Leseprobe Crossing Love

Kapitel 1 – Colin

Ich wusste, ich hätte meine Süße stehen lassen sollen!

Dem ersten Reflex folgend zuckten die Finger meiner rechten Hand um die Bremse. Den Blick durch die Schutzbrille starr auf das Polizeiauto am Straßenrand geheftet, entschied ich binnen einer Sekunde, dass ich nicht anhalten würde. Meine KTM 350 SX-F hatte noch keine Straßenzulassung. Fehlende Scheinwerfer, Rücklicht, Spiegel und Blinker sowie eine nicht straßengerechte Auspuffanlage – wenn die Bullen mich rauszogen, war ich gefickt.

Holy Shit, warum hatte ich mich nicht zusammenreißen und mit der ersten Fahrt warten können, bis ich alle notwendigen Zu- und Umbauten an meinem neuen Schätzchen vorgenommen hatte? Und warum stand die Polizei ausgerechnet heute an dieser Landstraße? Hier kontrollierten sie sonst nie.

Fluchend bremste ich weiter herab, schindete Zeit. Die Kontrollstelle war knapp zweihundert Meter entfernt. Einer der beiden Polizisten gab mir bereits mit Handzeichen zu verstehen, ich solle in die Parkbucht rausfahren.

Das konnte er so was von knicken!

Hastig flog mein Blick nach rechts. Der etwa einen Meter breite Straßengraben trennte die Fahrbahn von den Maisfeldern, die für knapp zwei Kilometer die weitgehend schnurgerade Landstraße säumten.

Das zu tun, wäre vollkommen bescheuert, Colin!

Aber Shit, Mann – wozu saß ich auf einer Motocross-Maschine?

Mein Herz donnerte heftig gegen meine Rippen. Nur noch rund fünfzig Meter bis zu dem Polizeiauto am Straßenrand. Einfach auf der Landstraße drum herumzufahren, würde nichts bringen. Die beiden Polizisten würden sofort ihre Kollegen verständigen und spätestens am Kreisverkehr am Ortseingang würde mich eine weitere Streife abfangen. Notfalls durch eine Straßensperre.

Ich hatte nur diese eine Option.

Ein hastig prüfender Blick – kein Gegenverkehr. Binnen Sekunden spannte sich mein gesamter Körper an, ein wenig so, als wäre ich bei einem Motocross-Rennen. Und irgendwie war ich das ja nun auch. Nur, dass es als Siegestrophäe eben eine Fahndung geben würde, die hoffentlich ins Leere lief, weil meine KTM nicht mal ein Nummernschild trug.

Der Polizist gestikulierte energischer.

Keine zwanzig Meter mehr von der Kontrollstelle entfernt scherte ich auf die Gegenfahrbahn aus, um einen besseren Sprungwinkel zu haben. Die gebeugten Knie presste ich gegen die Tankverkleidung. Ich umfasste die Lenkergriffe fester, die Ellbogen nach außen – ideale Angriffsposition. All meine Konzentration galt dem Bike und dem Graben vor mir. Ich gab Gas. Der Motor brüllte auf. Jesus, wie ich das Geräusch liebte, das Vibrieren unter mir. Die wenigen Meter quer über die Fahrbahn reichten meiner Süßen, um Speed aufzunehmen. Wenn ich mit diesem Bike in den kommenden Monaten nicht so einige Holeshots holen würde, dann wusste ich auch nicht.

Links von mir meinte ich, Schreie zu vernehmen, aber vielleicht bildete ich mir die Rufe der Polizisten auch nur ein. Sie waren mein Publikum am Rande der Piste. Mein Fokus jedoch lag auf dem Straßengraben und dem Acker dahinter. Immer den Landepunkt fixieren!

In der Luft wurde ich für einen Moment eins mit meinem Bike. Ich machte mich leicht, hielt den Gasgriff offen und landete sicher auf dem Hinterrad, das Vorderrad nah am Boden. Die Reifen griffen sofort auf dem trockenen Acker. Mein Sichtfeld verengte sich auf einen der schmalen freien Streifen Feld zwischen den hoch aufragenden Maisstauden. Gerade breit genug, um mit einer Motocross-Maschine zwischen den Staudenreihen hindurchzujagen – wenn auch sicherlich nicht dafür gedacht. Scheiß drauf! Dieser wilde Ritt war es mir allemal wert, um den Bullen zu entkommen. Mehr noch, es gab mir einen verdammten Kick.

Ich kam jedoch nicht dazu, eine Faust in Siegerpose emporzureißen, schon peitschten die ersten Maisblätter um meine Ellbogen und Schultern. Ein dumpfes Platschen, als einer der Maiskolben abgerissen wurde und gegen meine Motorradjacke knallte. Na hoffentlich geriet keines der Teile in die Speichen. Spontan dankte ich mir selbst dafür, trotz Sommerhitze nahezu meine volle Montur zu tragen. In der Hinsicht war ich immer vernünftig. Was man in Bezug auf den Umstand, dass ich meine neue Maschine partout für eine illegale Willkommensfahrt hatte ausführen müssen, nicht behaupten konnte.

Ich warf über die Schulter einen Blick zurück, sah überall nur Mais und längst keine Landstraße und damit auch keine Polizisten mehr.

Du hast mehr Glück als Verstand, Colin.

Aber holy Shit, ich hatte ja keine Ahnung gehabt, wie viel Spaß es machte, mit einer Motocross-Maschine durch ein Maisfeld zu brettern …

Mit einem Lachen in der Kehle, das sicherlich ein wenig hysterisch geklungen hätte, wäre da nicht das Motorengeräusch gewesen, gab ich erneut Gas.

~~~

Entgegen meinem üblichen Naturell war ich dann doch so vernünftig gewesen, nicht mit meiner KTM, sondern mit dem Bus zum Motorsportverein zu fahren. Oder genauer: bis zur Haltestelle, die dem Vereinsgelände am nächsten lag. Knapp zehn Minuten Fußmarsch, dann erstreckte sich die Trainingsstrecke in all ihrer Pracht vor mir.

Einen Moment blieb ich stehen, konnte mich kaum an der Strecke und an den Cross-Maschinen in Aktion sattsehen. Gerade trainierten einige der Junioren. Ich konnte es kaum erwarten, wieder selbst über die Whoops zu brettern, die Fliehkräfte in den Kurven zu spüren, über den Table zu fliegen und den Drachenrücken zu bezwingen …

Morgen beim Training zum letzten Mal auf meiner alten Maschine. Die stand in einer der Garagen hier auf dem Gelände und würde bald von ihrem zukünftigen Besitzer abgeholt werden. Ich hatte nur noch einen Spottpreis für sie bekommen, aber besser als nichts. In den kommenden Tagen würde ich jede freie Minute in meine neue Süße stecken.

Mit vorfreudigem Kribbeln im Bauch wandte ich mich ab und eilte den Kiesweg entlang auf das Hauptgebäude des Vereins zu. Wie meistens, wenn am Donnerstagnachmittag die Junioren trainierten, waren die Parkplätze voll, weil die Eltern ihren Sprösslingen beim Training zusahen.

Ein vager Stich durchfuhr mich. Was hätte ich dafür gegeben, meinen Vater nur ein einziges Mal an der Strecke stehend zu wissen …

Nicht meinen Vater – meinen Erzeuger. Entschieden straffte ich die Schultern.

Einige Autos parkten auch auf dem schmalen Rasenstreifen neben dem Kiesweg. Der Verein hatte einfach zu wenig Stellplätze für Besucher. Bei Veranstaltungen wurde deswegen immer eine der Wiesen um das Gelände herum als Parkplatz abgesperrt. Was mich daran erinnerte, dass ich gleich mal fragen könnte, ob sie fürs nächste Rennwochenende, das der Verein austrug, wieder jemanden für den Getränkeausschank brauchen könn–

»Shit, Vorsicht!« Ich schaffte es gerade noch, nicht in die Autotür hineinzulaufen, die aufgestoßen wurde. Mit einem Griff um den Türrahmen fing ich mein Stolpern ab, wand mich um die Tür herum, das Smartphone entglitt mir. Klappernd landete es auf dem Kies.

»Haben Sie keine –?« Oh, wow! Beim Blick ins Wageninnere blieb mir der Vorwurf im Hals stecken.

Vom Fahrersitz aus starrte ein Kerl zu mir hoch – und was für einer! Ein paar Jahre älter als ich, etwa um die dreißig, wobei das aufgrund der dunklen Sonnenbrille, die er trug, schwer abzuschätzen war. Gemeinsam mit der markanten Wangen- und Kieferpartie verlieh ihm die getönte Brille ein dezent machohaftes Aussehen und kontrastierte wunderbar mit den hellbraunen Haaren, die lässig nach hinten gestrichen waren. Die geschwungenen, von einem Dreitagebart umrahmten Lippen formten lautlose Überraschung. Mein Blick jedoch rutschte von ihnen fort und tiefer, hin zu dem beigefarbenen Shirt, das gerade so eng anlag, um die dezenten Muskelstränge darunter anzudeuten.

Spontan kam ich mir gegen diesen Kerl wie ein Lauch vor, aber hey, ich war definitiv kein B-Ware-Gemüse, und er wiederum war heiß. So ein bisschen Bad Boy.

»Tut mir leid, ich hab Sie nicht gesehen.«

Grinsend über meine eigenen bescheuerten Gedanken, entschied ich kurzerhand, die Entschuldigung anzunehmen. Auf Angriff schaltete ich dennoch. »Ich Sie auch noch nie, aber das lässt sich sicher ändern.«

Prompt zog mein Gegenüber die Brauen nach oben – irritiert, aber nicht ablehnend. Ich bildete mir sogar ein, sein Blick schweifte interessiert über die Tattoos, die an meinen Armen und am Hals aus dem Saum meines Shirts blitzten. Daher wagte ich es und lehnte mich seitlich leicht gegen die offen stehende Autotür, grinste herausfordernd zu dem Kerl hinab. Ich hätte ja zu gern mal direkt in seine Augen geschaut, doch die Sonnenbrille behielt er auf, legte nur fragend den Kopf etwas schief.

»Was meinen Sie damit?«

Mir war schon klar, dass ich ziemlich hoch pokerte. Rein statistisch betrachtet war es wahrscheinlicher, dass der Kerl nicht auf Männer stand, als dass er es tat. Und dann gab es ja auch noch diverse andere Variablen. Aber mir war eine Abfuhr stets lieber, als hinterher das Gefühl zu haben, eine Chance verpasst zu haben.

»Ich meine, dass wir mal zusammen einen Kaffee im Vereinsheim trinken könnten, wenn Sie zukünftig öfter hier sind.«

Seine Mimik zeigte deutlich, dass spätestens jetzt der Groschen bei ihm fiel.

»Nein.« Die Antwort kam schnell, aber leider nicht schnell genug, um sie als unüberlegten Reflex verbuchen zu können. Er klang ziemlich überzeugt.

Shit. Vielleicht sollte ich die Behauptung, eine Abfuhr sei mir lieber, noch mal überdenken. Das hier war eine eindeutige Abfuhr.

»Würden Sie jetzt bitte Platz machen?«

Es klang nicht wirklich wie eine Frage, sondern viel eher wie die Untermauerung seiner vorherigen knappen Antwort. Nope, dieser Mann hatte so gar kein Interesse an einem Treffen mit mir.

Wortlos wich ich einen Schritt zurück, blieb aber neben seinem Auto stehen. Der Kerl machte Anstalten, auszusteigen, schob einen Fuß aus dem Wagen.

»Ah, halt!« Schnell trat ich vor, sodass sein Kopf gegen meine Brust knallte. Zeitgleich zuckten wir zurück. Er fluchte nicht, aber ich hätte schwören können, dass er mich durch die getönten Gläser seiner Sonnenbrille hindurch anfunkelte.

»Äh, sorry … mein Handy.« Ich deutete vage auf einen unbestimmten Punkt am Boden. Mein Blick klebte noch immer am Gesicht dieses Mannes.

Er verzog die Lippen zu einer nahezu jovialen Geste. »Bitte …«

Beorderte der Kerl mich gerade wirklich auf die Knie? Er hätte sich auch echt vom Fahrersitz herunterbeugen und mein Handy aufheben können. Immerhin hatte er mich beinahe mit seiner Autotür umgehauen.

Mit einem lautlosen Schnaufen in der Kehle bückte ich mich und hob mein Smartphone auf. Verkniff mir dabei jedweden Spruch von wegen, ob es ihm gefiel, mich vor sich knien zu haben. Ich konnte den Kerl nicht einschätzen und auf eine Faust im Gesicht konnte ich verzichten.

Möglichst würdevoll erhob ich mich wieder, pustete ein wenig Kiesstaub vom Display fort. Dank Panzerglasfolie und Schutzhülle war wenigstens alles heil geblieben.

Eigentlich hätte ich mit dem Typen gar nicht weiterreden sollen, aber eine letzte Frage lag mir dann doch auf der Zunge. »Sind Sie also öfter hi–?«

»Hi, Papa!«

Nur weil er sich sofort dem Rufen zuwandte, flog auch mein Kopf herum. Hin zu den drei Jungs, die ihre Cross-Maschinen über den Kiesweg in Richtung der Garagen schoben. Einer von ihnen – ein Kerl um die neun oder zehn Jahre – winkte freudestrahlend herüber. Das braune Haar klebte ihm verschwitzt an der Stirn.

»Hi, Ben! Na, schon fertig mit dem Training?«

Faszinierend, wie viel Wärme die Stimme von Mister Abfuhr in diesem Moment barg. Ein tiefes, angenehmes Vibrato, das nur leider nicht mir galt. Sondern seinem Sohn.

Jackpot, Colin. Nicht. Einen Sohn zu haben, machte ihn natürlich nicht zwangsweise zum Hetero, aber tja, die Statistik … Und vergeben war er dann wahrscheinlich auch. Unweigerlich rutschte mein Blick wieder tiefer, auf seine Hände dieses Mal. Kein Ehering – was rein gar nichts heißen musste.

»Ja«, stieß der Junge – Ben – hörbar freudig aufgeregt hervor. »Hast du gesehen, wie ich vorhin den Drop off genommen hab?«

Durch meine Brust hingegen fuhr unweigerlich ein Stich. Fast schien es mir, als könnte ich die Enttäuschung vorausfühlen, die er empfinden musste, wenn sein Vater ihm gleich sagte, dass er nicht beim Training zugesehen hatte. Dass er zu spät gekommen war.

Aber hey, immerhin war er jetzt da. Damit hatte er meinem Erzeuger meilenweit etwas voraus.

»Klar hab ich das gesehen.«

Nicht sein Ernst!

Mein Kopf ruckte zurück. Ich starrte den Kerl regelrecht an, während er anscheinend nur Augen für seinen Sohn hatte. Verdammter Heuchler! Log seinem Junior ohne mit der Wimper zu zucken etwas vor.

Okay, keine Ahnung, ob hinter den getönten Gläsern eine Wimper zuckte. Mit Sonnenbrille log es sich einfach besser.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Was?« Perplex blinzelte ich ihn an und registrierte erst durch seine Nachfrage, dass mir so was wie ein Schnaufen entwichen war.

»Sie haben gerade gekeucht«, entgegnete er da auch schon und – holy Shit – warum musste seine Stimme dabei immer noch so warm und … fürsorglich klingen?

»Lass stecken«, fauchte ich ihn an. »Alles bestens.« Abrupt wandte ich mich ab und stapfte über den Kiesweg weiter in Richtung Vereinsgebäude. Ich bildete mir noch ein, in meinem Rücken seinerseits ein überraschtes Luftholen zu vernehmen.

Dann wieder die Stimme seines Sohnes: »Wir bringen die Bikes weg. Bin gleich da.«

»Klar, ich warte hier auf dich.«

Krampfhaft presste ich die Lippen zusammen und klammerte die Finger fester um mein Smartphone. Reagierte ich über? Ja, ganz sicher. Aber, Jesus, der kleine Junge in mir hätte sich einfach so sehr gewünscht, dass mein Vater einmal da gewesen wäre. Nur ein einziges Mal.

~~~

Eigentlich sollte ich mit meinen vierundzwanzig Jahren wirklich langsam darüber hinweg sein, dass mein Erzeuger es nie für notwendig erachtet hatte, irgendwie Kontakt aufzunehmen. Geschweige denn sich aus den USA nach Deutschland zu bequemen. Es war auch nicht so, als würde ich täglich darüber nachgrübeln. Nur manchmal gab es Situationen, die mich daran erinnerten, dass mein Vater nie da gewesen war. Zum Beispiel wenn mich ein heißer – und doch ziemlich kühler – Kerl abblitzen ließ und vor seinem Sohn so tat, als hätte er dessen Trainingsläufe interessiert verfolgt.

Shit, Mann, dieser Kerl sollte mir Tage später gar nicht mehr durch den Kopf schwirren!

Mit einem Seufzen wischte ich die Gedanken fort, erhob mich neben meiner KTM und griff nach einem Lappen, um mir die Finger abzuwischen. Noch einmal ging ich um mein Bike herum, maß es mit prüfenden Blicken.

In den letzten Tagen hatte ich jede freie Minute damit verbracht, an meiner Süßen herumzuschrauben. Ich hatte die Scheinwerfermaske gewechselt, eine Kennzeichenhalterung mit Rücklicht und Blinker angebracht und verkabelt und die Spiegel angebaut. Ganz schön viel Aufwand dafür, dass ich so selten außerhalb der Rennstrecke fuhr. Theoretisch hätte ich auch jemanden vom Verein fragen können, ob derjenige meine Maschine mit einem Anhänger abholte und zum Vereinsgelände brachte. Aber ich schraubte einfach gern herum.

Jedenfalls war meine Maschine nun einsatzbereit im Straßenverkehr. Beinahe ganz legal. Das Einzige, was man mir ankreiden könnte, war die Auspuffanlage, die aufgrund der notwendigen Leistung fürs Rennen zu wenig Dämmung hatte und demnach zu laut war. Durch den TÜV war ich damit dennoch gekommen – man musste eben die richtigen Leute kennen.

In einer Polizeikontrolle – in die ich hoffentlich nicht mehr allzu bald geraten würde – musste ich darauf pokern, einen der geschätzt fünfundneunzig Prozent Polizisten zu erwischen, die sich nicht gut genug mit Motocross-Maschinen auskannten. Außerdem würde ich meine Süße heute lediglich zum Vereinsgelände fahren, das sollte ja wohl zu schaffen sein. So schnell würde ich nicht mehr in Verlegenheit kommen, ein illegales Querfeldein-Rennen zu starten.

Bei dem letzten Gedanken ziepte ein schiefes Grinsen an meinen Mundwinkeln. Einerseits war Quer-durch-ein-Maisfeld-vor-der-Polizei-Abhauen schon eine ziemlich coole Adrenalin-Aktion, andererseits aber eben auch alles andere als cool. Nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen befiel mich ein schlechtes Gewissen dem Feldbesitzer gegenüber. Ich hatte bei meinem wilden Ritt sicher nicht nur einen Maiskolben abgerissen. Ob ich irgendwie herausfinden konnte, wem das Feld gehörte, um demjenigen einen kleinen Entschuldigungsbrief und zwanzig Euro in einem Briefumschlag vor die Haustür zu legen? Anonym natürlich. Unternommen hatte ich bislang in diese Richtung allerdings nichts. Vielleicht weil ich feige war oder das schlechte Gewissen doch nicht groß genug. Oder auch einfach, weil mir allein schon zwanzig Euro in der Kasse echt fehlen würden.

Die KTM 350 SX-F – auch wenn es eine gebrauchte Maschine war – war mein Traum, für den ich jahrelang eisern gespart hatte. Immerhin lebte ich seit dem Tod meiner Mutter nicht in einem winzigen Häuschen in einem Schrebergarten, weil ich ach so naturverbunden war. Ich liebte meinen kleinen Gemüsegarten, aber primär war das Grundstück einfach die kostengünstigste Variante – auch wenn hier zu wohnen nicht ganz legal war. Das Grundstück samt Häuschen hatte ich von meinem Opa geerbt. Der Pachtvertrag von anno dazumal war von der Gemeinde nie infrage gestellt worden und verbot die Nutzung als Wohnfläche nicht per se. Weswegen ich beschlossen hatte, dass ich es riskieren konnte, hier zu leben. Stets in der Hoffnung, dass niemand vom zuständigen Amt auf mich aufmerksam wurde. Meinen Wohnsitz hatte ich jedenfalls problemlos ändern können.

In der Mietwohnung meiner Mutter hatte ich nicht bleiben wollen und außerdem hätte ich die mit meinem damaligen Azubigehalt kaum halten können. Meine Mutter hatte ja selbst oft kaum gewusst, wie sie uns beide über die Runden bringen sollte.

Jesus, hatte ich nicht weniger grübeln wollen? Mein innerliches Gejammer war ja kaum auszuhalten. Entschlossen legte ich den Lappen beiseite und griff stattdessen nach einem der Poliertücher. Beim ersten Training sollte meine Süße definitiv so gut wie nur möglich aussehen!

Rund eine Stunde später schob ich mein Bike den schmalen Weg zwischen den Schrebergärten entlang. Unter der Woche waren kaum Gartenbesitzer da. Oft nur das eine ältere Ehepaar am anderen Ende der Anlage. Dennoch hatte ich nicht vor, irgendjemandem mit Motorenlärm auf den Keks zu gehen. Hier in den Schrebergärten gab es gefühlt nur zwei Arten von Nachbarn: die Tiefenentspannten, die einen ständig zum Grillen einladen wollten, und die Nörgler, die sich an jeder nicht akkurat gestutzten Hecke störten. Vor allem mit diesen musste ich mich gut stellen, wenn ich vermeiden wollte, dass mich doch mal jemand bei der Gemeinde anschwärzte.

»Na dann, Süße, wollen wir mal …« Jepp, ich redete mit meinem Motorrad. Das Grinsen verbarg ich hinter dem Gesichtsschutz meines Helms, zog mir die Schutzbrille über die Augen und kontrollierte noch mal den Sitz meines Rucksacks. Ein leichtes Kribbeln breitete sich in meinem ganzen Körper aus, als ich mich auf die Maschine schwang.

Das konnte echt nicht wahr sein!

Dieses Mal standen die Bullen nicht in der Haltebucht an der Landstraße, sondern kurz vor dem nächsten Ortseingang.

Beinahe hätte ich beim Anblick des Streifenwagens aufgelacht. Aber eben nur beinahe. In meinem Magen machte sich ein unwohles Rumoren breit und ich betete spontan, dass es nicht ausgerechnet die Polizisten waren, vor denen ich vor wenigen Tagen abgehauen war. Total unnötig eigentlich, ich war mir sicher, dass sie die nicht für den Straßenverkehr zugelassene Auspuffanlage nicht bemerken würden. Ebenso wie sie in meiner KTM nicht eben jenes Bike erkennen würden. Mit neuer Scheinwerfermaske und Co sah ein Motorrad gleich anders aus.

So oder so, dieses Mal würde ich anhalten, sollten sie mich rausziehen. Ich drosselte meine Maschine extra frühzeitig vor dem Ortsschild auf gerade mal noch sechzig Stundenkilometer herunter. So war der Auspuff nicht mehr allzu laut und vielleicht hinterließ angemessene Geschwindigkeit einen guten Eindruck und sie ließen mich einfach vorbeifahren.

Natürlich nicht. Schon winkte mich einer der beiden Polizisten raus. Na großartig!

Während ich weiter abbremste und auf den Seitenstreifen fuhr, atmete ich zweimal tief durch. Der Polizist, der mir Handzeichen gegeben hatte, kam bereits auf mich zu. Ziemlich entschlossenen Schrittes.

Entspann dich, Colin, die können dir nichts. Hoffte ich zumindest.

Warum mussten Männer in Uniform auch immer so … Respekt einflößend wirken? Irgendwie autoritär und im selben Zuge sexy. Ja, der Kerl war wirklich heiß in seiner Uniform, wie er da so auf mich zukam und mich mit strenger Miene und durchdringendem Blick musterte. Reflexartig zog ich die Schutzbrille über meinen Helm hoch, um ihn direkt ansehen zu können und …

Oh. Fuck!

Von wegen sexy Dad in Bad-Boy-Optik. Also, sexy durchaus. Sein intensiver Blick durchbohrte mich regelrecht. Wie hätte ich ahnen sollen, dass sich solche Augen hinter der Sonnenbrille verbargen und dass der heiße Dad Polizist war? Einer, der dank des Hobbys seines Sohnes vermutlich Ahnung von Cross-Maschinen hatte. Und er hatte mich damit bei den Eiern. Nur nicht annähernd so, wie ich es mir ursprünglich erhofft hatte.

Kapitel 2 – Alexander

Je näher das Motorrad gekommen war, desto sicherer war ich mir gewesen: Trotz Scheinwerfermaske und diverser anderer Umbauten erkannte ich das Bike und vor allem den Fahrer in seiner auffälligen orange-schwarzen Jacke und mit ebensolchem Helm. Als er seine Schutzbrille hochzog, musste ich feststellen, dass ich ihn wirklich kannte. Gewissermaßen zumindest.

Trotz Helm samt Gesichtsschutz war es mir unmöglich, dieses Gesicht nicht wiederzuerkennen. Dafür war es mir vor vier Tagen zu sehr ins Auge gestochen. Ebenso wie die zahlreichen Tattoos, die nun allerdings unter der hochgeschlossenen Motorradjacke verborgen lagen.

»Schönen guten Tag«, sprach ich ihn mit möglichst neutraler Stimme an und blieb neben seiner Maschine stehen. »Stellen Sie bitte den Motor ab und dann hätte ich gern mal Führerschein und Fahrzeugschein gesehen.«

Seine grün-braunen Augen weiteten sich und zeigten deutlich, wie überrascht – nein, schockiert – er war, mich zu sehen. Ich hätte schwören können, dass er auch seine Lippen in lautloser Überraschung verzog. Doch der Blick auf diese blieb mir aufgrund des Gesichtsschutzes verwehrt. Vorerst. »Und ziehen Sie bitte den Helm ab.«

Langsam, als müsste er sich auf jeden Handgriff besinnen, schaltete er den Motor ab und schwang sich vom Bike herunter. Zog seinen Helm ab. Zum Vorschein kamen dunkelblonde, etwas längere Haare, ein fein geschnittenes, dennoch leicht kantiges Gesicht und die etwas zu lange Nase, neben der sich ein Ansatz von Sommersprossen zeigte. Man musste schon genau hinsehen. Verflucht, ich sah zu genau hin. Omar trat neben mich und riss mich damit aus meiner Musterung. Wie meist bei einer Verkehrskontrolle übernahm einer von uns das Reden, der andere arbeitete zu.

»Mein Geldbeutel … Äh, ich müsste kurz …« Etwas ungelenk deutete der Kerl auf seinen Rucksack, strich sich mit der freien Hand durch die Haare, lockerte so die leicht verschwitzten Strähnen. Bei dem kurzen Aufeinandertreffen auf dem Vereinsgelände war er mir definitiv schlagfertiger vorgekommen, beinahe herausfordernd.

Energisch drängte ich die Erinnerungen zurück, rief mir stattdessen ins Bewusstsein, dass er verdammt noch mal querfeldein vor uns abgehauen war. Zumindest ging ich stark davon aus, dass er an dem Tag die KTM gefahren hatte. Nicht zu vergessen der Sprung über den Straßengraben. In einem anderen Kontext hätte ich ihm zu diesem fast schon gratulieren wollen.

»Holen Sie ihn raus.« Ich nickte knapp in Richtung seines Rucksacks, den er sich zögerlich vom Rücken streifte. Seinen Helm hängte er an den Lenker.

Kurz wühlte er im Rucksack herum, ehe er sein Portemonnaie und daraus schließlich die Ausweisdokumente hervorzog. Ich warf lediglich einen flüchtigen Blick auf den Namen auf dem Führerschein, reichte dann alles an Omar weiter. »Überprüfst du das?«

»Klar.«

Ich musste ihm nicht sagen, dass er auch das Kennzeichen abfragen sollte. Omar war Polizeihauptmeister und wir beide schon seit mittlerweile zwei Jahren ein eingespieltes Streifenteam.

Während er rüber zu unserem Streifenwagen ging, um die Dokumente im POLAS abzufragen, richtete ich wieder meine volle Aufmerksamkeit auf meine Motocross-Bekanntschaft. Innerlich schnaubte ich. So sollte ich ihn nicht mal gedanklich nennen.

»Colin Schreiber also. Ist das Ihre Maschine?«

Er nickte sofort. »Ja.« Sein Zögern wirkte, als wollte er noch etwas hinzusetzen. »So schnell sieht man sich wieder. Verraten Sie mir dann jetzt auch Ihren Namen?«

Damit hatte ich nicht gerechnet. Mit einer flüchtigen Geste deutete ich auf das Namensschild an meiner Uniform. »Polizeioberkommissar Haas.«

Um seinen Mund spielte ein unsicheres Lächeln, offensichtlich beeindruckte ihn die Situation. Sollte sie auch, wenn man bedachte, was er sich geleistet hatte. Das Funkeln in seinen Augen wirkte jedoch schon wieder herausfordernd. »Ich meinte eigentlich Ihren Vornamen. Meinen kennen Sie ja nun und wir sind quasi … Gleichgesinnte? Na ja, wir teilen die Begeisterung für Motocross?«

Dass er es wie eine Frage formulierte, änderte rein nichts daran, dass wir darüber gar nicht erst sprechen sollten. Nicht in einer Verkehrskontrolle. Daher sperrte ich das: »Ich stehe eher auf Harleys«, in meiner Kehle ein und entgegnete knapp: »Mein Vorname tut nichts zur Sache. Mein Kollege und ich führen hier eine allgemeine Verkehrskontrolle durch. Ich sehe mir Ihre Maschine mal genauer an.«

»Klar. Kein Thema.«

Ob das wirklich kein Problem für ihn war, vermochte ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Mir kam es allerdings so vor, als läge unter seiner locker-direkten Art eine Spur Unsicherheit. Ohne ihn gänzlich aus den Augen zu lassen – es hatten schon Leute versucht, wegen weniger abzuhauen –, ging ich um das Motorrad herum. Ben fuhr aktuell noch eines der vereinseigenen Bikes, aber wir hatten den Deal, dass er sein erstes eigenes zu seinem Geburtstag nächstes Jahr im März bekommen würde. Wenn er weiterhin mit so viel Feuereifer beim Motocross bei der Sache war, aber darum musste ich mir wohl keine Sorgen machen. Er brannte für diesen Sport. Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass sein erstes Bike auch eine KTM werden würde.

»Fahren Sie Rennen mit der Maschine? Haben Sie etwas an ihr machen lassen?« Ich hätte schwören können, dass die Auspuffanlage zu laut war.

»Ja, tue ich. Aber nein, selbst gemacht, nicht machen lassen«, antwortete Colin mit eindeutig stolz geschwellter Brust. Er besann sich jedoch rasch darauf, dass das in einer Polizeikontrolle vielleicht nicht unbedingt der Beweis für fachgerechte Arbeit war. »Ist alles im Fahrzeugschein eingetragen.«

»Wirklich alles?«

Es war nur ein minimales Zögern, ein kaum merkliches Blähen der Nasenflügel. »Ja. Alles.«

Ich konnte mich täuschen. Es war möglich, dass inzwischen alles seine Richtigkeit hatte. Aber selbst das änderte nichts an der Aktion vor wenigen Tagen.

Fragend sah ich zu Omar, der gerade wieder zu uns herüberkam. Mit vielsagendem Blick reichte er Colin die Papiere. »Passt so weit alles.«

Colins Schultern sanken eindeutig zu erleichtert herab. »Sag ich doch. Kann ich dann weiterfahren?«

»Nein.«

Sein Blick schnellte zu mir. »Warum nicht? Wollen Sie sich meine Maschine noch genauer ansehen? Bitte. Sie werden nichts finden, was nicht so sein darf.«

Ich gab mir nicht die Mühe, mir das spöttische Lächeln zu verkneifen. »Jetzt möglicherweise nicht mehr. Aber erklären Sie mir und meinem Kollegen doch bitte mal, weshalb Sie am vergangenen Donnerstag ohne Nummernschild, ohne Scheinwerfer, Blinker, Spiegel und Rücklicht unterwegs waren.«

»Und weshalb Sie es für eine gute Idee hielten, quer durch ein Maisfeld abzuhauen«, fügte Omar hinzu.

»Darum!«

Ich konnte regelrecht sehen, wie Colin sich auf die Zunge biss, kaum dass das Wort aus seinem Mund gepurzelt war.

»Ich meine, bin ich nicht. Mein Bike ist sauber. Ich meinte nur, wenn ich ohne Nummernschild oder so fahren würde, würde ich auch abhauen. Also … hypothetisch gesehen.«

»Mhm, schon klar.« Ich ging wieder um die KTM herum, baute mich vor Colin auf. Ich überragte ihn nicht, wir waren annähernd gleich groß, und ich wollte ihm auch keinesfalls ernstlich drohen. Verschränkte Arme und ein strenger Blick reichten allerdings schon aus, um ihn zumindest sinnbildlich in sich zusammensinken zu lassen. Ich war mir sicher, ihm war klar, dass er Scheiße gebaut hatte – und wir es wussten.

»Lassen wir die Spielchen, Herr Schreiber.« Ich pokerte durchaus hoch, wir konnten ihm rein gar nichts beweisen. Aber letztlich ging es mir auch nicht um eine Strafverfolgung, sondern darum, in ihm das Bewusstsein dafür zu befeuern, was er da eigentlich getan hatte. »Mein Kollege und ich haben am vergangenen Donnerstag definitiv dieses Motorrad und einen Fahrer in diesen Klamotten in eine Kontrolle gewinkt und der Fahrer ist daraufhin samt Bike querfeldein geflüchtet. Das Motorrad ist auf Sie zugelassen. Also entweder, Sie sind selbst gefahren, oder Sie sollten uns zumindest einen Namen nennen können, an wen Sie ihre Maschine verliehen hatten. Also?«

Er sagte … nichts.

Sekundenlang.

Lieferte sich ein nahezu trotziges Blickduell mit mir, in dem er schließlich klein beigab.

»Ich bin nicht gefahren. Sie können mir nichts beweisen.« Er nuschelte die Worte eher seinen Motorradstiefeln entgegen, als dass er sie wirklich an mich oder Omar richtete.

»Stimmt«, gab ich unumwunden zu. »Aber glauben Sie mir, ich werde dennoch herausfinden, ob Sie an dem Tag gefahren sind oder nicht. Und selbst wenn nicht, dann haben Sie eine Cross-Maschine verliehen, die so definitiv nicht straßentauglich war, in dem Wissen, dass jemand damit fahren würde …« Was nicht strafbar war, aber das würde ich ihm so nicht unter die Nase reiben. Ich ließ den Satz absichtlich offen und es verfehlte seine Wirkung nicht.

Colin kickte mit der Stiefelspitze einen imaginären Stein fort. »Fuck.« Er flüsterte den Fluch nur, sah ruckartig zu mir. Der Blick, der mich aus diesen grün-braunen Augen traf, war … irgendwie rebellisch und reumütig in einem. Eine gefährliche Mischung.

Letztlich blieb jedoch der Trotz. »Mit kleinen Notlügen kennen Sie sich ja auch aus.«

»Bitte?« Das Wort entfuhr mir perplexer als gewollt.

Colin schoss sofort dagegen. »Na, so von wegen: ›Klar hab ich deine Drop offs gesehen.‹ Haben Sie nicht!«

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, wovon er redete. Mal ganz abgesehen davon, dass das hier in dieser Kontrolle überhaupt nichts zu suchen hatte, lag er mit seiner Unterstellung, ich hätte Ben angelogen, einfach falsch. Ich hatte Ben beim Training zugesehen, war nur noch einmal zurück zum Auto gegangen, um ein dienstliches Telefonat zu führen.

Zugegeben, es wurmte mich selbst, dass ich meine Arbeit allzu oft mit nach Hause nahm und es dadurch Situationen gab, in denen ich Ben nicht voll gerecht werden konnte. Aber zum Teufel, ich würde meinen Sohn niemals anlügen. Ich setzte alles daran, ihm ein guter Vater zu sein. Mehr noch, seit …

Energisch drängte ich das plötzlich drückende Gefühl von Enge in meinem Brustkorb zurück. Nur mit Mühe widerstand ich dem Drang, unsere – Bens und meine – Situation vor Colin klarzustellen. Es ging ihn schlicht und ergreifend einen Dreck an. »Ihre Annahmen tun hier nichts zur Sache, Herr Schreiber«, entgegnete ich mühsam beherrscht. Definitiv würde ich Omar nachher erst mal aufklären müssen, dass Colin und ich uns gewissermaßen kannten. »Also noch einmal: Sind Sie am Donnerstag diese Maschine gefahren? Ohne Straßenzulassung. Inklusive Fluchtmanöver durch das Maisfeld da vorne.« Zur Bekräftigung meiner Worte deutete ich an Colin vorbei, die Landstraße entlang.

In einem schnaubenden Atemzug stieß er die Luft aus. »Shit. Ja. Ja, ich bin gefahren. Ich weiß, dass das … na, nicht richtig war.«

So konnte man es natürlich auch ausdrücken.

»Es war nur … Ich hab die Maschine ganz neu und bin megastolz auf sie und wollte einfach ’ne kleine Willkommensfahrt machen. War total leichtsinnig und es tut mir leid.«

Unabhängig davon, ob ich ihm das glaubte, änderte es rein gar nichts am Sachverhalt.

»Ihr Fahrverhalten hätte andere Verkehrsteilnehmer ernsthaft gefährden können«, sagte Omar, während ich noch in Colins Miene zu lesen versuchte, wie leid es ihm tatsächlich tat.

Seine Augen weiteten sich merklich und dieses Mal sah ich auch den erschrockenen Zug um seinen Mund. »Ich hab geschaut, bevor ich ausgeschert bin.«

Omar schnaufte. »Na, wenigstens das.«

»Ja.« Colin wand sich regelrecht unter unseren Blicken, biss die Zähne aufeinander. »Ich weiß, dass es ’ne echt blöde Nummer war. Aber es ist ja nichts weiter passiert. Also, nur mir selbst.«

»Und dem Besitzer des Maisfeldes.«

Colin sah zurück zu mir, sichtlich beschämt mittlerweile. »Wenn ein Schaden entstanden ist, ersetze ich den.«

»Das liegt nicht in unserem Ermessen. Sachbeschädigung ist ein relatives Antragsdelikt, es wird lediglich verfolgt, wenn der Eigentümer es zur Anzeige bringt – oder öffentliches Interesse besteht. Zudem könnte er allerdings Zivilklage einreichen.«

»Was?«, hauchte Colin hörbar kratzig. »Anzeige? Klage? Aber das … Ich wollte ja nur …«

»Was? Der Verkehrskontrolle entgehen? Könnte jetzt ein teurer Spaß werden, unabhängig von diesem Maisfeld. Sie haben mit Ihrer Fahrt gegen das Pflichtversicherungsgesetz und das Kraftfahrzeugsteuergesetz verstoßen. Bei Ersterem handelt es sich um eine Verkehrsstraftat, die mit Geldstrafe geahndet wird, die bis in den Tausenderbereich gehen kann.«

Während ich redete, sackte Colin rücklings gegen seine Maschine, sodass er mit dem Po an der Sitzbank lehnte und ich schon Sorge hatte, er könnte samt Bike umkippen. Um die Nase herum war er sichtlich blass geworden, wodurch die winzigen Sommersprossen im hellen Licht der Julisonne deutlicher zu sehen waren. In seiner Miene stand die Erkenntnis geschrieben, dass er auf gut Deutsch so richtig Scheiße gebaut hatte. Da gab es nichts schönzureden. Dennoch berührte mich sein Anblick auf eine gewisse Weise, auch wenn er das nicht sollte.

Aus dem Augenwinkel tauschte ich einen eingehenden Blick mit Omar, fing sein dezentes Nicken auf. Wir dachten wohl beide dasselbe: In Colin hatten wir einen verdammt leichtsinnigen Hitzkopf vor uns. Aber kein Arschloch, das in einer Kontrolle ausfällig wurde und darauf pfiff, was wir ihm zu sagen hatte. Wir könnten es durchaus vor uns selbst vertreten, all das nicht anzuzeigen – theoretisch.

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»Dich wurmt immer noch, dass wir nichts gegen den Maisfeld-Rowdy in der Hand hatten.« Die Worte aus Omars Mund klangen viel eher nach einer Feststellung als nach einer Frage.

Daher antwortete ich nicht gleich. Oder aber ich tat es nicht, weil meine Mundwinkel mit einem Schmunzeln beschäftigt waren. Maisfeld-Rowdy – die Bezeichnung sollte nicht diese Wirkung auf meine Mimik haben. Rasch fing ich mich und verzog absichtlich den Mund, während ich meinem Streifenpartner über die Schulter hinweg einen Blick zuwarf. Hinter uns fiel die mit Sicherheitsglas versehene Tür ins Schloss, die den schleusenartigen Eingangsbereich vom hinteren Teil des Polizeireviers abtrennte.

»Wir hätten ihn dennoch nicht so einfach fahren lassen müssen.« Es war offensichtlich, dass Omar mit ›wir‹ primär mich meinte.

»Mhm, wir hätten uns zumindest die Auspuffanlage genauer ansehen können. Aber darum geht’s nicht. Kaffee?« Mit einem vagen Nicken deutete ich in Richtung Aufenthaltsraum. Direkt nachdem wir Colin – nein, Herrn Schreiber – aus der Verkehrskontrolle entlassen hatten, waren wir zu einem Einsatz häuslicher Gewalt gerufen worden, der uns über eine Stunde hinweg in Atem gehalten hatte. Die kurze Pause hatten wir uns verdient.

»Ja, gern.« Hinter mir betrat Omar den Raum. »Worum dann?«

War klar, dass er den Faden nicht einfach so loslassen würde. Um Zeit zu schinden, griff ich nach zwei sauberen Kaffeetassen. Wollte ich dieses sinnbildliche Fass wirklich aufmachen? Aber mein Streifenpartner hatte vermutlich ohnehin nicht Colins – verdammt, Schreibers! – Kommentar vergessen, der nichts mit der Kontrolle zu tun gehabt hatte.

»Wir ›kennen‹ uns«, mit einer Hand malte ich Anführungszeichen in die Luft, während ich eine der Tassen unter die Kaffeemaschine schob, »aus dem Motocross-Verein.«

Omar zog die Brauen zusammen. »Verstehe. Ist immer unschön, wenn man Leute, mit denen man dienstlich zu tun hatte, im Privaten wiedersieht.«

Ja, auch das …

Ich nickte nur und wandte mich vollends der Kaffeemaschine zu. Hoffend, dass Omar nicht weiter nachhaken würde. Mit seiner Aussage hatte er recht, aber darum ging es nicht. Zumindest nicht primär. Mich wurmte, dass Colin – großartig, dann nannte ich ihn gedanklich nun eben so – mir vorgeworfen hatte, Ben belogen zu haben. Als wäre ich ein mieser Vater.

Zur Hölle, er hatte keine Ahnung, wie sehr ich seit inzwischen drei Jahren versuchte, alles für meinen Sohn zu sein. Vater und –

»Passt schon.« Ich unterbrach rigoros meine eigenen Gedanken und wandte mich wieder Omar zu. Die Kaffeemaschine verstummte und ich streckte ihm die erste gefüllte Tasse entgegen. »Ich hab diesen Colin bislang nur einmal auf dem Vereinsgelände getroffen. Schätze, wir können uns aus dem Weg gehen.«

Wenn er mir nicht noch mal in Gedanken versunken schier in die Autotür lief …

Dieses Mal unterband ich rechtzeitig das Zucken, das sich in meinen Mundwinkeln einschleichen wollte, und schob auch die zweite Kaffeetasse unter die Düsen. Den Regler für die Kaffeestärke drehte ich auf ›Double Shot‹. Zwar blieben nur noch rund eineinhalb Stunden bis zum Ende des Frühdienstes, aber der Mittagsschlaf vor dem Nachtdienst würde heute wieder einmal kurz ausfallen. Die tägliche große Gassirunde mit Sheldon stand aus, das Untergeschoss sollte mal wieder gesaugt werden und erwartungsgemäß würde Ben ein wenig Hilfe bei den Mathehausaufgaben benötigen. Natürlich konnte er sich mit seinen neun Jahren selbst beschäftigen und übernahm auch kleine Aufgaben im Haushalt. Aber letzten Endes war ich sein Vater, der für ihn da sein sollte. Mehr noch, seit Lissy nicht mehr bei uns war. Schlaf wurde überbewertet. Energisch kippte ich den ersten, noch scheiße heißen Schluck schwarzen Kaffees hinunter.

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»Hast du alle Schulsachen für morgen?« Eine Hand bereits auf der Türklinke sah ich Ben entgegen, der gerade schwungvoll durch den Hausflur schlitterte.

»Klaro!« Wie zum Beweis drückte er mir seinen Schulranzen in die freie Hand. Die Tasche, in der er seine Übernachtungssachen hatte, stand bereits fertig gepackt neben der Haustür.

Während Ben vor dem Schuhregal in die Hocke ging und sich schließlich für die weißen Sneaker mit den grünen Streifen entschied – passend zu seinen kakifarbenen Cargoshorts –, wog ich den Rucksack in der Hand. »Darf ich?«

Ben nestelte am Schnürsenkel, nickte dabei und murmelte eine Zustimmung.

Ein eingehender Blick in den Ranzen zeigte, was ich aufgrund des Gewichts schon geahnt hatte: »Dein Buch für Sachkunde fehlt.«

»Nimmt Emil mit.«

»Sicher?«

»Papa …«

»Okay, okay. Dann Abmarsch.« Ich schulterte Bens Schulranzen und er griff nach der Tasche mit seinen Klamotten. Ein kleiner Kulturbeutel mit den nötigsten Drogerieartikeln war seit bereits über einem Jahr bei den Kochs deponiert. Ob es mir gefiel oder nicht, so oft, wie Ben bei ihnen übernachtete, ergab es schlicht keinen Sinn, den Kram jedes Mal ein- und wieder auszupacken.

Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um nach Sheldon zu rufen, da tappte unser brauner Labrador Retriever bereits in den Flur. Auch er kannte die Routine, wenn ich zum Nachtdienst musste. Wie jedes Mal würde er auf dem Revier erst mal Streicheleinheiten von allen meinen Kollegen bekommen und sich dann für ein Nickerchen in sein Körbchen unter einem der Schreibtische verziehen. Dort blieb er problemlos, wenn ich für Einsätze rausfahren musste.

Mit einem innerlichen Seufzen öffnete ich die Haustür und Kind und Hund huschten hindurch und rüber zum Auto, das ich mittags vor der Garage hatte stehen lassen. So dankbar ich den Eltern von Bens bestem Freund auch war, es kostete mich jedes einzelne Mal Überwindung, Ben für die Nacht zu ihnen zu bringen. Auf rein rationaler Ebene war mir klar, dass es die beste Lösung war. Ben mit seinen neun Jahren eine ganze Nacht allein zu lassen, war für mich keine Option. Er fand es cool, dass er alle fünf Tage bei den Kochs übernachten durfte. Außerdem ermöglichte es mir mein Schichtrhythmus von Spät-, Früh- und Nachtdienst an den drei darauffolgenden dienstfreien Tagen viel Zeit mit ihm zu verbringen. Dennoch fühlte es sich vor jedem einzelnen Nachtdienst so an, als würde ich meinen Sohn abschieben, weil ich nicht für ihn da sein konnte.

Ich wusste, dass das Blödsinn war – aber mein Hirn begriff es eben nur rein theoretisch.

Da die Kochs nur wenige Querstraßen weiter im selben Ort wohnten, sprang Ben bereits drei Minuten später wieder aus dem Auto und nach hinten zum Kofferraum. Während er noch seinen Schulranzen und seine Übernachtungstasche herausholte und Sheldon, der in seiner Hundebox saß, zum Abschied knuddelte, öffnete Linda die Haustür.

Ich stieg ebenfalls aus, blieb aber am Wagen stehen. »Hallo, Linda, ich bringe Ben vorbei.« Das Offensichtliche auszusprechen, machte es nicht angenehmer. Ich konnte nicht anders, als in Gedanken ein ›mal wieder‹ hinzuzufügen.

Im Türrahmen stehend lächelte sie mir zu. »Hallo, Alex. Alles wie gehabt?«

Ich nickte nur. Ben übernachtete so oft bei den Kochs, dass es keinerlei Absprachen mehr bedurfte. Ein Umstand, der mich eigentlich beruhigen und freuen sollte. Tat er aber nun mal nicht.

»Tschüss, Papa!« Ben winkte mir zu und huschte durch das offen stehende Vorgartentörchen. »Hi, Linda.«

»Hi, Ben«, entgegnete sie ebenfalls grinsend. »Emil ist in seinem Zimmer.«

Ich hörte die Entgegnung meines Sohnes nicht mehr. Doch die Art, wie er an Linda vorbeischlüpfte, seine Schuhe im Flur abstreifte und vollbepackt, wie er war, einfach weiter ins Haus hineinging, erweckte den Eindruck, als wäre er dort fast schon zu Hause.

Oliver tauchte hinter seiner Frau im Flur auf, hob die Hand zum Gruß. Etwas an dem Bild, wie die beiden da gemeinsam standen und er ihr eine Hand in einer gleichsam ganz alltäglichen wie zärtlichen Geste auf die Schulter schob, ließ meine Kehle eng werden.

Vehement kämpfte ich den plötzlichen Stich im Brustraum nieder. »Na dann … der Dienst ruft.« Ich verzichtete darauf, mich zum eintausendsten Mal bei den beiden zu bedanken. So mussten sie mir nicht zum ebenfalls eintausendsten Mal versichern, dass sie gern halfen. Und ich mir nicht eingestehen, dass ich diese Hilfe verdammt noch mal brauchte.

»Klar, angenehmen Dienst.«

»Ach, Alex …«

Bereits im Einsteigen wandte ich mich Oliver noch einmal zu.

»… ich hole Emil morgen von der Schule ab, weil ich sowieso in der Gegend bei einem Kunden bin. Soll ich Ben bei euch absetzen?«

Entgegen jeder rationalen Logik entgegnete ich sofort: »Ich hol ihn selbst ab. Aber danke.«

Auf die Distanz sah ich etwas über Olivers Gesicht zucken, das ich nicht recht entschlüsseln konnte. Resignation? Enttäuschung? Oder gar Mitleid?

Eilig stieg ich ins Auto und zog die Tür zu. Durchs Beifahrerfenster winkte ich meinem Kumpel und seiner Frau noch einmal zu und fuhr nach einem prüfenden Schulterblick los. Dabei fragte ich mich unweigerlich, wann er und ich eigentlich zuletzt ein Bier zusammen getrunken hatten. Es war definitiv nach Lissys Tod gewesen, aber dennoch verdammt lange her. Und das lag gewiss nicht an ihm.