sich auf meinen Wangen aus. Er gefällt nicht nur mir, sondern ich auch ihm. Meine Handflächen werden feucht.
„Hast du einen Freund?“, fragt er und wirkt dabei überhaupt nicht aufdringlich.
„Nein, bis jetzt hatte ich noch keinen.“ Es ist mir unangenehm, das zuzugeben, aber ich will ehrlich zu ihm sein. Falls sich zwischen uns etwas entwickeln sollte, ist es mir lieber, wenn er Bescheid weiß. Ihm soll bewusst sein, dass ich keine Frau für eine Nacht bin.
„Da habe ich aber Glück“, raunt er und beißt sich auf die Unterlippe. Während ich darüber sinniere, ob er damit meint, dass ich Single oder noch Jungfrau bin, erreichen wir das Café. Er möchte aussteigen, doch ich halte ihn am Arm zurück.
„Auf die Gefahr hin, dass ich mich zum Deppen mache. Wie soll ich deine Aussage von vorhin genau verstehen?“ Ich sehe ihm fest in die Augen.
Liam räuspert sich. „Dass es schön ist, dass du ungebunden bist.“ Er hält meinem Blick stand und meine Zweifel lösen sich allmählich in Luft auf. Kaum merklich schüttle ich den Kopf. Hätte Madison nicht gesagt, was sie gesagt hat, würde ich Liam nicht wiederholt hinterfragen. Ich sollte ihrer Bemerkung nicht zu viel Gewicht verleihen. Er hat mir geholfen und sich bis jetzt anständig verhalten.
Wir betreten das Lokal, das gut besucht ist. Liam begrüßt die Kellnerin, die uns umgehend einen freien Tisch zuweist. Nachdem wir bestellt haben, sehe ich mich um. Das Café ist klein und hat Charme. Ich fühle mich, als wäre ich in Frankreich, obwohl ich noch nie dort war. Auf jedem Tisch steht eine kleine Flagge in den Farben Blau, Weiß und Rot. An den Wänden hängen Bilder vom Eiffelturm und anderen Sehenswürdigkeiten.
„Heute Abend steigt in unserem Verbindungshaus eine Party, um den Beginn des neuen Studienjahrs zu feiern. Du kannst sehr gerne kommen.“
Skeptisch betrachte ich ihn. Unschöne Erinnerungen drängen sich in mein Bewusstsein.
„Madison ist auch eingeladen.“ Er muss mein Unwohlsein bemerkt haben, vorsichtig legt er die Hand auf meine und sieht mich aufmunternd an.
„Danke, aber ich stehe nicht auf Partys. Ich fühle mich da einfach nicht wohl.“ Das ist nicht gelogen, dennoch gibt es noch einen anderen Grund, den ich ihm jedoch nicht offenbaren will. „Aber es ist lieb von dir, dass du mich gefragt hast.“
„Dann vielleicht ein anderes Mal.“ Enttäuscht zieht er die Hand zurück. Er wirkt nachdenklich, als wir unsere Sandwiches serviert bekommen. Offensichtlich möchte er etwas mit mir unternehmen und das möchte ich auch.
„Wir könnten uns am Sonntag einen Film ansehen“, sage ich und beiße in mein Pastrami-Sandwich, das himmlisch schmeckt.
„Das ist sogar noch besser“, schnurrt er zufrieden. „Ich hole dich ab, dann gehen wir zu mir.“ Ehe ich es mich versehe, nicke ich, obwohl ich eigentlich davon ausgegangen war, dass wir ins Kino gehen. Die Vorstellung, mit ihm zusammen in seinem Zimmer einen Film anzusehen, macht mich ganz hibbelig.
Ich begleiche die Rechnung, was Liam nur widerstrebend zulässt, und wir verlassen das Lokal. Wie vorhin auch öffnet er mir gentlemanlike die Beifahrertür. Es gefällt mir, wie aufmerksam und zuvorkommend er ist. Das gibt mir das Gefühl, etwas Besonderes für ihn zu sein.
„Was möchtest du dir morgen ansehen?“, fragt er und fädelt sich in den Verkehr ein.
„Ich liebe Horrorfilme, auch wenn ich dann nicht mehr schlafen kann.“
Liam lacht laut auf. „Das ist ziemlich widersprüchlich“, bemerkt er, seine Mundwinkel zucken immer noch.
„Ja, du musst einfach damit rechnen, dass ich dabei kreische und mir mitunter auch ein Kissen vor den Kopf halte.“ Ich stupse ihn in die Seite, weil er mich mit einem „Frauen sind kompliziert“-Blick bedenkt.
„Das kann ich handeln. Du darfst dein Gesicht auch gerne in meinem Schoß vergraben.“ Liam schenkt mir ein anzügliches Grinsen und ich stupse ihn abermals in die Seite. Dieses Mal vehementer als zuvor. Er lässt kurz das Lenkrad los und hält die Hände abwehrend in die Luft.
„Wer weiß, vielleicht bist du es, der sich am Schluss hinter mir versteckt, weil es dir zu gruslig ist.“ Herausfordernd sehe ich ihn an.
„Das kannst du vergessen.“ Liam grinst. „Ich freue mich darauf, morgen Zeit mit dir zu verbringen.“ Er legt die Hand auf mein Knie, was mir ein angenehmes Kribbeln an der Stelle auf der Haut beschert, wo er den Jeansstoff berührt.
Liam biegt auf den Campusparkplatz ein, hält den Wagen an und dreht sich zu mir um.
„Sollte dir Mandy nochmals Probleme bereiten, gib mir Bescheid. Ich kümmere mich darum.“ Auf einmal klingt er ernst und ich schlucke angespannt.
„Denkst du, das wird sie?“ Gott bewahre, bin ich nun ihre Feindin? Kaum vierundzwanzig Stunden hier und ich habe mich schon unbeliebt gemacht. Wofür ich rein gar nichts kann.
„Nein, aber falls doch, ruf mich an. Ich werde mit ihr fertig.“ Ich nicke und hoffe, dass ich mich aus diesem Grund nicht bei ihm melden muss. Zum Abschied drücke ich ihn und steige aus. Meine Stimmung könnte nicht besser sein. Morgen habe ich ein Date mit Liam.
***
Ich betrete das Zimmer im Wohnheim.
Madison steht zurechtgemacht vor dem Spiegel und betrachtet argwöhnisch ihr Seitenprofil. Dabei zupft sie immer wieder an ihrem ledernen, kurzen Rock. „Wirkt mein Hintern unförmig?“ Sie dreht sich noch mehr zur Seite und begutachtet sich inzwischen über die Schulter hinweg. „Er ist zu kurz, es muss daran liegen“, murmelt sie frustriert und schlägt die Hände vors Gesicht.
„Was redest du da!“, rufe ich und trete neben sie. „Das Teil steht dir hervorragend. Du siehst heiß aus.“ Aufmunternd nicke ich ihr zu. Madison hat eine Topfigur mit Rundungen. Was würde ich dafür geben, ihre volle Oberweite zu besitzen! Leider hat mein Busen aufgehört zu wachsen, kaum hat er damit angefangen. Ich tröste mich damit, dass er nie hängen wird, egal wie alt ich bin.
Auf Madisons Gesicht zeichnet sich ein Strahlen ab. „Wo warst du eigentlich den ganzen Tag?“ Sie setzt sich auf die Matratze und zieht schwarze Stilettos unterm Bett hervor.
„Ich war mit Liam unterwegs, er hat mir den Campus gezeigt“, erkläre ich und hoffe, das verletzt ihre Gefühle nicht. Immer noch weiß ich nicht, ob sie in ihn verknallt ist.
„Echt jetzt?“ Wie gestern schon werden ihre Augen groß. „Liam ist an dir interessiert. Mannomann, da bleibt mir die Spucke weg.“
„Dann stört es dich nicht? Du hast gestern von ihm geschwärmt, darum …“
Madison winkt ab. „Nein, warum sollte es? Ich bin an jemand ganz anderem interessiert.“ Verträumt starrt sie ins Leere.
„Und wer ist das?“, frage ich interessiert und erleichtert zugleich.
„Jayden. Er ist ein Freund von Liam, hat mich bis jetzt aber noch nie beachtet.“ Auf einmal funkeln ihre Augen und sie wirkt ganz aufgeregt. „Wenn das mit dir und Liam etwas wird, könnte sich das bald ändern.“ Sie reibt die Hände aneinander und sieht mich erwartungsvoll an.
„Ich lerne Liam gerade erst kennen und auch wenn ich ihn mag, weiß ich nicht, ob wir je zusammen kommen.“ Entschuldigend verziehe ich das Gesicht und beichte ihr mit leiser Stimme: „Wir hätten heute auf eine Verbindungsparty gehen können, die in seinem Wohnheim stattfindet. Ich habe abgelehnt.“
Madison sackt in sich zusammen, die Enttäuschung, die sie gerade durchfährt, ist nicht zu übersehen. „Warum hast du nicht zugesagt?“
„Weil ich nicht gerne auf Partys gehe. Auf der ersten und letzten, auf der ich war, habe ich eine schlechte Erfahrung gemacht.“ Meine Stimme ist brüchig und in meinem Hals bildet sich ein Kloß.
Meine Mitbewohnerin erhebt sich, kommt auf mich zu und legt mir eine Hand auf die Schulter. „Schon gut, ich bin deswegen nicht sauer. Magst du mir erzählen, was vorgefallen ist?“ Ich bleibe stumm, darum spricht sie weiter. „Natürlich nur, wenn du möchtest.“
Gedankenverloren sinke ich aufs Bett. „Seit ich denken kann, war ich in einen Typen aus unserer Clique verknallt. Er war ein Jahr älter als ich, aber ich war immer zu schüchtern, um ihn anzusprechen. Das hat sich geändert, als ich vor zwei Jahren mit sechzehn auf einer Hausparty war, was daran lag, dass ich Alkohol getrunken habe. Leider habe ich den Drink nicht gut vertragen, er stieg mir schnell zu Kopf. Meinem Schwarm ging es nicht viel besser. Irgendwann saßen wir betrunken zusammen auf der Couch und ich habe ihm gestanden, dass ich ihn mag.“
Madison setzt sich neben mich und hält meine Hand. Vermutlich hat sie schon eine Ahnung, worauf es hinausläuft.
Ich räuspere mich. „Meine Freude war grenzenlos, als er mich anlächelte und dann küsste. Genau davon hatte ich immer geträumt. Jede Sekunde genoss ich und wünschte mir, dieser Kuss würde niemals enden. Das änderte sich schlagartig. Seine Hand glitt unter meinen Rock und ich fühlte die Fingerspitzen am Oberschenkel entlang nach oben wandern.“ Mein Magen verkrampft sich und das Gefühl der Hilflosigkeit holt mich ein. Nur mit Mühe gelingt es mir, die Bilder in meinem Kopf zu verdrängen. „Ich war zu benommen, um ihn zu stoppen, und er zu dicht, um zu bemerken, dass mir das zu schnell ging.“ Ich blicke zu Madison hinüber, die ganz bleich geworden ist und mich mitleidig ansieht. „Ich hatte schlussendlich Glück im Unglück. Unseren Freunden ist aufgefallen, dass wir rummachten. Sie hielten das in Anbetracht unseres alkoholisierten Zustandes für keine gute Idee und haben uns getrennt.“
Madison atmet erleichtert auf. „Was ist dann geschehen?“, fragt sie und drückt meine Hand.
„Mein ehemaliger Schwarm hat mir einen dreiseitigen Entschuldigungsbrief geschrieben. Monatelang konnte er mir nicht mehr in die Augen sehen. Irgendwann habe ich ihn darauf angesprochen und wir konnten die Sache klären. Der Vorfall tat ihm unendlich leid. Er ist kein schlechter Mensch.“ Ich presse die Lippen zusammen. „Auf jeden Fall, habe ich keine Lust, nochmals Alkohol zu trinken und die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren. Auch will ich nicht auf Partys gehen, wo ein Betrunkener einen womöglich ungefragt angrabscht.“
Madison nickt verständnisvoll. „Ich gehe heute Abend aus“, erklärt sie nach einer Weile. „Begleite mich. Wir gehen in eine Bar, nicht weit vom Campus entfernt. Dort wird kein Alkohol ausgeschenkt. Wir können Dart oder Billard spielen.“
Nachdenklich kaue ich auf einem meiner Nägel, eine grässliche Angewohnheit von mir.
„Ich möchte dich in deinem aufgewühlten Zustand ungern allein lassen. Wenn du nicht mitkommen möchtest, gehe ich auch nicht“, sagt Madison nach einer Weile, weil ich stumm bleibe.
Leise schniefend umarme ich sie. Madison ist nicht nur ein herzensguter Mensch, sondern auch die perfekte Mitbewohnerin. Meine perfekte Mitbewohnerin.
„Gehen wir.“ Die Vorstellung, mit meinen trüben Gedanken in diesem winzigen Zimmer zu hocken, behagt mir nicht. Abwesend reibe ich über die Stelle am Oberschenkel, wo ich vor Jahren ungewollt angefasst wurde.
Kapitel 3
Ava
Ich parke direkt neben der Bar, an der ein großes Neonschild prangert. In roten geschwungenen Buchstaben steht darauf: Irish Pub.
Madison und ich steigen aus und betreten das Lokal. Es ist halb leer. Die Einrichtung ist komplett aus Holz und sieht aus, als hätte sie schon bessere Tage gesehen. In den Tischen hat es tiefe Kratzer und von den Stühlen blättert die Lackierung ab. In einer Ecke stehen zwei Billardtische, daneben ein Dartkasten. Ich steure die Bar an und bestelle zwei Cola. Mit denen gehe ich zu Madison hinüber, die gerade die Kugeln auf einem der Billardtische arrangiert.
„Fang an.“ Sie lächelt verschmitzt. Ich nehme einen Schluck von der Cola und schnappe mir eines der Queues. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal gespielt habe, dennoch treffe ich das Dreieck aus Bällen in der Mitte. Die volle grüne Kugel verschwindet im oberen, rechten Loch. Ich recke den Arm in die Luft und Madison klatscht anerkennend in die Hände.
„Was weißt du eigentlich über Liam?“, frage ich und beuge mich erneut über den Tisch. „Du hast nicht gerade gut über ihn gesprochen.“ Ich rutsche ab und versenke die weiße Kugel. Mist!
Madison grinst und bringt sich in Position. „Nicht viel, ich kenne ihn nicht persönlich. Was ich gesagt habe, meinte ich nicht so. Du kennst doch die Beliebten, die stolzieren immer selbstsicher über den Campus und meinen, sie müssen irgendwelche Witze über andere reißen, um noch besser dazustehen. War bei dir an der Highschool bestimmt auch so. Glaub mir, das ändert sich auf dem College leider nicht.“ Sie richtet sich abrupt auf. „Aber mir ist das eine oder andere zu Ohren gekommen. Ob das stimmt oder nicht, kann ich jedoch nicht beurteilen.“
Gespannt spitze ich die Lauscher.
„Anscheinend wechselt er seine Freundinnen so häufig wie andere ihre Unterhosen. Er langweilt sich offenbar erschreckend schnell.“ Madison zuckt vielsagend mit den Schultern und ich kaue schon wieder auf einem meiner Nägel.
Sie kommt auf mich zu, drückt meine Hand nach unten und sieht mich streng an. „Er muss dich mögen, denn bis jetzt habe ich noch nie mitbekommen, dass er Kartons für Neuankömmlinge schleppt und ihnen freiwillig auch noch den Campus zeigt. Vermutlich hat er bisher einfach nicht die Richtige gefunden.“
Ich grüble über ihre Worte nach. Dass ausgerechnet ich die Richtige sein könnte, bezweifle ich. Liam ist beliebt und wird offensichtlich von vielen Frauen angehimmelt. Ich hingegen bin neu auf dem Campus und eher unscheinbar. Madison versenkt eine Kugel nach der anderen. Sie beherrscht das Spiel. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie jedes Wochenende hier wäre.
Das Pub füllt sich und ich verliere. Der Geräuschpegel ist merklich gestiegen. Ich lege das Queue zurück, sonst denkt Madison noch, ich will eine Revanche.
„Lass uns Dart spielen“, sage ich und trage die Gläser zu einem Tisch, der direkt danebensteht. Dieses Mal fängt Madison an. Mein Blick schweift durch den Raum und bleibt an einem Mann in einem schwarzen T-Shirt hängen, der in einer Nische sitzt. Auf seinem Schoß räkelt sich eine Rothaarige, mit der er intensive Küsse austauscht. Seine Hände wandern unter ihr Shirt und er umfasst ihre Brüste. Die Frau wirft den Kopf in den Nacken. Es ist wie bei einem Autounfall, man will nicht hinsehen, tut es aber trotzdem.
Für mich käme es nie infrage, mit jemandem derart in der Öffentlichkeit rumzumachen. Dennoch wünsche ich mir, auch so von einem Mann angefasst zu werden. Wie sich das wohl anfühlt?
Je länger ich die beiden beobachte, desto bekannter kommt mir der Kerl vor. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Typen, der gestern am Baum lehnte und rauchte. Genau wie er trägt er schwarze, halbhohe Stiefel. Neben ihm liegt eine schwarze Lederjacke. Er muss es sein.
Die Frau fängt an, sich ungeniert an ihm zu reiben. Er lässt sie los, lehnt sich zurück und legt die Arme auf die Lehne. Dabei bemerkt er, dass ich ihn anstarre. Mit seinen Lippen formt er „Was?“ und kneift die Augen zusammen. Er hat mich ertappt. Hastig drehe ich den Kopf, meine Wangen pochen. Madison zieht ihre Pfeile aus der Scheibe.
Mein erster Pfeil kracht in die Wand neben dem Dartkasten und landet auf dem Boden. Ich glaube, den Blick des Unbekannten im Rücken zu spüren, getraue mich aber nicht, mich umzudrehen. Ich bücke mich, um den Pfeil aufzuheben.
„Da bist du ja“, quiekt Madison aufgeregt und umarmt ihren Freund, der sie gestern abgeholt hat. Dann stellt sie ihn mir vor.
„Setzen wir uns, am besten dort in die Ecke“, meint Madison und geht voran. Ich greife unsere Gläser und folge ihr.
„Lehn dich nach vorn, in meine Richtung“, flüstert Madison, kaum dass wir Platz genommen haben. Im Augenwinkel sehe ich, wie ihr Freund einen Flachmann aus der Jackentasche zieht.
Ich rolle mit den Augen und seufze. „Madison, das ist verboten“, zische ich leise.
„Das gehört hier zum guten Ton, das machen alle. Nur ein kleiner Spritzer Jack für den guten Geschmack.“ Sie dreht den Kopf. „Für Ava nicht, sie trinkt keinen Alkohol.“
Entgeistert sehe ich sie an. Sie hat mir versichert, hier wird nicht getrunken. Meine Enttäuschung spiegelt sich offenbar in meinem Gesicht wider, denn Madison presst die Lider zusammen. Wenigstens besitzt sie den Anstand, ihren Freund darauf hinzuweisen, meine Cola in Ruhe zu lassen.
„Hier lässt sich niemand volllaufen, wirklich nicht. Wenn man zu viel intus hat, fällt das dem Personal auf und man bekommt Hausverbot. Das riskiert niemand.“
Auch wenn ich ihr das glaube, fühle ich mich hintergangen.
„Es tut mir leid, ich habe nicht nachgedacht.“ Madison schiebt ihre Cola zur Seite. „Bitte sei mir nicht böse.“ Sie sieht mich mit einem reumütigen Blick an, der es mühelos mit jedem Welpen aufnehmen kann, und mein Unmut verpufft. „Wir sind immer noch Freundinnen, oder?“
Ich nicke und schiebe ihr die Cola vor die Nase. Madison lächelt und wir stoßen an.
„Was soll das?“, ruft Madisons Freund, während mir Flüssigkeit ins Gesicht spritzt. Erschrocken zucke ich zusammen, als ein Glas neben mir klirrend auf dem Boden landet.
Ich hebe den Kopf und erkenne Mandy und ihre zwei Freundinnen, die neben unserem Tisch stehen.
„Wage es ja nicht, mich anzusprechen, du Nerd“, kläfft Mandy ihn an. Wie immer sind ihre Kommentare beleidigend. Einen tieferen Sinn dahinter sucht man vergebens.
„Was ist passiert?“, frage ich verwirrt, nachdem die drei in der Menge verschwunden sind.
„Sie wollte den Inhalt ihres Glases über deinen Kopf kippen. Mir gelang es gerade noch, ihren Arm wegzustoßen.“ Madisons Freund schüttelt den Kopf. „Sie hat es auf dich abgesehen“, sagt er und sieht mich fragend an.
Ich stütze die Ellbogen auf der Tischplatte auf und vergrabe den Kopf in den Händen. „Hat sie, aber ich weiß beim besten Willen nicht, warum“, nuschle ich zwischen den Fingern hindurch.
„Sag es Liam, der soll ihr Einhalt gebieten.“ Madison lässt die Faust auf den Tisch krachen. Schmerzverzerrt verzieht sie das Gesicht und schüttelt die Hand.
Unweigerlich muss ich schmunzeln. So fest zuzuschlagen, dass es wehtut, passt zu ihrer dramatischen Art.
„Denkst du wirklich, das wird sie aufhalten?“ Ich fische einen Eiswürfel aus der Cola und reiche ihn ihr.
„Ja. Auf Liam hört hier jeder. Er hat das Sagen.“ Madison drückt sich das Eis auf die schmerzende Stelle.
„Na gut, dann werde ich ihn darum bitten.“ Eigentlich wollte ich mich nicht aus diesem Grund bei ihm melden. Er soll nicht denken, ich sei hilflos und könne nicht auf mich selbst aufpassen. Das erweckt einen erbärmlichen Eindruck und das ausgerechnet bei dem Mann, der es mir angetan hat.
Ruckartig stoße ich mich vom Tisch ab und stehe auf. „Ich gehe“, murmle ich niedergeschlagen.
„Lass dir von diesem Miststück nicht den Abend ruinieren.“ Meine Mitbewohnerin blickt zu mir hoch.
„Sollte ich nicht, aber hierfür ist es zu spät.“
„Dann komme ich mit.“ Madison springt auf.
„Nein, bleib hier. Mein Auto steht gleich neben dem Eingang und die Fahrt ist kurz.“ Es reicht, wenn mein Abend im Arsch ist, Madison braucht nicht darunter zu leiden.
„Sicher? Es macht mir nichts aus, zu gehen.“ Ihre Worte verraten mir, dass ich in Madison eine echte Freundin gefunden habe.
„Absolut.“ Ich winke Madison und ihrem Freund zum Abschied und verlasse die Bar. Dabei passiere ich die Nische, die ich zuvor aufmerksam beobachtet hatte. Sie ist leer.
Ich trete ins Freie und zücke das Smartphone. Als ich die Hälfte der Nachricht an Liam schon getippt habe, kommt mir eine bessere Idee. Meine Probleme löse ich selbst. Ich werde Mandy darauf ansprechen, warum sie mich drangsaliert und schikaniert. Wenn das nichts bringt, kann ich mich immer noch bei Liam melden. Mit gestrafften Schultern laufe ich los. So schnell lasse ich mich nicht unterkriegen.
„Verdammte Scheiße!“, vernehme ich eine aufgebrachte Männerstimme. Es hört sich an, als stünde jemand direkt neben mir. Ich blicke mich um, kann jedoch niemanden ausmachen.
„Nun spring schon an.“ Die Stimme hat einen verzweifelten Unterton angenommen.
Vorsichtig spähe ich in die dunkle Gasse neben der Bar. Das spärliche Licht der Straßenlaterne neben mir reicht nicht weit genug, um sie zu erhellen. Schemenhaft sind die Umrisse einer Person sowie eines Motorrads zu erkennen.
„Das kannst du mir nicht antun.“ Der Mann sinkt mit dem Rücken an der Wand entlang zu Boden. Er zieht etwas aus seiner Jackentasche hervor. Das Klicken eines Feuerzeugs ertönt. In der schwachen Flamme, an der er die Zigarette im Mund entzündet, erkenne ich sein Gesicht.
Es ist der Typ aus der Bar, der mit der Rothaarigen rumgemacht hat und aufs selbe College geht wie ich. Offensichtlich springt sein Motorrad nicht an. Nachdenklich kaue ich auf der Unterlippe. Ihn einfach stehen zu lassen, erachte ich als falsch.
Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen und betrete die düstere Seitengasse. Er bemerkt mich nicht, sondern starrt auf den Boden vor sich. Abermals zieht er an der Kippe und ich stoppe zwei Meter vor ihm.
„Brauchst du Hilfe?“
„Bist du Mechanikerin?“ Er macht sich nicht einmal die Mühe, in meine Richtung zu blicken.
„Nein, aber …“
„Dann brauche ich deine Hilfe nicht.“ Missbilligend schnalzt er mit der Zunge. Noch immer hat er den Kopf keinen Millimeter bewegt.
„Arsch“, zische ich laut. Seine Unverschämtheit ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Warum behandeln mich hier alle wie Dreck, obwohl sie mich nicht kennen? Zuerst Mandy, die mir das Leben schwer macht, und dann auch noch er. Das ist zu viel für mich in meinem angeschlagenen Zustand.
„Wie hast du mich gerade genannt?“ Er richtet sich zur vollen Größe auf und schnippt die Zigarette in meine Richtung. Sie fällt direkt neben mir zu Boden. Instinktiv weiche ich einen Schritt zurück.
„Arsch“, sage ich erneut, wenn auch deutlich leiser als zuvor. Aber ich habe genug davon, herumgeschubst zu werden. Damit ist jetzt Schluss!
„Du hast Eier.“ Er zieht die Unterlippe zwischen den Zähnen hindurch. „Hat dir noch niemand gesagt, dass man sich von mir fernhält, Neuling?“
Mittlerweile haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Ich erkenne unter dem Kragen seiner Lederjacke einen Teil von einem Tattoo, das sich auf der linken Seite den Hals hinaufschlängelt. Seine kurzen Haare sind pechschwarz, genauso wie die Augen. Die Nase ist nicht gerade, sondern leicht schief. Man könnte ihn durchaus als höllisch attraktiv bezeichnen, aber nur so lange, bis er den Mund öffnet. Denn dann ist seine Anziehung verflogen.
„Uh, dann bist du der Verstoßene?“ Ich recke das Kinn. „Bei deinem Verhalten überrascht mich das nicht.“
Er antwortet nicht, geht in die Hocke und hantiert an seinem Bike. Er ignoriert mich. Verdattert stehe ich da, kann den Blick jedoch nicht von ihm abwenden. Mein Gewissen macht sich bemerkbar, jetzt benehme ich mich schon so gemein wie Mandy. Das passt nicht zu mir. Während ich überlege, ob ich mich entschuldigen sollte, erhebt er sich abermals.
„Du stehst ja immer noch hier.“ Er fixiert mich mit seinen dunklen Augen, was mir ein flaues Gefühl im Bauch beschert. Angespannt schlucke ich. „Bist du auf der Suche nach neuen Freunden oder jemandem, der dich flachlegt?“ Er verzieht den Mund zu einem herausfordernden Grinsen.
Mein Kiefer klappt nach unten. Dass ich mich bei ihm entschuldige, ist vom Tisch.
Langsam kommt er einen Schritt auf mich zu. „Bei Ersterem kann ich nicht behilflich sein, bei Letzterem schon.“ Er legt den Kopf schief. „Aber nur von hinten. Was soll ich sagen, dein Arsch ist perfekt.“ Anerkennend zieht er eine Augenbraue hoch und mir wird übel. Glaube ich zumindest. Es zieht ungewohnt in der Magengegend. „Im Anschluss wird aber nicht gekuschelt.“ Abrupt wendet er sich ab und widmet sich wieder dem Motorrad.
„Ich kann darauf verzichten, mit dir befreundet zu sein und auf Letzteres ohnehin“, schnauze ich ihn wütend an. „Du solltest dringend an deinen Manieren arbeiten.“
„Ich ziehe mein Angebot zurück, du bist mir zu anstrengend.“ Er wischt sich die schmutzigen Hände an den Jeans ab.
„Nicht nötig, ich würde auch dann darauf verzichten, wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst.“ Ich schnaube. Mit seinem Verhalten treibt er mich zur Weißglut.
„Dito“, knurrt er und läuft an mir vorbei.
Ich folge ihm und baue mich vor ihm auf. „Eigentlich wollte ich dir eine Mitfahrgelegenheit zurück zum Campus anbieten. Aber das kannst du jetzt vergessen. Außerdem gratuliere ich dir herzlich dazu, dass ich mir das nächste Mal zweimal überlegen werde, ob ich jemandem meine Hilfe anbiete.“ Meine Nasenflügel sind gebläht, die Hände habe ich in die Hüften gestemmt. „Vermutlich hat es wirklich einen berechtigten Grund, warum man sich von dir fernhalten sollte.“ Verständnislos schüttle ich den Kopf und mache auf dem Absatz kehrt.
„Ja, und ich rate dir dringend, es in Zukunft zu tun“, ruft er mir nach. Seine kühle Stimme mit dem warnenden Unterton geht mir durch Mark und Bein. Es fröstelt mich und ich schlinge die Arme fest um den Oberkörper.
„Warum schlägt mir von allen Seiten Hass und Abneigung entgegen?“, wispere ich kaum hörbar. Meine Unterlippe zittert. Neben dem Auto bleibe ich stehen und wische mir das Gesicht trocken. Ich hasse den Kerl aus der Gasse dafür, dass er mich zum Weinen gebracht hat.
„Warte.“ Hinter mir vernehme ich Schritte. Eilig öffne ich die Fahrertür und steige ein. Gerade als ich sie schließen will, schiebt sich ein Fuß dazwischen, der in halbhohen schwarzen Stiefeln steckt. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Bis jetzt ängstigte mich der Typ in der schwarzen Lederjacke nicht, das hat sich schlagartig geändert. Wird er mir etwas antun?
Panisch ziehe ich am Türgriff, dennoch gelingt es ihm mühelos, die Tür zu öffnen. Mit zusammengekniffenen Augen sieht er mich an und massiert sich mit einer Hand die Schläfen.
„Eigentlich mische ich mich nicht ein. Aber ich habe beobachtet, was Mandy in der Bar und auf dem Campus getan hat, und du tust mir leid. Außerdem habe ich dich heute mit Liam über das Collegegelände laufen sehen.“ Er schließt die Lider. „Du solltest wissen, dass Mandy und Liam sehr eng befreundet sind. Ich bin mir sicher, die treiben es miteinander.“
„Nein, das stimmt nicht. Liam hat mir versichert, er und Mandy seien keine Freunde. Warum sollte er mich anlügen?“
„Gute Frage. Dem solltest du unbedingt nachgehen.“ Bevor ich ihn aufhalten kann, läuft er los und verschwindet in der Dunkelheit der Nacht.
Tyler
Jetzt habe ich Regel Nummer eins doch noch gebrochen. Aber die Vorstellung, die hübsche junge Frau mit dem perfekten Hintern könnte zu Schaden kommen, behagte mir nicht. Ihr zu helfen, ist ausgeschlossen. Ich habe sie gewarnt, das muss reichen. Sie ist nicht dumm, sie wird früher oder später erkennen, was für ein Arsch Liam ist. Sie hat dem Falschen dieses Schimpfwort an den Kopf geworfen.
Ich erreiche mein Loft, das neben dem Campus liegt. Genervt sinke ich auf die Couch und streife mir die Boots ab. Der Rothaarigen aus der Bar schreibe ich, dass ich heute Nacht nicht mehr komme. Die Lust, mich mit ihr zu vergnügen, ist dahin. Dafür taucht ein wohlgeformter Po vor mir auf. Ich ächze. Das Hinterteil ist eine Sünde wert. Die junge Frau, der es gehört, jedoch nicht. Die ist mir viel zu anstrengend. Ich genieße das Unverfängliche. Zumindest noch so lange, bis ich den Abschluss in der Tasche habe.
Ich werde mich nicht dazu hinreißen lassen, sie anzufassen. Ansonsten übertrete ich noch eine weitere Grenze, die ich mir selbst gesetzt habe. Sex mit Studentinnen, egal in welchem Jahrgang, ist tabu.
Kapitel 4
Ava
Vorsichtig stupse ich Madison an, die laut vor sich hin schnarcht. Die Töne, die sie von sich gibt, nehmen es konkurrenzlos mit jedem Holzfäller auf. Sie schnaubt unzufrieden und dreht den Kopf auf die andere Seite. Ich blicke auf das Smartphone. In einer halben Stunde bin ich mit Liam verabredet, und meine Mitbewohnerin sollte mir vorab dringend eine Frage beantworten. Die ganze Nacht lag ich praktisch wach; die Aussage des Fremden ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich schüttle Madison. Sie stöhnt genervt und vergräbt das Gesicht noch tiefer im Kissen.
„Ich habe Kaffee geholt.“ Hoffentlich bewegt sie das dazu, die Lider aufzuschlagen.
Madison schnellt hoch und streckt den Arm. „Her damit“, murmelt sie verschlafen und gähnt. Ich drücke ihr den Becher in die Hand, Madison nippt daran und seufzt wohlig. Sie blinzelt hastig und schnappt nach Luft. „Wie siehst du denn aus?“ Unter meinen Augen liegen dunkle Ringe, sie waren im Spiegel nicht zu übersehen. „Ich bin doch um drei nach Hause gekommen, nicht du.“
„Ich konnte nicht schlafen.“ Angespannt trommle ich mit den Fingern auf der Kommode. „Ist es richtig, dass Liam und Mandy ganz dicke sind?“
„Ja, warum?“ Madison glättet mit der freien Hand die Haare, die in alle Richtungen abstehen.
„Dann hat er mich wirklich angelogen.“ Von dieser Erkenntnis getroffen, lasse ich mich auf die Matratze sinken. Ich hatte gehofft, der Unbekannte, der sich mir gegenüber grässlich benommen hatte, hätte falschgelegen.
„Ich kann dir nicht folgen.“ Meine Mitbewohnerin schwingt die Beine über den Bettrand. Dabei mustert sie mich aufmerksam.
Ich erzähle ihr, wie ich Liam genau kennengelernt und dass er behauptet hatte, er und Mandy seien nicht befreundet.
„Au Backe“, murmelt Madison. „Aber warum sollte er dich deswegen anlügen? Das ergibt doch keinen Sinn.“ Sie kommt zu der gleichen Erkenntnis wie ich.
„Ich werde ihn darauf ansprechen. Wir sind verabredet und wollten uns zusammen einen Film ansehen.“ Langsam stehe ich auf. Die Vorfreude, Liam wiederzusehen, ist verschwunden. Ob der Unbekannte auch recht damit hatte, dass Liam und Mandy Sex haben? In meinem Magen breitet sich ein flaues Gefühl aus.
„Tu das. Ich bin gespannt, warum er gelogen hat.“
„Ich auch.“ Fahrig öffne ich die Zimmertür und schlüpfe in den Gang.
***
Liam steht vor dem Gebäude. Zur Begrüßung schenkt er mir ein Eintausend-Watt-Lächeln. Wüsste ich nicht, dass er mich angelogen hat, hätte ich nun weiche Knie.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und seufze, bevor ich das Gespräch eröffne. „Wir müssen etwas klären.“
„Hat dich Mandy erneut doof angemacht?“ Liam presst die Lippen zusammen, stöhnt und schüttelt den Kopf.
„Das auch, aber darum geht es nicht.“
„Ich werde mit ihr reden. Sie wird dich in Zukunft in Ruhe lassen.“ Liam setzt sich in Bewegung. „Ich habe den perfekten Horrorfilm für uns, hoffentlich kennst du ihn nicht.“ Mit schnellen Schritten schließe ich zu ihm auf und lege ihm von hinten die Hand auf die Schulter.
„Wir müssen wirklich reden.“
Er dreht sich zu mir um und lächelt mich an. Es verfehlt seine Wirkung. Ernst mustere ich sein Gesicht. „Sicher, das werden wir, aber das können wir genauso gut in meinem Zimmer. Ich habe Snacks besorgt. Magst du Schokolade?“
„Jetzt.“ Ich lasse seine Schulter los.
„Okay.“ Liam klingt verunsichert. „Um was geht es?“
„Bist du mit Mandy befreundet?“
Die Anspannung weicht aus seinem Gesicht und an ihre Stelle tritt ein reumütiger Ausdruck. Räuspernd sieht er betreten zu Boden. „Ja“, antwortet er kleinlaut und greift nach meiner Hand, die ich ihm entziehe.
„Warum hast du mich angelogen?“
„Ich hatte Angst, du würdest mich nicht kennenlernen wollen, wenn du weißt, dass ich mit Mandy befreundet bin. Sie hat sich unglaublich danebenbenommen.“ Langsam hebt er den Kopf, bis sich unsere Blicke kreuzen. „Ich wollte nicht, dass du mir nur ihretwegen eine Abfuhr erteilst.“ Vorsichtig streckt er den Arm nach mir aus. „Das war falsch. Ich hatte mir vorgenommen, dir heute die Wahrheit zu erzählen.“ Er umschließt meine Hand und ich lasse es zu. „Leider bist du mir zuvorgekommen.“
Seine Erklärung leuchtet mir nicht nur ein, sondern schmeichelt mir auch. Gut möglich, dass ich im ersten Moment auf seine Hilfe verzichtet hätte. Aber deswegen hätte ich ihn nicht vorschnell verurteilt. Auch wenn sie befreundet sind, kann er nichts für ihr Verhalten.
Es gibt noch etwas, was ich wissen muss. „Schläfst du mit Mandy?“ Zögerlich verlassen die Worte meinen Mund, dabei achte ich genau auf seine Reaktion.
„Nein.“ Liam reißt die Augen auf. Er löst den Griff um meine Hand und kratzt sich am Kinn. „Wie kommst du darauf?“
Wenigstens damit lag der arschige Typ in der Lederjacke offensichtlich falsch. Dennoch bleibt in mir ein ungutes Gefühl zurück, das nicht verschwinden will.
„Besser, wir verschieben das mit dem Film.“ Entschuldigend verziehe ich das Gesicht. Die Stimmung ist ruiniert. Dass er mich angelogen hat, muss ich zuerst verdauen.
„Verstehe.“ Abermals nimmt er meine Hand. „Du glaubst mir doch?“ Liam sieht nervös nach links, dann nach rechts. „Mandy und ich sind kein Paar.“
Ich nicke verhalten.
„Bitte, Ava. Nimm uns nicht die Chance, zu sehen, wohin das mit uns führt.“ Er sieht mich aus seinen grünen Augen flehend an, worauf mein Herz schneller schlägt.
„Ich melde mich bei dir.“ Die Verletzlichkeit, die er mir gerade offenbart hat, hat mich berührt.
Liam haucht mir einen Kuss auf den Handrücken. „Du machst mich zu einem glücklichen Mann.“
Mit seiner kitschigen Aussage entlockt er mir ein Schmunzeln. „Jetzt übertreib nicht gleich. Du Charmeur.“ Ich lächle und trete näher an ihn heran.
„Tue ich nicht.“ Behutsam schiebt er mir eine Haarsträhne, die sich gelöst hat, hinters Ohr. Mein Mund wird trocken. Ich bringe etwas Abstand zwischen uns, bevor er mich noch küsst. Es fühlt sich an, als wollte er es tun.
„Dann warte ich geduldig auf deine Nachricht.“ Er zwinkert mir zu und wir umarmen uns zum Abschied.
Nachdenklich sehe ich Liam nach, wie er hinter der nächsten Hausecke verschwindet. Eigentlich sollte ich mich freuen – Liam hat mir gerade gestanden, aufrichtiges Interesse an mir zu haben –, doch dieses Gefühl bleibt aus. Was, wenn der unverschämte Unbekannte mit seiner zweiten Vermutung doch richtiglag? Kann es sein, dass Liam mich erneut angelogen hat?
Ich erspähe eine schwarze Lederjacke. Ohne nachzudenken, laufe ich los. Der Typ, der sie trägt, bemerkt mich und beschleunigt die Schritte. ARSCH! Ich hefte mich an seine Fersen. Was weiß er noch? Kurz vor den Parkplätzen habe ich ihn eingeholt.
„Verfolgst du mich?“, zischt er angesäuert und dreht sich zu mir um.
„Ja, aber nur, weil ich Antworten brauche.“ Zackig macht er einen Schritt auf mich zu und schließt so die Distanz zwischen uns, die ich bewusst gewählt habe. Der Gestank von Zigarettenrauch, der von einem angenehmen herben, nach Hölzern duftenden Geruch übertüncht wird, steigt mir in die Nase. Da ist es wieder, dieses undefinierbare Ziehen im Unterleib.
„Ich arbeite nicht für die Studentenauskunft“, brummt er und verengt die Augen, was ihn gefährlich wirken lässt. „Halte dich gefälligst von mir fern.“ Er bohrt den Zeigefinger in meine rechte Schulter.
„Aua“, rufe ich aus und schlage seine Hand weg.
Er wendet sich ab und läuft weiter. Nicht mit mir. Auch wenn er der letzte Mensch auf Erden ist, mit dem ich mich abgeben will, könnte er aufschlussreiche Informationen haben, was Liam und Mandy betrifft. Ich hole ihn ein und stelle mich vor ihn.
„Was verdammt noch mal verstehst du nicht? Ich will nichts mit dir zu tun haben.“ Er umrundet mich. Ich strecke den Arm, bekomme seine Schulter zu fassen und halte ihn fest. Wütend blickt er auf die Stelle, wo ich ihn berühre. Blitzschnell ziehe ich den Arm zurück.
„Ent…schuldige.“ Verlegen presse ich die Zähne in die Unterlippe. „Ich will mich doch gar nicht mit dir unterhalten, aber ich habe das Gefühl, du könntest mir meine Fragen beantworten.“ Sein Blick, der mich gerade noch durchbohrt hatte, wird weicher, dennoch schniefe ich leise. „Bitte“, sage ich. Es geht mir gegen den Strich, ausgerechnet den Mann um etwas bitten zu müssen, der sich mir gegenüber so abschätzig verhalten hat. Mit feuchten Augen wende ich mich ab.
„Fang jetzt bloß nicht an zu flennen.“ Seine angenehme Stimme klingt nicht mehr feindselig. Ich nicke, sammle mich und drehe mich zu ihm um. „Fahre mich in die Stadt und ich beantworte dir deine Fragen, so gut ich kann.“
„Deal“, sage ich erleichtert und halte ihm die Hand hin. Er ergreift sie nicht. Arsch. Er und ich werden niemals Freunde werden. Das ist ausgeschlossen.
„Wo hast du geparkt?“
„Gleich da vorn.“ Ich deute zum Wagen und gehe voran.
Wir steigen ein und er schließt die Tür kräftiger als nötig. Mahnend sehe ich ihn an, was ihn kaltlässt. Er fummelt an den Knöpfen des Beifahrersitzes herum, bis er praktisch im Wagen liegt. Dann streckt er die Beine, legt die Boots, an denen Erde klebt, auf das Armaturenbrett, faltet die Hände auf der Brust und schließt die Lider.
„Hallo?“, fauche ich mit einem aggressiven Unterton. „Füße runter.“ Wo hat er seine Manieren gelassen? Ach ja, er besitzt keine.
Wie in Zeitlupe zieht er zuerst den einen und dann den anderen Boot vom Armaturenbrett und stellt sie in den Fußraum. Ich starte den Motor und fahre los.
„Vergiss nicht, das ist eine reine Zweckverbindung“, sagt er. „Du brauchst Antworten und ich jemanden, der mich in die Stadt bringt. Interpretiere da ja nichts hinein.“
Ich verdrehe die Augen. Als würde ich je auf diesen absurden Gedanken kommen.
Stille breitet sich aus. Ich habe keine Muße, seine Aussage auch nur in kleinster Weise zu kommentieren.
„Wie heißt du?“, frage ich nach einer Weile.
„Tyler. Du?“ Noch immer hält er die Lider geschlossen.
„Ava. Warum gehst du davon aus, dass Liam und Mandy ein Paar sind?“
Tyler lacht dreckig auf und dreht den Kopf in meine Richtung. „Das habe ich nie behauptet.“
„Aber du meintest, deine Worte, sie treiben es miteinander.“ Hat er das schon wieder vergessen? So langsam zweifele ich daran, dass ich irgendeine gescheite Information von ihm erhalten werde.
„Du bist ein hoffnungsloser Fall.“ Er wendet sich ab und starrt die Wagendecke an.
Frechheit! „Was bin ich?“ Meine Finger verkrampfen sich und ich umklammere das Lenkrad fester, als ich es üblicherweise tue. Warum nervt er mich jedes Mal, wenn er den Mund öffnet?
„Du hast mich schon verstanden. Da vorne links, parke neben dem Diner.“ Widerwillig tue ich, was er verlangt. Am liebsten würde ich ihn irgendwo in der Pampa aussetzen. Verdient hätte er es.
Der Wagen kommt zum Stillstand. Tyler steigt sofort aus und marschiert auf das Diner zu. Arsch, jetzt haut er einfach ab. Ich verriegle das Auto und eile ihm hinterher. Schließlich habe ich ihn gefahren. Jetzt will ich Antworten. Das war der Deal.
Ich stürme ins Lokal und sehe mich um.
„Hier“, ertönt Tylers Stimme. Er sitzt an einem Tisch und studiert die Karte. Ich falle ihm gegenüber auf das rote Stoffpolster.
„Wir essen, dabei kannst du mich mit deinen Fragen löchern.“
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.
„Du bezahlst.“
Sogleich verschwindet es wieder. Was stimmt nicht mit ihm?
Wenn er kein Geld hat, bezahle ich für ihn. Aber dann soll er das so sagen. Wann immer er den Mund aufmacht, kommen Worte heraus, die mich verletzen. Sein Verhalten tut es genauso. Ich weiß nicht, wer schlimmer ist: er oder Mandy. Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Was für Information ich auch von ihm erhalten werde, sie sind es nicht wert, mich von ihm schlecht behandeln zu lassen.
Ich stehe auf und setze mich in Bewegung.
„Ava?“
Ich ignoriere ihn.
Tyler umrundet mich und steht vor mir. „Das mit dem Bezahlen war ein Scherz, setz dich wieder hin.“
„Darum geht es nicht. Ich hätte kein Problem damit, für dein Essen zu bezahlen. Es geht darum, wie unausstehlich du dich mir gegenüber verhältst. Was immer du auch weißt, es ist nicht wichtig genug, dass ich mir deine Unverschämtheiten bieten lasse.“
„Du hast recht. Entschuldige.“ Ein Anflug von einem Schmunzeln huscht über sein Gesicht. Er dreht mich um, legt die Hand in mein Kreuz und schiebt mich zurück an den Tisch. Ich ignoriere die Hitze, die ich an der Stelle empfinde, wo seine Finger auf meinem T-Shirt ruhen, und nehme Platz. Es fühlt sich erschreckenderweise intensiver an, als wenn Liam mich berührt.
„Also, Liam und Mandy sind definitiv kein Paar, aber mein Bauchgefühl sagt mir, zwischen den beiden läuft etwas Sexuelles.“
„Dann ist es nur eine Vermutung?“ Ich lehne mich nach vorn. Sein Bauchgefühl in Ehren, ich brauche Fakten.
„Ja, aber normalerweise kann ich mich auf meine Intuition verlassen. Bis jetzt hat sie mich noch nie im Stich gelassen.“ Diese Antwort bringt mich keinen Schritt weiter.
Die Kellnerin kommt und wir geben unsere Bestellung auf. Cheeseburger mit Pommes.
„Hast du ihn denn schon darauf angesprochen, warum er gelogen hat?“ Tyler streckt sich und verschränkt die Arme hinter dem Kopf.
„Ja, habe ich. Er hat geflunkert, weil er an mir interessiert ist und dachte, ich wolle ihn dann nicht mehr kennenlernen.“ Ein verlegenes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.
Aus Tylers Kehle löst sich ein krächzender Laut, den ich nicht identifizieren kann. „Und das glaubst du ihm?“
„Ja, warum nicht? Er hat mir geholfen und dann gemerkt, dass er mich mag.“
„Sozusagen Liebe auf den ersten Blick. Ach, wie romantisch.“ Tyler legt sich die Hände auf die Brust, genau dort, wo sich sein Herz befindet, dennoch kneift er die Brauen zusammen. Eine Furche bildet sich dazwischen. „Magst du ihn auch?“
Ich nicke und obwohl es stimmt, fühle mich seltsam dabei.
Die Bedienung kommt mit unserem Essen und stellt die Teller vor uns auf den Tisch.
„Die Szene von eurem Kennenlernen habe ich mitbekommen. Das wirkte auf mich inszeniert.“ Tyler greift nach dem Ketchup, genau wie ich. Unsere Hände berühren sich. Er zieht die Hand zurück und räuspert sich. „Es erweckte den Eindruck, dass er dir zu Hilfe eilen wollte, damit er als der große Retter dasteht.“
„Kann sein, dass deine Theorie stimmt, aber warum sollte er das tun?“ Das ergibt keinen Sinn für mich.
„Unglaublich, wie begriffsstutzig du bist. Er will in dein Höschen.“ Tyler lehnt sich zurück und ich sehe ihn warnend an. Beschwichtigend hält er die Hände in die Luft. „Weiß er etwas, was ich nicht weiß?“
Unruhig rutsche ich auf dem roten Polster hin und her. „Nur, dass ich noch Jungfrau bin, aber das habe ich ihm erst gesagt, nachdem er mir geholfen hat.“
„Dann muss es ihn erwischt haben, wer tut sich das schon freiwillig an, wenn er nicht verliebt ist?“
Mein Gesichtsausdruck wechselt zu empört, nur um beim Wort verliebt zu erstrahlen. „Meinst du?“ Ich verzichte darauf, ihn für das „freiwillig“ zu maßregeln.
„Absolut. Betrachten wir das Ganze realistisch. Wenn Liam und du zusammenkommt, wirst du ihn wohl kaum gleich ranlassen.“
Stumm pflichte ich ihm bei. „Es wird Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis er zum Zug kommt. Auf das würde ich mich niemals einlassen, dafür müsste ich schon schwer verliebt sein. Selbst dann wäre ich mir nicht sicher.“ Tyler greift nach dem Burger und beißt hinein.
„Du tust so, als würden Männer nur an Sex denken.“ Ich tunke eine Pommes ins Ketchup.
„Männer denken nicht nur an Sex, aber sie denken daran. Offensichtlich sind die einen bereit, länger darauf zu warten als die anderen.“
Mit anderen meint er dann wohl sich. Das passt zu seinem Verhalten in der Bar. Ob er mit der Rothaarigen im Bett war? Abrupt schüttle ich den Kopf, das geht mich nichts an. Viel wichtiger: Es sollte mich nicht interessieren. „Wirst wohl recht haben.“ Ich greife zum Burger und bin erleichtert, dass Liam zu Ersteren gehört.
„Was hast du nun vor?“, fragt Tyler, nachdem er den Burger in Rekordzeit verschlungen hat.
„Hm … Ich lasse es auf mich zukommen. Mal sehen, wie sich das mit Liam entwickelt“, antworte ich, lege den Burger zurück auf den Teller und wische mir die Hände an der Serviette ab. „Versteh mich nicht falsch, mich mit dir zu unterhalten, hat mich ein gutes Stück weitergebracht. Aber ich verlasse mich lieber auf meine eigene Intuition als auf deine. Und die sagt mir, dass ich Liam glauben kann.“
Tyler presst die Lippen zusammen und schweigt eine gefühlte Ewigkeit. „Dann hoffe ich für dich, dass du es nicht bereuen wirst.“ Flüchtig berührt er meine Hand. Abermals fühle ich eine angenehme Wärme auf der Haut. Er greift zur Cola und leert sie in einem Zug. Ich ermahne mich, trotz meines positiven Bauchgefühls, wachsam zu bleiben.
„Warum hast du mich gefragt, ob mir noch niemand gesagt hat, dass man sich von dir fernhalten sollte?“ Kurz bevor es mir gestern Nacht endlich gelang, einzuschlafen, geisterte mir diese Frage durch den Kopf.
„Weil das ganze College denkt, ich hätte jemanden umgebracht.“
Mit offenem Mund starre ich ihn an. Das Pommes zwischen meinen Fingern plumpst zurück auf den Teller. Kalter Schweiß bricht mir aus, legt sich wie ein dünner Film auf meine Haut. „Hast du?“, krächze ich. Zu mehr bin ich außerstande. Blut rauscht mir in den Ohren und Adrenalin pumpt durch meine Venen. Sitze ich einem Mörder gegenüber?
„Nein, du kannst den Kiefer wieder zuklappen.“
Immer noch starr vor Schreck sehe ich ihn einfach nur an.
Er greift abermals über den Tisch und legt zwei Finger unter mein Kinn, um es nach oben zu drücken. Nur langsam schließe ich den Mund.
„Ich habe doch gesagt, die glauben, ich hätte jemanden auf dem Gewissen.“ Er betont das Wort glauben und meine Atmung normalisiert sich.
„Warum gehen die davon aus und warum stellst du das nicht richtig?“ Ohne hinzusehen, taste ich nach einem Pommes und schiebe es mir in den Mund.
„Hier geht es nicht um mich, schon vergessen?“, knurrt er angriffslustig.
Seine plötzliche Gereiztheit ruft mir ins Gedächtnis, wie fies er sich verhalten und dass ich ihn und seine Art nicht ausstehen kann. Demonstrativ wende ich den Blick ab.
„Das kam barscher rüber, als ich beabsichtigt habe.“ Er macht eine Pause. „Es stört mich nicht, dass mir alle aus dem Weg gehen, dadurch habe ich meine Ruhe. Auf dem Campus will ich keine Freundschaften schließen oder mit anderen Studenten abhängen. Ich will mich auf meinen Abschluss konzentrieren, damit ich an einer guten Universität angenommen werde. Der Rest interessiert mich nicht.“
Zögerlich drehe ich den Kopf zurück. Wenigstens hat er sein Fehlverhalten diesmal eingesehen. Ich schiebe den Teller von mir weg und hebe die Hand, damit unsere Bedienung auf uns aufmerksam wird. Sie kommt zu uns und ich verlange die Rechnung. Zu meiner Überraschung greift Tyler danach und begleicht sie.
„Danke, das wäre nicht nötig gewesen.“
„Schon gut, ich habe mich dir gegenüber grässlich verhalten.“
Mein Ärger schwindet.
Wir stehen auf und verlassen das Diner.
„Soll ich dich mitnehmen?“, frage ich Tyler aus reiner Höflichkeit, nachdem wir das Auto erreicht haben.
„Ja, kannst du mich zur Werkstatt fahren?“
„Ist es weit?“ Ich lasse mich auf den Fahrersitz gleiten.
„Nein.“
Ich nicke.
„Danke, das ist sehr nett von dir.“ Dieses Mal lächelt er wirklich. Es ist eines dieser Lächeln, die ansteckend sind.
Fünf Minuten später erreichen wir die Werkstatt. Tyler und ich steigen aus. Er begrüßt von Weitem einen bärtigen Mann, dessen Haut mit Tattoos übersät ist, geht auf ihn zu und sie klopfen sich auf die Schulter. Ich bleibe beim Wagen stehen.
„Hast du eine Freundin?“, höre ich den Mechaniker fragen.
„Nein, wir sind nicht einmal befreundet.“
Das hat gesessen, verletzt mich aber nicht. Gut, dass ich ihn nicht leiden kann.
„Wo steht meine Maschine?“ Suchend sieht sich Tyler um.
„In der Garage, du kannst sie nicht mitnehmen.“ Der Mann zupft an seinem langen Bart.
„Wehe, du sagst mir, sie ist nicht mehr zu retten. Das würde mir das Herz brechen.“ Ich frage mich, ob er überhaupt eins besitzt.
„Nein, keine Angst. Ich musste ein paar Ersatzteile bestellen, die sollten in den nächsten Tagen kommen. Wenn sie wieder läuft, melde ich mich bei dir.“
Tyler nickt und kommt auf mich zu.
„Steig schon ein“, sage ich zackig. Aber nur, weil ich es als falsch erachte, ihn einfach stehen zu lassen.
Wir haben beinahe den Campus erreicht, als Tyler die angenehme Stille durchbricht, die sich zwischen uns gelegt hat. „Alles in Ordnung?“
„Ja, alles bestens.“ Ich verziehe den Mund zu einem flüchtigen Lächeln.
„Gut, kannst du da vorn bei den Bäumen anhalten? Es muss nicht gleich jeder mitbekommen, dass wir zusammen unterwegs waren.“
„Sicher doch.“
Jetzt bin ich ihm auch noch peinlich. Ich halte an und Tyler steigt aus.
„Pass auf dich auf, Ava.“ Seine Stimme hat einen fürsorglichen Unterton angenommen, was mich irritiert.
Während ich nicke, blicke ich ihm direkt in die dunklen Augen. Sie üben eine unerklärliche Faszination auf mich aus. Noch nie zuvor habe ich solche Iriden gesehen, die schwarz wie die Nacht sind.
Tyler hebt zum Abschied die Hand, ich winke zurück.
Tyler
Nachdenklich schlendere ich zum Loft. Ava gegenüber bin ich unausstehlich, weil sie mich anzieht wie das Licht die Motten. Liegt es an ihrem unbeschwerten Lachen, an ihrer selbstbestimmten Art, an ihrer Hartnäckigkeit, ihrer Hilfsbereitschaft? Keine Ahnung. Ihr perfekter Hintern allein, wird es wohl kaum sein. So oberflächlich bin nicht einmal ich, auch wenn ich gerne diesen Eindruck erwecke. Er eignet sich perfekt dafür, um meine Bettbekanntschaften auf Abstand zu halten. Dass Ava noch Jungfrau ist, hat mich zur Vernunft gebracht. Wenigstens laufe ich so nicht Gefahr, eine meiner weiteren Regeln, die, mit Studentinnen zu schlafen, zu verletzen. Schlimm genug, dass ich Regel Nummer eins missachtet habe. Was habe ich nun davon? Das Gefühl, auf Ava aufpassen zu müssen. Genau deswegen existiert Regel Nummer eins, die wichtigste von allen. Sie soll mich davor bewahren, erneut im Knast zu landen. Denn diesmal würde ich nicht mehr hinter den Türen, des Jugendgefängnisses verschwinden. Das hat der Richter unmissverständlich klargestellt.
Liam könnte sich verliebt haben. Ein ersticktes Grollen löst sich aus meiner Kehle. Nein, das passt nicht zu ihm. Warum dann spielt er für sie den Helden in der schillernden Rüstung? Wenn er von Anfang an gewusst hätte, dass Ava noch Jungfrau ist, würde ich darauf tippen. Es würde zu ihm passen. Dann könnte er im Nachhinein damit prahlen, so wie er es vermutlich an der Highschool getan hatte. Ich sehe ihn vor mir, wie er sich darüber freut, Ava entjungfert zu haben, und mein Magen zieht sich zusammen. Aber er hatte es nicht gewusst. Ich beschließe, nicht nur Ava im Auge zu behalten.