1 Seltsame Typen
Der amerikanische Tourist presste den Fuß fest auf das Gaspedal seines Mietwagens, als er an einem strahlend hellen Morgen im Herbst durch Wendlebury Barrow, ein Dorf in den Cotswolds, fuhr. „Lass uns schleunigst hier verschwinden“, sagte er zu seiner Frau. „Was ist das überhaupt für ein Ort?“
„Ich weiß es nicht, Liebling, aber ich glaube, wir sind durch eine Art Zeitschleife gefahren. Gerade eben habe ich ein Schild gesehen, auf dem für heute Abend ein Feuerwerk beim Pfarrhaus angekündigt wurde. Und das, obwohl wir heute den fünften November haben und nicht den vierten Juli.“
Beim Anblick der Leichen, die über die High Street transportiert wurden, kauerte die Frau sich mehr und mehr im Beifahrersitz zusammen.
Ein Mann schob eine in sich zusammengesackte Gestalt in einer Schubkarre vor sich her, während sein Begleiter sich einen leblosen Körper auf die Schulter geladen hatte. Ein junges Mädchen bugsierte einen weiteren in einem Buggy die Straße entlang. Allesamt steuerten sie auf das Pfarrhaus zu, wo ein kleiner Junge einen Körper, der so groß war wie er selbst, über einen schlammigen Rasen schleppte, der übersät war mit Laub und verrottenden Falläpfeln.
Im Vorbeifahren konnten die Touristen einen flüchtigen Blick auf den hinteren Teil des Gartens erhaschen, in dessen Mitte Holz und Papier zu einem großen Haufen zusammengetragen worden waren.
Die Frau schnappte nach Luft. „War das etwa ein Scheiterhaufen?“
„Was immer es war, für einen Halloween-Streich ist es zu spät.“
„Vielleicht feiern sie hier den Tag der Toten?“
„Nein, den gibt es in Mexiko.“ Er reichte ihr sein Mobiltelefon. „Sieh nach, ob heute ein Feiertag ist, vorausgesetzt, du bekommst an diesem gottverlassenen Ort überhaupt ein Handysignal.“
Im Internet wurde die Frau fündig. „Guy Fawkes und seine katholischen Mitverschwörer planten, am fünften November 1605 das Parlamentsgebäude in die Luft zu sprengen, um die protestantische Regierung zu stürzen. Das Komplott wurde vereitelt. Seitdem finden alljährlich Feste statt, und Guy-Fawkes-Puppen, die gemeinhin als Guys bezeichnet werden und in Aufbau und Aussehen Vogelscheuchen ähneln, werden auf Freudenfeuern verbrannt. Die traditionell begleitend stattfindenden Feuerwerke sind heutzutage aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Gesundheit und Sicherheit weniger beliebt.“
„Guy Fawkes? Junge, Junge, Marcia, diese Briten haben ein Faible für eigenartige Namen.“
„Allerdings, Randy, das haben sie.“
Der Mann schaltete einen Gang höher, während sie durch die Landschaft rasten. „Aber warum brauchen sie so viele Strohpuppen? Reicht ihnen ein Guy Fawkes nicht aus?“
Marcia schauderte. „Wenn du mich fragst, ist ein verbrannter Guy Fawkes bereits einer zu viel. Noch dazu am Pfarrhaus. Der Pfarrer scheint kein Mann Gottes zu sein. Lass uns in die sichere Stadt zurückfahren. Hier auf dem Land ist es viel zu gefährlich.“
Doch was Randy und Marcia nicht wussten, war, dass es noch viel gefährlicher werden würde. Wären sie nämlich bis nach Einbruch der Nacht an diesem Ort geblieben, hätten sie vierundfünfzig Guys vorgefunden, die auf dem Scheiterhaufen auf ihre Verbrennung warteten – unter ihnen, vor aller Augen versteckt, auch ein echter Mensch.
2 Das verworrene Netz
Nun, da der Oktober angebrochen war und der Beginn des neuen Schuljahres und die damit verbundenen Mehrverkäufe hinter uns lagen, waren Hector Munro, der Inhaber des Buchladens, und ich damit beschäftigt, das Schaufenster passend zu Halloween zu gestalten, um Besucher anzulocken. Laut Hector spielte Halloween eine große Rolle in Wendlebury Barrow, und ich freute mich auf ein wenig Spaß während der immer kürzer werdenden Tage im Herbst. Ich lebte erst seit vergangenem Juni im Dorf, nachdem ich das Cottage meiner Großtante May geerbt und eine Stelle als Verkäuferin in Hector’s House, dem örtlichen Buchladen, angetreten hatte. Es gab immer noch so vieles, was ich über das Dorf lernen musste, das ich allmählich als mein Zuhause betrachtete.
Während ich die obere Seite des linken Erkerfensters mit Spinnweben-Spray besprühte, befestigte Hector, der auf einer kleinen Leiter stand, mit schwarzen Schnüren versehene Gummi-Spinnen und -Fledermäuse an Deckenhaken. Unten im Fenster waren gruselige, von Plastikschlangen umwundene Bücher ausgestellt.
Billy kam zur Ladentür hereingepoltert, um sich wie üblich seinen Vormittagsimbiss, bestehend aus Tee und Kuchen, zu gönnen. „Es wäre euch einiges an Mühe erspart geblieben, wenn ihr mich nur gefragt hättet“, sagte er. „Gern hätte ich euch von zu Hause echte Spinnennetze mitgebracht. Und Spinnen.“
Billys Treue gegenüber Hector’s House fußte nicht auf seiner Liebe zu Büchern – die er nie kaufte –, sondern auf Hectors selbst gebranntem Schnaps, mit dem er den Tee bestimmter Gäste versetzte. Hector nannte ihn auch das Sahnehäubchen des Buchladens.
„Nein, danke, Billy, wir bleiben bei einer künstlichen Halloween-Dekoration“, sagte Hector. „Sollten wir die Kinder aus dem Dorf ernsthaft erschrecken wollen, werden wir sie bei dir vorbeischicken. Würdest du mir bitte eine weitere Fledermaus reichen, Sophie?“
Gerade hatte ich die Sprühdose abgesetzt und durchstöberte die Kiste mit den Requisiten, als die Ladentür ein Knarren von sich gab und eine mir unbekannte Stimme erklang.
„Oben links haben Sie eine Stelle vergessen zu säubern“, richtete ein großer, hagerer Mann in einem schlichten schwarzen Anzug das Wort an mich und wies auf die feinen Spinnweben, die ich kunstvoll in die Ecke des Fensters gesprüht hatte. „Ein Staubwedel ist die ultimative Waffe.“
Ich lächelte höflich über die Bemerkung, die ich zunächst für einen Scherz hielt. Doch als ich den grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht des Fremden bemerkte, wurde mir klar, dass er es todernst gemeint hatte.
„Sie können mir glauben, meine Liebe, ich spreche aus Erfahrung. Heute Morgen habe ich im Pfarrhaus dermaßen viele Spinnen zur Strecke gebracht, dass ich mich mittlerweile als Arachnologen betrachte.“
Sein schütteres weißes Haar zeugte von seiner morgendlichen Schlacht: Auf seiner tonsurähnlichen Halbglatze lag eine tote Spinne. Wäre ich eine Spinne gewesen, wäre ich beim Anblick der stahlgrauen Augen des Mannes in Deckung gegangen.
Hector stieg die Leiter hinab und gesellte sich zu mir, so als stellten wir ein informelles Empfangskomitee dar. Er streckte die Rechte zur Begrüßung aus, doch der Fremde schlug nicht ein. Er warf einen verächtlichen Blick auf Hectors Hand, als müsse dieser sich erst einmal richtig die Hände waschen.
„Guten Morgen, Sir“, sagte Hector. „Wir hatten bisher noch nicht das Vergnügen.“
„Glauben Sie ihm das bloß nicht“, sagte Billy. „Neulich habe ich gesehen, wie er sie geküsst hat.“
Ich hätte Billy umbringen können. Der eine impulsive Kuss, mit dem mir Hector vergangene Woche zum Gewinn eines Preises fürs Schreiben gratuliert hatte, war wahrlich keine Sünde. Um ehrlich zu sein: Selbst wenn es eine Sünde gewesen wäre, hätte es mir nichts ausgemacht, erneut zu sündigen, auch wenn es den frömmlerischen Mann bestimmt geärgert hätte. Ich hätte darauf gewettet, dass er selbst noch nicht viele Küsse bekommen hatte. Vielleicht wirkte er deshalb so mürrisch.
Mit einem diplomatischen Lächeln auf den Lippen vergrub Hector die Hände in den Taschen seiner Jeans. „Was ich meinte, war, dass wir bisher noch nicht das Vergnügen hatten, Sie in unserem Buchladen begrüßen zu dürfen. Oder etwa doch?“ Er blickte den Fremden an, als versuche er, ihn einzuordnen. „Mir ist, als wären wir einander schon einmal begegnet, aber ich weiß nicht, wo. Sie sind nicht ortsansässig, oder?“
Der Fremde setzte eine selbstgefällige Miene auf. „Mein lieber Freund, ich bin der ortsansässigste Geistliche, den Sie je in Ihrem Geschäft zu Gesicht bekommen werden. Ich bin Reverend Philip Neep und in der Tat Ihr Pfarrer. Ich bin gestern Abend angekommen und stehe nunmehr der Gemeinde Wendlebury vor. Betrachten Sie dies als Antrittsbesuch in Ihrem Geschäft.“ Einen Moment lang starrte er Hector an, blickte dann aber rasch wieder weg.
Billy, der sich an der Theke in der Teestube selbst bedient hatte, ließ ein Stück Süßgebäck fallen und rannte mehr oder weniger auf uns zu. „Unser neuer Pfarrer? Willkommen in Wendlebury, Reverend. Wir haben Sie erst gegen Ende November erwartet.“ Er packte die Rechte des Pfarrers und schüttelte sie energisch zur Begrüßung.
Mr Neep blickte über seine lange Nase hinweg auf sein Gegenüber hinab. Billy war mindestens einen Kopf kleiner als er selbst und wirkte in seiner alten Cordhose, dem karierten Flanellhemd und der rundum geflickten Tweedjacke so ungepflegt wie immer.
„Und Sie sind?“
„Billy Thompson. Ich bin für die Pflege des Friedhofs und des Pfarrgartens zuständig, bezahlt werde ich nach Stunden. Seit dreiundzwanzig Jahren bin ich Mitglied der Freunde von St Bride’s und seit fünf Jahren ehrenamtlicher Schatzmeister.“
Mit angewidertem Blick zog der Pfarrer die Hand zurück und holte ein Stofftaschentuch aus der Brusttasche seiner Jacke, um sich die Hand zu säubern. „Dann werde ich Sie zweifellos auf deren nächstem Treffen wiedersehen.“
„Oh nein, Reverend, mit den Freunden von St Bride’s haben Sie nichts zu tun. Wir stehen aber gelegentlich mit dem Kirchengemeinderat in Verbindung. Das sind Ihre Leute.“
Der Pfarrer hob die Augenbrauen. „Nein, das geht so nicht, auf keinen Fall. Ich bin daran gewöhnt, in alle Angelegenheiten, die meine Gemeinde betreffen, eingebunden zu sein. Was wäre ich für ein Pfarrer, wenn ich nicht jedermanns Freund wäre?“ Er wandte Billy den Rücken zu, um das Wort erneut an Hector zu richten. „Es mögen die Mitglieder meiner Gemeinde noch so rücksichtsvoll sein in ihrem Bestreben, mich nicht zu überfordern, aber der Dienst an meiner Gemeinde ist nun einmal mein Lebensinhalt.“
Billy kehrte finster dreinblickend an seinen Tisch zurück und tröstete sich mit dem Rest seines Süßgebäcks. „Wie wäre es stattdessen mal mit dem Dienst an Gott?“, murmelte er mit vollem Mund vor sich hin.
Unvermittelt schob sich der Pfarrer an Hector und mir vorbei und durchforstete die Bücherregale. Bei den Autobiografien angekommen, verharrte er. „Es sind ziemlich viele berühmte Persönlichkeiten vertreten, wie ich sehe.“ Er zog ein dickes gebundenes Buch eines bekannten Supermodels heraus und blickte so despektierlich drein, als leide das Buch unter einer Geschlechtskrankheit. Er überflog die Seiten, dann verweilte sein Blick über den glänzenden Fotografien. „Niemand, an den man sich meiner Meinung nach erinnern müsste. Ich würde viel lieber etwas von einem inspirierenden Menschen mit Vorbildfunktion und einem etwas bescheideneren öffentlichen Profil lesen. Das wäre dann mit Sicherheit auch besser geschrieben. Nicht dass die Leute heutzutage ein großartiges Werk erkennen würden, wenn sie eins sehen.“ Er hustete, wahrscheinlich weil seine Lunge aufgrund der morgendlichen Herausforderung immer noch belastet war. „Die meisten Biografien, derer sich Prominente rühmen, stammen aus der Feder eines Ghostwriters, müssen Sie wissen.“
Mit einer witzigen Bemerkung versuchte ich, den Reverend aufzuheitern. „Da die Autobiografien ja dann quasi von Geisterhand geschrieben sind, sollten wir sie besser in unserem gruseligen Schaufenster ausstellen.“
Der Reverend ignorierte mich und schob das Buch zurück ins Regal, ohne zu bemerken, dass sein grober Umgang mit dem Buch dessen Schutzumschlag beschädigt hatte. Fast beiläufig fügte er hinzu: „Und wo finde ich die religiöse Abteilung? Ich nehme an, Sie haben eine große Auswahl an Bibeln.“
Hector zeigte auf das unterste Regal in der hintersten Ecke. „Bücher zu diversen Religionen befinden sich dort unten, gleich neben den Werken über Philosophie und Selbsthilfe.“
„Religionen?“ Der Pfarrer betonte die beiden letzten Buchstaben des Wortes, wohl um sein Missfallen zu verdeutlichen. Dann bückte er sich, um das ‚Beweismaterial‘ zu prüfen. „Buddhismus? Judentum? Druidentum? Danach habe ich nicht gefragt.“
Diplomatisch, wie er war, übte sich Hector in zivilisiertem Benehmen. Es war offensichtlich, dass ihm das unhöfliche Verhalten des Pfarrers mir und Billy gegenüber nicht gefiel, obwohl Billy anderen Menschen auch oft mit Unhöflichkeit begegnete. Doch zumindest hatte er das Herz am rechten Fleck. Mr Neep hingegen … Nun, ich war nicht sicher, ob er überhaupt eines besaß.
„Ich habe die Bücher im Angebot, die meine Kunden am ehesten kaufen werden“, erklärte Hector geduldig.
Der Pfarrer wirbelte auf dem Absatz herum und wirkte nun wie ein Rektor, der drauf und dran war, einen Schuljungen zu züchtigen. „Aber mein lieber Freund, wenn Sie keine vortreffliche Auswahl an Bibeln vorrätig haben, wie können Ihre Kunden sie dann kaufen? Gleiches gilt für die Memoiren von Persönlichkeiten, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten.“
Ich hätte schwören können, dass Hector hinter seinem toleranten Lächeln die Zähne zusammenbiss.
„Meine limitierte Auswahl an Büchern ist sorgfältig auf die Wünsche meiner Kunden abgestimmt. Falls jemand etwas kaufen möchte, das ich nicht vorrätig habe, bestelle ich es umgehend, ohne dass zusätzliche Kosten entstehen, so wie es jeder erfolgreiche Buchhändler tut. Nun würde ich Sie aber gern auf eine Tasse Tee einladen, Reverend, damit wir einander besser kennenlernen können.“
„Moralisch überlegen bist du ihm, junger Hector“, nuschelte Billy und schleckte etwas Zuckerguss von seinem Daumen.
Hector durchquerte die Teestube. Er wählte den Tisch, der sich am weitesten von Billy entfernt befand, zog einen Stuhl hervor und bedeutete dem Pfarrer, sich hinzusetzen. „Ich hoffe, wir werden Sie ab jetzt regelmäßig hier begrüßen dürfen.“
Gleich nachdem der Pfarrer Platz genommen hatte, eilte ich herbei, um ihm und Hector Tee zu servieren. Kaum hatte ich die Tasse und den Unterteller vor ihm auf dem Tisch abgestellt, beäugte der Reverend beide auch schon mit skeptischem Blick. Unser Geschirr war mit buchbezogenen Schriftzügen versehen. Die Leute vom Literally-Gifted-Versand stellten es uns zur Verfügung, während wir im Austausch ihre Produkte in unserem Laden anboten.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte ich, als mir auffiel, dass ich dem Reverend versehentlich eine Tasse mit Dracula-Schriftzug zugeteilt hatte. „Die Tasse scheint einen Sprung zu haben.“ Das stimmte natürlich nicht. „Ich bringe Ihnen eine andere.“
Rasch ersetzte ich sie durch eine mit dem Aufdruck Stolz und Vorurteil, passend zu Hectors Anne Elliot. Die Dracula-Tasse bekam Billy. Während ich damit beschäftigt war, die Teekanne zu füllen, die mit dem Schriftzug Große Erwartungen bedruckt war, versuchte Hector, die Unterhaltung auf sichereres Terrain zu lenken.
„Ich freue mich sehr, dass Sie hierher beordert wurden, um die freie Stelle zu besetzen. Seit Monaten stehen wir hier im Dorf schon ohne einen Geistlichen da.“
„Besser als ohne Unterho–“
Glücklicherweise saß der Reverend mit dem Rücken zu Billy, sodass er nicht sehen konnte, dass ich Letzterem den Mund zuhielt, um ihn zum Schweigen zu bringen. Für gewöhnlich fiel ich nicht auf derlei Weise über unsere Kunden her, aber für Billy war das in Ordnung. Er nahm es mit Humor und nutzte die Gelegenheit, um meine Hand zu küssen. So schnell ich konnte, zog ich die Hand zurück. Insgeheim war ich froh, dass Billy dem unhöflichen Pfarrer Paroli bot. Ich verzog mich hinter den Tresen und wusch mir gründlich die Hände, während Hector mit der Unterhaltung fortfuhr.
„Ich hoffe, wir werden schon bald die Gelegenheit bekommen, Ihre Frau bei uns im Dorf willkommen zu heißen, Reverend. Viele Klubs und Vereine würden sich über ihre Gesellschaft freuen. Meine Mitarbeiterin Sophie ist Mitglied der Wendlebury Writers und Teil des Festkomitees. Ich bin sicher, sie würde Ihre Frau liebend gern vorstellen.“
„Tot“, sagte der Reverend. „Meine Frau ist tot.“
„Das tut mir schrecklich leid“, sagte Hector, ehe er verstummte.
Ich fragte mich, ob das der Grund dafür war, dass er offenbar meinte, Hector und mich vorverurteilen zu müssen. Er musste sehr einsam sein.
Billy winkte mich zurück an seinen Tisch. „Gib ihm etwas von Hectors spezieller Sahne. Das wird den alten Knacker etwas lockerer machen.“
Ich holte das Sahnekännchen aus dem Kühlschrank.
„Hätten Sie gern etwas Sahne in Ihrem Tee, Reverend? Für besondere Gäste halten wir unsere vorzügliche Sahne bereit, aus regionaler Erzeugung, da wir unsere Bauern vor Ort unterstützen.“
„Ich trinke meinen Tee schwarz.“
Entmutigt goss ich ein wenig Sahne in Hectors Tasse. Er sah mich dankbar an.
„Also, was tun Sie in Ihrem Buchladen denn so alles?“ Der Reverend stellte die Frage so, als diene der Laden nur als Fassade für eine Opiumhöhle.
Rasch beförderte ich das Sahnekännchen auf Billys Tisch, ehe der Pfarrer Wind davon bekam, was es mit seinem Inhalt auf sich hatte.
Hector ratterte jene Beschreibung des Ladens herunter, die auch auf unserer Website zu finden war. „Wir sind für unsere Dorfgemeinschaft mehr als ein Laden, in dem es Bücher, Schreibwaren und Grußkarten gibt.“ Er zeigte auf die verschiedenen Regale. „Wir sind ein Treffpunkt für Leute jeden Alters und mit unterschiedlichen Interessen, wie zum Beispiel die Wendlebury Writers und Literaturkreise. Neben saisonalen Aktivitäten für Kinder und themenspezifischen Veranstaltungen für Erwachsene bieten wir Schulkindern bei Bedarf professionelle Nachhilfe im Lesen und Schreiben an. All das, um die Liebe zu Büchern und das Lesen an sich zu fördern.“ Er zeigte auf den Spieltisch in der Ecke, wo kostenlose Arbeitsblätter zu den Themen Hexen und Geisteraktivitäten aufgestapelt waren. „Außerdem sind wir eng in den Alltag der Dorfschule eingebunden. Ich schätze, Sie werden es künftig auch sein, Reverend, in Anbetracht dessen, dass es sich um eine Stiftungsschule der Kirche von England handelt.“
„Ja, man wird seitens der Schule natürlich darauf bedacht sein, dass ich mich um das geistige Wachstum von Kindern und Kollegium kümmere.“
Dass die Mitarbeiter der Schule das so sahen, bezweifelte ich. Gewiss, die Schule war von der Kirche gegründet worden, und allein deshalb bestand schon eine Verbindung, aber was auf der Wunschliste der Lehrerschaft ganz oben stand – das hatte ich jedenfalls dem Gemeindebrief entnommen –, waren ein neues interaktives Whiteboard für die Aula und jemand, der die Hüpfkästchen auf dem Pausenhof nachmalte.
Der Reverend hatte allerdings seine ganz eigenen Vorstellungen. „Ich werde den Zuständigen der örtlichen Bildungseinrichtung eine Fülle neuer Ideen und Anregungen überbringen. Und in diesem Sinne muss ich Sie bitten, sämtliche Waren, die einen Bezug zu Halloween haben, umgehend aus dem Sortiment zu entfernen.“
Hector tat einen tiefen Atemzug.
„Noch etwas Tee, Reverend?“, fragte ich mit fröhlich klingender Stimme, während ich nach vorn trat und die Teekanne hob, um Hector auf diese Weise Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Zur Lösung dieser Angelegenheit bedurfte es mehr als nur einer Tasse Tee. Doch Mr Neep lehnte ab und machte dies deutlich, indem er die Hand auf die Tasse legte, während Hector bereits anfing zu sprechen.
„Es tut mir leid, Reverend, aber das ist ganz und gar unmöglich. Wie jedes Jahr zu dieser Zeit bieten wir eine große Auswahl an Halloween-Büchern und sonstigen Arbeitsmaterialien an.“ Er gestikulierte in Richtung der Kisten mit der Halloween-Dekoration. „Halloween wird bei uns im Dorf immer gefeiert, aber es handelt sich um einen harmlosen Spaß. Echte Hexerei gibt es hier nicht. Abgesehen davon ist dies ein unabhängiger Buchladen. Entscheidungen zu Warenangebot und Vorgehensweise treffe ich ganz allein. Es ist mein Laden, hier gelten meine Regeln. Deshalb werden wir wie gewohnt damit fortfahren, dem Interesse unserer Kunden an Halloween gerecht zu werden.“
Der Pfarrer schob sich mit dem Stuhl zurück und stieß dabei so fest gegen den Tisch, dass Tee aus den Tassen in die Unterteller floss. „Wenn das der Fall ist, kann ich leider keine Geschäfte mit Ihnen machen.“
Hector blickte verdutzt drein. „Warum denn nicht? Ihr Vorgänger war einer unserer besten Kunden. Wenn ich mich recht erinnere, war er besonders an Polizeiromanen interessiert.“
Reverend Neep schlug die Hände so fest auf den Tisch, dass ich befürchtete, das Porzellan könne Schaden nehmen. Dann zerknüllte er eine unbenutzte Serviette und warf sie auf den Tisch. Das Papiertuch hätte ebenso gut ein Fehdehandschuh sein können.
„Halloween ist ein gottloses Fest, das dazu dient, dem Satanismus zu huldigen. Ich halte mich nicht in Räumlichkeiten auf, in denen das Werk des Teufels verherrlicht wird. Guten Tag.“
Er erhob sich, stolzierte aus dem Laden und knallte die Tür hinter sich zu. Hector schlürfte indes gelassen den Rest seines Tees.
Billy brach die Stille. „Wenn ihr mich fragt: Er ist kein richtiger Pfarrer. Warum musste der alte Reverend Murray in den Ruhestand gehen? Er hat genau das verkörpert, was ich unter einem wahren Geistlichen verstehe. Er war ein höflicher Mann, der Respekt vor den Mitgliedern seiner Gemeinde hatte. Jeden Herbst, wenn ich Laubräumarbeiten für ihn erledigt hatte, kaufte er mir zum Ausgleich eine Flasche Scotch.“
Billy lief zum Schaufenster und wählte aus unserer Halloween-Requisitenkiste die hässlichste, unförmigste Plüschspinne aus, die er finden konnte, und befestigte eine schwarze Baumwollkordel um deren Mitte. Dann zog er ein schwarzes Gummiband aus seiner ausgebeulten Jackentasche hervor und wickelte es grob um den Hals des Plüschtiers. Er ging zur Ladentheke, schnappte sich ein Fläschchen Korrekturflüssigkeit und verpasste der Spinne seine eigene Version eines Priesterkragens, indem er einen weißen Klecks auf das Gummiband tupfte, direkt unter dem Mundwerkzeug der Spinne. Unsicher kletterte er die Leiter hinauf und befestigte die Spinne an einem mittig platzierten Deckenhaken innerhalb des Schaufensters.
„Soll er das doch in seine Orgelpfeife stecken und paffen“, sagte Billy knapp und stupste die Spinne an, die nun wild im Schaufenster umherbaumelte.
Da Hector seinen Kunden gegenüber immer respektvoll war, erwartete ich, dass er aufspringen, die Spinne entfernen und ihr den improvisierten Priesterkragen herunterreißen würde. Stattdessen prostete er Billy mit seiner Teetasse zu. „Amen.“
Ich hatte so ein Gefühl, dass die Amtszeit des neuen Pfarrers nicht gut enden würde.
3 Joshuas Weisheit
Da ich den Vorgänger des Reverends nie kennengelernt hatte, fehlte mir der Vergleich, um festzustellen, ob oder wie sehr Mr Neep von der Norm abwich. Der einzige Hinweis, den ich bisher hatte, war, dass Reverend Murray Billy mit Scotch versorgt und gern Krimis gelesen hatte.
Da ich nicht darauf vertraute, durch Billy oder Hector an objektive Informationen zu gelangen, entschied ich, bis nach der Arbeit zu warten, um dann meinen Nachbarn Joshua zu fragen. Als ältester Einwohner des Dorfes würde er in der Lage sein, mir Fakten zu nennen. Er hatte zu keinem Zeitpunkt woanders gelebt als in dem Cottage, das an meines grenzte und in dem er vor sechsundachtzig Jahren geboren worden war.
Nachdem ich zu Hause angekommen war, schlurfte ich durch das kleine Wohnzimmer zur Küche und ließ, wie üblich, sowohl Mantel als auch Tasche auf den Tisch fallen, um gleich darauf den elektrischen Wasserkocher zu füllen und einzuschalten. Währenddessen erspähte ich Joshua in seinem Hintergarten. Er war gerade damit beschäftigt, die letzten Stangenbohnen aus seinem makellosen Gemüsebeet zu ernten. Ich schloss die Hintertür auf, trat hinaus und schlenderte den Weg entlang, um Joshua zu begrüßen. Um mich zu wärmen, verschränkte ich die Arme vor dem Oberkörper. Dass Joshua bei diesem Wetter im Garten zugange war, hielt ich für keine gute Idee.
Er stellte einen Weidenkorb mit beeindruckend langen, geraden Bohnen ab und legte sich eine Hand in den Rücken. „Guten Abend, meine Liebe“, sagte er, obwohl es erst kurz nach fünf war. Mir war aufgefallen, dass sowohl der Morgen als auch der Abend mit dem Alter generell früher anzubrechen schienen. „Was kann ich an diesem schönen Herbstabend für Sie tun?“
„Ich benötige einige Informationen“, begann ich.
„Bohnen? Ich habe gerade mehr davon geerntet, als ich essen kann. Ich möchte sie einbringen, ehe der Frost einsetzt. Sie können gern welche haben, wenn Sie möchten. Groß und hart, wie sie sind, tun sie meinen Zähnen nicht gut. Ich weiß nicht, weshalb ich sie überhaupt noch anpflanze. Vermutlich weil ich es seit jeher tue. Es ist schwer, bestimmte Gewohnheiten nach siebzig Jahren abzulegen.
Voller Bewunderung beäugte ich den Inhalt seines Weidenkorbes. „Informationen, sagte ich, nicht Bohnen. Wie auch immer, ich bräuchte Ihren Rat.“
„Bei einer Tasse Tee?“, fragte er hoffnungsvoll. Dann griff er nach seinem Gehstock und dem Korb mit den Bohnen und folgte mir durch das hölzerne Gartentor, das er und Großtante May zwischen ihren beiden Gärten hatten einbauen lassen, nachdem Joshuas Frau Edith gestorben war. Er und Tante May waren Liebende gewesen, bevor sie im Ausland ihrer Karriere als Reiseschriftstellerin nachgegangen war. Sie hatten ihre Beziehung erst Jahrzehnte später wieder aufgenommen, nachdem Joshua zum Witwer geworden war.
Sobald wir in der Küche angekommen waren, stellte er den Korb auf den Tisch und ließ sich in dem Bugholzstuhl nieder, auf dem er immer saß, den Gehstock an die Armstütze gelehnt.
Ich war nur einmal bei ihm zu Hause zum Tee gewesen. Dabei war mir aufgefallen, dass er Schwierigkeiten mit dem Abwasch hatte, deshalb richtete ich es so ein, dass wir uns immer bei mir trafen, und es schien ihm zu gefallen.
Obwohl Joshua ein äußerst scharfsinniger Mensch war, schien er gedanklich manchmal andernorts zu sein. Heute anscheinend im Garten. „Der einsetzende Frost bringt natürlich nicht nur Schlechtes mit sich. Für die Bohnen ist er von Nachteil, aber den Früchten des Schlehdorns entlockt er erst den vollen Geschmack, sodass man einen guten Schlehenlikör daraus herstellen kann. Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Sophie: Pflücken Sie niemals Schlehenfrüchte vor dem ersten Frost.“
„Ich habe noch etwas von Tante Mays Schlehenlikör hier.“ Ich blickte zur Fensterbank, wo sich eine kleine Flasche befand, die ich immer wieder gern betrachtete, wenn die Herbstsonne durch sie hindurchleuchtete. Ich nahm die Likörflasche zur Hand und schwenkte sie. „Es gibt noch eine ganze Menge davon in der Speisekammer, ebenso wie Tante Mays selbst gemachte Himbeermarmelade.“
Erwartungsvoll hob er die Brauen. „Das wird sich rasch ändern, wenn erst einmal die kalten Wintertage angebrochen sind. May und ich haben einige gemütliche Abende miteinander bei einem Glas Schlehenlikör verbracht.“
Ich befürchtete, er würde mir möglicherweise mehr erzählen, als ich wissen wollte, deshalb lenkte ich das Gespräch wieder auf den eigentlichen Grund für meine Einladung.
„Ich wollte mit Ihnen über den neuen Pfarrer sprechen. Philip Neep ist sein Name.“ Ich füllte die Teekanne mit frisch aufgekochtem Wasser. „Er hat heute bei uns in Hector’s House vorbeigeschaut.“
„Er ist schon vor Ort? Das ist eine gute Nachricht. Ich freue mich darauf, seine Bekanntschaft zu machen. Das einzige Mitglied der Gemeinde, das ihn bereits kennengelernt hat, ist Katherine Blake, die Vorsitzende des Kirchengemeinderats. Das war vor fünf Monaten, kurz bevor sie aufgebrochen ist, um ihren ausgedehnten Urlaub in Australien anzutreten, ein oder zwei Tage bevor Sie im Dorf angekommen sind, Sophie. Sie erzählte mir, sie sei sehr eingenommen von ihm gewesen, und das ist alles, was ich wissen muss. Abgesehen davon haben wir viel zu lange, selbst zu Mays Beerdigung kurz nach Ostern, keinen in der Gemeinde ansässigen Pfarrer mehr gehabt.“
Ich füllte gekühlte Milch in ein Kännchen und deckte den Tisch mit Mays besten Tassen und Untertellern aus Porzellan ein. Joshua bevorzugte Tassen statt Bechern, so wie Tante May einst auch.
„Nun, ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Nachricht ist, Joshua. Auf mich wirkte er, als sei er das Gegenteil von allem, was ein Pfarrer meiner Ansicht nach sein sollte. Er gibt sich kalt, ist rechthaberisch und humorlos. Um ehrlich zu sein, erschien er mir ein wenig unheimlich. Und Spaß versteht er auch keinen.“
Joshua beobachtete mich dabei, wie ich ihm Tee einschenkte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass in der Berufsbeschreibung eines Pfarrers steht, er müsse Sinn für Humor haben. Die Tätigkeit eines Gemeindepfarrers ist eine seriöse und äußerst verantwortungsvolle Aufgabe und nichts für schwache Gemüter.“
Ich öffnete die Keksdose und bot Joshua einen Shortbread-Keks an. Diese waren ihm die liebsten. „Trotzdem sollte er sich nicht in die Geschäfte vor Ort einmischen. Er hat uns aufgefordert, die Dekorationen und Bücher zum Thema Halloween zu entfernen. Das ist nicht gerade nett, oder?“
Joshua blickte unbeeindruckt drein. „Meine Liebe, Sie können von einem Pfarrer der Kirche Englands wirklich nicht erwarten, dass er Halloween für gut befindet. Eine Vielzahl guter Christen würde ihm in diesem Punkt beipflichten, mich eingeschlossen. Sein Augenmerk wird auf dem liturgischen Kalender liegen: Allerheiligen am ersten und Allerseelen am zweiten November.“ Er blickte nach oben zu dem mit japanischen Blumengemälden verzierten Kalender, der mit einem Nagel an der Wand über dem Küchentisch befestigt war. Meine verstorbene Großtante hatte ihn vor ihrem Tod dort angebracht. „An Allerseelen gedenken wir unserer geliebten Verstorbenen. Wir verkleiden uns nicht als Hexen und Zauberer, um einander Streiche zu spielen. Nebenbei bemerkt: Halloween ist religiösen Ursprungs. ‚Hallow‘ bedeutet ‚heiligen‘, wie in ‚Geheiligt werde dein Name‘.“
Ich runzelte die Stirn. Das Vaterunser kannte ich auswendig, aber derlei Verbindung war mir zuvor nicht aufgefallen. „Hector sagte, Reverend Murray habe sich nie an Halloween gestört. Offenbar ist er zum Tanzabend des Schulvereins sogar kostümiert erschienen.“
„Ja, als Papst“, sagte Joshua knapp. „Völlig unangemessen. Seine Frau war als Mutter Teresa verkleidet.“
Ich unterdrückte ein Lachen. „Dennoch, Mr Neep stellt es nicht gerade klug an, seine Herde in den Griff zu bekommen. Wenn ich an seiner Stelle neu im Dorf wäre, würde ich alles dafür geben, neue Bekanntschaften zu schließen. Ich würde zunächst versuchen, das Beste in den Menschen zu sehen, bis das Gegenteil bewiesen wäre.“ Ich hielt es für klüger, Joshua nicht zu verraten, dass ich nach meinem Zuzug ins Dorf vergangenen Juni ihm gegenüber die wildesten Verdächtigungen gehegt hatte: Er, der Killer, der seine Frau Edith und Großtante May umgebracht und es nun auf mich abgesehen hatte.
Joshua leerte seine Tasse, stellte sie ordentlich auf dem Unterteller ab und blickte hoffnungsvoll zur Teekanne. „Ich stimme Ihnen zu. Er sollte uns erst besser kennenlernen, bevor er uns kritisieren oder verändern will.“
„Genau. Insbesondere da wir uns im schönen und friedlichen Wendlebury Barrow befinden.“
Er beobachtete mich dabei, wie ich eine angemessene Menge Milch in seine Tasse goss, ehe ich den Tee dazugab. Ich wusste, dass er ein Anhänger des Zuerst-die-Milch-Prinzips war.
„Was ich eben sagte, gilt aber auch umgekehrt, meine Liebe. Die Dorfbewohner sollten einen Neuankömmling besser kennenlernen, ehe sie sich ein Urteil über ihn bilden.“
Ich bot Joshua einen weiteren Keks an und fühlte mich dabei wie Sherlock Holmes, wenn er Straßenkindern im Austausch für Informationen einen Sixpence zusteckte. (Hector hatte mir kürzlich Die Abenteuer des Sherlock Holmes geschenkt.)
„Ich bin froh, dass das Warten auf den Pfarrer nun ein Ende hat“, fuhr Joshua fort, nachdem er geraume Zeit auf einem Bissen Shortbread herumgekaut hatte. „Soweit ich mich erinnere, war es so geplant, dass er seine vorherige Gemeinde gegen Ende November verlässt und rechtzeitig zur Adventszeit bei uns eintrifft.“ Er wischte einige Kekskrümel von seiner Cordhose. „So lauteten Katherines Worte, da bin ich mir ziemlich sicher. Wahrscheinlich wird sie, wenn sie aus dem Urlaub zurückkehrt, einen Brief von der Diözese auf ihrer Fußmatte finden, in dem man sie über die Änderung des Zeitplans informiert. Oder sie hat eine dieser E-Mails erhalten, die ihr jungen Leute so gern schreibt.“
Ich schwenkte meine Teetasse und ließ den letzten Tropfen darin umherwandern, während ich mich fragte, ob Mr Neep aus seiner ehemaligen Gemeinde hinausgejagt worden war, damit die Leute endlich ein rauschendes Halloween-Fest würden feiern können. Da ich nicht wollte, dass Joshua mich für unhöflich hielt, sprach ich diesen Gedanken nicht laut aus.
Joshua lächelte. „Ich bin einfach nur froh, dass er hier ist. In einer kleinen ländlichen Gemeinde wie der unseren ist es mitunter schwer, eine freie Stelle zu besetzen. Aus diesem Grund war der Posten bei Mays Beerdigung unbesetzt. Mays Begräbnis wurde von einem Fremden geleitet. Wir können uns glücklich schätzen, überhaupt einen Pfarrer zu haben.“
Da ich zum Zeitpunkt von Mays Beerdigung in Deutschland gelebt und gearbeitet hatte, hatte ich nicht persönlich daran teilnehmen können. Ich erinnerte mich aber, dass mein Vater erwähnt hatte, das Begräbnis sei von dem Pfarrer einer anderen Gemeinde abgehalten worden, der May nicht persönlich gekannt hatte. Zum Glück war Mr Neep nicht früher zu unserem Pfarrer ernannt worden. Wenn ich ihn mir überhaupt bei einer Beerdigung vorstellen konnte, dann als jemand, der Menschen lebendig begrub.
„Danke sehr, Joshua, das erklärt vieles“, sagte ich. „Ich kann aber nicht versprechen, dass ich mich dazu bewegen kann, an den Gottesdiensten in St Bride’s teilzunehmen, solange er sie leitet.“
Traurig schüttelte Joshua den Kopf. „Das ist das Problem mit dem Mangel an Geistlichen – es sind zu wenige vorhanden, um einen passenden für die Gemeinde auszuwählen. Die falsche Person auf dem falschen Posten, und eine kleine Gemeinde verkümmert mehr und mehr. Aber wir hier im Dorf müssen zusammenhalten und das Beste aus der Situation machen. Ich für meinen Teil bin froh, dass der Reverend rechtzeitig angekommen ist, um den Gottesdienst an Allerseelen zu leiten. Ich werde dort sein, um für die liebe May und meine geliebte Edith zu beten. Vielleicht möchten Sie mich begleiten?“
Ich ließ die Frage unbeantwortet, weil ich einerseits nicht mitkommen, andererseits aber auch nicht Nein sagen wollte.
„Es ist ein schönes Fest, meine Liebe, und keineswegs traurig“, fügte er ermutigend hinzu, ehe er sich mit beiden Händen auf dem Tisch abstützte, um sich zu erheben. Er nahm seinen Gehstock zur Hand. „Und falls Sie von irgendwelchen Jugendlichen wissen, die planen, an Halloween an meine Tür zu klopfen, um nach kostenlosen Süßigkeiten zu fragen, sagen Sie ihnen, dass sie sich diese mit einem Liedchen verdienen müssen.“
Er kicherte. Ich glaubte ihm, war aber sicher, dass er beim anschließenden Verteilen von Süßigkeiten großzügig sein würde.
Einen Herzschlag später klopfte es an der Vordertür. Irgendwie gespenstisch, wie ich fand.
„Sie sind am heutigen Abend sehr gefragt, junge Sophie. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Die Bohnen lasse ich hier, falls Sie sie mit Ihrem Besuch teilen möchten. Morgen werde ich den Rest ernten und das Beet abräumen. Den Korb können Sie einfach über die Mauer reichen, wenn er leer ist.“ Joshua schritt langsam durch die Küche und stützte sich zwischenzeitlich an der Spüle ab. „Altes geht, Neues kommt!“
Während er durch die Hintertür nach draußen trat, winkte er mit dem Gehstock. Ich fand, er würde sich gut eignen, um in der Silvesternacht den Old Father Time zu mimen, der das alte Jahr verkörperte. Andererseits wollte ich natürlich nicht, dass man ihn mit Gevatter Tod verwechselte. Nach den Ereignissen im vergangenen Sommer, als eine Theaterschauspielerin der Wendlebury Players während des Dorffestes gestorben war, hoffte ich, Wendlebury würde für eine Weile von einem weiteren Besuch des Sensenmanns verschont bleiben.
Auf das Klopfen an der Tür folgte nun das Läuten der Klingel. Hoffentlich machte der Reverend keine Hausbesuche.