1 Kling, Glöckchen, kling, wer sitzt im Brunnen drin?
14. Februar
An einem frostigen und düsteren Abend, hinter dem Bluebird, unweit des alten Brunnens, stolperte eine schemenhafte Gestalt über die Pflastersteine und prallte gegen die leeren Aluminiumbierfässer, die zur Abholung durch die Brauerei bereitstanden. Just in diesem Augenblick trat eine weitere Person zielstrebig durch den Seitenausgang des Pubs und stelzte den schmalen Durchgang hinab, der zum Innenhof führte. Licht strömte in die Dunkelheit, doch es reichte nicht bis zu der niedrigen Steinmauer, die um das Brunnenloch herum verlief.
Die beiden Gestalten trafen neben dem Brunnen aufeinander und unterhielten sich zunehmend lebhafter, bis die zweite ihre starken Hände hob, um der ersten einen kräftigen Schlag auf die Brust zu verpassen.
Wäre der Pub am heutigen Valentinstag nicht so gut besucht gewesen, so hätte drinnen sicherlich jemand das Geschrei und die Flüche vernommen. Wäre es an diesem Abend nicht so kühl gewesen, hätten Daheimgebliebene vielleicht in der Nähe ihre Hunde spazieren geführt oder an den Hintertüren gestanden, um ihre Katzen hereinzurufen. Oder sie hätten ihre Küchenfenster geöffnet, um etwas frische Luft hereinzulassen.
Aber es verhielt sich so, dass niemand die zweite Gestalt fluchen hörte, als sie auf dem Absatz kehrtmachte und zackig zurück zur Seitentür des Pubs marschierte. Keiner vernahm den überraschten Aufschrei, als die andere Gestalt hintenüberkippte, die Beine in die Luft gestreckt, ehe sie hinab in die dunkle, runde Brunnenöffnung stürzte und dabei mit einem Fuß an der gemauerten Einfassung hängen blieb, sodass ein Schuh in den Innenhof purzelte. Niemand nahm Notiz davon, dass der Kopf der Gestalt gegen die Seitenwand des Brunnens prallte, woraufhin jegliches Geschrei, jeder Hilferuf im Keim erstickt wurde. Niemand bemerkte das ungewöhnlich laute Platschen, das sich gänzlich von dem Echo plätschernden Wassers unterschied, dem Tommy Crowe so gern lauschte, wenn er nach der Schule nichts Besseres zu tun hatte, als Kieselsteine in den Brunnen zu werfen.
Von nun an würde Stille über dem Innenhof liegen – bis zum nächsten Morgen, wenn der mit Beton beladene Lastkraftwagen des Baumeisters vorfahren würde, um den Brunnen zu verschließen. Dies war der erste Schritt einer baulichen Maßnahme, die den Innenhof in einen schicken Biergarten verwandeln sollte. Das Ende einer Ära war gekommen, denn ein Echo aus dem Brunnen würde fortan nicht mehr zu hören sein.
2 Das Spiel hat begonnen
3. Januar
Tommy, der zu Besuch in der Buchhandlung war, sah mich von der anderen Seite des Raums aus durch seine neue Lupe hindurch an. Sein rechtes Auge wirkte durch die Linse ein wenig verzerrt.
„Die hier habe ich von meiner Mum zu Weihnachten bekommen, passend zu dem Buch, das meine kleine Schwester für mich ausgesucht hat – Das Handbuch für Nachwuchsdetektive. Meine Oma hat mir ein Detektiv-Brettspiel geschenkt, das sie gespielt hat, als sie selbst noch klein war.“
Tommys Mum hatte das Geschenk mit Bedacht gewählt, Respekt. Es ließ sie in meiner Achtung steigen. Alles, was ich in den sechs Monaten, die ich im Dorf ansässig war, über sie in Erfahrung gebracht hatte, war, dass sie eine Vorliebe für Wein hatte und der Meinung war, Tommy sei mit seinen dreizehn Jahren zu alt für einen Adventskalender.
Für einen Adventskalender ist man nie zu alt.
Obwohl heute der 3. Januar war und ich fünfundzwanzig Jahre alt, hatte ich mich noch nicht dazu durchringen können, meinen wegzuwerfen.
„Was hast du bis jetzt alles detektivisch in Erfahrung bringen können?“, fragte ich und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
„Es war Fräulein Gloria, in der Bibliothek, mit dem Kerzenleuchter“, sagte er.
„Und in der realen Welt?“ Ich stand hinter dem Tresen der Teestube und mühte mich, ein frisches Glas Marmelade zu öffnen.
„Oh, eine Menge Dinge.“ Er richtete seine Lupe auf den alten Mann in Gummistiefeln, der an einem der Tische in der Teestube saß und sich eine große Scheibe gebutterten Toast einverleibte. „Beispielsweise, dass Billy heute Morgen Eier zum Frühstück hatte.“
Es bedurfte keiner Lupe, um die Eigelbreste auf dem Revers der schlabbrigen Jacke des alten Mannes auszumachen. Billy blickte an seiner Brust hinunter, schälte das leuchtend gelbe Klümpchen von dem grauen Tweed und steckte es sich in den Mund.
„Igitt“, sagte Tommy und durchschritt den Raum, um seine Lupe auf eine Spinne zu richten, die das Fenster der Eingangstür emporkrabbelte. Er zog eine leere Streichholzschachtel aus der Tasche seines Parkas und steckte die Spinne behutsam hinein.
Über den Verkaufstresen hinweg rief ich: „Hector, könntest du bitte dieses Marmeladenglas für mich öffnen? Der Deckel klemmt.“ Ich hielt das Glas hoch.
Obwohl meine Armmuskeln durchaus stärker geworden waren, seit ich angefangen hatte, im Laden zu arbeiten, da ich jeden Tag viele Bücherkisten heben musste, waren meine Muskeln nichts im Vergleich zu Hectors. Ich bedauerte, dass er seine T-Shirts gegen langärmelige Pullover getauscht hatte, als das Wetter vergangenen November kühler geworden war.
Als ich das Marmeladenglas zu Hector bringen wollte, streckte Billy eine Hand nach mir aus und umklammerte meinen Arm. Für einen Mann seines Alters hatte er einen überraschend festen Griff. Vermutlich war dies seinem Teilzeitjob als Dorftotengräber geschuldet. Oh, und dem Umstand, dass er für den Pfarrer gelegentlich als Gärtner tätig war. In einem Dorf von der Größe Wendlebury Barrows bedurfte es nicht vieler Gräber.
„Ich übernehme das für dich, Mädel“, sagte Billy und löste den Deckel mühelos. Zuvor wäre ich davon ausgegangen, ihm im Armdrücken überlegen zu sein, doch nun war ich mir da nicht mehr so sicher.
Tommy stopfte seine Streichholzschachtel in die Tasche, kehrte in die Teestube zurück und ließ sich eine Hüpfbewegung später auf dem Tresen nieder. So viel zum Thema Gesundheit und Sicherheit.
„Und dann konnte ich noch ermitteln, dass Sie gerade aus Inverness zurückgekommen sind.“
In Anbetracht der Tatsache, dass meine Reisetaschen hinter dem Tresen sichtbar waren, versehen mit den Etiketten der Fluggesellschaft – Hector hatte mich um sieben Uhr morgens vom Flughafen abgeholt, und wir waren im Anschluss direkt zum Laden gefahren, damit wir pünktlich öffnen konnten –, war Tommys Beobachtung kaum als erstklassige Detektivarbeit zu werten.
„Im Stress?“, fragte Billy. „Wer ist im Stress?“
„Inverness, Billy“, sagte ich mit lauter Stimme und bedeutete ihm, sein Hörgerät richtig einzustellen.
Tommy sprang vom Tresen und ging hinüber zum Präsentationstisch, wo er mittels Lupe einen Bücherstapel in Augenschein nahm. „Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen sogar sagen, wer diese Bücher angefasst hat. Jedenfalls, nachdem ich allen Dorfbewohnern Fingerabdrücke abgenommen habe.“ Er holte ein schwarzes Stempelkissen und einen kleinen Taschenkalender aus seinem Parka hervor. „Habe ich beides in meinem Weihnachtsstrumpf gefunden.“ Er klappte den Taschenkalender auf, um mir eine Übersicht der ersten Januarwoche zu zeigen, die sich über zwei Seiten erstreckte. „Den Kalender benutze ich, um Fingerabdrücke und Indizien zu sammeln und zu notieren. Schauen Sie, die Monate und Wochentage stehen bereits drin, das spart mir Zeit, wann immer ich neue Hinweise finde.“
Bereits die ersten paar Seiten waren mit krakeligen Anmerkungen übersät. Da ich Tommy im Hinblick auf sein neues, sinnvolles Hobby bestärken wollte, wandte ich mich an Billy, der gerade seine Finger mit Spucke benetzte, um die Tischdecke von den verstreuten Toastkrümeln zu befreien. „Meldest du dich freiwillig, um Tommys erstes Opfer zu werden, Billy? Ich meine, sein erster Verdächtiger?“
Billy hob seine klebrigen Hände. „An mich brauchst du keine Tinte zu verschwenden, Tom. Du kannst meine Himbeermarmeladenabdrücke haben.“
Ehe Tommy etwas erwidern konnte, hüstelte Hector. „Ich würde es begrüßen, wenn hier keinerlei Fingerabdrücke genommen würden. Schmutzflecken auf meinem Bestand, darauf kann ich gut und gerne verzichten.“
Jäh blickte Tommy in Hectors Richtung. „Wieso? Haben Sie etwas zu verbergen?“, fragte er hoffnungsvoll. Er nahm einen Roman von Hermione Minty zur Hand und hielt ihn gegen das Licht, um den glänzenden Bucheinband nach etwaigen Spuren vorheriger Ladenbesucher zu untersuchen.
Hector warf mir einen verhaltenen Blick zu. Außer ihm und mir wusste niemand, dass es sich bei Hermione Minty um sein Pseudonym als Autor handelte. Seit Jahren schrieb er bereits Liebesromane unter ihrem Namen, um sein Einkommen als Buchhändler aufzubessern. Er wusste, dass sein Geheimnis bei mir, seiner Freundin und Angestellten, sicher war.
Von dieser Tatsache einmal abgesehen, war Hectors Antwort aufrichtig. „Ich habe ein reines Gewissen. Falls du hinter örtlichen Bösewichten her bist, würde ich vorschlagen, dass du dich woanders umsiehst.“
„Bei mir aber nicht“, sagte ich rasch, als Tommy seine Lupe auf mich richtete. Ich zeigte mit beiden Händen auf mich selbst. „Hier gibt es nichts zu sehen.“
Als dächte er darüber nach, ob er mir widersprechen solle, musterte Tommy mich von Kopf bis Fuß – und länger, als mir lieb war. Halb Mann, halb Junge, unterschied er sich ziemlich von den Kindern aus dem Dorf, die nach der Schule zum Leseunterricht zu mir in den Laden kamen.
„Vielleicht nicht, Miss. Aber meine Mum meint, im Dorf finden viele Verbrechen statt, die nie aufgedeckt werden. Mein Vorsatz für das neue Jahr ist, sie aufzuspüren und zu lösen.“
„Wie kommt deine Mum darauf?“, fragte Hector.
Ein Klirren ertönte, als Billy seine Teetasse abstellte. „Ernsthaft, Hector?“, sagte er. „Du fragst das, wo du doch hier geboren und aufgewachsen bist?“
Hector trat hinter dem Tresen hervor, um den Präsentationstisch wiederherzurichten, nachdem Tommy ihn inspiziert hatte. „Ich hätte gedacht, dass das Gegenteil der Fall ist. An Verbrechen hatten wir in letzter Zeit mehr als genug. Willst du damit etwa sagen, dass wir ein paar davon übersehen haben?“
Billy vergrub die Hände in den Jackentaschen und zog sie wieder heraus, vermutlich deshalb, weil er sich die restliche Marmelade von den Fingern hatte wischen wollen. „Ich meine nicht nur die in jüngster Zeit. Willst du damit andeuten, dass du als junger Bursche nie mit irgendeinem Unfug davongekommen bist?“
Hector schritt hinüber zum Fenster, um ein Diätbuch zurechtzurücken. „Ich habe eigentlich nie etwas Unartiges getan, weil mir klar war, dass ich damit nicht durchkommen würde. Jeder Erwachsene im Dorf wusste, wer ich war, wer meine Eltern waren und wo wir lebten.“
Ich konnte mir den ordnungsliebenden, ehrlichen Hector gut als gesetzestreuen kleinen Jungen vorstellen.
„Ah, aber es kommt darauf an, wer dich auf frischer Tat ertappt“, sagte Billy. „Angenommen, es wäre jemand, der dich so sehr mag, dass er dich nicht verpfeifen würde?“
„Das ist ein gutes Argument, Billy“, sagte Tommy und kam herüber, um sich zu Billy an den Tisch zu setzen. „Wenn deine Mum von etwas Unartigem wüsste, das du getan hast, und deshalb sogar mit dir geschimpft hätte, würde sie dich trotzdem nicht an die Polizei verraten. Wenn sie dich liebt, wird sie auf deiner Seite stehen.“
Meine Freundin Ella Berry, die im Sekretariat der Dorfschule arbeitete, hatte mir erzählt, dass jegliche Beschwerden der Lehrer Tommys Verhalten betreffend an seiner Mutter wie Regentropfen an einem Schirm abgeprallt waren.
Ich lachte. „Willst du damit sagen, dass Hector von seiner Mutter nicht geliebt wird?“ Dann fiel mir ein, dass ich sie noch nicht kennengelernt hatte. Ich hoffte, meine Bemerkung war nicht allzu taktlos gewesen, und wechselte rasch das Thema. „Ein unartiges Kind zu decken ist eine Sache, aber das Gesetz ist nun einmal das Gesetz.“
Hector schenkte mir ein schiefes Lächeln. „Bedeutet das etwa, dass du mich anzeigen willst, weil ich heute Morgen auf dem Rückweg vom Flughafen das Tempolimit überschritten habe?“ Auf unserer Fahrt heute Morgen war in Hectors Land Rover nur einmal ein piepsender Alarmton erklungen, als er die siebzig Meilen pro Stunde überschritten hatte, während wir auf einem leer gefegten Straßenabschnitt bergab fuhren. Prompt hatte er die Bremse betätigt, um die Geschwindigkeit zu drosseln.
„Das war nur ein kurzzeitiger Konzentrationsverlust“, sagte ich. „Es ist nicht so, als beginge man einen Mord.“
„Es hätte aber ein Mord werden können“, sagte Tommy und kramte seinen Taschenkalender und seinen Stift hervor, um sich Notizen zu machen. „Im Straßenverkehrssicherheitsfilm, den sie uns in der Schule gezeigt haben, hieß es, dass bei Geschwindigkeitsüberschreitungen ein Mord geradezu vorprogrammiert sei. Angenommen, ein Kind wäre vor Ihnen auf die Straße getreten.“
„Auf der Autobahn?“, fragte ich. „Das erscheint mir eher unwahrscheinlich.“
„Wieso? Ich bin schon einmal über eine Autobahn gelaufen“, sagte Tommy. „Ich hätte derjenige sein können, den Sie ermorden.“
Mich schauderte. Selbsterhaltung war keine von Tommys Stärken. Er besaß keinerlei Sinn für Gefahren, was seine Heldentaten oftmals bewiesen. Ich war immer noch nicht darüber hinweg, dass er während einer Probe für unser Krippenspiel vom Dach des Gemeindehauses gesprungen war. „Bist du sicher, dass in dem Film von einem Mord die Rede war und nicht etwa von einem Unfall, der vorprogrammiert sei?“
Tommy zuckte mit den Schultern. „Das macht keinen Unterschied. Doch wenn Sie absichtlich jemanden umbringen würden, müsste ich Sie anzeigen.“
„Das müsstest du?“ Billy verengte die Augen. „Ich hatte einmal ein Frettchen, das all seine Jungen tötete, weil es sich von einem anderen Frettchen, das durch meinen Garten streunte, bedroht fühlte. Böse sein konnte ich dem Tier aber nicht, denn es liegt in seiner Natur. Das Tier ist seinem Instinkt gefolgt. Und das tun Frettchen auch, wenn man sie zur Kaninchenjagd nutzt. Sie sind keine Mörder. Sie sind bloß Frettchen.“
„Das ist eine lustige Art und Weise, seine Babys zu verteidigen.“ Tommy runzelte die Stirn. „Meine Mum würde so etwas niemals tun.“
„Deine Mum ist ja auch kein Frettchen“, sagte ich. „Aber ich wette, wenn sie je das Gefühl hat, du seist in Gefahr, wird sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um dich zu beschützen.“
„Wenn das Leben ihrer Jungen in Gefahr ist, würden die meisten Mütter töten“, sagte Hector. „Das ist ganz natürlich. Aber nur wenige würden ihre eigenen Babys umbringen.“
„Nein, aber viele männliche Tiere tun es.“
Ich wollte das Gespräch unbedingt auf ein weniger heikles Terrain lenken, da Tommys Vater die Familie verlassen hatte, als Tommy noch ein kleiner Junge gewesen war. Er hatte Tommy, seine Schwester und seine Mutter sich selbst überlassen, nebst all den immer noch gärenden Gefühlen von Verlust und Groll. „Aber wir sind Gott sei Dank keine Tiere“, sagte ich mit fröhlicher Stimme.
Billy jedoch fuhr mit der Sensibilität einer Dampfwalze fort: „Dennoch, es gibt das Gesetz, und dann gibt es das Naturgesetz. Wir in Wendlebury besitzen ein natürliches Anstandsgefühl. Wir brauchen keine Kameras an jeder Straßenecke, die uns auf Schritt und Tritt verfolgen, wie es in den großen Städten der Fall ist. Einen Big Brother wie in 1984 wollen und brauchen wir hier nicht.“
„Du meine Güte“, prustete Hector amüsiert. „Billy, das klingt, als ähnelte unser Dorf jenem in dem Buch Flussfahrt. Vergiss nicht, wir haben unseren eigenen Dorfpolizisten.“
„Ja, aber Bob patrouilliert nicht durch die Straßen des Dorfes. Er ist kein diensthabender Polizist, sondern lebt nur hier. Es ist nicht mehr wie in den alten Zeiten, als wir einen Streifenpolizisten im Ort hatten.“
Tommy blickte von seinem Taschenkalender auf. „Hat ‚Frettchen‘ ein T oder zwei?“
„Zwei“, sagte ich. „Und ein C und ein H.“
Er starrte mich ungläubig an. „Nur einen Zeh und ein Haar? Aber dann kann es doch nicht laufen, und frieren tut es auch.“
Billy ignorierte die Unterbrechung und fuhr fort. „Am Ende des Tages müssen wir sowieso alles mit dem Allmächtigen ausmachen.“ Es geriet leicht in Vergessenheit, dass unter seinem schäbigen Äußeren ein tiefgläubiger Mensch verborgen lag, der zudem ein Mitglied des Kirchenvorstands war.
Dies war Hectors Stichwort, um die Unterhaltung zum Abschluss zu bringen. „Also haben wir keinen Big Brother, aber wir haben Gott. Von mir aus. Ende gut, alles gut.“
Sein atheistischer Zynismus prallte an Billy ab.
„So ist es“, fuhr Billy beherzt fort. „Und ich weiß genau, wen ich lieber als meinen Richter will.“
„Mir bleibt keine Wahl“, sagte Tommy, während er seinen Taschenkalender zuklappte und ihn zurück in seine Tasche stopfte. „Ich habe keinen großen Bruder. Ich bin bloß einer, nämlich Sinas. Vielleicht fühle ich mich deshalb instinktiv dafür verantwortlich, die Leute im Auge zu behalten.“
Mir fiel auf, dass Hector einen raschen Blick zu unseren Taschenbüchern von George Orwell warf. Ich hielt Tommy noch nicht für bereit, um Orwells 1984 zu lesen, ein Buch, das ich auf Hectors Empfehlung hin über die Weihnachtsfeiertage gelesen hatte.
„Du weißt gar nicht, was für ein Glückspilz du bist“, sagte Billy mehr zu sich selbst.
Von der schändlichen Geschichte über Billys älteren Bruder Bertie konnte Tommy nichts wissen. Ich eigentlich auch nicht, hätte Hector sie mir nicht vor Weihnachten anvertraut. Vor vielen Jahren war Bertie mit Carol Barker durchgebrannt, der jetzigen Inhaberin des Dorfladens, nur um sie nach wenigen Wochen im Stich zu lassen – schwanger. Das Baby war im Anschluss von der Sozialfürsorge in Obhut genommen worden. Carol war, wie ich und Hector, ein Einzelkind. Ihre Eltern müssen während Carols Abwesenheit unvorstellbar gelitten haben.
Tommy schenkte Billys vorangegangener Bemerkung glücklicherweise keine Beachtung und lenkte die Unterhaltung zurück auf seine neue Leidenschaft. „Eine Sache habe ich herausgefunden, seit ich mein Detektivbuch habe“, sagte er. „Selbst die am unschuldigsten aussehenden Menschen haben etwas zu verbergen. Ich kann Ihnen beispielsweise sagen, Sophie, dass Hector hocherfreut über Ihre Rückkehr aus Schottland ist.“
Hector verfiel in schallendes Gelächter. „Ich hoffe, dass du deine Lupe nicht brauchst, um das zu bemerken“, entgegnete er scharfzüngig. Billy kicherte.
Tommy lehnte sich nach vorn und stieß leicht mit dem Ellenbogen gegen den vollen Sahnekrug, den ich auf Billys Tisch abgestellt hatte. „Wie auch immer, die Sache ist die, falls hier irgendjemand irgendein Geheimnis hat, finde ich es heraus. Schon bald werde ich ein erfahrener Detektiv sein. Jeden Tag schnappe ich neue Dinge auf – wie man Tarnungen aufdeckt, wie man an der Körpersprache eines Menschen erkennen kann, ob er schuldig ist, wie man Kriminelle an ihrer Handschrift erkennt …“
Hector begann am Präsentationstisch still und leise mit dem Wegräumen der wenigen verbliebenen Hermione-Minty-Bücher, die – in ihrem Namen – zu signieren ich ihn in der Vorweihnachtszeit überredet hatte. Ich hatte Tommy ein signiertes Exemplar als Weihnachtsgeschenk für seine Mum verkauft.
Da ich der Meinung war, ein wenig Ablenkung würde allen Beteiligten guttun, wühlte ich mich durch meine Handtasche und kramte zwei karamellfarbene, in transparente Zellophanfolie verpackte Riegel schottischen Konfekts heraus. „Bitte sehr, Tommy, Billy“, sagte ich und reichte jedem einen. „Ich habe euch etwas Scottish Tablet mitgebracht.“
Tommy verzog das Gesicht und betrachtete die Süßigkeit in seiner Hand eingehend. „Tabletten? Eine Tablette dieser Größe herunterzuschlucken, das bekomme ich nie und nimmer hin.
Ich lachte. „Keine Tablette, Tommy, sondern Tablet“, sagte ich. „Das ist eine bekannte schottische Süßigkeit. Ein bisschen so wie Fudge, nur körniger und leckerer.“
Prompt wurde Tommy munter. „Vielen Dank, Miss. Ich liebe Fudge.“
Er wickelte die Süßigkeit aus der Verpackung und nahm einen Riesenbissen. Hoffentlich endete das nicht in einem Zuckerrausch. Tommy war zuckerfrei schon ein hartes Stück Arbeit.
„Haben Sie Hector kein Tablet mitgebracht?“, fragte er mit vollem Mund.
Ich schüttelte den Kopf. „Ihm habe ich bereits ein anderes Geschenk gemacht.“
Billy gluckste. „Du hast keine Zeit verloren, Mädel.“
Hector legte seine Hände auf die Enden des Kaschmirschals, den er um den Hals gewickelt trug. „Ein Tartanschal, Billy. Sophie hat mir dieses Stück aus Munro-Tartan mitgebracht. Nur Menschen wie ich, deren Nachname Munro lautet, dürfen ihn tragen. Das ist offenbar so eine Clan-Sache.“
Als Tochter eines Universitätsdozenten für schottische Kulturgeschichte wusste ich, dass es sich um einen Mythos handelte, der im neunzehnten Jahrhundert aufgrund von Königin Victorias Begeisterung für alles Schottische in die Welt gesetzt worden war. Ich machte mir jedoch nicht die Mühe, das richtigzustellen. Ich war einfach froh, dass ihm der Schal gefiel.
„Cool“, sagte Tommy artig, doch er dachte bestimmt, er habe mit seinem Tablet einen besseren Deal gemacht.
Ein Knarren am Eingang kündigte die Ankunft von Tommys kleiner Schwester Sina an. Durch das feuchte Wetter war der hölzerne Türrahmen aufgequollen, und Sina musste sich mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen die Eingangstür stemmen, um sie zu öffnen. Jetzt stand sie auf der Schwelle, und ein langes Seil, womöglich ein Stück ausrangierter Wäscheleine, baumelte in ihren Händen.
Hector musterte sie. „Sina Crowe, im Buchladen, mit dem Springseil.“
Sina, die offenbar eine Mission hatte, ignorierte ihn. „Tommy, Mum sagt, du musst jetzt zum Mittagessen nach Hause kommen.“ Ihre helle, zarte Stimme stand im krassen Gegensatz zu ihrem starken Charakter.
Tommy starrte sie überrascht an. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?“
Ohne zu antworten und so schnell, wie sie gekommen war, machte sie kehrt und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Sie wartete vor dem Schaufenster auf Tommy und begann, auf dem Gehweg seilzuspringen. In anmutiger Gleichmäßigkeit hüpfte sie über das Seil, während sie laut sang:
„Kling, Glöckchen, kling,
Im Brunnen sitzt ein Ding,
Ein Kätzchen ist’s, wer warf’s hinein?
Der kleine Tommy Crowe …“
Tommy blickte finster drein. „Ich werde die kleine Sina Crowe in den Brunnen werfen, wenn sie nicht aufpasst. Das reimt sich nicht einmal.“ Auf dem Weg zur Tür stopfte er den Rest des Tablets in seine Tasche und rief uns dann über die Schulter hinweg zu: „Ich glaube, sie hat mein Detektivbuch gelesen. Sobald ich zu Hause bin, werde ich es mit dem Talkumpuder, das Oma meiner Mum zu Weihnachten geschenkt hat, bestäuben und nach Fingerabdrücken suchen. Keine Angst, ich werde dafür sorgen, dass Wendlebury Barrow schon bald ein sichererer Ort ist.“
Mit der Stärke eines Mannes und der Überschwänglichkeit eines Jungen schlug er die Tür hinter sich zu.