1 Falscher Hase
Sina ließ ihr Springseil auf die Ladentheke krachen, um Hectors Aufmerksamkeit zu erregen. „Mein Bruder und ich haben gerade den Osterhasen tot in einem Grab auf dem Friedhof an der Kirche gefunden.“
Hector blickte von seiner Tabelle auf. „Bist du dir da sicher, Sina?“
„Ja, und Tommy meinte, ich soll Sie holen, damit Sie sich darum kümmern.“
„Ich fürchte, dass der Umgang mit mythischen Kreaturen üblicherweise nicht in den Aufgabenbereich eines Buchhändlers fällt.“ Hector warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Außerdem kann ich nicht aus dem Buchladen weg, bis die Vertreterin von Battersby hier war, und sie kann jede Minute eintreffen. Aber mach dir keine Sorgen, Sophie wird mit dir kommen und sich die Sache ansehen. Nicht wahr, Sophie?“
Ich stellte das Geschirr so schwungvoll auf der Theke der Teestube ab, dass eine der Tassen zerbrach. „Und seit wann ist das Teil meines Aufgabenbereichs? Solltest du nicht eigentlich auf meiner Seite stehen?“
Als mein Freund und auch als mein Chef hätte Hector klar sein müssen, dass ich nicht gern Zeit auf dem Friedhof verbrachte.
„Der Osterhase?“, fragte der alte Billy und schüttete sich eine großzügige Portion Sahne in die Teetasse. „Der ist dann aber früh dran. Es ist doch noch Wochen hin bis Ostern.“
Und darüber war ich froh. Am Palmsonntag sollte ich die Sonntagsschule des Dorfes übernehmen. Ich wusste immer noch nicht, wie der Pfarrer mich dazu überredet hatte, mich freiwillig zu melden.
Billy leckte einen Tropfen, der herunterzufallen drohte, vom Ausguss des Sahnekännchens ab. „Und was hat der Osterhase überhaupt in meinem Grab zu suchen?“
Sinas Augen weiteten sich. „Dein Grab? Wie kommt es, dass du ein Grab hast, wenn du noch gar nicht tot bist? Geht es dir sehr schlecht?“
Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihm und legte eine Hand beruhigend auf den Ärmel seines uralten Tweed-Jacketts.
Ich fand ihre Sorge irgendwie rührend. „Sina, wenn Billy ‚mein Grab‘ sagt, meint er, dass er es für jemand anderen gegraben hat.“
„Aber wir alle brauchen irgendwann ein Grab, Sina“, sagte Billy. „Selbst kleine Kinder wie du. Ich habe zwar nicht vor, in nächster Zeit meinem Schöpfer gegenüberzutreten, aber ich werde nicht dagegen ankämpfen, wenn der Herr beschließt, dass meine Zeit gekommen ist.“
Sina runzelte die Stirn. „Wer wird denn dann dein Grab schaufeln, Billy?“
Billy wischte sich die Hände an der Hose ab. „Dein Bruder, vermute ich. Ich habe ihm schon einiges beigebracht.“
„Macht er bei dir so was wie ein Praktikum?“, fragte Sina.
Es war eher eine Methode von Billy, um sich lästige Aufgaben zu ersparen. Er brachte Tommy oft dazu, die Drecksarbeit für ihn zu erledigen im Austausch gegen etwas Taschengeld oder irgendeinen fragwürdigen Gefallen. Tommy würde einen fleißigen Totengräber abgeben, der mit dem Enthusiasmus eines Labradorwelpen und in etwa demselben Sinn für Präzision buddeln würde. Aber diese Gedanken behielt ich für mich. Ich wollte Billy nicht davon abbringen, uns auf den Friedhof zu begleiten. Außerdem war sowieso er für die Gräber verantwortlich und nicht ich.
Hector gluckste. „Ein Totengräberpraktikum. Das wäre wahrscheinlich ziemlich unterirdisch. Tommy hofft vermutlich eher, dass er einen Schatz findet.“
Billys Mundwinkel zuckten kurz nach oben. „Ich gestehe, dass er die Idee von mir haben könnte, um seiner Hilfsbereitschaft auf die Sprünge zu helfen. Aber das Ausheben von Gräbern ist nun einmal eine Aufgabe für zwei: einen, der gräbt, und einen, der aufpasst, dass die Seitenwände nicht einbrechen und den anderen unter sich begraben. Natürlich werden die Wände den Weg nach unten hin immer weiter mit Brettern verstärkt, aber es ist trotzdem eine riskante Angelegenheit, wenn man es nicht richtig macht. Dann hat man ein paar Tonnen Erde, die schneller herabstürzen, als man über die kleine Leiter herausklettern könnte. Und ein paar Minuten später ist man mausetot.“
Ich hatte noch nie ein Grab mit einer Leiter darin gesehen.
Sina fragte genau das, was ich gerade dachte. „Wofür ist denn die Leiter? Für den Fall, dass die Person, die du begraben hast, nicht richtig tot ist?“
Billy schüttelte den Kopf. „Ganz im Gegenteil. Die ist ausschließlich für den Totengräber. Man muss immer eine Leiter stehen lassen, bis man mit dem Graben fertig ist. Das sind die Regeln. Arbeitssicherheit gilt auch auf dem Friedhof.“
„Mir war nicht klar, dass Gräber auszuheben so ein kompliziertes Geschäft ist“, sagte ich.
„Es ist auch kein Geschäft“, erwiderte Billy. „Es ist ein Handwerk. Ich komme sicherheitshalber mit euch.“
Er erhob sich, knöpfte sich das uralte Tweed-Jackett zu und ging auf die Tür zu. Sina trabte hinter ihm her wie Puck hinter Zettel.
Als Hector von seinem Hocker aufstand und sich zu mir hinter die Theke der Teestube gesellte, dachte ich erst, er wolle seine Solidarität mit mir ausdrücken. Stattdessen legte er fest den Arm um meine Schultern und schob mich bestimmt hinaus auf die Straße.
„Geh nur mit, Schatz, die frische Luft wird dir guttun.“
Er stellte sich hinter mir in die Tür wie ein gelockter Hütehund, der ein störrisches Schaf in eine bestimmte Richtung lenken wollte. Es gab kein Entkommen.
Als ich zu den beiden anderen Amateurermittlern aufschloss, ließ Sina ihre Hand unauffällig in meine gleiten, was mir wieder vor Augen führte, wie jung sie eigentlich noch war. Ich wollte sie beruhigen, obwohl meine eigenen Nerven jetzt schon blank lagen.
„Es ist bestimmt nur eine alte Vogelscheuche, die jemand dort als Streich hineingelegt hat. Bist du sicher, dass sich dein Bruder nicht einen Spaß erlaubt haben könnte, um dir einen Schrecken einzujagen?“
Sina lief im Zickzack neben mir her und machte dabei mindestens doppelt so viele Schritte wie ich. „Wenn er es war, dann schubse ich ihn gleich mit ins Grab und schütte es zu.“
Ich war froh, dass ihr übliches Temperament zurückkehrte. Als kleine Schwester von Tommy hätte jedes Mädchen ein dickes Fell entwickelt.
Billy bedachte sie mit einem düsteren Blick. „Mein Friedhof ist kein Spielplatz. Es ist ein heiliger Ort, geweiht für Begräbnisse, nicht für herumtollende Kinder. So wie es im Gedicht heißt: ‚Das Grab ist ein feiner und verschwiegener Ort, doch niemand, glaub ich, umarmt sich dort.‘“
Ich hatte keine Ahnung, woher das stammte. Billy grinste, als er meinen fragenden Blick bemerkte.
„Du und dein ach so cleverer Freund sind nicht die Einzigen, die Gedichte zitieren können.“
Eigentlich kannte nur Hector solche Zitate, aber ich sah keinen Grund, mich selbst klein zu machen.
„Ich sage beim Schaufeln Gedichte über Friedhöfe auf, um einen guten Rhythmus zu halten.“ Er wiederholte sein Zitat und machte pantomimisch und mit Sprechpausen vor, wie er dazu schaufelte. „Das Grab … ist ein feiner … und verschwiegener … Ort … doch niemand … glaub ich … umarmt … sich dort.“ Nachdem er ein letztes Mal unsichtbare Erde auf den ebenso unsichtbaren Haufen geworfen hatte, hielt er inne und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Die Elegie von Grey ist auch gut.“ Er breitete die Arme in Richtung der spätmorgendlichen Sonne aus und begann zu rezitieren: „Die Abendglocke tönt den Tag zur Ruh …“
„Macht Tommy das auch, während er gräbt?“ Vielleicht würde er tatsächlich von der Arbeit ein paar mehr Muskeln bekommen.
„Ich glaube, mein Bruder kennt gar keine Gedichte“, antwortete Sina. „Außer Limericks gelten auch. Davon kennt er eine Menge.“
Ich hätte gewettet, dass das bei Billy ähnlich war, allerdings kannte der wohl keine, die für ein derart junges Publikum geeignet waren, also versuchte ich, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. „Ich glaube nicht, dass der Friedhof der richtige Ort für Limericks ist. Man sollte sich hier anständig benehmen.“
„Nicht unbedingt, Mädel“, sagte Billy. „Du wärst vielleicht überrascht, aber manchmal führe ich lange Gespräche mit denen, die ihre Angehörigen hier besuchen, und es gibt oft viel zu lachen, wenn wir über längst vergangene Zeiten reden.“
„Ist das nicht ein wenig respektlos?“
Billy sah mich tadelnd an. „Du siehst das ganz falsch. Friedhöfe sind Orte voller Erinnerungen, und wer würde sich nicht am liebsten an die angenehmen Zeiten erinnern?“ Er wandte den Blick von mir ab, seine Stimme klang gepresst von den aufwallenden Emotionen. „Ein Friedhof ist ein kleines Stückchen Land voller Liebe.“
Ich wandte mich Sina zu, um ihm die Gelegenheit zu geben, die Fassung wiederzufinden. „Wie dem auch sei, genug von Gedichten. Ich bin mir sicher, dass Billy und ich dir helfen werden, diesem Mysterium mit dem Osterhasen ganz schnell auf den Grund zu gehen.“
Sie brach ihren Hopserlauf ab und sah mich mit großen Augen an. „Aber ich will nicht auf den Grund gehen. Ich steig doch nicht in ein stinkendes altes Grab, auch wenn dir so was vielleicht Spaß macht.“
„Ich meine doch nicht buchstäblich auf den Grund gehen, Sina. Nur dass wir herausfinden, was da vor sich geht, und es aufklären.“
„Außerdem duften Gräber sehr angenehm“, schaltete Billy sich ein. „Der natürlichste Geruch der Welt: frisch umgegrabene Erde.“
Als wir die Straße zu St. Bride’s überquerten, zog ich leicht an ihrer Hand, als ob ich einen sturen Hundewelpen dazu bewegen wollte, mir zu folgen, und schon setzte Sina ihren Hopserlauf fort. Während ich mit einigen Schwierigkeiten das Tor des Friedhofs zu öffnen versuchte, gab ich mir gleichzeitig große Mühe, Sina nicht sehen zu lassen, wie stark meine Hände zitterten.
An die Friedhofsmauer gelehnt, die im morgendlichen Sonnenlicht beinahe die Farbe des örtlichen Honigs hatte, sah ich Tommys schlaksige Silhouette stehen. Er deutete auf ein großes, rechteckiges Loch im Gras ein paar Meter vor ihm. Daneben lag ein Streifen Kunstrasen, genau in der richtigen Größe, um das Loch zu verdecken. Das echte Gras drumherum, das mit Sprenkeln von Gänseblümchen verziert war, glitzerte immer noch unter dem Morgentau. Die Sonne war noch nicht warm genug, um es zu trocknen. Plötzlich erschauderte ich, als mir eine sehr bildliche Vorstellung von den unzähligen Bewohnern des Friedhofs kam, wie sie ganz buchstäblich ins Gras bissen.
Tommy, der sich normalerweise ganz furchtlos gab, sprach leise, als fürchtete er, dass jemand mithören könnte. „Die Leiche ist da drin, Miss.“
Sina umschlang meine Hand noch fester und schlich sich beachtlich leise an das offene Grab heran. Ich hatte keine andere Wahl, als mich von ihr mitziehen zu lassen. Billy folgte uns.
Wir blieben zusammen am Rand des Lochs stehen. Unterhalb des perfekt aufgetrennten Rasens war ein Stück der dichten, feuchten Erde zu sehen, deren Farbe mich stark an Kaffeesatz – oder an getrocknetes Blut – erinnerte. Der Teil darunter war mit Holzbrettern verstärkt. Aus dem Loch, das viel tiefer war, als ich erwartet hatte, drang der reine, torfige Duft von feuchtem Boden. Weiter unten nahe dem Grund sahen Farbe und Textur des Bodens ganz anders aus, wodurch ich mich sofort an die Querschnittzeichnungen in Erdkundebüchern erinnert fühlte. Am gegenüberliegenden Ende des Grabs stand eine schmale Leiter.
Am Boden des Lochs lag, regungslos wie ein Stein, der Körper einer sehr alten Dame von etwa einem Meter fünfzig Größe, die einen altmodischen Nerzmantel trug. Unter dem Saum schaute ein einzelner pinkfarbener Velours-Pantoffel hervor. Mir war sofort klar, wie Sina und Tommy den Anblick auf die Schnelle mit der Fußsohle einer in diesem Fall wenig Glück bringenden Hasenpfote verwechseln konnten. Einer riesigen Hasenpfote.
Aber deutlich auffälliger waren die falschen Hasenohren aus blau geblümter Baumwolle, die den Körper etwa zwanzig Zentimeter länger aussehen ließen. Ich kannte den Stil dieser Ohren aus der österlich geschmückten Auslage des Dorfladens. Dessen Besitzerin Carol Barker verkaufte selbst gemachte, saisonal passende Verkleidungen, um ihre mageren Einkünfte aufzustocken. Im Moment lagen dort Dutzende Hasenohren in einem Korb, genau auf der richtigen Höhe für Kinderaugen.
Die Frau, die dort unten lag, hatte die Arme neben dem Kopf ausgestreckt und ihr Körper war leicht zu einer Seite hin verdreht. Das linke Knie war ein Stück stärker gebeugt als das rechte. Bei dem Anblick juckte es mir geradezu in den Fingern, mit einem Stück Kreide die Umrisse nachzeichnen zu wollen, denn sie hätten beinahe perfekt der typischen Silhouette am Boden eines jeden Fernsehtatorts entsprochen.
Der Körper lag zu ordentlich auf dem Boden, um ins Loch gestürzt zu sein, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand heruntergeklettert war und sich dort freiwillig hingelegt hatte. Jemand musste sie also hinuntergetragen und dort wie auf einem Seziertisch abgelegt haben.
Billy, der neben mir leicht hin und her zu schwanken begann, legte die Hand auf meine Schulter, um sich abzustützen. „Das ist kein Osterhase“, sagte er mit stockender Stimme. „Das ist meine Tante Bunny. Bunny Carter. Ihr erster Mann war der verstorbene Bruder meiner Mutter.“
„Du meine Güte, Billy, das tut mir so leid …“, setzte ich an, aber er fiel mir ins Wort.
„Was führt die verrückte alte Fregatte denn jetzt wieder im Schilde?“
2 Hinunter ins Kaninchenloch
„Billy!“, rief Tommy aus, der noch immer steif an der Mauer lehnte. „Du sagst mir doch immer, dass ich mehr Respekt auf dem Friedhof zeigen soll. Wieso ist es okay, wenn du die Toten beleidigst?“
Billy ging hinüber zur Mauer, um die Sense mit dem langen Griff zu holen, mit der er das Unkraut jätete. „Wie kommst du darauf, dass sie tot ist?“
Tommy nahm all seinen Mut zusammen, um seinen Platz zu verlassen und über den Rand des Grabs zu schauen. „Sie sieht jedenfalls nicht gerade lebendig aus.“
„Alte Frauen bewegen sich ohnehin nicht viel“, sagte Sina.
„Meine Tante Bunny jedenfalls nicht.“ Billy drehte die Sense um und hielt sie an der Klinge. „Sie hat ihr Haus seit Jahren kaum verlassen.“
Ich wollte aus Sorge um seine Handfläche einschreiten, aber Billy hatte den Stiel der Sense schon ins Grab heruntergelassen und die alte Dame kräftig damit angestupst. Ein leises, schwaches Stöhnen erklang aus der Tiefe und ließ wenig Zweifel daran, dass sie noch lebte.
„Siehst du, hab ich ja gesagt“, sagte Billy, zog die Sense wieder hoch und drehte sie um. „Es braucht schon eine ganze Menge mehr als einen Sturz in so ein Loch, um den alten Vogel umzubringen. Sie ist noch nicht bereit zu gehen.“
Die Mienen der Kinder hellten sich bei diesen Neuigkeiten deutlich auf.
„Soll ich runterklettern und ihr nach oben helfen?“, bot Tommy an. Er half wirklich gern. „Ich mag es, die kleine Leiter rauf- und runterzugehen. Ich könnte meinen neuen Feuerwehrgriff ausprobieren, den ich an Sina geübt habe.“
„NEIN!“, erwiderten Sina und ich einstimmig.
„Wir sollten sie nicht bewegen, bevor sie nicht ein Notarzt untersucht hat“, fuhr ich fort. „Sie jetzt zu bewegen, könnte mehr Schaden anrichten als nutzen. Außerdem sollten wir versuchen, die Erde um sie herum nicht zu berühren. Vielleicht finden sich darin wichtige Hinweise darauf, wie sie hier gelandet ist.“
„Also ist das hier ein Tatort, Miss?“
„Das könnte gut sein. Aber da sie noch lebt, hat Erste Hilfe oberste Priorität. Tommy, könntest du bitte zur High Street laufen und Doktor Perkins holen, falls er zu Hause ist? Sag ihm, es ist ein Notfall.“
„Er muss zu Hause sein, schließlich hat er sich letzten Monat zur Ruhe gesetzt.“ Billys Stimme klang missmutig. „Und das, obwohl er erst sechzig ist.“
„Können wir dann einen Krankenwagen rufen?“, fragte Tommy hoffnungsvoll. Das Auftauchen eines Blaulichts im Dorf war immer Anlass für Aufregung und Tratsch.
„Das lassen wir Doktor Perkins entscheiden“, sagte ich vorsichtig, um nicht anschuldigend zu klingen oder die Kinder zu verängstigen. Ich hoffte, dass es eine ganz einfache Erklärung für die missliche Lage gab, in der Bunny Carter sich hier befand. „Außerdem ist er viel schneller hier als ein Krankenwagen, besonders jetzt, wo die Brücke nach Slate Green für Bauarbeiten geschlossen ist. Da müssten sie den langen Weg fahren. Und die ersten paar Minuten können entscheidend sein.“
Sina packte ihren Bruder am Ärmel. „Ich komme mit, Tommy.“
Billy folgte ihnen durch das Friedhofstor hinaus. „Ich gehe besser und hole Kitty, sofern ich sie davon überzeugen kann, das Haus zu verlassen.“
„Und was ist mit mir?“, rief ich ihm hinterher. Mir gefiel der Gedanke nicht, ganz allein bei dem Grab zu bleiben, auch wenn darin keine Leiche lag. „Und wer ist überhaupt Kitty?“
Billy rief über seine Schulter zurück: „Behalt einfach Bunny im Auge und sorg dafür, dass sie nicht versucht, allein aus dem Loch zu klettern.“
Ich schlang zur Beruhigung die Arme um mich. Was sollte ich in der Zwischenzeit nur tun? Dann schämte ich mich für meine schwachen Nerven, als ich mir bewusst machte, dass gerade möglicherweise eine alte Dame im Begriff war, vor meinen Augen zu sterben. Also ging ich vorsichtig näher heran und spähte erneut ins Grab hinein. Sie sah überraschend friedlich aus und immerhin war sie warm eingepackt.
Die Stille wurde durch ein unvermitteltes Flattern und einen starken Luftzug unterbrochen und ich musste unwillkürlich aufschreien. Als ich mich hektisch umblickte, sah ich die große Krähe noch im Gras landen, bevor sie zum nächstgelegenen Blumenkranz spazierte und auf der Suche nach Insekten hartnäckig zwischen den Rosen herumpickte. Ich versuchte, dabei nicht an die Augen toter Schafe zu denken.
Dann kam mir der Gedanke, dass wir vielleicht gar nicht allein waren. Wenn Bunny Carter das Grab nicht selbst betreten hatte, dann lungerte der Angreifer vielleicht noch hinter einem der Grabsteine herum und bereitete sich darauf vor, jegliche Zeugen auszuschalten. Das offene Grab war tief genug für mich, Billy, Tommy und Sina. Ich stellte mir vor, wie wir achtlos aufeinandergestapelt wurden, mit abgespreizten Gliedmaßen und offenen Mündern wie auf dem Titelbild des Buches über den Schwarzen Tod, das ich gerade erst in der Kinderbuchabteilung unter Geschichte einsortiert hatte.
Wie hatte der Angreifer es wohl getan? Es gab keine Spur von einer Waffe oder Blut.
Als ich mir den Zeh an der Sense stieß, die Billy auf dem Boden liegen gelassen hatte, kam mir der Gedanke, dass der stabile Griff durchaus benutzt werden könnte, um dem Kopf einer alten Dame einen schweren Schlag zu verpassen. Hatte Billy vielleicht … Nein, ich konnte nicht glauben, dass er seiner eigenen Tante etwas Derartiges antun könnte.
Ich sah mich nach Fußspuren um. Im taubedeckten Gras fanden sich viele von den Kindern, die hier ihr Unwesen getrieben hatten, von Billys Arbeit und auch von unserer kürzlichen Ankunft. Es war kaum festzustellen, ob noch irgendjemand anders hier gewesen sein könnte, ob mit oder ohne Bunny Carter. Allerdings gab es merkwürdige, parallel verlaufende Linien auf dem Boden, die sich zwischen den Grabsteinen hindurch schlängelten, als hätte ein Eiskunstläufer einige aufwendige Manöver zwischen den Gräbern geübt.
Ich folgte den Linien bis zum Rand des Friedhofs und entdeckte zu meiner Überraschung etwas völlig Neues. Nahe der Mauer fiel ein warmer Sonnenstrahl auf einen grauen Marmorstein, auf dem mein Nachname stand. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb mein Herz stehen, bis ich bemerkte, dass der Vorname darüber nicht der meine, sondern der meiner Tante war. Tante Mays Grabstein war also endlich aufgestellt worden.
Als ich letzten Juni ins Dorf gezogen war, nachdem ich ihr Cottage geerbt hatte, hatte ich zu meiner Verärgerung feststellen müssen, dass ihr Grab mit nicht mehr als einem etwa lesezeichengroßen Holzkreuz markiert war, auf dem mit stumpfem Bleistift handgeschrieben ihr Name und Todestag standen.
Als ich weinend meinen Vater im Haus meiner Eltern in Inverness angerufen hatte, hatte er mir erklärt, dass nach einer Beerdigung die frisch umgegrabene Erde ruhen gelassen werden musste, bevor der Grabstein aufgestellt werden konnte. Ansonsten würde er im Laufe der Zeit schief werden oder sogar umfallen. Er hatte außerdem versichert, dass der Steinmetz aus Slate Green den Stein aufstellen würde, sobald die Zeit dafür reif sei.
Ich überquerte das Gras und hockte mich hin, um den Rest der Gravur zu lesen. Die vergoldeten Buchstaben schimmerten im Sonnenlicht. Als ich mit den Fingern über die eingravierten Worte unter Mays Namen strich, spürte ich die scharfen Kanten der Rillen an meinen Fingerspitzen.
Es ist besser, hoffnungsvoll zu reisen, als anzukommen.
Ich brauchte Hector nicht, um zu wissen, dass es sich um ein Zitat von Robert Louis Stevenson handelte, einem der liebsten Schriftsteller meiner Tante, die selbst Reiseschriftstellerin gewesen war. Was würde Petrus wohl von ihrer Einstellung halten, wenn sie die Himmelspforte erreichte?
Ich beschloss, später mit einem Blumenstrauß für ihr Grab zurückzukommen. Keinem aus dem Laden und keinem von diesen Kränzen, wie sie auf einigen der umliegenden Gräber lagen, sondern einem, den ich selbst in ihrem geliebten Garten pflücken würde, den ich nach besten Kräften in ihrem Andenken weiterpflegte. Ihr Garten hatte sich als Quelle der Inspiration für meine eigenen Bemühungen als Autorin entpuppt, vor allem in Form der monatlichen Kolumne im Gemeindebrief unter dem Titel „Die Reisen in den Garten meiner Tante“.
Jetzt, da May nicht länger zu ihrem Garten konnte, würde ich den Garten eben zu May bringen.
Dann wurden meine Tagträumereien durch ein langes, unheimliches Stöhnen jäh unterbrochen.