1. Kapitel
Dover, England
20. Juni 1822
William Hurst eilte auf die Agile Witch zu. Der salzige Wind peitschte gegen seinen Mantel, als er mit laut klappernden Absätzen über die Gangway schritt. An Deck hielt er inne und sah in die Takelage hinauf. Er nickte zufrieden. Messingringe und Haken waren so aufpoliert, dass sie glänzten, und die Segel waren sauber geflickt.
Gut. Müßiggang hätte seine Mannschaft nur zu Unsinn verleitet, und für derlei Sperenzchen hatte er keine Zeit. Er war seit fünfzehn Jahren Kapitän und wusste genau, wie man ein Schiff befehligte.
„Käpt’n!“ Sein erster Offizier grüßte zackig, als er vor ihm zum Stehen kam. „Sie sind früh dran.“
„Aye.“ William sah sich noch einmal auf der Agile Witch um. „Sieht aus, als sei sie in erstklassigem Zustand, MacDougal.“
Sein erster Offizier strahlte. „Allerdings. Ich habe Halpurn mit den Arbeiten beauftragt, während ich die Vorräte besorgt habe. Er hat die Leute prima angeleitet, nur …“, MacDougal zögerte. Als William ihm auffordernd zunickte, fuhr er fort: „Während der Wache ist ein kleines Malheur passiert. Ich habe mich sofort darum gekümmert. Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Hervorragend.“ William hob das Gesicht in den Wind. „Bereiten Sie alles vor, damit wir morgen früh mit der Flut auslaufen können. Unsere Mission duldet keinen Aufschub. Und geben Sie Lawton eine Abschrift des Ladeverzeichnisses. Wir unternehmen diese Fahrt auf Geheiß meines Bruders. Dann kann er auch die Kosten übernehmen.“
MacDougal lachte. „Aye, Käpt’n. Geht klar.“
William ging unter Deck. Michael hatte sich wegen eines antiken ägyptischen Artefakts, welches William nun in der Rocktasche trug, in eine ziemliche Zwangslage gebracht.
William betrat seine Kajüte und stellte den Gegenstand auf seinen Schreibtisch. Dann nahm er die Kette von seinem Hals und schloss den Schreibtisch mit dem kleinen goldenen Schlüssel daran auf. Er stellte das Artefakt hinein und sperrte die Tür wieder zu. Er war froh, das verdammte Ding hinter Schloss und Riegel zu wissen. Seine Schwester Mary war durch die Hölle gegangen, um es an sich zu bringen, und nun war es seine Aufgabe, es dem Vorsteher des religiösen Ordens zu bringen, der ihren Bruder gefangen hielt.
„Bald“, murmelte er im Gedanken an seinen weit entfernten Bruder.
William band die Kette wieder um den Hals und verbarg sie unter seinem Hemd, bevor er nach der Kartenrolle griff. Gerade als sich seine Finger um die steife Lederrolle schlossen, nahm er zarten Lilienduft wahr.
Er erstarrte. Eine längst vergessen geglaubte Erinnerung flammte wieder auf. Er erinnerte sich wieder an die veilchenblauen Augen, gesäumt von dichten schwarzen Wimpern, an schwarzes Haar, das wie Seide durch seine gierigen Finger glitt, an cremeweiße Haut und an einen sinnlichen Mund, der für seine Küsse …
„Hallo, William.“
Der Klang ihrer Stimme riss ihn aus seinen Erinnerungen. Er schloss die Augen, die Hand immer noch an der Kartenrolle. Ihre Stimme war ungewöhnlich rau und doch gleichzeitig so klar, dass sie selbst dann nicht zu überhören war, wenn sie flüsterte. Für eine Frau war die Stimme tief und volltönend, voll lockender Weiblichkeit.
William kannte diese Stimme ebenso gut wie seine eigene.
„Willst du mich nicht begrüßen? Oder redest du immer noch nicht mit mir?“ Der singende Tonfall schien sich in eine warme, weiche Hand zu wandeln, die sanft über seinen Rücken strich.
William biss die Zähne zusammen, um seinen verräterischen Körper zu bezähmen. Dann ließ er die Kartenrolle los und drehte sich um.
In einem Stuhl am Kopfende des Kapitänstisches saß jene Frau, die er am liebsten für immer aus seinem Leben verbannt hätte. Ihr qualvoller Verrat hatte ihn einst so aus der Bahn geworfen, dass er die Segel setzte und England für zwei Jahre den Rücken kehrte.
Damals schwor er sich, keiner Frau mehr zu trauen. Und dieser hier schon gar nicht. Deshalb wollte er sie auch niemals wiedersehen.
Und nun saß sie in seiner Kajüte, umkränzt vom Licht der untergehenden Sonne, die ihren zarten Teint und ihren anmutigen Hals zu streicheln schien. Ihren schwarzen Mantel hatte sie über einen Stuhl gelegt. Darunter trug sie ein rotes Kleid, das ebenso liederlich war wie sie selbst.
Dieses Kleid setzte ihr hochgestecktes schwarzes Haar perfekt in Szene. Die dünne weiße Rüsche um ihr Dekolleté erweckte den Anschein von Züchtigkeit, welche die schwellenden Brüste darüber Lügen straften. Sie verstand sich meisterlich darauf, unschuldig und zugleich anrüchig auszusehen. Früher hatte ihn das ganz verrückt gemacht. Glücklicherweise durchschaute er diese List inzwischen. Sie stand ihr förmlich ins schöne Gesicht geschrieben.
Er zog seinen eigenen Mantel aus und wandte sich von ihr ab, um sich vom Bann ihrer Schönheit zu lösen. Dann hängte er den Mantel an einen Messinghaken an der Tür, atmete tief durch und sagte, ohne sich umzudrehen: „Raus hier.“
„Du fragst mich nicht einmal, warum ich hier bin?“
„Das interessiert mich nicht. Verschwinde einfach.“
Ein leises Rascheln verriet ihm, dass sie aufgestanden war. „William, ich muss mit dir reden. Ich hatte gehofft, dass du wegen unserer Beziehung nicht mehr wütend …“
„Zwischen uns gab es keine Beziehung. Es war alles nur Illusion.“ Er drehte sich endlich zu ihr um und fixierte sie mit eiskaltem Blick.
Sie errötete, als hätte er sie geschlagen. „Es tut mir leid. Mein Verhalten damals war falsch, und …“
„Verschwinde.“ William biss die Zähne abermals zusammen. Sie war so atemberaubend schön, beinahe hypnotisch, dass es ihm schwerfiel, sie nicht anzusehen. Verdammt, ich sollte darüber hinweg sein. Das alles ist schon Jahre her.
Sie ballte die Hände zu Fäusten und ließ sich auf den Stuhl zurücksinken. „Ich kann nicht gehen. Ich bin den ganzen Weg hierhergekommen, und ich …“ Ihre Stimme brach. „William, ich bin verzweifelt.“
Jeder andere Mann hätte sich von ihren Tränen rühren lassen, doch William ignorierte diese offensichtliche Manipulation. „Such dir einen anderen Dummen, Marcail. Ich stehe nicht mehr zur Verfügung.“
Sie umklammerte die Armlehnen ihres Stuhls. „Du musst mich anhören, William. Du bist der Einzige, der mir helfen kann.“
„Was ist denn mit deinem Liebhaber? Oder ist dein Colchester endlich zur Vernunft gekommen und hat sich von dir getrennt?“
Sie schürzte die Lippen. „Natürlich nicht. Aber das hier ist eine Privatangelegenheit.“
„Privat? Oder geheim? Das ist ein Unterschied.“
„Beides. Ich kann mich Colchester nicht anvertrauen.“
„Vertraust du ihm denn nicht?“
„Doch, aber es könnte einen Skandal heraufbeschwören, und ich will nicht, dass er oder sonst wer darunter leidet.“
William betrachtete sie einen Augenblick. „Ah. Du glaubst also, dass Colchester dir nicht helfen kann.“
Ihre Wangen glühten tiefrot. „Egal, was du über Colchester sagst, er hat mir geholfen wie kein anderer.“
„Wenn du mit ‚geholfen‘ meinst, dass er dich mit großen Summen Geld unterstützt, dann ist das sicher richtig. Der Earl ist ein reicher Mann.“
Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern, doch ihre Gesichtszüge waren angespannt. Es freute ihn zu sehen, dass er ihre beachtliche Schauspielkunst bis aufs Äußerste strapazierte.
Marcail Beauchamp verdiente ihr Geld als Schauspielerin im Drury Lane. Sie war schön und begabt, und es hieß, sie sei die beste Schauspielerin aller Zeiten.
William blickte auf ihr elegantes Gewand, das etwas zu offenherzig war, um noch als züchtig zu gelten. Denn auch damit verdient sie ihr Geld, erinnerte er sich bitter. Sie verkauft sich an den Meistbietenden. „Colchester kann dich behalten.“
„William, bitte. Kannst du die Vergangenheit nicht wenigstens so lange ruhen lassen, bis du mich angehört hast? Ich“, sie zögerte erneut. William entdeckte eine Spur Unsicherheit in ihrer Miene. War sie etwa echt? „William, ich bin hier, um dich um einen Gefallen zu bitten.“
Er lachte bitter auf. „Nein.“
„Du weißt doch noch nicht mal, worum ich dich bitten möchte.“
„Das brauche ich auch nicht. Alles, was dich betrifft, geht mich nichts mehr an.“ Was habe ich mir nur dabei gedacht, einer Schauspielerin Glauben zu schenken? Ich war vernarrt in sie, wahnsinnig vernarrt. Jetzt, da er älter und klüger war, durchschaute er sie. Sein Blick huschte über ihren Körper. Sie war so schön wie eh und je, verdammt, vielleicht sogar noch schöner. Früher war sie schlank, übermütig und verspielt gewesen wie ein Fohlen. Nun aber stand eine verführerische, reife Frau vor ihm, die erstaunlich selbstsicher war.
„Bitte, William, es ist wirklich wichtig. Mir fällt das hier auch nicht gerade leicht.“
Er lächelte kalt. „Das interessiert mich nicht.“ Er zog einen Stuhl heraus und setzte sich. „Wie bist du überhaupt hier reingekommen? Meine Mannschaft hat mir nicht gesagt, dass Besuch auf mich wartet.“
„Ich bin an Bord gegangen, bevor es hell wurde.“
„An der Gangway steht immer eine Wache.“
„Die hat geschlafen.“
Ah. Das Malheur, von dem MacDougal gesprochen hat. „Ich wittere einen Hinterhalt. Ich kenne dich gut, Marcail Beauchamp, man kann dir nicht trauen.“
„Du kennst mich nicht. Hast mich nie gekannt.“ Sie sprach mit so ruhiger Würde, dass es ihn beinahe aus der Fassung brachte. Auf einmal war er gar nicht mehr so erpicht darauf, sie hinauszuwerfen.
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hätte sie leicht hochheben und aus der Kajüte tragen können, aber er scheute die körperliche Nähe zu ihr. Er wollte keine Erinnerungen wecken.
Manches ließ man besser auf sich beruhen.
Marcail stand abrupt auf. „Dann ist mein Besuch also reine Zeitverschwendung?“
Er nickte. „Ja.“
„Verstehe.“ Sie senkte den Blick und biss sich auf die Lippen. Schließlich seufzte sie und wies anmutig auf die Karaffe und die Gläser auf der Anrichte. „Können wir wenigstens auf unser kurzes Wiedersehen trinken?“
„Ich trinke auf unseren endgültigen Abschied“, gab er zurück.
Sie nahm den Stopfen aus der Karaffe und lächelte William über die Schulter hinweg an. „Geradeheraus wie eh und je.“ Sie hob die Karaffe an und schnupperte daran. „Ein sehr schöner Portwein.“
„Danke“, sagte er kurz und sah zu, wie sie zwei Gläser füllte.
„Früher warst du bei der Wahl deiner Getränke nicht so wählerisch“, sagte sie.
„Ich bin bei all meinen Vergnügungen wählerischer geworden.“
Sie presste die Lippen zusammen. Marcail hob ein Glas hoch, um die Farbe des Ports durchs Licht hindurch zu betrachten. „Sehr eindrucksvoll.“
„Er stammt aus Napoleons privaten Vorräten.“ William war sich nicht sicher, was ihn dazu trieb, dies zu erwähnen.
„Dann wird er mir umso besser schmecken.“ Sie verschloss die Karaffe und reichte ihm ein Glas. Dann ging sie mit ihrem eigenen zurück zu ihrem Platz. Sie setzte sich und ließ die Flüssigkeit anmutig im Glas kreisen. „Kann ich dich vielleicht noch umstimmen? Wenn ich dir sage, worum es geht, würdest du es dir vielleicht noch einmal überlegen.“
„Wenn du mich etwas gelehrt hast, liebe Marcail, dann ist es das, dass man niemals einer Antwort trauen sollte, die in Wirklichkeit nur eine weitere Frage ist.“
Sie stutzte. „Das soll ich dir beigebracht haben?“
„Oh, du hast mir eine ganze Menge beigebracht, und nichts davon war gut.“ Er nahm einen großen Schluck Portwein, der ihm scharf die Kehle hinunterrann. „Genug davon. Ich habe zu tun; du hast zwei Minuten, um mir zu sagen, warum du hier bist.“
Sie kniff die Augen zusammen und schob ihr Glas beiseite. „Also schön. Ich bin hier, weil ich erpresst werde.“
„Und was hat das mit mir zu tun?“
Marcail blickte wütend auf. „William, ich bin verzweifelt. Ich weiß nicht, wer mich erpresst und warum er es tut, aber es muss aufhören.“
„Aber du weißt, womit du erpresst wirst, oder? Etwas, von dem du nicht willst, dass Colchester es erfährt.“ William betrachtete ihre verschlossene Miene, während er seinen Portwein austrank. „Hast du ihn betrogen, Marcail? Ist das dein Geheimnis, dass du einem Mann ebenso wenig treu bleiben kannst, wie sich ein Hund den Jagdtrieb verkneifen kann?“
Marcail sah ihn mit funkelnden Augen an. „Um etwas so Schäbiges geht es nicht! Wenn mein Geheimnis herauskäme, müsste nicht ich dafür bezahlen, sondern andere.“
„Welche anderen?“
„Namen spielen keine Rolle.“ Entschlossen presste sie die Lippen zusammen.
„Ich habe genug von deinen Spielchen. Ich finde, du solltest jetzt gehen.“ William schob sein leeres Glas beiseite. Er hatte das alles so satt.
Sie hob einen Mundwinkel zu einem bedauernden Lächeln. „Ach William. Das Leben hat uns einfach keine Chance gegeben.“
Was, zum Teufel, soll das nun wieder bedeuten? „Geh einfach, Marcail.“ Sein Mund war auf einmal ganz trocken. William wünschte, das Glas vor ihm wäre nicht leer.
Marcail erhob sich und ging auf ihn zu. „Keine Sorge, ich werde gehen, aber nicht, bevor du mir geholfen hast.“
„Zum Teufel mit dir. Ich habe doch schon gesagt, dass ich dir, dir nicht helfen werde“, begann er plötzlich zu stottern. Warum war seine Zunge plötzlich so schwer?
Er blickte auf seine Finger, die noch an dem leeren Glas lagen. Ich spüre meine Hand nicht mehr. Der Gedanke ließ ihn merkwürdig gleichgültig.
Aber er hatte doch nur ein Glas getrunken. Es brauchte weitaus mehr, um …
William erstarrte. Er sah Marcail an und wollte sagen: „Du hast mir etwas ins Glas getan“, doch sein Mund konnte die Worte nicht formen. Plötzlich verschwamm alles vor seinen Augen. Er fühlte sich unendlich schwach.
Nein. Er nahm all seine Kraft zusammen und zwang seine tauben Arme, ihn hochzustemmen. Doch er stand nur schwankend da.
Sie runzelte die Stirn. „William, nicht! Du wirst dir noch wehtun.“
Er stürzte nach vorn. Verdammt. Sie hat mich vergiftet.
Michael Hurst an seinen Bruder William, als er Athen zum ersten Mal erblickte:
Bei unserer Ankunft hier in dieser antiken Metropole hatte ich das Gefühl, ich stünde vor ungeahnten Möglichkeiten. Dieses Gefühl war so übermächtig, dass ich zu fiebern glaubte. Erstaunlich, wie oft man ein gutes Gefühl mit einem schlechten verwechseln kann. Oft weiß man erst später, um was es sich wirklich gehandelt hat.
2. Kapitel
William sah, wie Marcail ihn auffing, bevor er zu Boden fiel.
Warum hat sie mich betäubt? Er war zu benommen, um etwas zu spüren. Seine Gedanken waren ebenso taub und träge wie sein Körper. Mit leidenschaftslosem Interesse sah er zu, wie sie ihn vorsichtig auf den Boden legte, seinen Mantel zusammenrollte und ihn ihm als Kissen unter den Kopf schob.
Dann nahm sie ihm sanft die Kette vom Hals und ging zu seinem Schreibtisch. Das Licht der untergehenden Sonne hüllte sie in einen goldenen Schimmer, der ihr das Antlitz eines schönen, reinen und anmutigen Engels verlieh. Es schmerzte ihn, sie anzusehen.
Mit dieser Anmut hatte sie ihn anfangs für sich eingenommen. Nicht ihr Gesicht, nicht ihre Figur oder ihre volltönende Stimme, die ihren Ruhm am Theater begründeten, hatten ihn fasziniert. Nein, es war ihre anmutige Art. Mit ihrem Gang wusste sie einen Mann in ihren Bann zu ziehen. Es war, als tanzte sie zu einer Musik, die nur sie hören konnte.
Ihr dunkles Haar glänzte im letzten Sonnenlicht, als sie seinen Schreibtisch aufschloss und hineingriff.
Wie viel Gold mag wohl in der Schublade sein? Zweihundert Guineen? Dreihundert? Ich muss mir die Aufzeichnungen ansehen, wenn sie gegangen ist, die kleine Diebin.
Sie richtete sich wieder auf. In ihrer Hand lag der Samtbeutel mit dem antiken Artefakt, das William zur Auslösung seines Bruders benötigte.
Selbst in seinem benebelten Zustand spürte er aufflammenden Zorn. Ich muss das Kunstwerk zurückholen. Ohne das Artefakt kann ich Michael nicht befreien!
Sie zog den Beutel auf und sah hinein. Stirnrunzelnd holte sie eine schmale Onyxdose hervor und strich vorsichtig darüber. Marcail sah etwas verunsichert zu William hinüber.
Als ihre Wangen erröteten, steckte sie das Artefakt rasch weg.
William hätte sie gern angeschrien und sie in der Luft zerrissen, doch er brachte keinen Ton heraus. Von Drogen benebelt, konnte er sie nur wütend anstarren.
Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, seine Zehen zu krümmen. Die Wirkung der Droge lässt langsam nach! Na warte, Weib, du kannst dich auf etwas gefasst machen!
Selbst wenn er auf Händen und Knien kriechen musste, würde er ihr eine Lektion erteilen, die sie so schnell nicht vergaß.
Sie band ihren Mantel am Hals und ließ die Dose in die Tasche gleiten. „Ich lasse dich nicht gern so zurück, aber es geht nicht anders.“
Er funkelte sie wütend an.
Marcail sah ihn beinahe bedauernd an, dann beugte sie sich zu ihm herab, um seine Wange zu streicheln. Ihre Augen glänzten, als stünden Tränen darin. „Versuch nicht, mir zu folgen, William. Du wirst mich nicht finden.“
Oh doch, er würde sie finden. Selbst wenn er den Rest seines Lebens suchen musste, er würde Rache üben, schrecklich und kalt.
Ihr seidiges Haar strich ihm wie eine zarte Liebkosung über das Gesicht, und als er ihr exotisches Parfüm wahrnahm, klopfte sein Herz schneller.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich dir das antun muss, mon cher, aber ich habe keine andere Wahl.“ Ihre weichen Lippen streiften die seinen zu einem sanften, berauschenden Kuss. „Für dich ist das hier nichts weiter als ein Schmuckstück. Für mich aber bedeutet es Freiheit.“
Mit dieser rätselhaften Bemerkung stand sie wieder auf. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf, bis ihr Haar bedeckt war. „Ich wusste, dass du mir nicht helfen würdest, deshalb musste ich auf diesen Trick zurückgreifen. Dennoch wollte ich dir eine Chance geben.“
Sie wollte zur Tür gehen, doch William krallte seine Finger um ihren Rocksaum. Wild entschlossen hielt er sich daran fest. Sobald die Wirkung der Droge nachließ, würde er sie schon lehren, wie gefährlich es sein konnte, ihm in die Quere zu kommen.
„Leb wohl, William.“ Sie entriss ihm den Rock und ging zur Tür. Von dort blickte sie noch einmal zurück. „Ich weiß, dass du mir nicht glauben wirst, aber ich wünsche dir alles Gute. Etwas anderes habe ich dir nie gewünscht.“
Sie verließ die Kajüte und schloss leise die Tür hinter sich. William blieb allein in der Dunkelheit zurück.
Mary Hurst an ihren Bruder Michael, als sich dieser auf seine erste Expedition vorbereitete:
Ich komme nicht gern darauf zu sprechen, da ich ja weiß, wies sehr Du mit Deinen Vorbereitungen beschäftigt bist, aber ich mache mir ernsthaft Sorgen um William. Seit er von der See zurückgekehrt ist, ist er so ruhig, so ernst und, ich glaube, auch traurig. Ich habe ihn gefragt, was mit ihm los sei. Er hat nur bitter gelacht und gesagt, er hätte eine wichtige Lektion gelernt.
Ich frage mich, ob er vielleicht unglücklich verliebt ist?
Mutter ist überzeugt, dass er überwinden wird, was immer ihn auch so bekümmert. Allerdings gibt sie sich besondere Mühe, seinen Appetit zu wecken. Ich glaube jedoch, dass es weitaus mehr braucht als Kanincheneintopf, um ein gebrochenes Herz zu heilen.