Luxor, Ägypten
12. April 1822
Geliebte Familie,
ich schreibe diese Zeilen in großer Eile. Seit letztem Dienstag sitze ich in Ägypten fest. Ich bin „zu Gast“ bei einem Sufi, der mich nicht gehen lassen will, sofern ich ihm nicht einen Kunstgegenstand aushändige, den ich absolut rechtmäßig bei einem Antiquitätenhändler in Kairo gekauft habe.
Es macht mich wütend, ihn hergeben zu müssen, aber mir scheint, ich habe keine andere Wahl. William, mache dich bitte so schnell wie möglich auf den Weg nach Schottland zum Earl of Erroll. Er ist mein Freund, bitte ihn darum, das Artefakt (du weißt schon, welches …) dir anzuvertrauen. Dann überbringe es, so schnell du kannst, meiner vertrauenswürdigen (wenn auch etwas anstrengenden) Assistentin, Miss Jane Smythe-Haughton. Du hast sie bei deinem letzten Besuch hier kennengelernt. Sie weilt derzeit in unserem Konsulat in Malfi und erwartet dich dort.
Mutter, mache dir bitte keine Sorgen um mich. Ich bin schon in schwierigeren Situationen gewesen und jedes Mal mit heiler Haut davongekommen. Ich habe nicht vor, daran etwas zu ändern.
In Liebe, Michael
1. Kapitel
Aberdeenshire, Schottland
12. Mai 1822
Die massive Eichentür des Gasthauses wurde so schwungvoll aufgerissen, dass ein eiskalter Wind Schnee über die unebenen Bodenbretter hineinfegte. Die Gäste blickten den Neuankömmling, der in der Tür stand, erstaunt an. Es handelte sich um eine dick eingemummte junge Dame, der das fürchterliche Wetter sichtlich zugesetzt hatte.
Mary Hurst zitterte am ganzen Körper, doch sie griff beherzt mit behandschuhten Händen nach der Tür, um sie wieder zu schließen. Dies gelang ihr jedoch erst, als ihr Dienstmädchen herbeigeeilt kam, um ihr zu helfen. Gemeinsam hielten sie die Tür fest, dennoch waren sie hinterher vollkommen außer Atem vor Anstrengung. „Danke, Abigail.“
„Gern geschehen, Miss.“ Abigail rieb die Hände aneinander und sah sich neugierig in der Schankstube um. „Himmel, Miss, da sind aber ’ne ganze Menge Leute hier in dem Laden.“
Mary lockerte den Schal, der Kinn und Ohren vor dem unbarmherzigen Wetter hatte schützen sollen, und schlug die Augen nieder, als sie sah, dass alle sie anstarrten. Einige der Gäste waren offenbar Reisende, die wegen des furchtbaren Sturmes im einzigen Gasthaus auf dieser Strecke der langen, einsamen schottischen Landstraße hatten Zuflucht suchen müssen.
Mary trat durch einen breiten steinernen Bogen in die eigentliche Gaststube. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so gefroren.“
Abigail rieb noch immer die Hände aneinander, die Handschuhe hatte sie noch nicht ausgezogen. „Aye, es ist kälter als die Zitzen einer Hexe!“
Mary stieg die Schamesröte ins Gesicht, als zwei Bauern und ein Händler, der große Warenpakete dabeihatte, daraufhin zu lachen anfingen. Ein Geistlicher, der an einem der langen Tische saß, warf Abigail einen bitterbösen Blick zu, ehe er sich wieder über seinen Teller beugte. Zwei hartgesottene Landarbeiter hingegen, die in einer anderen Ecke saßen, lachten ausgelassen und zwinkerten Mary zu, als diese empört zu ihnen hinüberblickte.
„Also wirklich, Abigail, das ist doch keine angemessene Ausdrucksweise.“
Abigail grinste unbefangen. „Aye, Miss.“
Sie wickelte ihren dicken Wollschal vom Hals und schaute sich interessiert um.
„Himmel, Miss, sehen Sie sich doch nur all die vornehmen Herren an!“ Sie grinste erfreut.
Mary bedachte das überschwängliche Mädchen mit einem strengen Blick und wies sie zurecht: „Abigail, eine Dame läuft nicht herum und himmelt Fremde an. Also sehen wir uns die Herren nicht an.“
Abigails Lächeln verschwand. „In Ordnung Miss, aber …“
„Da gibt es kein Aber.“ Mary nahm den Schal vom Hals und schüttelte die Schneeflocken von ihm ab, die bereits zu schmelzen begannen. Während sie das tat, fing sie den Blick eines weiteren Mannes auf, der weiter hinten im Schankraum saß. Er war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und hatte sich auf dem einzigen Sessel im Raum niedergelassen, der direkt neben dem Kamin stand. Er war breitschultrig und hatte lange, kräftige Beine, unter denen selbst der schwere Sessel zierlich wirkte.
Er war noch in seinen Mantel und einen groben Wollschal gehüllt, sodass sein Gesicht nur zum Teil zu erkennen war. Mary fand das bedauerlich, denn er war eine beeindruckende Erscheinung: Sein dunkles Haar fiel in eine vornehme Stirn, er hatte eine Adlernase und hellgrüne Augen, die sofort ihren Blick gefangen nahmen.
Abigail flüsterte hörbar: „Miss, ich dachte, man soll keine Herren anstarren.“
Mary wurde abermals rot, denn sie war sich sicher, dass der Mann den ungebührlichen Kommentar des Mädchens gehört hatte, aber er verzog keine Miene und richtete dann seinen Blick wieder auf die Flammen im Kamin. Sein Gesicht zeigte keine Regung, eher wirkte er hochmütig und gelangweilt.
Mary verspürte einen Stich angesichts dieser offensichtlichen Zurückweisung und wandte dem Fremden den Rücken zu, um schließlich doch die wollgefütterten Handschuhe auszuziehen.
Man bereitete ihnen einen ausgesprochen ungastlichen Empfang. Es gab keine freien Sitzplätze mehr, und keiner der anwesenden Männer war auch nur aufgestanden, als sie und ihr Dienstmädchen den Gastraum betreten hatten, geschweige denn, dass man ihr einen Platz angeboten hätte.
Ihrem Bruder zuliebe würde sie das hier alles jedoch ertragen und noch einiges mehr. Ich mache das für Michael. Ich kann ihn nicht im Stich lassen.
Ihr jüngster Bruder war ihr ganz besonders ans Herz gewachsen. Er war von Geburt an und noch bis weit in seine Jugend hinein sehr kränklich gewesen, dann jedoch, wie durch ein Wunder, war ihm nicht mehr jede Krankheit, die das Dorf befiel, zum Verhängnis geworden. Innerhalb nur eines Jahres war er seinen ständigen Husten losgeworden, sein Gesicht hatte eine gesunde Bräune bekommen und er war um beinahe vier Zoll gewachsen.
Obwohl er sich danach vollkommen erholte, hatten ihn die langen Jahre seiner Krankheit doch geprägt. Er hatte so viele Jahre ans Bett gefesselt verbracht, dass er Bücher über Bücher verschlungen hatte. Als seine Gesundheit es schließlich erlaubte, dass er eine Schule besuchte, stellte er fest, dass er seinen Klassenkameraden im Lernstoff weit voraus war. Beinahe zufällig war er dann auch noch zu einem echten Gelehrten geworden.
Zur Überraschung der ganzen Familie hatte er seine Kenntnisse in Altgriechisch und Latein, die er beide fließend beherrschte, sein umfangreiches naturwissenschaftliches und sein geschichtliches Wissen dazu verwendet, genau das zu werden, was niemand jemals von ihm erwartet hätte … ein Ägyptologe.
Mary sagte sich das Wort im Stillen immer wieder vor, sie ließ es sich auf der Zunge zergehen. Als Wissenschaft war die Ägyptologie erst seit Kurzem anerkannt, genauer gesagt seit Napoleons Feldzügen in das Land am Nil. Seine Truppen hatten das Nildelta geplündert und nachdem sie besiegt worden waren, war der Reichtum ägyptischer Schätze, die sie erbeutet hatten, in den Besitz des British Museum in London übergegangen. Michael war Mitglied der Royal Society, einer Forschergemeinschaft, die es schon seit 1660 gab, und der die Empirie, die Sammlung von Informationen, über alles ging. Die Forscher, die hier Mitglied waren, nahmen auch das Studium ägyptischer Kunstschätze in der Tat sehr ernst.
Michael jedoch war der Royal Society nicht nur deshalb beigetreten, weil es ihm die Suche nach ägyptischen Kunstgegenständen angetan hatte. Vielmehr war er in einer sehr speziellen Mission unterwegs, von der niemand außer seiner Familie etwas wusste: Er wollte das Hurst-Amulett wiederfinden, das einem Vorfahren gestohlen worden war, um es Königin Elizabeth der Ersten zum Geschenk zu machen. Die Überlieferung besagte, die ansonsten furchtlose Königin habe Angst vor dem Amulett gehabt, weil sie geglaubt habe, es besitze magische Kräfte, deshalb habe sie es dem Botschafter eines weit entfernten Landes übergeben.
Die Schwierigkeit bei der Suche lag nun darin, dass niemand wusste, um welches Land es sich hierbei handelte. Michael war nach seinen jahrelangen Studien zu der Überzeugung gelangt, es müsse Ägypten gewesen sein, und jetzt war er entschlossen, derjenige zu sein, der das Amulett wiederentdeckte.
Mary freute sich bereits auf das nächste Mal, wenn Michael ihr erzählen würde, welche neuen Hinweise er gefunden hatte. Sein Leben ist so aufregend, dachte sie wehmütig. So hätte sie sich ihr Leben auch gewünscht – Abenteuer und Entdeckungsreisen, während derer er auf historische Kunstschätze stieß und sie kaufte, um sie privaten und öffentlichen Sammlungen zu überlassen. Sie hingegen war als Einzige ihrer Geschwister zu Hause bei ihren Eltern geblieben, um die sie sich allein zu kümmern hatte.
Es war nun nicht so, dass sie es bereute. Sie liebte ihre Eltern und die Pfarrei, in der sie aufgewachsen war, doch manchmal sehnte sie sich aus ganzer Seele nach Abenteuern.
Jetzt gerade allerdings hätte sie gern mit weniger Abenteuern und wesentlich mehr Wärme vorliebgenommen. Ihre Hände und Füße waren eiskalt; sie konnte ihre Zehen kaum noch fühlen.
Entschlossen straffte sie die Schultern und sah sich so in der Gaststube um, wie sie meinte, dass auch Michael sich umsehen würde: Ruhig und ohne Furcht blickte sie den Männern um sie herum geradewegs in die Augen.
Den Bauern und dem Händler in der Ecke verging ihr Grinsen sofort, sie steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich im Flüsterton weiter. Der Pfarrer wurde puterrot, rümpfte noch einmal die Nase und wandte sich dann wieder seiner zerlesenen Bibel zu. Die raubeinigen Landarbeiter hörten auf zu lachen und rutschten unruhig auf ihren Stühlen umher. Nur der dunkel gekleidete Fremde neben dem Kamin schenkte ihr weiterhin keinerlei Aufmerksamkeit, sondern studierte konzentriert die Flammen, als könnte er aus ihnen die Geheimnisse des Ramses herauslesen.
Glücklicherweise war es gar nicht mehr nötig, dass er ihr Beachtung schenkte, denn es war ihr gelungen, mit nur einem Blick den ganzen Schankraum zu zähmen. „Also los, Abigail. Lass uns schauen, ob wir eine warme Mahlzeit bekommen und ob wir jemanden anheuern können, der uns nach New Slains Castle bringt.“
Der Pfarrer war plötzlich wieder ganz Ohr. „New Slains?“ Er war dünn und schlaksig und versank beinahe in seinem Gehrock und seinem dicken Schal.
„New Slains Castle, allerdings.“
„Also nein, Sie wollen doch nicht wirklich dort hin?“
„Und ob ich das will. Ich muss mit dem Earl of Erroll sprechen.“
„Aber …“ Sein Blick wanderte an ihr vorbei und wieder zurück. „Die Straße ist nicht passierbar. Sie werden niemanden finden, der Sie dort hinbringt.“
„Irgendwer wird mich führen müssen, denn ich habe wichtige geschäftliche Angelegenheiten mit dem Earl zu besprechen. Außerdem kann es auf den Straßen wohl kaum so schlimm aussehen. Der Stallknecht hat gesagt, es schneit noch nicht einmal seit einer Stunde.“
„Das stimmt, aber vorher hat es geregnet, es ist bestimmt alles vereist. Die Straße ist an manchen Stellen sehr steil und kann gefährlich werden.“
Abigail stieß einen Seufzer aus. „Miss, vielleicht sollten wir lieber fragen, ob wir ein Zimmer für eine Nacht haben können, oder für zwei, bis …“
„Nein.“ Sie war bis hierhergekommen, um zu holen, was nötig war, damit Michael seine Freiheit wiedererlangte, und sie würde jetzt nicht aufgeben.
„Aber Miss, Sie müssten ja komplett im Arsch sein, wenn Sie …“
„Abigail!“ Das hatte sie davon, dass sie sich von jemandem begleiten ließ, den sie kaum kannte.
Wenn Mary normalerweise verreiste, nahm sie immer eins der Dienstmädchen mit, die beim Saubermachen in der Pfarrei halfen, diese waren alle gebildet und wohlerzogen. Dummerweise hatte eine Grippewelle ihren kleinen Ort erfasst, gerade bevor Michaels Brief mit seiner dringenden Bitte angekommen war, und beide Mädchen hatten das Bett hüten müssen. Mary hatte keine andere Wahl gehabt, als das einzige weibliche Wesen mitzunehmen, das bereit gewesen war, so kurzfristig mit ihr nach Schottland zu reisen – die Nichte ihres Stallburschen.
Abigail blickte verwundert drein. „Was ist denn los, Miss?“
„So können Sie doch nicht reden.“
„Sie meinen, dass Sie im Arsch …“
„Allerdings. So etwas sagt man doch nicht.“
„Nein? Nicht einmal, wenn es stimmt?“
Einer der Bauern feixte lauthals. Mary bedachte ihn mit einem wütenden Blick, bis er sich die Hand vor den Mund hielt, sodass man nur noch sah, wie seine Schultern vor Lachen zuckten.
„So etwas sagt man zu niemandem. Niemals.“ Sie steckte ihre Handschuhe in die Manteltasche. „Also, wir sollten den Wirt finden und …“
Plötzlich öffnete sich die Außentür und ein kleiner, breiter Mann kam hinter ihnen in das Gasthaus. Er war in einen riesigen Mantel gehüllt, trug mehrere Schals übereinander und eine dicke Wollmütze. Er trat sich die Füße ab, hielt aber inne, als er Mary und ihr Dienstmädchen in der Schankstube stehen sah. „Tach. Kann ich helfen? Mr MacEllis ist der Name. Ich bin der Inhaber dieses Etablissements.“ Mit seinem schottischen Akzent war er kaum zu verstehen.
Mary machte einen höflichen Knicks. „Ich bin Mary Hurst, und dies ist mein Mädchen Abigail. Wir hätten gern einen privaten Raum, wenn es geht.“
Er schnalzte ratlos mit der Zunge. „Also, Miss, so was haben wir hier nicht. Entweder Sie geben sich mit dem Schankraum zufrieden oder mit gar nichts.“
Mary rang sich ein Lächeln ab. „Nun gut. Wir werden schon einen Platz zum Sitzen finden. Wir hätten außerdem gern ein Abendbrot. Wir haben seit dem Morgen nichts mehr gegessen.“
„Ich bring ihnen was vom Cullen Skink.“ Als er Marys verständnislosen Blick sah, sagte er: „Das ist ein Eintopf aus geräuchertem Schellfisch, Kartoffeln, Zwiebeln und noch ein paar Sachen.“
„Ach so! Ausgezeichnet.“ Es klang sehr gut und sie liebte Eintöpfe, ganz besonders an kalten Tagen. „Dann brauchen wir nur noch eine Sitzgelegenheit.“
Der Wirt ging in den Schankraum hinüber und sah sich um, dabei wanderte sein Blick über die Bauern und Händler, bis er schließlich auf den Herrn am Feuer fiel. „Also so was …“
„MacEllis, da sind Sie ja“, rief der Mann mit tiefer, rauer Stimme. „Ich bin hier, um Ihren Whisky zu probieren, wenn Sie noch welchen übrighaben.“
Der Wirt warf Mary und ihrem Dienstmädchen einen zögernden Seitenblick zu. „Natürlich haben wir noch welchen, also …“
„Mr Hay.“
„Ach ja, Mr Hay. Ich bringe Ihnen einen guten Tropfen.“
„Vielen Dank. Aber das hat natürlich Zeit, bis Sie einen Platz für Ihre neuen Gäste gefunden haben.“
„Aye.“ Der Wirt drehte sich zu einer breiten Bank um, die an einem langen Tisch stand. „Pfarrer Turnbill, macht es Ihnen etwas aus, ein bisschen aufzurücken? Wir haben neue Gäste.“
Der Pfarrer sah zwar aus, als machte es ihm eine Menge aus, aber er nahm seine Bibel und seinen Teller und rückte bis ganz ans Ende des Tisches, wo er stocksteif saß, so als könnte die bloße Anwesenheit der beiden Frauen die Luft um ihn herum vergiften.
Der Wirt deutete einladend auf die einfache Bank, die keine Lehne hatte. „Bitte sehr, Miss! Ich hole Ihnen was vom Eintopf und etwas Brot.“ Mit diesen Worten eilte er davon und ließ sie wieder mit den Männern im Schankraum allein.
„Oh, ich hoffe nur, es gibt noch reichlich Eintopf, ich bin so hungrig, dass ich ein Pferd verspeisen könnte.“ Abigail streifte ihr Cape ab und hängte es an einem Haken neben der Tür auf.
Wenn schon vorher alle Blicke auf sie gerichtet gewesen waren, so waren sie jetzt an ihnen festgenagelt, denn Abigails schlichtes graues Kleid hob alle ihre weiblichen Rundungen hervor.
Abigail strich den Rock glatt, während sie dem Pfarrer gewinnend zulächelte. Der dünne Mann schluckte schwer, dabei hüpfte sein Adamsapfel auf und ab, und er wurde erneut knallrot. Mit einem missbilligenden Murmeln steckte er seine Nase wieder in seine Bibel.
Abigail grinste siegessicher, als sie sich hinsetzte, dabei achtete sie genau darauf, dass sie alle Männer direkt ansah, während sie ihnen ein kokettes Lächeln schenkte.
Mary zog ihren Pelzkragen zusammen und hätte Abigail am liebsten einfach einen Schal über den Kopf geworfen. Noch nie hatte sie ein Dienstmädchen gehabt, das sich so in den Vordergrund spielte. Während sie ihren Platz am Ende des Tisches einnahm, wappnete sie sich innerlich gegen die unvermeidlichen Blicke und Bemerkungen.
Dabei bemerkte sie plötzlich, wie der Fremde am Kamin sie amüsiert betrachtete, seine grünen Augen glommen spöttisch. Erneut spürte sie, wie die Röte ihr in die Wangen schoss, deshalb sah sie entschlossen in die andere Richtung.
Mary wünschte sich, sie hätte Abigail ein wenig Sinn für gutes Benehmen beibringen können, aber das Mädchen war derart süchtig nach der Aufmerksamkeit, die sie wegen ihres Aussehens bekam, dass man es ihr streng genommen nicht einmal übel nehmen konnte.
Es wäre Mary durchaus recht gewesen, etwas von Abigail zu haben. Sie selbst hatte zwar ebenfalls üppige Brüste, aber der Rest von ihr war durchaus auch üppig.
Sie war nicht dick, aber sie sah eben sehr gesund aus. Sie hatte weder die langgliedrige, gertenschlanke Figur, die jetzt in Mode war, noch die Sanduhrenform, deren Abigail sich erfreute. Mary war eher … quadratisch, und ihre Formen wurden durch die aktuelle Mode unvorteilhaft betont, deren Kleider winzige Puffärmel hatten und deren Taille direkt unter den Brüsten saß.
Jetzt hör schon auf, dir über solche Albernheiten Gedanken zu machen! Du musst dich auf das Wichtige konzentrieren: deinen Auftrag.
Bei der Erinnerung an ihren Bruder wurde ihr beklommen zumute. In seinem Brief hatte er zwar geschrieben, es gehe ihm gut, aber sie wusste aus Erfahrung, dass seine Briefe häufig geschönt waren, um ihre Eltern nicht in Angst und Schrecken zu versetzen. Erst wenn sie beide allein waren, erzählte er ihr die wahren Geschichten von Gefahren und Täuschungen, Abenteuern und – manchmal – auch Langeweile.
Sie war die Einzige unter ihren Geschwistern, die wusste, wie weit Michaels Briefe zuweilen von der Wahrheit entfernt waren, und jetzt gerade beunruhigte sie das mehr als jemals zuvor.
Es ging ihm nicht gut; das fühlte sie tief in ihrem Herzen.
Wenn sie doch ihr Ziel nur schon erreicht und das Artefakt vom Earl erhalten hätte! Dann könnte sie sich schnellstens mit William treffen, der bereits auf dem Weg von Frankreich nach England war und den sie am Hafen von Whitby in Yorkshire treffen würden. William war nach Frankreich gereist, um einen von Michaels besten Freunden nach England zu holen. Jean‑François Champollion sollte als Vermittler und Berater bei der Übergabe an Michaels Entführer dienen. Niemand kannte Ägypten so gut wie Champollion.
Wenn alles nach Plan verlief, war Michael in spätestens sechs Wochen frei – das war noch immer viel zu lange, um eingesperrt zu sein, aber es war das Äußerste, was sie überhaupt erreichen konnten.
Der Wirt kam zurück und brachte zwei dampfende Suppenschüsseln sowie ein paar dicke Scheiben Brot, die bereits mit Butter bestrichen waren. Trotz der Sorge um ihren Bruder war Mary mit ihrem rumorenden Magen der wunderbare Eintopf mehr als willkommen.
Während sie aß, verloren die Mühen der vergangenen Wochen langsam ihre drückende Schwere. Im Grunde genommen war eine Reise wie diese ein Geschenk. Wäre einer ihrer anderen Brüder zu Hause gewesen, wären William oder Robert auf diese Reise geschickt worden. Glücklicherweise war Mary die Einzige, die zur Verfügung stand. Sie war so versessen darauf gewesen, die Reise zu machen, dass sie die Bedenken ihrer Eltern mit ruhiger Selbstgewissheit beiseite gefegt hatte. Ein Selbstvertrauen, das sie, nachdem sie aufgebrochen war, das eine oder andere Mal verlassen hatte.
Die Reise war viel schwieriger, als sie erwartet hatte. Bereits am dritten Tag war eines der Räder an ihrer Kutsche gebrochen, danach hatte es zwei Tage lang so sehr geregnet, dass sie auf den verschlammten Straßen nur quälend langsam vorangekommen waren. Manchmal dachte sie, dass es schneller gehen müsste, wenn sie ausstieg und zu Fuß weiterging, anstatt in einer Kutsche sitzen zu bleiben, die im Schneckentempo vorwärtskroch.
Als sie gerade durch Aberdeen kamen, fing es an zu schneien, sodass sie die Reise ganz unterbrechen mussten, bis der Schnee nachließ und der Verlauf der Straße zumindest wieder zu erkennen war.
Abigail war ihr bei alldem keine große Hilfe gewesen. Sie hatte einfach nicht aufhören können, über Dinge zu reden, die Mary niemals in den Sinn gekommen wären – sie redete über Lügen, die sie den Männern auftischte, erzählte, wem sie gestattet hatte, sie zu küssen, oder wie sie einmal einem Mann einen Penny gestohlen hatte, der ihr kein angemessenes Geschenk mitgebracht hatte.
Mary zweifelte nicht daran, dass Abigail einen guten Kern hatte, aber es fehlte ihr an Moral. Oh nein, jetzt höre ich mich schon an wie Vater. Das muss sofort aufhören. Ich muss mich darauf konzentrieren, die Probleme zu lösen, die unserer Reise im Wege stehen.
Mary schob ihre leer gegessene Suppenschüssel von sich und nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Entschuldigen Sie bitte.“ Beim lebhaften Klang ihrer Stimme erstarben die leise gemurmelten Unterhaltungen der anderen Gäste.
Sie wartete einen Augenblick, bis sich die Blicke der Anwesenden auf sie gerichtet hatten, ausgenommen der des düsteren Fremden am Kamin.
Sie räusperte sich. „Entschuldigen Sie bitte, Sie, der Herr drüben am Kamin.“
Er drehte sich langsam zu ihr um und sah sie kühl an.
Schon besser. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, aber mein Mädchen und ich brauchen jemanden, der uns zum Schloss hinaufbegleitet.“
Schweigen legte sich über die ganze Gesellschaft, eine schwere, seltsam angespannte Atmosphäre breitete sich aus.
Der Wirt, der gerade damit beschäftigt war, die Mäntel zu bürsten, die an Haken neben der Tür hingen, blinzelte ungläubig. Mit seinem Blick erfasste er irgendetwas hinter Mary, bevor er sie wieder ansah. „Und warum wollen Sie eigentlich unbedingt rauf zum Schloss?“
„Weil ich mit dem Earl sprechen muss.“
„Da würde ich mir nicht so viele Hoffnungen machen. Der Earl hat es nämlich nicht so mit Gästen.“
„Aye“, sagte ein Mann, der am Fenster saß, „er ist ein echter Eigenbrötler.“
Sein Freund fügte hinzu: „Er kommt auch nie nach Aberdeen, niemals. Hab ihn da noch nie gesehen.“
Das klang nicht sehr ermutigend.
Abigail legte ihren Löffel hin und sagte: „Warum das denn? Er ist doch wohl kein Krüppel, oder was?“
Auf diese Bemerkung folgte erneut peinliches Schweigen.
MacEllis räusperte sich nervös, ehe er sagte: „Natürlich ist der Earl kein Krüppel. Er ist …“
„Gezeichnet“, sagte der Mann am Kamin mit seiner tiefen ausdrucksvollen Stimme und fuhr fort: „Vor vielen Jahren wurde er bei einem Brand schwer verletzt. Seitdem zeigt er sich nicht gern neugierigen Blicken.“
Abigail zog die Nase kraus. „Verstümmelt, was? Das ist ja traurig.“
„Das ist vollkommen unerheblich“, warf Mary ungeduldig ein. „Ich muss mit ihm sprechen. Die Sache ist von allergrößter Wichtigkeit. Das Leben meines Bruders hängt davon ab.“
Ein kühles Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes. „Das klingt ja sehr dramatisch.“
Sie sah ihn gelassen an. „Und es ist die Wahrheit.“
„Kennt der Earl diesen Bruder, von dem hier die Rede ist?“
„Das will ich meinen. Mein Bruder ist Michael Hurst.“
Der Wirt fuhr vor Schreck zusammen. „Michael Hurst? Der Abenteurer, der immer in der Morning Post schreibt?“
„Sie scheinen schon von ihm gehört zu haben.“
„Aye“, sagte MacEllis in andächtigem Tonfall. „Der Pfarrer leiht sich die Zeitung von Lord Erroll aus und liest uns Hursts Abenteuer vor, wenn ein neues drinsteht.“
Der Pfarrer strahlte. „Diese Berichte sind sehr gut geschrieben. Hurst ist ein moderner Held.“
Einige der Männer nickten.
Mary lächelte vor Stolz. Nur Michael und sie kannten das Geheimnis seiner Artikel: Sie selbst hatte jeden einzelnen davon geschrieben.
Als Michaels Heldentaten bekannt wurden, waren die Herausgeber der Morning Post bei einem Treffen der Royal Society an ihn herangetreten und hatten ihn darum gebeten, über seine Reisen auf der Suche nach verlorenen Schätzen persönliche Berichte zu schreiben. Da er sich zu diesem Zeitpunkt gerade zwischen zwei Reisen befunden hatte, war Michael auf das Angebot eingegangen, doch dann hatte man ihm nach nur zwei Tagen bereits ein neues Abenteuer vorgeschlagen.
Die Geschichte war nie vollendet worden, doch der zuständige Redakteur war hartnäckig geblieben und hatte die Sache nicht im Sande verlaufen lassen wollen. Wieder und wieder hatte er Briefe geschrieben und nach den versprochenen Reiseberichten gefragt.
Aus einer Laune heraus hatte Mary angeboten, den Artikel zu schreiben, um den Redakteur ruhigzustellen. Michael hatte sie dazu ermutigt, es zu versuchen, und ihr gesagt, sie dürfe die Einnahmen gern behalten, wenn sie ihn im Gegenzug größer machte als die sechs Fuß und einen Zoll, die er in Wirklichkeit maß. Sie hatte die Herausforderung lachend angenommen und ihn nicht nur größer gemacht, sondern die Geschichten mit Hilfe ihrer blühenden Fantasie weit über die Grenzen der Wirklichkeit hinweg ausgeschmückt.
Ihr erster Bericht war ein Riesenerfolg geworden, und die Herausgeber hatten sofort nach neuen Artikeln verlangt. Mit Hilfe eines Schecks über erstaunliche fünf Pfund in der Hand und mit Michaels Unterstützung hatte Mary ihnen geliefert, was sie wollten.
Der Wirt räusperte sich wieder, ihm standen deutliche Zweifel in sein breites Gesicht geschrieben, als er erklärte: „Bei allem Respekt, Miss, Sie können nicht die Schwester von Michael Hurst sein. Er hat keine Schwestern.“
Ihr Lächeln verschwand. „Allerdings hat er die. Drei an der Zahl sogar.“
Einer der Männer am Fenster sagte mit fester Stimme: „Er hat seine Schwestern noch in keinem seiner Berichte erwähnt.“
Sie runzelte vor Ärger die Stirn und sagte mit schneidender Stimme: „Er erwähnt auch seine Mutter und seinen Vater nicht und doch kann ich Ihnen versichern, dass er nicht vom Storch auf der Schwelle abgesetzt worden ist.“
Diese Bemerkung löste einige Heiterkeit aus, aber erst ein flüchtiger, anerkennender Blick des Fremden brachte auch sie zum Lächeln.
„Hurst hat schon einige aufregende Abenteuer erlebt.“ MacEllis rieb sich gedankenverloren das Kinn und sah Mary prüfend an. „Hat er nicht einmal mit bloßen Händen mit einer Python gerungen?“
„Ja.“ Davon wusste ihre Mutter zum Glück noch immer nichts. Michael hatte die Zeitung sofort, nachdem sie angekommen war, versteckt.
Der Pfarrer beugte sich mit strahlendem Gesicht vor. „Falls … Wenn Sie Mr Hurst wiedersehen, dann sagen Sie ihm bitte, dass wir hier in Aberdeen alle genau verfolgen, was er treibt.“
„Ich werde es ihm ausrichten, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.“
Bitte lieber Gott, lass das bald sein. Was würde ich nur tun, wenn er nicht nach Hause käme – nie wieder?
Sie hatte einen Kloß im Hals, als sie ihr Anliegen erneut vortrug. „Meinem Bruder zuliebe muss ich mit Lord Erroll sprechen.“
Der Wirt trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, sein Blick wanderte schnell zwischen ihr und irgendetwas hinter ihr hin und her. „Aber Miss, Sie können doch nicht einfach …“
„Ich bringe Sie hin“, sagte eine tiefe heisere Stimme mit schottischem Akzent.
Mary drehte sich um und sah den Fremden am Kamin an. „Sie?“
Erst als er aufstand, sah sie, wie groß der Mann war. Er überragte jeden anderen im Raum, und selbst ihr Bruder William, der doch immerhin sechs Fuß und drei Zoll maß, hätte sich nicht mit ihm messen können.
Abigail stieß einen hörbaren Seufzer aus und sagte dann in lautem Flüsterton: „Also holla, Miss, das ist mal ein gut aussehender Kerl, was?“
Die Bewunderung, die aus ihren Worten sprach, hätte sich beim besten Willen nicht verstecken lassen, doch Mary musste ihr zustimmen.
Der Fremde sah sie mit seinen funkelnden smaragdfarbenen Augen an. Seine Lippen, die über dem Rand seines Schals gerade noch zu sehen waren, waren fein geschwungen; sein dunkles Haar bildete einen ausdrucksvollen Kontrast zu seiner schimmernden Haut. „Wie es der Zufall will, bin ich auf dem Weg die Klippen hinauf, ich kann Sie direkt bis zum Schloss bringen.“ Fragend zog er eine Augenbraue hoch. „Wenn Sie es möchten.“
Mary rang um Fassung. Es lag etwas in der heiseren dunklen Stimme dieses Mannes, das sie erschauern ließ. Gleichzeitig erschien er ihr aber sehr vertraut. „Was verlangen Sie für Ihre Hilfe?“
„Was würden Sie denn bezahlen?“, antwortete er ohne zu zögern.
Abigail kicherte. „Himmel, aber das ist mir ein Draufgänger.“
Der Mann blickte kurz zu Abigail, aber er schien sich für sie nicht im Mindesten zu interessieren, denn er sah Mary gleich darauf wieder an. „Wir müssen sofort aufbrechen. Ich will nicht zu spät ankommen.“
Mary war erleichtert, dass er für Abigails körperliche Reize nicht empfänglich war; sonst wäre ihr gemeinsamer Weg wesentlich beschwerlicher geworden.
Sie verschränkte die Hände ineinander. Ihr war bewusst, dass sie ein ziemliches Risiko einging, wenn sie diesen Fremden als ihren Geleitschutz auserkor, aber blieb ihr denn etwas anderes übrig? Sie konnte entweder diesen Mann für seine Hilfe bezahlen oder hierbleiben und vielleicht für Tage eingeschneit sein. Und Michael verließ sich auf sie.
Seine grünen Augen verengten sich vor Ungeduld. „Nun? Wollen Sie jetzt nach New Slains oder nicht? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, hier zu stehen und darauf zu warten, dass Sie sich entschieden haben.“
„Ich nehme Ihr Angebot gerne an, Mr Hay, und ich biete Ihnen zwei Schilling für die Fahrt zum Schloss.“
„Gut.“ Er machte sich mit lässiger Eleganz auf den Weg zur Tür.
Mary trat einen Schritt vor. „Aber … wir können noch nicht gleich aufbrechen.“
Er hielt inne und sah sie streng an. „Und warum nicht?“
„Unsere Pferde brauchen noch Ruhe und …“
„Ich lasse Ihr Gepäck in meine Kutsche umladen. Meine Pferde sind ausgeruht und bereit für die Fahrt.“
„Aber ich denke wirklich, wir sollten nicht …“
Die Tür schloss sich hinter ihm.
„Bitte sehr, Miss“, sagte Mr MacEllis mit zufriedener Miene. „Ich packe Ihnen noch ein bisschen Proviant für unterwegs ein. Bis nach oben zum Schloss sind es mindestens drei Stunden, bei dem Wetter vielleicht länger.“
Mary hatte wohl kaum eine andere Wahl. Sie wünschte nur, dass der Fremde in ihr nicht so seltsame Gefühle auslösen würde. Er hatte irgendetwas an sich – wie er sie ansah, die Art, wie er sich bewegte … Er war ein sehr männlicher Mann, direkt und stark, unerschütterlich und ohne Sinn für Albernheiten. Ihre einzige Sicherheit war, dass seine Stimme kultivierter geklungen hatte als die der anderen Männer in dieser Gaststube. Allerdings waren seine Kleider viel zu gewöhnlich, als dass er mit dem Earl auf einer Stufe stehen konnte. Vielleicht war er ein Großgrundbesitzer, der in der Nachbarschaft des Earls lebte? Das war immerhin eine Möglichkeit. Und dennoch …
Sie wandte sich dem Pfarrer zu und beugte sich zu ihm vor, sodass niemand ihr Gespräch mit anhören konnte. „Entschuldigen Sie bitte, Sir.“
Er sah von seiner Lektüre auf und blickte sie misstrauisch an. „Ja, Miss?“
„Ich möchte Sie wirklich nicht belästigen, aber … der Herr, der uns zum Schloss hinaufbringt. Ich – ich kenne ihn überhaupt nicht, und ich hatte gehofft, dass Sie …“ Mary brauchte den Mann nur anzusehen, damit ihr klar wurde, dass ihr Zögern ihn sehr verwirrte. „Sir, würden Sie für ihn bürgen? Sind mein Mädchen und ich bei ihm in Sicherheit?“
Er blickte sie erstaunt an. „Um Gottes willen, selbstverständlich sind Sie bei ihm in Sicherheit! Immerhin ist er …“ Der Pfarrer nickte mit dem Kopf. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Er ist ein guter Mann, allerdings.“
Beruhigt machte Mary einen Knicks. „Das dachte ich mir schon, aber ich wollte sichergehen. Vielen Dank, Sir.“
Sie eilte zur Tür, wo Abigail schon ihr feuchtes Cape ausschüttelte. Mary musste zugeben, dass ihre Unsicherheit in Bezug auf den Fremden wohl vor allem von ihrer eigenen Furcht und ihren Sorgen herrührte und sicher nichts mit dem Charakter des Mannes zu tun hatte.
„Also, Miss, das ist doch gut ausgegangen“, meinte Abigail, während sie sich den Umhang umlegte. „Ich wollte nur, wir könnten uns ein bisschen aufs Ohr legen, bevor wir weiterfahren. Ich bin ganz unerhört müde.“
„Das bin ich auch, aber zumindest sind wir nicht mehr hungrig. Wir sollten dankbar für das sein, was wir haben.“ Wie sagte Michael so schön? Abenteuer sind niemals bequem. Wenn es darauf ankommt, muss man sich einfach festhalten und hoffen, dass man nicht herunterfällt.
„Komm schon, Abigail.“ Mary raffte ihren Mantel zusammen und öffnete die schwere Tür. „Ich will mich vergewissern, dass unsere Koffer auch wirklich umgeladen werden und nicht im Schnee herumstehen, wo sie nass werden.“ Als sie hinaus in den eisigen Schneesturm trat, stach der Wind ihr ins Gesicht.
„Gott, Miss! Was für ein Unwetter!“
Das war es allerdings, aber man musste tun, was man konnte. Halte durch, Michael. Ich lasse dich nicht im Stich. Mit gesenktem Kopf stapfte sie auf eine große Kutsche zu, die auf der anderen Seite des Hofes stand, und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass ihr Gepäck bereits auf der Rückseite festgeschnallt war. Ihr Retter war nirgendwo zu sehen, aber ein kleiner sehniger Kerl in einem schweren schwarzen Wollmantel öffnete die Tür und forderte sie mit einer Handbewegung zum Einsteigen auf.
Mary zögerte nur kurz, als sie das dunkle Innere der Kutsche erblickte, dann kletterte sie mit gesenktem Kopf hinauf und trotzte so dem fürchterlichen Wetter.
Aus einem Brief von Michael an seine Schwester Mary, geschrieben in einer Karawane auf dem Weg in die Wüste Sahara
Ich kann dir gar nicht genug dafür danken, dass du mir die Bücher geschickt hast, die ich neben meinem Bett vergessen habe, als ich am Michaelistag zu Besuch zu Hause war. Was würde nur aus mir werden, wenn du nicht auf mich aufpasst?
Mary, mir ist vollkommen klar, dass du dich gefangen fühlst, allein zu Hause mit Mutter und Vater, die immer älter werden, aber du darfst nicht vergessen, dass die beiden selbst ihr Leben lang auf Reisen waren. Immer wenn sie die Gelegenheit hatten, irgendwohin zu fahren, haben sie sie ergriffen und sie erwarten nicht von dir, dass du es nicht tust. Das Reisefieber ist eine Familienkrankheit, wir leiden alle daran.
Eines Tages, wenn die Suche nach dem geheimnisvollen Hurst-Amulett abgeschlossen ist, nehme ich dich mit auf eine Reise zu den Pyramiden, die so hoch sind, dass dir der Nacken schmerzt, wenn du versuchst, die Spitze zu sehen. Wir fahren an die Ufer von Flüssen, die so tief und so schwarz sind, dass man sie für den Styx, den Fluss der Unterwelt, halten könnte. Und zu fruchtbaren Ebenen mitten in der Wüste, die aussehen, als hätte man sie mit Hilfe von Magie dorthin transportiert.
Eines Tages, Mary, werden wir uns das alles gemeinsam ansehen und noch vieles mehr.