Erstes Kapitel
Alice rühmte sich ihres logischen Denkvermögens und ihrer Intelligenz. Sie war nie auf irgendwelche Heldenlegenden hereingefallen, aber schließlich hatte sie bis vor Kurzem auch noch nie irgendwelcher Hilfe bedurft.
Heute Abend war sie jedoch nur allzu bereit, an Helden zu glauben, und zufälligerweise saß gerade einer am Kopf der Tafel in der Halle von Lingwood Manor.
Der dunkle Ritter, bekannt als Hugh der Unerbittliche, genoss wie ein normaler Sterblicher Lauchsuppe und Schweinswurst, und Alice kam zu dem Schluss, dass selbst eine Heldenlegende essen musste.
Dieser Gedanke machte ihr Mut, und sie ging entschlossen die Turmtreppe hinab. Zu dem bedeutenden Anlass trug sie ihr bestes Gewand aus dunkelgrünem Samt, mit Seidenbändern verziert. Ihr Haar lag unter einem feinen, mit Goldfäden durchwirkten Netz – einem Erbstück ihrer Mutter –, das von einem feinen, goldfarbenen Metallreif gehalten wurde, und ihre Füße steckten in weichen, grünen Lederpantoffeln.
Alice wusste, dass sie für die Begegnung mit der Legende gewappnet war, dennoch bekam sie beim Anblick des Gastes weiche Knie.
Hugh der Unerbittliche mochte essen wie ein gewöhnlicher Mann, aber dort endete die Ähnlichkeit auch schon. Alice wurde von einem halb furchtsamen, halb erregenden Schauder gepackt. Es hieß, Legenden seien gefährlich, und Sir Hugh passte durchaus in dieses Bild.
Die Hände in die Röcke ihres Kleides gekrallt, blieb sie auf der letzten Stufe stehen und sah sich in der Menschenmenge um. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dies alles sei nur ein Traum, und einen beunruhigenden Augenblick lang fragte sie sich, ob sie vielleicht in die Kammer eines Hexenmeisters gestolpert sei.
Trotz der Menschenmenge hatte sich eine bedrohliche Stille über den Raum gesenkt. Die Luft war schwer, erfüllt von bösen Omen und dunklen Warnungen.
Alle, selbst die Dienerschaft, verharrten in Reglosigkeit, und die Harfe des Troubadours schwieg. Sämtliche Hunde kauerten dicht gedrängt unter den langen Tischen und ignorierten die Knochen, die man ihnen hingeworfen hatte. Ritter als auch Waffenträger saßen wie versteinert auf den Bänken, und die Flammen im großen Kamin züngelten vergeblich gegen die Schatten an, die sich in der Halle finster und bedrohlich ausbreiteten.
Es war, als stünde der einst so vertraute Saal unter einem Bann, der ihn fremd und unnatürlich erscheinen ließ. Doch Alice wies sich zurecht, dass sie gar nicht überrascht sein dürfte. Schließlich stand Hugh der Unerbittliche in dem Ruf, weitaus Furcht einflößender zu sein als jeder Magier; in der Tat handelte es sich um den Mann mit dem Schwert, das Bote der Stürme hieß.
Als Alice in Hughs dunkles Gesicht sah, wusste sie drei Dinge mit großer Bestimmtheit.
Erstens: Die gefährlichsten Stürme waren die, die in der Seele dieses Mannes tobten und nicht die, die man seiner Klinge zuschrieb.
Zweitens: Die rauen Winde, die in ihm heulten, wurden von einem unbeugsamen Willen und eiserner Entschlossenheit im Zaum gehalten.
Drittens: Hugh wusste genau, wie er den legendären Ruf zu seinem Vorteil nutzen konnte. Obgleich er nur Gast war, beherrschte er den Saal und alle Anwesenden, als sei er der Herr im Haus.
»Ihr seid Lady Alice?«, fragte Hugh aus der Dunkelheit. Seine Stimme klang, als käme sie aus der Tiefe eines Sees in einer finsteren Höhle.
Die Gerüchte, die sich um ihn rankten, waren nicht übertrieben. Seine rabenschwarzen Ritterkleider wiesen keinerlei Verzierungen auf, nicht die geringste Stickerei. Tunika, Schwertgürtel, Stiefel, alles hatte die Farbe sternloser Mitternacht.
»Ich bin Alice, Mylord.« Sie machte einen tiefen, ehrfürchtigen Knicks, da sie fand, gutes Benehmen schade niemals. Als sie den Kopf hob, bemerkte sie, dass Hugh sie eindringlich musterte. »Ihr habt nach mir geschickt, Sir?«
»Ja, Mylady, das habe ich. Bitte kommt näher, damit wir miteinander sprechen können.« Dies war keine Bitte, sondern ein Befehl. »Wie ich hörte, befindet sich etwas in Eurem Besitz, das mir gehört.«
Dies war der Augenblick, auf den Alice gewartet hatte. Sie erhob sich graziös und schritt zwischen den langen Tischen hindurch, wobei sie trachtete, sich an alles zu erinnern, was sie in den letzten drei Tagen über Hugh erfahren hatte.
Ihre Informationen waren bestenfalls spärlich und basierten auf Gerüchten und Erzählungen. Dieses Wissen jedoch genügte nicht. Sie hätte mehr erfahren müssen, denn allzu viel hing davon ab, wie sie sich diesem geheimnisvollen Mann gegenüber in den nächsten fünf Minuten verhielt.
Aber nun war es zu spät. Sie musste sich mit den wenigen Dingen begnügen, die sie sich aus den Gerüchten im Dorf und auf der Burg ihres Onkels zusammengereimt hatte.
Außer dem leisen Rascheln ihrer Röcke und dem Knistern des Feuers hörte man nichts in dem riesigen Saal; Erregung und Furcht lagen in der Luft.
Alice warf einen kurzen Blick auf ihren Onkel, Sir Ralf, der neben seinem gefährlichen Besucher saß. Ralfs Glatze glänzte vor Schweiß und seine plumpe Gestalt, deren Kürbisform die kürbisfarbene Tunika unvorteilhaft betonte, versank fast gänzlich in den Schatten, die Hugh aussandte. Seine beringten Wurstfinger umklammerten einen Bierkrug, ohne dass er trank.
Alice wusste, dass der sonst so laute, ungehobelte Ralf heute Abend geradezu vor Angst schlotterte, und auch ihre stämmigen Vettern William und Gervase waren gelinde gesagt in Alarmzustand. Sie saßen stocksteif an einem der anderen Tische und starrten Alice an. Sie spürte ihre Verzweiflung und verstand, woher sie kam. Ihnen gegenüber hockten Hughs grimmige, kampferprobte Männer, und die Griffe ihrer Schwerter blitzten im Flammenschein.
Nur Alice konnte Hugh besänftigen. Ob Blut floss oder nicht, lag allein in ihren Händen.
Sie alle wussten, weshalb Hugh der Unerbittliche nach Lingwood Hall gekommen war, doch nur den Bewohnern der Burg war klar, dass er das, was er suchte, hier nicht finden konnte, und seine wahrscheinlich zornige Reaktion auf diese unerfreuliche Nachricht ließ sie vor Sorge erbeben.
Man hatte Alice dazu auserkoren, Hugh die Situation zu erklären. Während der letzten drei Tage, seit die Kunde vom Kommen des grimmigen Ritters ging, hatte sich Ralf allerorts lautstark beschwert, dass die drohende Katastrophe allein Alice anzulasten war.
Er hatte darauf bestanden, dass sie Hugh davon abbringen müsse, an der Burg und ihren Bewohnern Rache zu nehmen. Alice wusste, dass ihr Onkel wütend auf sie war, und sie wusste, dass er sich fürchtete. Zu Recht.
Lingwood Manor verfügte über einen kleinen, bunt zusammengewürfelten Trupp von Rittern und Waffenträgern, aber in ihren Herzen waren diese Männer Bauern und keine Männer des Schwerts. Weder verfügten sie über Erfahrung, noch hatten sie je ernsthaft den Kampf geprobt. Es war kein Geheimnis, dass die Burg einem Angriff des legendären Hugh des Unerbittlichen unmöglich standhielte. Er und seine Männer würden diese Tafelrunde im Handumdrehen in ein blutiges Schlachtfeld verwandeln.
Niemand fand es seltsam, dass Ralf von seiner Nichte erwartete, Hugh zu besänftigen. In der Tat hätte man es als höchst ungewöhnlich empfunden, hätte er es nicht getan. Sämtliche Burgbewohner wussten, dass Alice sich von niemandem so leicht einschüchtern ließ, auch von einer Legende nicht.
Mit ihren dreiundzwanzig Jahren war sie eine Frau ausgeprägten Willens, und sie zögerte nur selten, diesen kundzutun. Alice wusste sehr wohl, dass ihr Onkel ihr Selbstbewusstsein als störend empfand, dass er sie hinter ihrem Rücken als altklug bezeichnete, auch wenn er sie offen umschmeichelte, damit sie ihm eines ihrer diversen Heilmittel für seine schmerzenden Gelenke verabreichte.
Alice hielt sich für resolut und keineswegs einfältig. Sie war sich der Gefahr des Augenblicks durchaus bewusst, gleichzeitig jedoch der goldenen Möglichkeit des Entkommens, die Hughs Ankunft ihr bot. Wenn sie sie nicht nutzte, säßen sie und ihr Bruder ewiglich hier auf Lingwood Manor fest.
Sie blieb am Kopfende des Tisches stehen und sah den Mann an, der bedrohlich auf dem am reichsten verzierten Eichenstuhl der ganzen Halle thronte. Es hatte geheißen, dass Hugh der Unerbittliche nicht gerade einer der schönsten Männer war, aber das Spiel der Flammen und der Schatten auf seinem Gesicht verstärkte das Finstere seiner Züge derart, dass er wirkte wie der Teufel in Menschengestalt.
Sein Haar war dunkler als schwarzer Basalt und umrahmte eine hohe, stolze Stirn. Seine Augen, die einen seltsam goldenen Bernsteinton aufwiesen, blitzten vor unbarmherziger Intelligenz. Es lag auf der Hand, weshalb er der Unerbittliche hieß. Alice erkannte, dass dieser Mann sich durch nichts von seinen Zielen abhalten ließ.
Sie fröstelte, doch ihre Entschlossenheit wankte nicht.
»Es hat mich enttäuscht, dass Ihr uns nicht schon beim Essen mit Eurer Gesellschaft beehrt habt, Lady Alice«, sagte Hugh. »Ich hörte, Ihr hättet die Zubereitung der Speisen überwacht.«
»Das stimmt, Mylord.« Sie bedachte ihn mit ihrem gewinnendsten Lächeln. Eins der Dinge, die sie herausgefunden hatte, war, dass Hugh sorgsam ausgewählte, feingewürzte Gerichte zu schätzen wusste, und sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit der Küche gewidmet. »Ich hoffe, es hat Euch gemundet?«
»Eine interessante Frage.« Hugh dachte einen Augenblick darüber nach, als handele es sich um ein philosophisches oder logisches Problem. »Am Geschmack und an der Vielfalt der Speisen gab es nichts auszusetzen. Ich gestehe, ich habe mir den Magen reichlich gefüllt.«
Alice’ Lächeln wurde dünner. Seine gemessenen Worte und sein offensichtlicher Mangel an Wertschätzung für ihre Mühe ärgerten sie. Sie hatte Stunden mit der Überwachung der Bankettvorbereitungen verbracht.
»Es freut mich zu hören, dass es offenbar nichts zu beanstanden gab, Mylord«, sagte sie und sah aus dem Augenwinkel, dass Sir Ralf bei ihrem gereizten Ton zusammenfuhr.
»Nein, es war alles in Ordnung«, räumte Hugh ein. »Aber ich muss zugeben, dass ich immer über die Möglichkeit einer Vergiftung nachdenke, wenn die Person, die die Zubereitung der Gerichte überwacht, es vorzieht, selbst nichts
zu essen.«
»Eine Vergiftung?« Alice war ehrlich empört.
»Aber allein der Gedanke bringt einem Mahl erst die richtige Würze, findet Ihr nicht?«
Ralf zuckte zusammen, als hätte Hugh sein Schwert gezückt, und die Bediensteten stießen gemeinsam einen Entsetzensschrei aus. Die Waffenträger rutschten unruhig auf ihren Bänken herum, ein paar der Ritter legten die Hände an ihre Schwerter, und Gervase sowie William wurden regelrecht grün im Gesicht.
»Nein, Mylord«, stammelte Ralf. »Ich versichere Euch, dass es absolut keine Veranlassung gibt, meine Nichte der Giftmischerei zu bezichtigen. Ich schwöre Euch bei meiner Ehre, Sir, so etwas würde sie niemals tun.«
»Da ich immer noch hier sitze und es mir nach dem reichhaltigen Mahl nicht schlechter geht als zuvor, neige ich dazu, Euch zuzustimmen«, pflichtete Hugh ihm bei. »Aber Ihr könnt es mir wohl kaum verübeln, dass ich unter den gegebenen Umständen Argwohn hege.«
»Und was für Umstände wären das, Sir?« Alice sah ihn fragend an.
Sie sah, dass Ralf angesichts ihres inzwischen eindeutig unhöflichen Tons verzweifelt die Augen schloss, aber schließlich war der Tenor dieser Unterhaltung nicht ihre Schuld. Hugh der Unerbittliche hatte die Feindseligkeiten eröffnet, nicht sie.
Gift. Als würde sie jemals auch nur im Traum daran denken, so etwas zu tun.
Die Anwendung eines der ungesünderen Rezepte ihrer Mutter hätte sie höchstens als allerletztes Mittel in Erwägung gezogen und das auch nur, wenn sie erfahren hätte, dass Hugh ein dummer, grausamer, brutaler Kerl ohne einen Funken Verstand war. Doch selbst unter derartigen Umständen, dachte sie zornig, hätte sie ihn nicht umgebracht.
Sie hätte höchstens ein harmloses Gebräu zusammengemischt, das ihn und seine Männer zu schläfrig oder schwindlig gemacht hätte, um die Bewohner der Burg kaltblütig niederzumetzeln.
Hugh musterte Alice, und als er ihre Gedanken zu erraten schien, verzog er unmerklich das Gesicht. Das Lächeln, das seinen harten Mund umgab, enthielt jedoch keinerlei Wärme, sondern nur eisiges Amüsement.
»Wollt Ihr mir etwa Vorwürfe machen, dass ich vorsichtig bin, Mylady? Wie man mir sagte, interessiert Ihr Euch für alte Schriften. Und es ist doch wohl allgemein bekannt, dass die Alten sehr geschickt waren im Umgang mit Tränken und Gebräu. Außerdem heißt es, dass Eure Mutter eine wahre Expertin für fremde und ungewöhnliche Kräuter war.«
»Wie könnt Ihr es wagen, Sir?« Alice war tief getroffen. Kein Gedanke mehr an einen vorsichtigen, behutsamen Umgang mit diesem Rüpel. »Ich bin eine Gelehrte, keine Giftmischerin. Ich beschäftige mich mit Fragen der Naturphilosophie, nicht mit trüber Magie. Meine Mutter war in der Tat eine Expertin für Kräuter und eine große Heilerin. Aber niemals hätte sie ihre Fähigkeiten dazu benutzt, einem Menschen zu schaden.«
»Das höre ich freilich gern.«
»Auch ich beabsichtige nicht, Menschen umzubringen«, fuhr Alice eilig fort. »Noch nicht einmal unhöfliche, undankbare Gäste wie Ihr es seid, Mylord.«
Ralf fiel fast der Bierkrug aus der Hand. »Alice, um Gottes willen, schweig.«
Alice ignorierte ihn. Sie wandte sich mit zusammengekniffenen Augen an Hugh. »Seid versichert, dass ich noch nie in meinem Leben einen Menschen getötet habe, Sir. Was Ihr von Euch wohl kaum behaupten könnt.«
Die Atemlosigkeit, die sich über den Raum gesenkt hatte, wurde von diversen Schreckenslauten durchbrochen. Ralf stöhnte und hielt sich die Hände vor das Gesicht, Gervase und William warfen sich bestürzte Blicke zu.
Hugh war der Einzige, der völlig ungerührt zu sein schien. Er sah Alice nachdenklich an: »Ich fürchte, Ihr habt recht, Mylady«, bestätigte er mit ruhiger Stimme. »Das kann ich von mir nicht behaupten.«
Dieses bündige Geständnis wirkte auf Alice, als wäre sie gegen eine Steinmauer geprallt.
Sie blinzelte und suchte nach ihrem Gleichgewicht: »Ja, nun, da könnt Ihr es sehen …«
Hughs Bernsteinaugen blitzten neugierig auf. »Was genau sehe ich, Madame?«
Ralf versuchte heldenhaft, den Teufelskreis zu durchbrechen. Er hob den Kopf, wischte sich mit dem Ärmel seiner Tunika über die Stirn und flehte Hugh an: »Sir, ich bitte Euch, versteht, dass meine törichte Nichte Euch nicht zu nahe treten will.«
Hughs Miene verriet gewisse Zweifel. »Nein?«
»Natürlich nicht«, stotterte Ralf. »Es besteht nicht die geringste Veranlassung, sie irgendwelcher Frevel zu verdächtigen, nur weil sie es vorgezogen hat, nicht mit uns zusammen zu speisen. Genau gesagt, isst Alice nie hier unten in der Halle mit uns.«
»Seltsam«, murmelte Hugh.
Alice wippte auf den Zehenspitzen. »Mit diesem Geplänkel vergeuden wir nur Zeit.«
Hugh sah Ralf fragend an.
»Sie behauptet, dass sie, äh, die Zurückgezogenheit ihrer eigenen Räumlichkeiten bevorzugt«, beeilte sich Ralf zu erklären.
»Und warum das?« Hugh wandte sich wieder Alice zu.
Ralf stöhnte. »Sie sagte, dass der intellektuelle Austausch, wie sie es nennt, hier unten in der Halle für ihren Geschmack zu dürftig ist.«
»Ich verstehe«, sagte Hugh.
Ralf bedachte Alice mit Abscheu im Blick und setzte zu seiner alten, vertrauten Klage an. »Offensichtlich sind die Gespräche ehrlicher, mannhafter Waffenträger nicht erhaben genug, um Myladys Ansprüchen Genüge zu tun.«
Hugh zog die Brauen hoch. »Ach. Lady Alice hat also nicht das Verlangen, von den allmorgendlichen Übungen eines Mannes an der Stechpuppe oder von seinen Erfolgen auf der Jagd zu hören?«
Ralf seufzte. »Nein, Mylord, ich bedaure sagen zu müssen, dass sie für diese Dinge einfach keine Anteilnahme aufbringt. Wenn Ihr mich fragt, so beweist meine Nichte nur, wie töricht
es ist, Frauen zu erziehen. Es macht sie allzu dickschädelig, bringt sie dazu, sich einzubilden, sie wären eigenständige Persönlichkeiten. Und was am schlimmsten ist, es macht sie undankbar und respektlos gegenüber den armen, unseligen Männern, denen sie anvertraut sind, und deren trauriges Los es ist, sie ernähren und kleiden zu müssen.«
Aufgebracht bedachte Alice Ralf mit einem vernichtenden Blick. »Das ist völliger Unsinn, Onkel. Ihr wisst genau, wie dankbar ich Euch bin für den Schutz, den Ihr mir und meinem Bruder gewährt. Wo wären wir ohne Euch?«
Ralf errötete. »Also bitte, Alice, komm jetzt zum Ende.«
»Ich will Euch sagen, wo Benedict und ich ohne Euren großzügigen Schutz wären. Wir säßen auf unserer eigenen Burg und äßen an unserem eigenen Tisch.«
»Beim Blute der Heiligen, Alice. Bist du vollkommen übergeschnappt?« Ralf starrte sie entgeistert an. »Dies ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um über diese Angelegenheit zu sprechen.«
»Nun gut.« Sie setzte ein grimmiges Lächeln auf. »Wechseln wir das Thema. Wäre es Euch lieber, wenn wir darüber sprächen, wie es Euch gelungen ist, den kläglichen Rest meines Erbes durchzubringen, nachdem Ihr die Burg meines Vaters an Euren Sohn gegeben hattet?«
»Verdammt, Weib, du bist nicht gerade billig im Unterhalt.« Ralfs Furcht vor Hugh wich kurzfristig dem endlosen Verdruss, den er Alice gegenüber empfand. »Das letzte Buch, das ich auf dein Drängen hin kaufen musste, hat mehr gekostet als ein guter Jagdhund.«
»Schließlich ist es auch eine sehr wichtige Schrift des Bischof Marbode von Rennes über Mineralien«, gab Alice zurück. »Sie beschreibt sämtliche Eigenschaften von Edel- und anderen Steinen, und der Preis dafür war gewiss nicht zu hoch.«
»Ach, nein?«, schnauzte Ralf. »Nun, ich versichere dir, dass ich für das Geld durchaus bessere Verwendung hätte finden können.«
»Genug.« Hugh griff mit einer großen, wohlgeformten Hand nach seinem Weinkelch. Es war eine kaum wahrnehmbare Bewegung, aber da sie die vollkommene Reglosigkeit durchbrach, in der er bisher verharrt hatte, trat Alice unwillkürlich einen Schritt zurück, und Ralf schluckte eilig weitere Anschuldigungen herunter, die er hatte vorbringen wollen.
Alice errötete, verärgert und peinlich berührt von dem törichten Streitgespräch. Als gäbe es nichts Wichtigeres, dachte sie. Ihre leidenschaftliche Natur war wirklich ein Fluch.
Nicht ohne einen gewissen Neid fragte sie sich, wie es Hugh gelang, sich derart zu beherrschen. Ohne jeden Zweifel hatte er sein Temperament in eisernem Griff, eine der Eigenschaften, die ihn so gefährlich machten.
In Hughs Augen spiegelten sich die Flammen des Kamins. »Das, was offenbar ein alter Familienzwist ist, interessiert mich nicht. Ich habe weder die Zeit noch die Geduld, um diesen Streit zu schlichten. Wisst Ihr, weshalb ich gekommen bin, Lady Alice?«
»Ja, Mylord.« Alice erkannte die Sinnlosigkeit, um den heißen Brei herumzureden. »Ihr sucht den grünen Stein.«
»Ich bin diesem elenden Kristall seit über einer Woche auf der Spur, Mylady. In Clydemere erfuhr ich, dass er von einem jungen Ritter von Lingwood Hall gekauft worden ist.«
»Das stimmt, Mylord«, bestätigte Alice. Sie wollte die Sache ebenso schnell hinter sich bringen wie er.
»Für Euch?«
»Auch das stimmt. Mein Vetter Gervase entdeckte ihn auf dem Sommermarkt in Clydemere.« Alice sah, dass Gervase sich unruhig wand. »Er wusste, dass mich der Stein interessieren würde, und erwarb ihn freundlicherweise für mich.«
»Hat er Euch auch erzählt, dass der Hausierer, der ihn verkauft hat, später mit durchgeschnittener Kehle gefunden wurde?«, fragte Hugh im Plauderton.
Alice’ Kehle wurde trocken. »Nein, das hat er nicht, Mylord. Offensichtlich wusste Gervase von dieser Tragödie nichts.«
»So scheint es.« Hugh betrachtete Gervase aufmerksam.
Gervase öffnete den Mund und klappte ihn zweimal wieder zu, ehe er seine Stimme fand. »Ich schwöre Euch, ich wusste nicht, dass der Kristall gefährlich war, Sir. Er war nicht teuer, und ich dachte, er würde Alice amüsieren. Sie interessiert sich sehr für ungewöhnliche Steine und dergleichen.«
»Der grüne Kristall hat nichts sonderlich Amüsantes an sich.« Hugh lehnte sich gerade weit genug nach vorn, um das Muster von Licht und Schatten in seinem harten Gesicht so zu verändern, dass es noch dämonischer aussah. »Denn je länger ich ihn suche, desto weniger gefällt er mir.«
Alice runzelte die Stirn, als ihr ein Gedanke kam: »Seid Ihr ganz sicher, dass der Tod des Hausierers mit dem Kristall zusammenhängt, Mylord?«
Hugh sah sie an, als hätte sie ihn gefragt, ob morgen die Sonne wieder aufginge. »Bezweifelt Ihr etwa mein Wort?«
»Nein, natürlich nicht.« Alice unterdrückte ein leises Aufbegehren. Männer waren einfach lächerlich empfindlich, was die Wertschätzung ihres logischen Denkvermögens betraf. »Es ist nur so, dass ich keine Verbindung zwischen dem grünen Stein und dem Mord an dem Hausierer sehe.«
»Ach, nein?«
»Nein. Soweit ich weiß, ist der grüne Stein weder besonders hübsch noch besonders wertvoll. In der Tat ist er für einen Kristall sogar recht unscheinbar.«
»Ich weiß Eure Meinung als Expertin natürlich zu schätzen.«
Alice ignorierte den Sarkasmus seiner Worte, ihre Gedanken kreisten um die Logik dieses rätselhaften Problems. »Ich gebe zu, dass ein bösartiger Räuber töten könnte, wenn er fälschlicherweise annähme, dass der Stein wertvoll ist. Aber offen gestanden war er recht preiswert, sonst hätte Gervase ihn niemals gekauft. Warum sollte zudem jemand den armen Hausierer töten, nachdem er den Kristall bereits verkauft hatte? Das ergibt einfach keinen Sinn.«
»Ein Mord ist in einer solchen Situation durchaus logisch, falls jemand versucht, eine Spur zu verwischen«, stellte Hugh mit viel zu sanfter Stimme fest. »Ich kann Euch versichern, dass Männer schon aus weit unwichtigeren Gründen getötet worden sind.«
»Schon möglich.« Alice stützte einen Ellbogen in die Hand und trommelte mit den Fingerspitzen an ihr Kinn. »Bei den Augen der Heiligen, Männer scheinen erpicht darauf zu sein, eine Menge unnötiger Gewalttaten zu verüben.«
»Das kommt vor«, gab Hugh zu.
»Trotzdem, solange Ihr keinen objektiven Beweis dafür habt, dass es zwischen dem Mord an dem Hausierer und dem grünen Kristall eine klare Verbindung gibt, verstehe ich nicht, weshalb Ihr Euch an eine solche Verbindung klammert, Sir.« Sie nickte, zufrieden mit ihrer durchaus vernünftigen Schlussfolgerung. »Vielleicht wurde der Hausierer ja aus einem ganz anderen Grund umgebracht.«
Hugh sagte nichts. Er betrachtete sie mit eisiger Neugierde, als wäre sie irgendein seltsames, bisher unbekanntes Geschöpf, das aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht war. Zum ersten Mal wirkte er leicht im Zweifel, als wisse er nicht genau, was er von ihr halten sollte.
Ralf stöhnte auf: »Alice, um Himmels willen, bitte streite nicht mit Sir Hugh. Dies ist nicht der rechte Augenblick, um deine rhetorischen Fähigkeiten zu erproben.«
Alice nahm sichtlich Anstoß an dieser ungerechten Anschuldigung. »Ich streite nicht, Onkel. Ich versuche lediglich, Sir Hugh darauf aufmerksam zu machen, dass man ohne eindeutige Beweise unmöglich auf etwas so Ernstes wie ein Mordmotiv schließen kann.«
»Ihr müsst mir einfach glauben, Lady Alice«, sagte Hugh. »Der Hausierer starb wegen dieses verdammten Kristalls. Ich glaube, wir sind uns darin einig, dass es das Beste wäre, wenn nicht noch ein Mensch deswegen stürbe, nicht wahr?«
»Allerdings, Mylord. Ich bin sicher, Ihr seid nicht der Meinung, dass ich mit Euch streiten will, ich stelle lediglich …«
»… offenbar alles infrage«, beendete er ihren Satz.
Sie runzelte die Stirn. »Mylord?«
»Ihr scheint nichts ohne Widerspruch hinzunehmen, Lady Alice. Bei anderer Gelegenheit fände ich diese Angewohnheit vielleicht unterhaltsam, aber heute Abend bin ich nicht in der Stimmung für derartige Spiele. Ich bin aus einem einzigen Grund hier: wegen des grünen Kristalls.«
Alice richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf. »Ich möchte Euch keineswegs zu nahe treten, Mylord, aber es steht fest, dass mein Vetter diesen Stein für mich erworben hat. Also gehört er jetzt mir.«
»Alice, bitte«, jammerte Ralf.
»Um Gottes willen, Alice, musst du unbedingt mit ihm streiten?«, zischte Gervase.
»Wir sind verloren«, murmelte William.
Hugh ignorierte sie alle und starrte Alice an. »Der grüne Kristall ist der letzte der Steine von Scarcliffe, Mylady. Und da ich der neue Herr von Scarcliffe bin, gehört der Kristall mir.«
Alice räusperte sich und wog ihre Worte sorgsam ab. »Mir ist klar, dass Euch der Stein früher einmal gehört haben mag, Mylord. Aber ich denke bestreiten zu können, dass er immer noch Euer Eigentum ist.«
»Ach, ja? Kennt Ihr Euch etwa nicht nur in Dingen der Naturphilosophie, sondern auch mit den Gesetzen aus?«
Sie funkelte ihn wütend an: »Der Stein wurde von Gervase rechtmäßig gekauft und dann erhielt ich ihn als Geschenk. Ich verstehe nicht, wie Ihr ihn so ohne Weiteres von mir fordern zu können glaubt.«
Durch das unnatürliche Schweigen, das sich über die Halle gesenkt hatte, drang ein allgemeines Ringen nach Luft. Irgendwo krachte ein Blechkrug zu Boden und das harte Scheppern von Metall auf Stein hallte wider. Ein Hund winselte.
Ralf atmete rasselnd ein und starrte Alice mit hervorquellenden Augen an. »Alice, was hast du vor?«
»Ich verteidige lediglich meinen Besitzanspruch an dem grünen Kristall.« Dann wandte sie sich abermals Hugh zu: »Ich habe gehört, Hugh der Unerbittliche sei ein harter, doch gerechter und ehrenhafter Mann. Stimmt das, Mylord?«
»Hugh der Unerbittliche«, schnarrte der Angesprochene, »ist ein Mann, der sein Eigentum zu behaupten versteht. Und ich versichere Euch, Mylady, dass ich der Überzeugung bin, der Stein gehört mir.«
»Sir, ich brauche den Stein unbedingt für meine Forschungen. Ich untersuche augenblicklich verschiedene Mineralien auf ihre Eigenschaften hin, und der grüne Kristall ist höchst interessant.«
»Ich hörte Euch sagen, er sähe eher unbedeutend aus.«
»Ja, Mylord. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Dinge, denen es auf den ersten Blick an Charme und Schönheit fehlt, häufig eine vielversprechende Herausforderung in sich bergen.«
»Wendet Ihr diese Theorie auch auf Menschen an?«
Sie wahr ehrlich verwirrt. »Mylord?«
»Nur wenige bezeichnen mich als charmant oder schön, Madam. Und jetzt frage ich mich, ob Ihr mich vielleicht vielversprechend findet.«
»Oh.«
»Ich meine im intellektuellen Sinn.«
Alice fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Tja, nun, was das anbelangt, Mylord, so kann man Euch sicher als vielversprechend bezeichnen. Ganz sicher«, sagte sie und dachte, faszinierend wäre ein noch passenderes Wort.
»Ich fühle mich geschmeichelt. Und es wird Euch sicher auch interessieren zu erfahren, dass ich meinen Namen keinem Zufall verdanke. Man nennt mich den Unerbittlichen, weil ich die Angewohnheit habe, niemals eher zu ruhen, bis ich das Ziel meiner Wünsche erreicht habe.«
»Das bezweifle ich keineswegs, Sir, aber ich kann einfach nicht zulassen, dass Ihr mir meinen grünen Stein wegnehmt.« Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf: »Ich könnte ihn Euch allerdings hin und wieder leihen.«
»Geht und holt den Stein«, sagte Hugh in schrecklich ruhigem Ton. »Sofort.«
»Mylord, Ihr versteht nicht …«
»Nein, Mylady, Ihr seid diejenige, die nicht versteht. Ich habe genug von diesem Geplänkel, das Euch anscheinend Freude macht. Bringt mir auf der Stelle den Stein oder Ihr werdet es bereuen.«
»Alice«, kreischte Ralf. »Tu doch etwas.«
»Ja«, sagte Hugh. »Tut etwas, Lady Alice. Bringt mir auf der Stelle den grünen Stein.«
Alice holte tief Luft, um die schlechte Nachricht vorzubringen. »Ich fürchte, das kann ich nicht, Mylord.«
»Ihr könnt oder Ihr wollt nicht?«, fragte Hugh sanft.
Alice zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht. Wisst Ihr, ich bin in derselben Situation wie Ihr.«
»Wovon in aller Welt sprecht Ihr?« Der Unerbittliche reckte sich vor.
»Der grüne Kristall wurde mir vor ein paar Tagen geraubt, Mylord.«
»Bei Gott«, flüsterte Hugh. »Falls Ihr die Absicht habt, mich mit Eurem Gewirr aus Lügen und Täuschungen zur Weißglut zu treiben, dann seid Ihr auf dem besten Weg dazu. Aber ich warne Euch, mein Gegenzug wird Euch kaum gefallen.«
»Nein, Mylord«, beeilte sich Alice, »ich sage die reine Wahrheit. Der Stein verschwand vor weniger als einer Woche aus meinem Arbeitsraum.«
Hugh bedachte Ralf mit einem kalten, fragenden Blick, und sein Gastgeber nickte stumm. Dann wandte er sich wieder an Alice und nahm sie ins Visier.
»Wenn das stimmt, was Ihr sagt, warum wurde mir das nicht sofort bei meiner Ankunft mitgeteilt?«
Alice räusperte sich. »Da der Stein mir gehört, war mein Onkel der Meinung, dass allein ich die Aufgabe hätte, Euch über seinen Verlust aufzuklären.«
»Um mir gleichzeitig zu verdeutlichen, dass ich keinen Anspruch darauf habe?« Hughs Lächeln wies starke Ähnlichkeit mit der fein geschwungenen Klinge eines Schwertes auf.
Es wäre zwecklos gewesen, das Offensichtliche zu leugnen. »Ja, Mylord.«
»Ich wette, dass es Eure Entscheidung war, mir erst nach einem reichhaltigen Mahl vom Verlust des Steins zu berichten«, murmelte Hugh.
»Ja, Mylord. Meine Mutter hat mir beigebracht, Männer seien nach einer guten Mahlzeit zugänglicher. Nun, es freut mich, Euch sagen zu können, dass ich bereits einen Plan habe, wie ich den Stein zurückbekomme.«
Hugh schien sie nicht gehört zu haben. So vertieft war er in seine Gedanken. »Ich glaube nicht, dass ich jemals einer Frau wie Euch begegnet bin, Lady Alice.«
Die unerwartete Freude, die sie bei diesen Worten empfand, lenkte sie kurzfristig ab. »Findet Ihr mich interessant, Mylord?« Sie wagte kaum, den Nachsatz zu bringen. »Im intellektuellen Sinn?«
»Oh ja, Madam. Höchst interessant.«
Alice errötete. Nie zuvor hatte ihr ein Mann ein derartiges Kompliment gemacht. Nie zuvor hatte ihr ein Mann überhaupt ein Kompliment gemacht. Sie spürte eine angenehme Erregung. Die Tatsache, dass Hugh sie ebenso interessant fand wie sie ihn, war nahezu überwältigend. Sie musste sich zwingen, das ungewohnte Gefühl zu ignorieren und sich wieder den praktischen Dingen zuzuwenden.
»Danke, Mylord«, sagte sie so gefasst wie möglich. »Nun, wie ich bereits sagte, schmiedete ich, als ich von Eurem bevorstehenden Besuch erfuhr, einen Plan, mit dem wir den Kristall vielleicht zurückbekommen können.«
Ralf starrte sie an. »Alice, wovon redest du da?«
»Ich werde Euch gleich alles erklären, Onkel.« Sie sah Hugh freudestrahlend an. »Ich bin sicher, dass Ihr die Einzelheiten hören wollt, Mylord.«
»Es haben schon in der Vergangenheit Menschen versucht, mich zu hintergehen«, entgegnete Hugh.
Alice runzelte die Stirn. »Euch zu hintergehen, Mylord? Das hat hier niemand versucht.«
»Die Menschen, die es versucht haben, sind tot.«
»Sir, ich glaube, wir sollten uns wieder dem eigentlichen Problem zuwenden«, kam Alice auf ihr Anliegen zurück. »Nun, da wir beide ein Interesse an dem grünen Stein haben, ist es ratsam, unsere Kräfte zu vereinen.«
»Ich bedaure es sagen zu müssen, aber unter denen, die versucht haben, mich zu täuschen, waren auch ein, zwei Frauen.« Hugh sah sie an. »Doch vermutlich möchten Sie gar nicht erfahren, was mit ihnen geschah.«
»Mylord, wir reden eindeutig aneinander vorbei.«
Hugh strich über den Stiel seines Weinkelches. »Wenn ich an die wenigen Frauen zurückdenke, die ihre Spielchen mit mir treiben wollten, kann ich einige Unterschiede zu Euch entdecken.«
»Natürlich können Sie das.« Erneut wallte Ärger in Alice auf. »Ich treibe kein Spiel mit Euch, Sir, ganz im Gegenteil. Es wäre zu unser beider Vorteil, wenn wir meinen Verstand und Eure ritterlichen Fähigkeiten verbänden, um den Stein zu finden.«
»Das dürfte schwierig werden, Lady Alice, denn bisher habe ich noch nicht den kleinsten Hinweis darauf erhalten, ob Ihr über so etwas wie Verstand verfügt.« Hugh drehte den Kelch gedankenverloren zwischen seinen Fingern. »Zumindest keinen, den Ihr nicht durch Eure eigenartigen Gedankengänge wieder aufhebt.«
Alice war außer sich. »Mylord, das ist eine Beleidigung.«
»Alice, du bringst uns noch alle ins Grab«, flüsterte Ralf am Rande der Verzweiflung, doch Hugh sah weiterhin nur Alice an.
»Das ist keine Beleidigung, Mylady, sondern lediglich eine Feststellung von Tatsachen. Euer Verstand muss mit Euch durchgegangen sein, wenn Ihr glaubt, dass ich auf diese Weise mit mir umgehen lasse. Eine wirklich kluge Frau hätte längst bemerkt, dass sie sich auf dünnem Eis bewegt.«
»Mylord, allmählich habe ich genug von diesem Unsinn«, fuhr Alice ihn an.
»Ich auch.«
»Wollt Ihr nun vernünftig sein und Euch meinen Plan anhören oder nicht?«
»Wo ist der grüne Stein?«
Alice war am Ende ihrer Geduld. »Wie gesagt, er wurde geraubt. Ich glaube, ich weiß, wer ihn gestohlen hat, und ich bin bereit, die Suche gemeinsam mit euch durchzuführen. Aber ich erwarte eine Gegenleistung von Euch.«
»Eine Gegenleistung?« Hugh musterte sie mit einem unergründlichen Blick. »Das ist doch sicher ein Scherz, Mylady?«
»Oh nein, es ist mein voller Ernst.«
»Ich glaube nicht, dass Ihr mit mir ein Abkommen treffen wollt.«
Alice sah ihn argwöhnisch an. »Warum denn nicht? Welches wären Eure Bedingungen?«
»Ich würde nichts für Euch tun, ohne dass Ihr mir dafür Eure Seele gebt.«
Zweites Kapitel
»Ihr guckt wie ein Alchimist vor seinem Schmelztiegel, Mylord.« Dunstan spuckte gewohnheitsmäßig über den Rand des nächstgelegenen Hindernisses, was in diesem Fall die alte Mauer war, die den Burghof von Lingwood Manor umgab. »Das gefällt mir nicht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dieser Blick meinen alten Knochen nichts Gutes verheißt.«
»Eure Knochen haben schon Schlimmeres überstanden als ein, zwei missbilligende Blicke.« Hugh legte die Unterarme auf die Mauer und schaute in die Morgendämmerung hinaus.
Von innerer Unruhe getrieben, war er vor einer halben Stunde aufgestanden. Er kannte diese Stimmung. Die Stürme, die tief in seinem Inneren lauerten, erwachten. Sie drehten und wendeten sich in ganz neuen Mustern. So war es immer, wenn sein Leben eine Wendung nahm.
Das erste Mal hatte Hugh dieses Gefühl im Alter von acht Jahren verspürt, an dem Tag, an dem er an das Totenbett seines Großvaters gerufen und ihm erklärt worden war, dass er von nun an in der Obhut von Erasmus von Thornewood leben würde.
»Sir Erasmus ist mein Lehnsherr.« Thomas’ helle Augen hatten in seinem hageren, ausgemergelten Gesicht geglüht. »Er hat sich bereit erklärt, dich aufzunehmen, und will dafür sorgen, dass du eine Ausbildung als Ritter erhältst. Verstehst du mich?«
»Ja, Großvater.« Hugh hatte ergeben und ängstlich neben dem Bett seines Großvaters gestanden, in stummem Entsetzen, unfähig zu glauben, dass dieser schwache alte Mann, der den Tod erwartete, derselbe Mensch war wie der leidenschaftliche, verbitterte Recke, der ihn seit dem Tod seiner Eltern erzogen hatte.
»Erasmus ist jung, aber stark, ein guter, talentierter Krieger. Er ging vor zwei Jahren auf Kreuzzug, und nun ist er ruhmreich und wohlhabend zurückgekehrt.« Thomas’ Worte waren von heiserem Husten unterbrochen worden. »Er wird dir die Dinge beibringen, die du wissen musst, um den Rachefeldzug gegen das Haus von Rivenhall zu vollenden. Verstehst du mich, Junge?«
»Ja, Großvater.«
»Lerne eifrig. Lerne soviel du kannst, solange du in Erasmus’ Obhut weilst. Wenn du ein Mann bist, wirst du wissen, was zu tun ist und wie du es tun musst. Vergiss nichts von dem, was ich dir von der Vergangenheit erzählt habe.«
»Nein, Großvater.«
»Was auch immer geschieht, du hast deine Pflicht gegenüber deiner Mutter zu erfüllen. Du bist der einzige Überlebende, Junge, der letzte deiner Linie, auch wenn du ein Bastard bist.«
»Ich verstehe.«
»Du darfst nicht eher ruhen, als bis du einen Weg gefunden hast, um dich an dem Haus zu rächen, aus dem die Viper kam, die meine unschuldige Margaret verführt hat.«
Dem jungen Hugh war es nicht ganz richtig erschienen, sich am Hause seines Vaters zu rächen, trotz all des Unwesens, das der rivenhallsche Clan trieb. Schließlich war sein Vater ebenso tot wie seine Mutter. Das genügte doch sicher.
Aber Hughs Großvater hatte es nicht genügt. Nichts hatte Sir Thomas zufrieden zu stellen vermocht, und der achtjährige Hugh schob seine momentanen Zweifel pflichtbewusst beiseite. Es war eine Frage der Ehre, und etwas Wichtigeres als die Ehre gab es nicht. Seit seiner Geburt hatte man ihm die Bedeutung dieses Wortes eingehämmert. Die Ehre war das Einzige, was ein Bastard besaß, das hatte Sir Thomas ihm wieder und wieder deutlich gemacht.
»Ich werde nicht ruhen, bevor ich den Namen meiner Mutter reingewaschen habe«, versprach Hugh mit dem leidenschaftlichen Ernst eines Achtjährigen.
»Recht so. Und vergiss niemals, Ehre und Rache sind das Einzige, was zählt.«
Es hatte Hugh nicht überrascht, dass sein Großvater ohne ein Wort der Liebe oder des Segens für sein einziges Enkelkind gestorben war. Wärme und Zuneigung hatte Thomas nie zu zeigen vermocht. Der grüblerische Zorn, den die unziemliche Verführung, der Verrat und der Tod seiner geliebten Tochter in ihm geweckt hatte, hatte alle Gefühle des alten Mannes vergiftet.
Nicht dass Thomas für seinen Enkelsohn nichts empfunden hätte. Hugh hatte immer gewusst, dass er seinem Großvater sehr wichtig war, aber nur, weil er Thomas’ einziges Werkzeug zur Rache war.
Das Letzte, was über die ausgetrockneten Lippen des alten Mannes gedrungen war, sollte seiner geliebten Tochter gelten: »Meine schöne Margaret. Dein unehelicher Sohn wird dich rächen.«
Zum Glück für den kleinen Jungen hatte Erasmus von Thornewood vieles wettgemacht, was Thomas Hugh nicht hatte geben können. Erasmus war ein scharfsichtiger, intelligenter, junger Mann gewesen, der Hugh mit brummiger Freundlichkeit empfangen hatte und sofort in die Rolle des Vaters hineingewachsen war. Hugh hatte seinem Mentor in jungen Jahren den größten Respekt und höchste Bewunderung gezollt, und nun, als erwachsener Mann, diente er seinem Lehnsherrn in vollkommener und unerschütterlicher Loyalität. Eine solche Ergebenheit war selten und hochgeschätzt in der Welt, der Erasmus angehörte.
Dunstan schlang die Ränder seines grauen Wollumhangs enger um seine untersetzte, stämmige Gestalt und sah Hugh verstohlen an. Hugh wusste, was er dachte. Dunstan missfiel die Jagd auf den grünen Kristall. Er betrachtete sie als reine Zeitvergeudung.
Hugh hatte versucht, ihm zu erklären, dass nicht der Kristall selbst wertvoll war, sondern das, wofür er stand. Der Besitz des Steins war der sicherste Weg zur Festigung seines Anspruchs auf Scarcliffe. Aber Dunstan hatte für derlei Überlegungen keinen Sinn. Seiner Meinung nach waren guter Stahl und ein Trupp wackerer Waffenträger der Schlüssel zum Erfolg.
Fünfzehn Jahre älter als Hugh, ein kampferprobter Veteran, hatte er an demselben Kreuzzug wie Erasmus teilgenommen. Seine harten, wettergegerbten Züge waren ein deutlicher Spiegel jener Zeit. Anders als Erasmus hatte Dunstan im Gegenzug für seine Mühen weder Ruhm noch Gold eingeheimst.
Dunstans Fähigkeiten als Krieger dienten Erasmus in vieler Hinsicht, aber alle wussten, dass es Hughs unheimliche Fähigkeit zur Entwicklung von Kriegslisten war, die Erasmus zu einem der mächtigsten Männer machte.
Vor Kurzem hatte er dafür seinen treuen Diener mit Scarcliffe belohnt, einer Burg, die einst der Familie von Hughs Mutter gehört hatte.
»Ich möchte Euch wirklich nicht zu nahe treten, Hugh, aber Eure missbilligenden Blicke unterscheiden sich von dem Stirnrunzeln anderer Männer.« Dunstan grinste, wobei die Lücken zwischen seinen fleckigen Zähnen sichtbar wurden. »Wenn Ihr eine finstere Miene aufsetzt, dann ist das wie ein Todesurteil. Selbst ich fürchte mich von Zeit zu Zeit davor. Vielleicht erweist Ihr Eurem Ruhm als dunkler und gefährlicher Ritter ein allzu viel Ehre.«
»Da irrt Ihr.« Hugh lächelte schwach. »Offensichtlich gelte ich noch nicht als gefährlich genug, wenn man Lady Alice’ gestrigen Umgang mit mir bedenkt.«
»Allerdings.« Dunstan sah aufrichtig niedergeschlagen aus. »Sie hat sich keineswegs vor Euch gefürchtet, wie man es erwartet hätte. Vielleicht sieht sie nicht gut.«
»Sie war viel zu beschäftigt damit, mit mir zu verhandeln, um zu merken, dass mir allmählich die Geduld ausging.«
Dunstan verzog das Gesicht. »Diese Frau würde sich wahrscheinlich noch nicht einmal vom Teufel persönlich einschüchtern lassen.«
»Eine höchst ungewöhnliche Person.«
»Ich habe die Erfahrung gemacht, dass rothaarige Frauen unweigerlich Ärger mit sich bringen. Ich habe einmal eine rothaarige Hure in einer Londoner Taverne kennengelernt. Sie hat mir so viel Bier vorgesetzt, dass ich schließlich auf ihrem Bett eingeschlafen bin. Als ich wieder aufwachte, waren sowohl sie als auch mein Geldbeutel verschwunden.«
»Ich werde mich bemühen, mein Geld nicht aus den Augen zu verlieren.«
»Das solltet Ihr auch.«
Hugh lächelte stumm. Die meisten Edelmänner kümmerten sich kaum um den Inhalt ihrer Börsen. Sie gaben ihr Geld mit beiden Händen aus und verließen sich auf die üblichen Einnahmequellen wie Lösegeld, Turniere oder - falls sie zu den Glücklichen gehörten, die über eigene Ländereien verfügten – schlecht geführte Güter. Hugh jedoch hatte einen untrüglichen Instinkt für Geschäfte. Am liebsten verließ er sich auf sichere und geregelte Einkünfte und hielt sein Geld samt Besitz sorgsam zusammen.
Dunstan schüttelte traurig den Kopf. »Schade, dass die Spur des grünen Kristalls zu einem Weib wie dieser Lady geführt hat. Es wird nichts Gutes dabei herauskommen.«
»Ich gebe zu, dass die Sache einfacher gewesen wäre, wenn sie sich schneller einschüchtern ließe, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob die augenblickliche Situation unbedingt von Nachteil ist«, meinte Hugh. »Ich habe fast die ganze Nacht darüber nachgedacht und sehe Möglichkeiten für uns, Dunstan. Interessante Möglichkeiten.«
»Dann sind wir wohl verloren«, stellte Dunstan philosophisch fest. »Wenn Ihr zu viel über ein Problem nachdenkt, geraten wir häufig in Schwierigkeiten.«
»Ihr habt sicher bemerkt, dass sie grüne Augen hat.«
»Ach, ja?« Dunstan runzelte die Stirn. »Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich auf ihre Augenfarbe geachtet hätte. Das rote Haar hat mir schon gereicht.«
»Ein ganz besonderes Grün.«
»Ihr meint, wie die Augen einer Katze?«
»Oder wie die einer Fee, einer Elfenprinzessin.«
»Es wird schlimmer und schlimmer. Elfen praktizieren eine sehr zweifelhafte Magie.« Dunstan verzog das Gesicht. »Ich beneide Euch nicht darum, es mit einer flammenhaarigen, grünäugigen kleinen Xanthippe zu tun zu haben.«
»Zufälligerweise habe ich entdeckt, dass ich rotes Haar und grüne Augen mag.«
»Bah. Ihr habt immer eine Vorliebe für Frauen mit dunklem Haar und dunklen Augen gehabt. Meiner Meinung nach ist Lady Alice noch nicht einmal besonders schön. Ihr seid fasziniert von ihrer ungewöhnlichen Kühnheit, völlig klar. Der Mut, den sie bewies, als sie Euch herausforderte, hat Euch amüsiert.«
Hugh zuckte die Schultern.
»Das ist der Reiz des Neuen, mehr nicht, Mylord«, versicherte Dunstan seinem Herrn, »und geht vorüber, genau wie der Kopfschmerz, nachdem man zu viel Wein getrunken hat.«
»Sie weiß, wie man einen Haushalt führt«, fuhr Hugh nachdenklich fort. »Das Bankett, das sie gestern vorbereitet hat, hätte der Frau eines großen Barons zur Ehre gereicht, es hätte auf jeder edlen Burg aufgetragen werden können. Ich brauche jemanden mit solchen Fähigkeiten, der meinen Haushalt führt.«
Dunstan erschrak: »Wovon zum Teufel redet Ihr da? Denkt an ihre Zunge, Mylord. Sie ist spitz wie ein Dolch.«
»Wenn sie will, hat sie das Benehmen einer großen Dame. Nur selten habe ich einen eleganteren Knicks gesehen. Ein Mann kann stolz darauf sein, wenn sie seine Gäste unterhält.«
»Das, was ich gestern Abend gesehen habe und das, was mir die Gerüchte sagen, vermittelt mir den Eindruck, dass sie sich nicht gerade oft derart vorbildlich benehmen will«, warf Dunstan eilig ein.
»Sie ist alt genug, um zu wissen, was sie tut. Bei ihr habe ich es nicht mit irgendeinem naiven jungen Mädchen zu tun, das ich beschützen und verwöhnen muss.«
Dunstans Kopf fuhr herum, und er riss überrascht die Augen auf. »Bei den Augen des Heiligen Osyth, das kann unmöglich Euer Ernst sein.«
»Warum nicht? Wenn ich erst den grünen Kristall zurückbekommen habe, werde ich sehr beschäftigt sein. Auf Scarcliffe gibt es alle Hände voll zu tun. Nicht nur, dass ich mich um meine neuen Ländereien kümmern muss, ich muss auch das alte Burgverlies wieder in Ordnung bringen.«
»Nein, Mylord.« Dunstan sah aus, als ersticke er gerade an einem Stück Wildbret. »Wenn Ihr im Sinn habt, was ich denke, dass Ihr es im Sinn habt, so bitte ich, es Euch noch einmal gründlich zu überlegen.«
»Sie ist offenbar gut ausgebildet in der Kunst der Haushaltsführung. Und wie Ihr wisst, lebe ich schon immer nach dem Grundprinzip, dass es sich bezahlt macht, Experten zu beschäftigen, Dunstan.«
»Dieses Prinzip mag richtig sein, wenn es um Verwalter, Schmiede und Weber geht, Mylord, aber Ihr sprecht hier von einer Ehefrau.«
»Na und? Himmel noch mal, Dunstan, ich bin ein Ritter. Ich habe keine Ahnung, wie ein Haushalt abläuft, und Ihr kennt Euch damit ebenso wenig aus. Ich habe noch nie in meinem Leben eine Küche betreten und weiß nicht genau, was an einem solchen Ort überhaupt vor sich geht.«
»Und was hat das mit der Wahl einer Ehefrau zu tun?«
»Eine Menge, wenn ich gut essen will – ich liebe gutes Essen.«
»Ja, das stimmt. Ich möchte Euch nicht zu nahe treten, Sir, aber meiner Meinung nach seid Ihr viel zu wählerisch, wenn es ums Essen geht. Keine Ahnung, warum Ihr Euch nicht mit ordentlichem Hammelbraten und gutem Bier zufriedengebt.«
»Weil Hammelbraten und Bier mit der Zeit langweilig werden«, fiel Hugh Dunstan ins Wort. »Und neben der Essensvorbereitung gibt es noch andere wichtige Dinge in einem Haushalt zu tun. Tausende. Die Säle und Zimmer müssen gesäubert werden. Die Wäsche muss gewaschen und die Betten müssen gelüftet werden. Die Bediensteten gilt es zu überwachen. Und wie stellt man es an, seinen Kleidern einen frischen Duft zu verleihen?«
»Über diese Frage habe ich noch nie nachgedacht.«
Hugh ignorierte ihn. »Kurz gesagt, ich möchte, dass Scarcliffe ordnungsgemäß geführt wird, also brauche ich eine Expertin, wie bei meinen diversen anderen Geschäften. Mir fehlt eine Frau, die es gelernt hat, einen großen Haushalt zu führen.«
Eine Vision seiner Zukunft tauchte vor Hughs geistigem Auge auf. Er wollte eine wohnliche Heimstatt, am Tisch unter einem Baldachin sitzen und köstliche Speisen zu sich nehmen. Er liebte es, auf sauberen Laken zu schlafen und in duftendem Wasser zu baden. Vor allem jedoch beseelte ihn der Wunsch seinen Lehnsherrn, Erasmus von Thornewood, standesgemäß zu empfangen.
Dieser letzte Gedanke dämpfte den Glanz seiner Vision. Erasmus hatte nicht gut ausgesehen, als Hugh vor sechs Wochen in sein Audienzzimmer bestellt worden war, um das Lehn von Scarcliffe zu empfangen. Offensichtlich hatte Erasmus stark abgenommen, sein Gesicht war spitz geworden und dann diese Melancholie. Beim kleinsten Geräusch war Erasmus zusammengezuckt, und Hugh hatte ihn alarmiert angeblickt. Er hatte Erasmus gefragt, ob er krank sei, doch dieser hatte sich geweigert, Auskunft zu geben.
Beim Verlassen der Burg waren Hugh dann die Gerüchte zu Ohren gekommen. Es hatte geheißen, dass diverse Ärzte etwas von einer Krankheit des Pulses und des Herzens gemurmelt hätten. Er misstraute Ärzten weitgehend, aber trotzdem blieb seine Sorge groß.
»Mylord, ich bin sicher, dass Ihr durchaus eine passendere Frau finden könntet«, beschwor Dunstan ihn.
»Vielleicht, aber ich habe keine Zeit, nach einer solchen Frau zu suchen. Vor dem nächsten Frühjahr werde ich keine Gelegenheit mehr haben, mich umzusehen. In dem jetzigen Zustand möchte ich nicht auf Scarcliffe überwintern. Ich will eine saubere, geordnete Behausung.«
»Ja, aber …«
»Es ist ungemein praktisch, Dunstan. Denkt einmal darüber nach. Ich habe Euch ja bereits erklärt, dass der Besitz des Kristalls den Menschen von Scarcliffe beweisen wird, dass ich ihr rechtmäßiger Herr bin. Denkt doch nur, um wie vieles mehr ich sie mit einer Ehefrau im Gefolge beeindrucke.«
»Bedenkt, was Ihr da sagt, Mylord.«
Hugh lächelte zufrieden vor sich hin. »Auf diese Weise werde ich zweifellos ihre Herzen gewinnen. Sie erkennen daran sofort, dass ich die Absicht habe, unter ihnen zu leben. Es wird ihnen Vertrauen in ihre eigene Zukunft geben. Ich brauche ihre Zuneigung, wenn ich Scarcliffe fruchtbar und ertragreich machen will, Dunstan.«
»Da stimme ich Euch durchaus zu, aber Ihr tätet besser daran, eine andere Frau zu finden. Diese Schlange hier gefällt mir einfach nicht.«
»Ich gebe zu, dass Lady Alice auf den ersten Blick vielleicht nicht gerade wie die zugänglichste und lenkbarste aller Frauen wirkt.«
»Nun, anscheinend habt Ihr wenigstens das bemerkt«, murmelte Dunstan.
»Trotzdem«, ereiferte sich Hugh, »ist sie intelligent und weit über die frivole Phase hinaus, die jungen Frauen anhaftet.«
»Allerdings und zweifelsohne ist sie auch über ein paar andere Dinge längst hinaus.«
Hugh betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Wollt Ihr damit etwa andeuten, dass sie unter Umständen keine Jungfrau mehr ist?«
»Ich möchte Euch nur an Lady Alice’ große Kühnheit erinnern«, bemerkte Dunstan. »Nicht unbedingt das, was man als schüchterne, errötende, ungeöffnete Rosenknospe bezeichnen würde, Mylord.«
Hugh runzelte angestrengt die Stirn.
»Rotes Haar und grüne Augen sind Zeichen starker Leidenschaft, Sir. Gestern Abend habt Ihr selbst festgestellt, was für ein Temperament sie hat. Und zweifellos hat sie schon vorher hin und wieder andere starke Gefühle ausgelebt. Schließlich ist sie bereits dreiundzwanzig Jahre alt.«
»Hmm.« Hugh dachte über Dunstans Worte nach. »Ganz offensichtlich ist sie ein wissbegieriger Mensch und hegt für viele Dinge eine natürliche Neugierde. Zumindest ist sie bestimmt diskret.«
»Das kann man nur hoffen.«
Hugh schüttelte die Vorbehalte ab, die Dunstans Bemerkungen in ihm geweckt hatten. »Ich bin sicher, dass sie und ich gut genug miteinander auskommen könnten.«
Dunstan stöhnte: »Wie in aller Welt kommt Ihr nur auf die Idee?«
»Wie gesagt, sie ist eine intelligente Frau.«
»Wenn Ihr mich fragt, dann machen allzu viel Intelligenz und Bildung eine Frau nur widerspenstig.«
»Ich glaube, dass wir uns einigen könnten«, sagte Hugh. »Mit ihrer Auffassungsgabe wird sie schnell lernen.«
»Und was, bitte, wird sie lernen?«
»Dass auch ich nicht ganz dumm bin.« Hugh lächelte. »Und dass ich zweifellos zu selbstbewusst und willensstark bin, um mich von ihr herumkommandieren zu lassen.«
»Wenn Ihr es wirklich mit Lady Alice aufnehmen wollt, dann kann ich Euch nur raten, ihr vorerst zu zeigen, dass Ihr wesentlich gefährlicher seid, als sie es augenblicklich noch denkt.«
»Seid versichert, dass ich jede erforderliche Kriegslist anwenden werde.«
»Die Sache gefällt mir nicht, Mylord.«
»Das merke ich.«
Dunstan spuckte erneut über die Mauer. »Ich sehe, dass es sinnlos ist, Euch zur Vernunft bringen zu wollen. Die Übernahme Eurer neuen Ländereien ist erheblich problematischer, als Ihr es erwartet habt, nicht wahr?«
»Allerdings«, gab Hugh zu. »Aber das ist mein Los, ich habe mich bereits daran gewöhnt.«
»Wie wahr. Unsereinem wird wahrlich nichts geschenkt. Man sollte meinen, die Heiligen erbarmten sich unser wenigstens hin und wieder.«
»Ich werde tun, was ich tun muss, um Scarcliffe zu halten, Dunstan.«
»Das bezweifle ich nicht. Ich bitte Euch nur, im Umgang mit Lady Alice ein wenig vorsichtig zu sein, Mylord. Ich habe den Verdacht, dass selbst der mannhafteste Ritter bei ihr ein schlimmes Ende nähme.«
Hugh nickte zum Zeichen, dass er die Warnung vernommen hatte, aber verbannte sie dann irgendwo in der hintersten Ecke seines Hirns. Noch heute Morgen würde er die Angelegenheit mit der geheimnisvollen und unberechenbaren Lady Alice klären. Und dann würde die Lady mit all ihrer Intelligenz und Erhabenheit erkennen, dass sie mehr bekäme, als sie je erwartet hätte.
Als er gestern Abend spürte, dass er es mit einer Gegnerin zu tun hatte, die wesentlich listiger war als erwartet, hatte er lautstark verkündet, dass er seine Geschäfte nicht in aller Öffentlichkeit tätige. Alice erklärte er, dass er heute mit ihr unter vier Augen über die Sache reden wolle.
In Wahrheit hatte er die Verhandlungen vertagt, weil er über die neue Wendung des zunehmenden Durcheinanders hatte nachdenken müssen.
Seit Beginn des Abenteuers hatte er zahlreiche Warnungen erhalten, aber niemand hatte ihn vor Alice gewarnt.
Den ersten Hinweis auf ihre Natur hatte er bereits am frühen Abend erhalten, als ihr Onkel mit einem leidvollen Seufzer auf die Erwähnung ihres Namens geantwortet hatte. Die Dame, so schien es, war eine große Last für Ralf.
Aufgrund der wenigen Dinge, die Hugh über sie gehört hatte, war in ihm das Bild einer verbitterten, verdrießlichen alten Jungfer entstanden, mit einer Zunge schärfer als jeder Dolch. Das Einzige, was sich von dieser Vorstellung bewahrheitet hatte, war die Beschreibung ihrer Schlagfertigkeit. Alice hielt offensichtlich nicht viel von Zurückhaltung und Bescheidenheit.
Abgesehen von ihrem Mundwerk hatte die Frau, die ihm gestern Abend gegenübergetreten war, auch keine Ähnlichkeit mit der von Dunstan beschriebenen Londonerin.
Alice war nicht verbittert, sondern willensstark. Diesen Unterschied hatte er sofort erkannt. Sie war nicht verdrießlich, sondern offen und selbstbewusst und zweifellos wesentlich intelligenter als all die anderen Bewohner der Burg. Eine schwierige Frau, vielleicht, aber auf jeden Fall interessant!
Ralfs Beschreibung seiner Nichte zufolge hatte Hugh eine Person von der Gestalt seines Schlachtrosses erwartet, aber auch in diesem Punkt hatte Lady Alice ihn überrascht.
Sie war sehr schlank, elegant, gar graziös. Nichts an ihr erinnerte an ein Schlachtross. Ihr langes grünes Kleid hatte die Rundungen ihres geschmeidigen Leibs angenehm betont – Brüste in der Größe reifer Pfirsiche, eine schmale Taille und Hüften mit einem üppigen Schwung.
In einem Punkt hatte Dunstan jedenfalls recht, musste Hugh sich eingestehen. Alice hatte gewiss genug Feuer, um einen Mann bei lebendigem Leib verschmachten zu lassen, das verriet bereits die Farbe ihres Haars. Die flammenfarbenen Locken hatten unter einem glitzernden, goldenen Netz gelegen, das in der Glut des Kamins verführerisch schimmerte.
Ihr Gesicht war zart mit einer festen Nase, einem kraftvollen, kleinen Kinn und einem ausdrucksvollen Mund. Ihre großen Augen standen leicht schräg und wurden von köstlich geschwungenen rötlichen Brauen gerahmt; ihre Schultern und der gereckte Kopf verrieten Kampfgeist und Stolz. Sie war eine Frau, die die Blicke der Männer, auch wenn sie alles andere als hässlich war, nicht wegen ihrer Schönheit, sondern wegen ihrer Persönlichkeit auf sich zog.
Alice konnte man keinesfalls ignorieren.
Sollte es sie, wie Ralf gesagt hatte, verbittern, dass sie mit dreiundzwanzig Jahren noch nicht verheiratet war, so zeigte sie es nicht. In der Tat hatte Hugh den starken Verdacht, dass es ihr sogar gefiel, keinem Gatten untergeordnet zu sein, eine Tatsache, die ihm vielleicht ein paar Schwierigkeiten bereiten würde. Aber bisher hatte er noch immer Lösungen gefunden.
»Lady Alice will mit Euch verhandeln«, ließ Dunstan sich vernehmen. »Was will sie Eurer Meinung nach für ihre Hilfe bei der Suche nach dem grünen Stein haben?«
»Vielleicht ein paar Bücher«, sagte Hugh geistesabwesend. »Ihrem Onkel zufolge hegt sie eine große Vorliebe für Literatur.«
Dunstan schlug die Augen gen Himmel. »Und, werdet Ihr ihr ein oder zwei geben?«
Hugh lächelte. »Vielleicht erlaube ich ihr, sie von Zeit zu Zeit auszuleihen.«
Er gab sich erneut der Betrachtung der morgendlichen Landschaft hin. Die Bauernhöfe und Felder von Lingwood Manor lagen ruhig unter dem bleiernen Himmel. Der Herbst hatte gerade angefangen. Die Ernte war fast eingefahren, und ein Großteil des Landes lag in Erwartung der Winterkälte nackt und kahl da. Hugh wollte so schnell wie möglich nach Scarcliffe zurück. Es gab so vieles zu tun.
Lady Alice war der Schlüssel dazu, er spürte es in seinem Inneren. Mit ihrer Hilfe fände er vielleicht den grünen Stein und somit das Tor zu seiner Zukunft. Er war zu weit gereist, hatte zu lange gewartet und sich allzu sehr nach einem Zuhause verzehrt, um jetzt aufzugeben.
Er war dreißig Jahre alt, aber an kalten Vormittagen wie diesem fühlte er sich eher wie vierzig. Die inneren Stürme tobten und erfüllten ihn mit schmerzlicher Rastlosigkeit, mit einer zaghaften Sehnsucht, die er nicht ganz verstand.
Die Unruhe, die permanent an seiner Seele nagte, war ihm bewusst, aber nur in den tiefsten Stunden der Nacht oder in den grauen Nebeln der Dämmerung erkannte er hin und wieder tatsächlich die dunklen Unwetter, deren Gefangener er war. So gut es ging, wich er derartigen Tumulten aus. Es gefiel ihm nicht, allzu tief in das Auge des Sturms zu sehen.
Er konzentrierte sich lieber auf die Aufgabe, die vor ihm lag: Er besaß eigene Ländereien und wollte sie behalten. Doch das würde nicht leicht werden.
Während der letzten paar Wochen war Hugh allmählich dahinter gekommen, warum Scarcliffe in den vergangenen Jahren so oft den Besitzer gewechselt hatte.
Vor ihm war es keinem Mann gelungen, Scarcliffe länger als ein paar Jahre zu halten, ehe er es durch Tod oder ein anderes Unglück wieder verlor. Es hieß, Scarcliffe wäre von bösen Geistern und vom Pech verfolgt und obendrein mit einem alten Fluch belegt.
Wer da findet die Steine,
der besitzet das Land,
doch bewahr er den grünen Kristall
mit eiserner Hand.
Hugh glaubte nicht an die Macht alter Flüche. Er glaubte an kaum etwas anderes als an seine eigenen Fähigkeiten als Ritter und an den eisernen Willen, der ihn so weit gebracht hatte. Aber er hatte einen gesunden Respekt vor der Macht, die derartiger Unsinn oft über die Gedanken anderer Menschen besaß.
Ungeachtet seiner eigenen Meinung bezüglich dieser im Wege stehenden Prophezeiung wusste er, dass die entmutigte Bevölkerung von Scarcliffe an die alte Wahrsagung glaubte. Demnach war es unbedingt erforderlich, dass ihr neuer Herr sich ihnen durch den grünen Kristall zu erkennen gab.
Bei seiner Ankunft auf der Burg vor weniger als einem Monat hatte Hugh sich dort einem Häuflein überraschend dumpfer, verdrossener Menschen gegenübergesehen. Die guten Leute von Scarcliffe gehorchten ihm aus Furcht, aber er hatte in ihnen keine Hoffnung auf die Zukunft zu wecken vermocht. Ihr Trübsinn zeigte sich bei allen Verrichtungen: von der lustlosen Art, die magere Ernte einzufahren, bis hin zum halbherzigen Mahlen des Korns.
Hugh war es gewohnt zu befehlen, man hatte ihn dazu erzogen. Zeit seines Erwachsenenlebens war er der natürliche Anführer anderer gewesen. Er wusste, dass er die Menschen zu einem Mindestmaß an Zusammenarbeit zwingen konnte, aber zugleich wusste er, dass das nicht ausreichte. Damit Scarcliffe für sie alle Gewinne abwarf, brauchte er ihre willige Loyalität.
Die Wurzel des Übels lag in der Ungläubigkeit der Bewohner des Dorfes, dass Hugh lange ihr Lehnsherr blieb. Keiner der anderen Herren hatte hier länger als ein, zwei Jahre überlebt.
Bereits wenige Stunden nach seiner Ankunft hatte Hugh ein Murmeln über drohendes Unglück vernommen. Eine Bande Gesetzloser hatte die Ernte niedergemacht, ein heftiges Gewitter der Kirche schweren Schaden zugefügt. Ein Wandermönch war in der Nähe aufgetaucht und predigte vom Jüngsten Gericht.
Für die Menschen von Scarcliffe war der Diebstahl des grünen Kristalls aus dem Gewölbe des ortsansässigen Klosters ein eindeutiges Zeichen gewesen. Hugh wusste, dass er in ihren Augen der Beweis für seine unrechtmäßige Lehnsherrschaft war.
Der schnellste Weg, um sich das Vertrauen der Menschen zu erwerben, wäre die Wiederbeschaffung des grünen Steins, und genau das hatte er vor.
»Seid vorsichtig, Mylord«, riet Dunstan ihm. »Lady Alice ist kein aufgeregtes junges Mädchen, das sich allein durch Euren Ruf einschüchtern lässt. Sie wird bestimmt versuchen, mit Euch zu handeln, als wäre sie eine Londoner Krämerin.«
»Das wird bestimmt eine interessante Erfahrung für mich.«
»Vergesst nicht, dass sie gestern Abend sogar bereit zu sein schien, ihre Seele für das zu geben, was auch immer sie von Euch bekommen will.«
»Das vergesse ich nicht.« Hugh lächelte beinahe. »Und vielleicht ist ihre Seele genau das, was ich bekommen will.«
»Seht zu, dabei nicht Eure eigene zu verlieren«, riet Dunstan trocken.
»Man kann nur verlieren, was man besitzt«, lautete die ebenso trockene Erwiderung.
Wegen seines krummen Beins konnte Benedict nicht durch die Tür von Alice’ Studierzimmer stürmen, aber seinem geröteten Gesicht und seinen blitzenden grünen Augen waren Zorn und Empörung deutlich abzulesen.
»Alice, das ist vollkommener Wahnsinn.« Er blieb vor dem Schreibtisch seiner Schwester stehen und klemmte den Stock unter einen Arm. »Es ist doch wohl nicht dein Ernst, mit Hugh dem Unerbittlichen Geschäfte zu planen.«
»Er heißt jetzt Hugh von Scarcliffe«, Alice betrachtete die Sache nüchterner.
»Nach allem, was ich gehört habe, passt der Unerbittliche hervorragend zu ihm. Was tust du da eigentlich? Er ist doch ein hochgefährlicher Mann.«
»Gleichwohl ein ehrlicher. Es heißt, wenn er ein Abkommen trifft, hält er sich auch daran.«
»Ich möchte schwören, dass man ein Abkommen mit Sir Hugh nur zu seinen Bedingungen trifft«, erwiderte Benedict. »Alice, es heißt, er sei sehr gerissen und habe eine Vorliebe für Kriegslisten.«
»So? Ich selbst bin auch nicht gerade auf den Kopf gefallen.«
»Ich weiß, dass du dir einbildest, du könntest mit ihm umspringen wie mit Onkel Ralf. Aber Männer wie Hugh lassen sich von niemandem herumkommandieren, schon gar nicht von einer Frau.«
Alice legte ihre Schreibfeder zur Seite und sah ihren Bruder prüfend an. Benedict war sechzehn Jahre alt, und sie trug seit dem Tod ihrer Eltern die Verantwortung für ihn. Sie wusste durchaus, dass sie versagt hatte, tat aber alles in ihrer Macht Stehende, um ihn dafür zu entschädigen, dass sein Erbe in Ralfs Hände gefallen war.
Ihre Mutter Helen war vor drei Jahren gestorben und ein Jahr später war ihr Vater, Sir Bernard, vor einem Londoner Bordell einem Straßendieb zum Opfer gefallen.
Sobald Ralf von Bernards Tod erfahren hatte, war er aufgetaucht und hatte Alice in einen hoffnungslosen Rechtsstreit verwickelt, in dessen Verlauf sie Benedicts Erbe, die kleine Burg, verloren hatte. Sie hatte um die bescheidene Besitzung wirklich gekämpft, aber auch wenn Ralf über das Hirn eines Ochsen verfügte, hatte er sie in diesem Fall ausgestochen. Nach langem Hin und Her war es ihm gelungen, Fulbert von Middleton, Alice’ sowie seinen Lehnsherrn, davon zu überzeugen, dass die Burg eines erfahrenen Ritters als Hausherrn bedurfte. Er hatte behauptet, dass eine Frau wie Alice unfähig sei, die Ländereien vernünftig zu verwalten und dass Benedict mit seinem kranken Bein niemals ein Ritter würde; schließlich war Fulbert tatsächlich zu dem Schluss gekommen, dass er einen Kämpfer als Wächter der winzigen Burg brauchte, die Lord Bernards Eigentum gewesen war.
Ohnmächtig vor Zorn hatte Alice mit ansehen müssen, wie Fulbert das Haus ihres Vaters an Ralf weitergab, der es seinerseits seinem ältesten Sohn Lloyd vermachte.
Alice und Benedict waren gezwungen gewesen, kurze Zeit später nach Lingwood zu ziehen, denn sobald Lloyd die Herrschaft über die Ländereien angetreten hatte, ehelichte er die Tochter des Nachbarritters, die ihm vor sechs Monaten seinen ersten Sohn gebar.
Alice war praktisch genug veranlagt, um zu erkennen, dass sie Benedicts Erbe wohl niemals zurückbekäme, egal, wie gut sie die Sache ihres Bruders vor Gericht verteidigte. Das Wissen, dass es ihr nicht gelungen war, ihrer Verantwortung für Benedict gerecht zu werden, lastete schwer auf ihr. Misserfolge kannte sie nicht, vor allem nicht bei Angelegenheiten von derartiger Bedeutung.
Fest entschlossen, diese Katastrophe auf die einzig mögliche Art wiedergutzumachen, hatte Alice sich vorgenommen, Benedict die bestmöglichen Chancen für sein Fortkommen zu bieten. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihn in die großen Schulen nach Paris und Bologna zu schicken, wo er die Rechte studieren sollte.
Nichts konnte ihm die verlorenen Ländereien ersetzen, aber Alice hatte die Absicht, ihr Möglichstes zu tun. Und wenn sie erst wusste, dass Benedict sicher auf sein eigenes Leben zusteuerte, würde sie sich ihre eigenen Träume erfüllen. Sie würde in ein Kloster eintreten, das eine wohlsortierte Bibliothek besaß, und dort gäbe sie sich dann ganz den Studien der Naturphilosophie hin.
Noch vor ein paar Tagen war es ihr so erschienen, als erreiche sie jemals keines dieser beiden Ziele, doch die Ankunft von Hugh dem Unerbittlichen hatte ihr eine neue Tür geöffnet, und sie würde die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen.
»Mach dir keine Sorgen, Benedict«, sagte sie. »Ich habe vollstes Vertrauen, dass Sir Hugh sich als vernunftbegabter Mensch erweisen wird.«
»Vernunftbegabt?« Benedict fuchtelte mit seiner freien Hand herum. »Alice, dieser Mann ist eine Legende. Und Legenden sind nicht vernunftbegabt.«
»Also bitte, man kann nie wissen. Gestern Abend hatte ich durchaus den Eindruck, dass man mit ihm reden kann.«
»Gestern Abend hat er mit dir gespielt wie die Katze mit der Maus. Alice, hör mir zu, Sir Hughs Lehnsherr ist Erasmus von Thornewood. Weiß du, was das heißt?«
Alice griff erneut zu ihrer Feder und kaute verbissen auf ihr herum. »Ich habe schon von Erasmus gehört. Er steht in dem Ruf, ein sehr mächtiger Mann zu sein.«
»Allerdings. Und das heißt, dass sein Gefolgsmann, Sir Hugh, ebenfalls mächtig ist. Du musst vorsichtig sein. Bilde dir ja nicht ein, Sir Hugh würde auf einen Kuhhandel eingehen. Das wäre reinste Tollheit.«
»Unsinn.« Alice setzte ein beruhigendes Lächeln auf. »Du machst dir einfach zu viele Gedanken, Benedict. Das habe ich in letzter Zeit schon öfter festgestellt.«
»Ich habe allen Grund, mir Gedanken zu machen.«
»Nein, das hast du nicht. Merk dir meine Worte, Sir Hugh und ich werden bestimmt miteinander zurechtkommen.«
Plötzlich trat eine große Gestalt in die Tür, die einen breiten, dunklen Schatten auf den Teppich warf. Alice hatte das Gefühl, als wehte plötzlich ein kalter Zug durch den Raum. Sie sah auf und erblickte Hugh.
»Ihr sprecht meine eigenen Gedanken aus, Lady Alice«, sagte er. »Es freut mich, dass wir uns in dieser Sache einig sind.«
Als seine tiefe, volltönende Stimme vom anderen Ende des Raums erklang, rann Alice ein eisiger Schauder über die Haut. Er sprach sehr ruhig, aber neben seinen Worten erstarb jedes andere Geräusch. Das Tschilpen des Vogels auf dem Fenstersims verstummte, und selbst das Echo der Pferdehufe auf dem Hof erstarb.
Alice’ Herz zog sich vor Erregung zusammen, und einen Augenblick starrte sie Hugh schweigend an. Seit der Auseinandersetzung gestern Abend in der flammenerleuchteten Halle hatte sie ihn nicht mehr gesehen, und es interessierte sie, zu erfahren, ob seine Nähe heute Morgen dieselbe eigenartige Wirkung auf sie haben würde wie bei jener ersten Begegnung.
So war es.
Wider jede Vernunft und obgleich ihre Augen ihr etwas ganz anderes vermittelten, fand sie, dass Hugh der Unerbittliche der attraktivste Mann war, den sie je gesehen hatte. Bei Tageslicht war er keineswegs hübscher als im Feuerschein, aber er zog sie auf merkwürdige Weise magisch an.
Ihr war, als hätte sie einen zusätzlichen Sinn entwickelt, ein Empfinden, das weiter ging als ihr Gehör, ihre Sicht, ihr Gespür, ihr Geschmack und ihr Geruchsvermögen. Alles in allem war es ein aufregendes naturphilosophisches Phänomen.
Benedict fuhr auf dem Absatz herum, wobei sein Stock gegen Alice’ Schreibtisch schlug. »Mylord.« Er reckte trotzig das Kinn. »Meine Schwester und ich hatten ein Privatgespräch. Wir haben Euch nicht kommen sehen.«
»Man sagte mir, dass ich nicht leicht zu übersehen bin«, meinte Hugh. »Du bist also Benedict?«
»Ja, Mylord.« Benedict straffte die Schultern. »Ich bin Alice’ Bruder und ich glaube nicht, dass Ihr sie allein sprechen solltet. Das wäre unziemlich.«
Alice verdrehte die Augen. »Benedict, bitte, mach dich nicht lächerlich. Ich bin kein junges Mädchen mehr, dessen Ruf geschützt werden muss. Sir Hugh und ich haben lediglich die Absicht, über Geschäfte zu sprechen.«
»Es ist nicht schicklich«, beharrte Benedict auf seine Meinung.
Hugh lehnte eine seiner breiten Schultern gegen den Türrahmen und kreuzte die Arme vor der Brust. »Was glaubst du, was ich mit ihr machen werde?«
»Da bin ich leider überfragt«, murmelte Benedict. »Aber ich werde es nicht zulassen.«
Allmählich verlor Alice die Geduld. »Benedict, es reicht. Lass uns allein. Sir Hugh und ich müssen über Geschäfte sprechen.«
»Aber, Alice …«
»Ich werde dir später alles erklären, Benedict.«
Benedict wurde dunkelrot. Er bedachte Hugh mit einem vernichtenden Blick, doch der Hüne richtete sich mit einem Schulterzucken auf und trat zur Seite, um ihn an sich vorbei zu lassen.
»Keine Angst«, sagte Hugh freundlich. »Ich gebe dir mein Wort, dass ich deine Schwester während unserer Unterredung nicht verführen werde.«
Benedict wurde noch röter, und mit einem letzten zornigen Blick auf Alice humpelte er an Hugh vorbei in den Gang hinaus.
Hugh wartete, bis der Junge außer Hörweite war, dann sah er Alice an. »Der Stolz eines jungen Mannes ist eine komplizierte Sache. Man sollte vorsichtig damit umgehen.«
»Macht Euch um meinen Bruder keine Sorgen, Sir. Für ihn bin einzig und allein ich verantwortlich.« Alice wies auf einen Hocker. »Bitte nehmt Platz. Wir haben viel zu besprechen.«
»Ja.« Hugh blickte sich um, aber statt sich zu setzen, ging er zur Kohlenpfanne hinüber und streckte die Hände über die warme Glut. »Das haben wir. Was für ein Abkommen möchtet Ihr mit mir treffen, Mylady?«
Alice musterte ihn mit unverhohlenem Wohlgefallen. Er wirkte durchaus umgänglich, und es gab nicht das geringste Anzeichen für etwaige Schwierigkeiten. Ein vernünftiger, logisch denkender Mann, genau wie sie ihn eingeschätzt hatte.
»Mylord, ich will ganz offen sein.«
»Bitte. Auch ich bevorzuge das direkte Gespräch. Spart eine Menge Zeit, nicht wahr?«
»Allerdings.« Alice faltete die Hände auf dem Schreibtisch. »Ich bin bereit, Euch genau zu erklären, wo der Dieb meinen grünen Kristall meiner Meinung nach hingebracht hat.«
»Es ist mein Kristall, Lady Alice. Diese Tatsache scheint Ihr gerne zu vergessen.«
»Über die Nebensächlichkeiten könnten wir vielleicht später streiten, Mylord.«
Hugh amüsierte sich ein wenig. »Es wird keinen Streit geben.«
»Sehr gut. Es freut mich, dass Ihr so vernünftig seid, Sir.«
»Ich gebe mir alle Mühe.«
Alice lächelte zustimmend. »Nun, wie gesagt, ich werde Euch erklären, wo sich der Kristall meiner Meinung nach im Augenblick befindet. Darüber hinaus bin ich sogar bereit, Euch dorthin zu begleiten und Euch den Dieb zu zeigen.«
Hugh dachte darüber nach. »Sehr hilfreich.«
»Es freut mich, dass Ihr mein Entgegenkommen zu schätzen wisst, Mylord. Aber ich werde noch mehr für Euch tun.«
»Ich kann es kaum erwarten, den Rest zu hören«, er verschränkte die Arme.
»Ich werde Euch nicht nur helfen, den Kristall zu finden, Sir, ich werde sogar einen Schritt weiter gehen.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, beugte sie sich vor. »Ich werde mich bereit erklären, meinen Besitzanspruch an dem Stein an Euch abzutreten.«
»Einen Besitzanspruch, den ich sowieso nie akzeptiert habe.«
Alice runzelte die Stirn. »Mylord …«
»Und was erwartet Ihr als Gegenleistung für dieses großherzige Angebot?«, unterbrach er sie. »Was für einen Gefallen soll ich Euch erweisen, Lady Alice?«
Alice holte tief Luft. »Als Gegenleistung erbitte ich zwei Dinge von Euch. Das eine ist Eure Unterstützung, dass mein Bruder in ungefähr zwei Jahren nach Paris und vielleicht nach Bologna reisen kann, um sich dort die Kollegien der Gelehrten anzuhören. Ich möchte, dass er die Künste und vor allem die Rechte studiert, um schließlich vielleicht am Hof oder im Haus eines reichen Prinzen oder Edelmannes eine Anstellung zu finden.«
»Euer Bruder möchte Sekretär oder Schreiber werden?«
»Er hat keine andere Wahl, Mylord.« Alice richtete sich auf. »Es ist mir nicht gelungen, sein rechtmäßiges Erbe zu schützen, das an unseren Onkel fiel, und so bleibt ihm nichts anderes übrig.«
Hugh sah sie nachdenklich an. »Also gut, ich nehme an, das ist Eure Sache. Ich bin bereit, seine Studien zu finanzieren, wenn Ihr mir den Kristall dafür gebt.«
Alice entspannte sich. Das Schlimmste war vorbei. »Danke, Mylord, das freut mich zu hören.«
»Und was ist die zweite Sache, die Ihr von mir verlangt?«
»Nur eine bescheidene Bitte, Mylord, kaum der Rede wert für einen Mann in Eurer Position«, sagte sie. »In der Tat wage ich zu behaupten, dass Ihr es wohl kaum bemerken dürftet.«
»Was genau wünscht Ihr?«
»Ich bitte Euch, mich mit einer Aussteuer zu versehen.«
Hugh starrte in die Kohlenpfanne, als gäbe es dort etwas Interessantes zu erforschen. »Eine Aussteuer? Habt Ihr den Wunsch zu heiraten?«
Alice kicherte. »Bei allen Heiligen, wie kommt Ihr denn auf die Idee, Mylord? Natürlich habe ich nicht den Wunsch zu heiraten. Warum in aller Welt sollte ich einen Ehemann haben wollen? Ich werde in ein Kloster eintreten.«
Hugh drehte sich langsam zu ihr um, und seine Augen verströmten eine unheimliche innere Glut. »Dürfte ich fragen, warum?«
»Damit ich meine Studien der Naturphilosophie fortführen kann. Dafür brauche ich eine große Bibliothek, und so etwas gibt es nur in einem reichen Kloster.« Alice räusperte sich. »Und um von einem guten Konvent genommen zu werden, brauche ich natürlich eine Mitgift.«
»Ich verstehe.« Hugh musterte sie wie ein Raubvogel sein Beutetier. »Das ist Pech.«
Alice sank das Herz in die Knie. Einen Augenblick lang starrte sie ihn mit unverhohlener Enttäuschung an. Sie war sich so sicher gewesen, dass er ihrer Bitte entspräche.
Flehentlich suchte sie ihn umzustimmen. »Mylord, bitte denkt noch einmal darüber nach. Der grüne Kristall ist offenbar sehr wichtig für Euch, und ich kann dafür sorgen, dass Ihr ihn bekommt. Das ist Euch doch sicher eine Aussteuer für mich wert.«
»Ihr habt mich falsch verstanden, Mylady. Ich bin durchaus bereit, Euch einen angemessenen Brautpreis zu bezahlen.«
Ihre Miene hellte sich auf. »Ja?«
»Ja, aber ich will auch die Braut.«
»Was?«
»Oder zumindest das Eheversprechen dieser Braut.«
Alice war zu verblüfft, um klar denken zu können. »Ich verstehe nicht, Mylord.«
»Nein? Das ist doch ganz einfach. Ich werde meinen Teil des Abkommens erfüllen, Lady Alice. Aber als Gegenleistung erwarte ich, dass wir beide uns verloben, ehe die Suche nach dem grünen Kristall beginnt.«
Drittes Kapitel
Es hätte Hugh nicht überrascht, hätte man ihn aufgeklärt, Alice sei an dieser Stelle das erste Mal in ihrem Leben sprachlos geblieben.
Zwinkernd und zufrieden mit sich betrachtete er ihre großen grünen Augen, ihren halb geöffneten Mund und ihr verwundertes Gesicht. Er bezweifelte, dass es vielen Männern gelang, die junge Lady zu verwirren.
Er schritt im Zimmer auf und ab und wartete darauf, dass Alice die Sprache wiederfand. Was er sah, überraschte ihn nicht. Anders als in den meisten anderen Räumlichkeiten auf Lingwood Hall war hier staubgewischt, der Boden gefegt und der Duft frischer Kräuter hing in der Luft. Genau, was er erwartet hatte.
Gestern Abend beim Genuss von Stör in würziger grüner Sauce und fein angemachter Lauchtorte hatte Alice’ Talent für Haushaltsführung großen Eindruck auf ihn gemacht. Heute Morgen hatte er festgestellt, dass die Magie, die sie auf die Vorbereitung des Banketts verwendet hatte, bei den anderen Dingen in Sir Ralfs Haushalt zu versagen schien. Nur die Zimmer in diesem Flügel waren sauber und rein. Offensichtlich hatte Alice diesen Bereich für sich und ihren Bruder erkoren.
Hier war alles tadellos. Die blitzenden Räume zeugten von Ordnung und Wirtschaftlichkeit, was nicht zuletzt an den sorgsam platzierten, vor Zugluft schützenden Wandbehängen auszumachen war.
Der Rest der Burg schaute bei Tageslicht weit weniger beeindruckend aus. Muffige Schlafzimmer, ungefegte Fußböden, zerrissene Teppiche und Schimmel an den Wänden zeigten, dass Alice sich nicht die Mühe zu machen schien, ihr Können außerhalb ihrer kleinen Welt zur Geltung zu bringen.
Hier in ihrem Arbeitszimmer jedoch entdeckte Hugh nicht nur die erwartete Sauberkeit, sondern noch eine ganze Reihe interessanter Gegenstände. Der Raum war angefüllt mit seltsamen, fremden Dingen.
Auf einem Regal standen ein paar abgewetzte Handbücher sowie zwei prächtige Werke in Leder. In einem Holzkasten fand sich eine Sammlung toter Insekten. Auf einem Tisch lagen Teile, die wie Fischknochen aussahen, und diverse Muscheln herum. In einer Ecke über einer Kerze hing eine Metallschüssel, in der ein kalkartiger Rückstand den Beweis für Experimentierfreude lieferte.
Hugh war recht angetan, zeugte doch die Sammlung vom lebhaften Geist und von dem gesunden Forschungsdrang der Besitzerin.
»Mylord«, setzte Alice schließlich an. »Was im Namen des Heiligen Kreuzes meint Ihr damit?«
Sie reagierte nicht besonders begeistert auf seinen Heiratsantrag, also musste er einen Umweg nehmen. Schließlich war er ein Experte für Kriegslisten und weshalb sollte er dieses Talent nicht anwenden, wenn es um die Jagd nach einer Gefährtin ging?
»Genau, was ich gesagt habe: Ich brauche eine Frau.«
»Aber …«
»Übergangsweise.«
»Nun, für diese Zwecke stehe ich Euch nicht zur Verfügung, Sir. Sucht Euch eine andere. Ich bin sicher, dass sich genug Bewerberinnen finden.«
Ja, aber keine wie Euch, dachte Hugh. Ich zweifle, ob es auf der Welt eine einzige gibt, die Euch gleicht.
»Aber Euch zu nehmen, wäre wesentlich bequemer für mich, Lady Alice.«
Sie starrte ihn zornig an. »Ich bin für keinen Mann bequem, Sir. Fragt nur meinen Onkel, wie bequem ich bin. Ich glaube, er wird Euch erzählen, wie unbequem ich bin. Er betrachtet mich als große Last.«
»Das liegt zweifellos daran, dass Ihr Euch die größte Mühe gebt, eine Last für ihn zu sein. Ich hoffe jedoch, dass wir beide als Kollegen miteinander zurechtkommen werden und nicht als Gegner.«
»Kollegen«, wiederholte sie argwöhnisch.
»Partner«, erklärte er hilfreich.
»Partner.«
»Ja, Geschäftspartner, wie Ihr selbst gestern Abend vorgeschlagen habt.«
»Das hatte ich dabei allerdings nicht im Sinn. Vielleicht erklärt Ihr mir ein wenig genauer, was Ihr meint, Mylord.«
»Das ist ein guter Vorschlag.« Hugh blieb neben einem komplizierten Apparat stehen, der aus einer Reihe runder Messingplatten und einem Richtscheit bestand. »Woher habt Ihr dieses wunderbare Astrolabium? So etwas habe ich nicht mehr gesehen, seit ich in Italien war.«
Sie runzelte die Stirn. »Mein Vater hat es mir geschickt. Er fand es vor ein paar Jahren in einem Laden in London. Euch sind derartige Instrumente vertraut?«
Hugh beugte sich dichter über das Astrolabium. »Ich habe zwar meinen Lebensunterhalt mit dem Schwert verdient, Mylady, aber es wäre ein Fehler anzunehmen, ich sei deswegen ein unwissender Narr.« Vorsichtig schob er das Richtscheit über die Metallplatten, wodurch sich die Position der Sterne im Verhältnis zur Erde veränderte. »Die Menschen, die diesen Irrtum in der Vergangenheit anheimfielen, haben einen hohen Preis dafür bezahlt.«
Alice sprang auf und stürzte um ihren Schreibtisch herum. »Ich habe bestimmt nicht gedacht, Ihr wärt ein Narr. Ganz im Gegenteil.« Sie blieb neben dem Astrolabium stehen und runzelte abermals die Stirn. »Die Sache ist die – bisher ist es mir nicht gelungen, den Apparat richtig in Gang zu setzen, und ich kenne niemanden, der sich mit Astrologie auskennt. Könntet Ihr mir vielleicht beibringen, dieses Gerät zu benutzen?«
Hugh überlegte kurz. »Ja. Wenn wir noch heute unser Abkommen besiegeln, werde ich Euch beibringen, wie man dieses Instrument bedient.«
Ihre blitzenden Augen verrieten eine Begeisterung, die bei einer anderen Frau leicht als Leidenschaft hätte gedeutet werden können. Sie errötete. »Das ist sehr großzügig von Euch, Mylord. In der kleinen Bibliothek unseres Klosters habe ich ein Buch entdeckt, in dem das Gerät beschrieben wird, aber ärgerlicherweise war keine Bedienungsanleitung dabei.«
»Betrachtet die Unterweisung als Verlobungsgeschenk.«
Die Glut in ihrem Blick machte wieder dem Argwohn Platz. »Was diese Verlobung betrifft, Mylord, wünsche ich, wie gesagt, eine Erklärung.«
»Gerne.« Hugh spazierte zu einem Tisch, auf dem eine große Sammlung von Steinen und Kristallen lag. Er nahm einen rötlichen Stein und sah ihn sich näher an. »Es tut mir leid, sagen zu müssen, dass ich das Opfer eines höchst lästigen Fluchs geworden bin, Mylady.«
»Das ist zweifellos Eure eigene Schuld, Mylord.«
Er blickte von dem Stein auf, überrascht von der Schärfe ihres Tons. »Meine Schuld?«
»Ja. Meine Mutter hat immer gesagt, dass solche Krankheiten von häufigen Bordellbesuchen kommen, Sir. Zweifellos werdet Ihr ein Gegengift nehmen und einen Aderlass über Euch ergehen lassen müssen. Vielleicht solltet Ihr auch noch entschlacken. Meiner Meinung nach habt Ihr es nicht besser verdient, wenn Ihr Euch an solchen Orten herumtreibt.«
Hugh setzte eine reuige Miene auf. »Ihr seid eine Meisterin auf diesem Gebiet?«
»Meine Mutter kannte sich sehr gut mit Kräutern aus. Sie hat mir eine Menge darüber beigebracht.« Alice starrte ihn vorwurfsvoll an. »Außerdem hat sie immer gesagt, dass es wesentlich vernünftiger wäre, gewisse Dinge von vornherein zu vermeiden, statt sich, wenn der Schaden da ist, heilen zu lassen.«
»Da hat sie wohl recht.« Hugh sah sie an. »Was ist mit Eurer Mutter geschehen?«
Ein Schatten legte sich auf Alice’ Gesicht. »Sie starb vor drei Jahren.«
»Ein großer Verlust für Euch.«
Alice seufzte leise. »Sie hatte eine Lieferung seltener, ungewöhnlicher Kräuter bekommen und war ganz versessen darauf, mit ihnen herumzuexperimentieren.«
»Herumzuexperimentieren?«
»Ja, sie hat beständig neue Heilmittel entwickelt. Auf jeden Fall mischte sie irgendein neues Kraut in eins ihrer Rezepte. Es sollte gut sein gegen heftigen Magenschmerz. Leider trank sie zu viel davon und ging daran zugrunde.«
Hugh wurde kalt ums Herz. »Eure Mutter hat Gift getrunken?«
»Es war ein Unfall«, stellte Alice umgehend klar. »Wie gesagt, sie führte damals Experimente durch.«
»An sich selbst?« Er starrte sie ungläubig an.
»Sie hat neue Medikamente meistens an sich selbst ausprobiert, ehe sie sie den Kranken gab.«
»Meine eigene Mutter starb auf dieselbe Art«, hörte Hugh sich sagen, ehe er wusste, ob es vernünftig war, sich Alice anzuvertrauen. »Sie trank Gift.«
Alice sah ihn mitfühlend an. »Das tut mir sehr leid, Mylord. Hat Eure Mutter auch mit seltenen Kräutern Versuche gemacht?«
»Nein.« Hugh legte den rötlichen Stein beiseite, wütend über seine Vertrauensseligkeit. Er sprach nie über den Selbstmord seiner Mutter oder über die Tatsache, dass sie seinen Vater vergiftet hatte, ehe sie sich selbst das Leben nahm. »Das ist eine zu lange Geschichte.«
»Ja, Mylord. Solche Dinge können sehr schmerzhaft sein.«
Ihr Mitgefühl störte ihn. Er war derartige Gefühle nicht gewohnt und er hegte nicht den Wunsch, Alice noch darin zu bestärken. Mitgefühl zu erwecken war ein Zeichen von Schwäche. »Ihr habt mich falsch verstanden, Mylady. Als ich sagte, ich sei Opfer eines Fluchs, meinte ich nicht eine Krankheit des Körpers.«
Sie sah ihn fragend an. »Ihr meint doch sicher keinen magischen Fluch?«
»Doch.«
»Aber das ist völliger Unsinn«, schalt sie ihn. »Bei allen Heiligen, ich habe einfach kein Verständnis für Menschen, die an Magie und Flüche glauben.«
»Ich auch nicht.«
Sie schien ihn nicht gehört zu haben, denn sie fuhr mit ihrer Predigt fort. »Mir ist durchaus bewusst, dass es heutzutage gepriesen wird, wenn gelehrte Männer nach Toledo reisen, um dort alte Geheimnisse der Magie zu entdecken, aber ich bin überzeugt, dass sie damit nur ihre Zeit vergeuden. So etwas wie Magie gibt es nicht.«
»Da stimme ich Euch durchaus zu«, sagte Hugh. »Aber zugleich bin ich ein praktisch denkender Mann.«
»So?«
»In der Tat. Und in diesem Fall bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der schnellste Weg, mein Ziel zu erreichen, der ist, auf dem ich den Ansprüchen einer alten Legende Genüge tue, die zum Teil auf einem Fluch beruht.«
»Einer Legende?«
»Ja.« Hugh griff nach einem rauchigen rosafarbenen Kristall und hielt ihn gegen das Licht. »Die guten Leute von Scarcliffe hatten in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Herren zu ertragen. Keinem von ihnen gelang es, die Herzen der Dorfbewohner zu erobern, und keiner von ihnen hielt es lange dort aus.«
»Ihr indessen habt die Absicht, die Ausnahme zu sein?«
»Jawohl, Mylady.« Hugh legte den rosafarbenen Kristall zurück, lehnte sich an den Tisch und schob eine Hand an den Griff seines Schwerts. »Scarcliffe gehört mir, und ich werde so lange daran festhalten, wie ich lebe.«
Sie sah ihn fragend an. »Das bezweifle ich nicht, Mylord. Worum genau geht es in dieser Legende?«
»Es heißt, dass der wahre Herr von Scarcliffe zwei Dinge tun muss. Erstens muss er den letzten verbleibenden Stein eines alten Schatzes bewahren und zweitens muss er die restlichen Steine von Scarcliffe finden.«
Alice blinzelte. »Dann ist der grüne Stein also tatsächlich wertvoll?«
Hugh zuckte mit den Schultern. »In den Augen meiner Leute, ja. Sie glauben, dass er Teil dieses Schatzes ist. Außer dem grünen Stein sind alle Edelsteine bereits vor langer Zeit verschwunden, und der Kristall befand sich in der Obhut des örtlichen Konvents, bis ihn irgendjemand vor einer Woche stahl.«
»Stahl?«
»Ja. Und zwar in einem höchst ungünstigen Augenblick.«
Sie sah ihn scharf an. »Kurz nachdem Ihr auf Scarcliffe ankamt, um es zu Eurem Eigentum zu erklären.«
»Ja.« Die Frau ist wirklich nicht dumm, dachte Hugh. »Ich will den Stein zurückhaben, weil er meinen Leuten ihre Ängste und Unsicherheiten nehmen wird.«
»Ich verstehe.«
»Wenn ich mit dem Stein und auch einer passenden Braut wiederkehre, werden die Menschen mich als ihren rechtmäßigen Herren anerkennen.«
Alice sah ihn beklommen an. »Ihr wollt mich heiraten?«
»Ich will mich mit Euch verloben.« Alles zu seiner Zeit, dachte er, denn schließlich wollte er sie nicht vollkommen verschrecken. Nun, da er einen Plan gefasst hatte, glaubte er an ihn, aber er brauchte Alice’ Mitwirken. Er hatte keine Zeit, um sich eine andere Braut zu suchen. »Für kurze Zeit.«
»Aber eine Verlobung ist fast ebenso bindend wie ein eheliches Treuegelübde«, protestierte Alice. »In der Tat behaupten einige Kirchengelehrte sogar, dass es nicht weniger bindend ist und dass es im Grunde keinen Unterschied gibt.«
»Ihr wisst so gut wie ich, dass diese Gelehrten in der Minderheit sind. In Wahrheit werden Verlobungen regelmäßig gelöst, vor allem, wenn sich beide Beteiligten einig sind, so wie wir.«
»Hmm.«
Alice schwieg und runzelte nachdenklich die Stirn. Hugh sah, dass sie seinen Vorschlag genauestens überdachte, um rechtzeitig mögliche Haken zu erkennen. Eingehend beobachtete er sie, und plötzlich wurde ihm klar, dass sie ihn an ihn selbst erinnerte, wenn er eine seiner Kriegslisten schmiedete. Er wusste genau, was sie dachte, und es war ein eigenartiges Gefühl, ihr direkt ins Hirn zu blicken, als kenne er Alice bereits seit einer Ewigkeit, und er fühlte sich ihr ungewöhnlich nahe.
Die Erkenntnis, dass ihr Verstand ebenso scharf war wie der seine und dass er vielleicht auf ganz ähnliche Weise arbeitete, beunruhigte ihn. Hugh war es nicht gewohnt, etwas Persönliches mit einem anderen Menschen gemeinsam zu haben, und schon gar nicht mit einer Frau.
Plötzlich erkannte er, dass er immer angenommen hatte, sich von allen anderen zu unterscheiden, dass er ein gänzlich anderes Leben führe, losgelöst und distanziert von ihnen, selbst wenn er mit ihnen zusammen war. Er hatte, seit er denken konnte, das Gefühl gehabt, auf einer Insel zu leben, aber in diesem Augenblick hatte er den Eindruck, dass Alice diese Insel mit ihm teile.
Sie wiederholte: »Ich hatte eigentlich vor, in ein Kloster einzutreten, sobald mein Bruder seine Studien aufnimmt.«
Hugh schüttelte die eigenartigen Gedanken ab und zwang sich, auf den Einwand zu reagieren. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass eine Lady, deren Verlobung in die Brüche geht, in ein Kloster eintritt.«
»Ja.« Mehr sagte Alice nicht, denn offensichtlich dachte sie immer noch eingehend über die ganze Sache nach.
Es fuhr ihm durch den Sinn, ob sie ebenso strahlend und leidenschaftlich aussähe, wenn sie mit einem Mann das Nachtlager teilte, und dieser Gedanke brachte ihn auf die Frage, ob sie wohl schon bei einem Mann gelegen hatte. Schließlich zählte Alice bereits dreiundzwanzig Jahre, und Dunstans Überlegungen waren nicht dumm. Man konnte sie nicht gerade als scheue, ungeöffnete Rosenknospe bezeichnen.
Andererseits war sie alles andere als kokett. Berücksichtigte man ihre Mineralien- und Käfersammlungen und die wissenschaftlichen Geräte in ihrem Arbeitszimmer, erhielt man den Eindruck, dass sie sich eher für Fragen der Naturphilosophie begeisterte als für körperliche Leidenschaft und Lust.
Alice kreuzte die Arme vor der Brust und klopfte mit ihren Fingern auf den Oberarmen herum. »Wie lange müssten wir verlobt sein, damit Ihr Eure Ziele erreicht, Mylord?«
»Dazu kann ich keine genaue Angabe machen, aber ich denke, ein paar Monate müssten genügen.«
»Ein paar Monate.«
»Das ist nicht besonders lange«, beruhigte er sie. »Bis zum Frühjahr musste ich in Scarcliffe alles unter Kontrolle haben.« Bis zum Frühjahr werden wir längst ordnungsgemäß verheiratet sein. »Ihr habt doch nicht schon etwas anderes vor?«
»Nein, aber …«
»Da könntet Ihr doch ebenso gut den Winter auf Scarcliffe verbringen. Und Euer Bruder wird mir natürlich ebenfalls willkommen sein.«
»Und was ist, wenn Ihr Euch mit einer Frau verloben wollt, die Ihr ehrlich zu ehelichen wünscht, während ich unter Eurem Dach lebe, Sir?«
»Über diese Lage werde ich mir Gedanken machen, wenn sie sich einstellt.«
»Ich bin mir nicht sicher. Das passt so gar nicht in die Pläne, die ich mir für meine Zukunft vorgestellt hatte.«
Da er immer mehr Boden unter den Füßen gewann, sprach Hugh zuversichtlich weiter. »Ehe Ihr Euch verseht, ist der Frühling da. Und wenn es Euch auf Scarcliffe nicht gefällt, finden wir bestimmt einen passenderen Aufenthaltsort.«
Alice fuhr herum. Sie faltete die Hände hinter dem Rücken und begann auf und ab zu gehen. »Ihr braucht die Erlaubnis meines Onkels, wenn Ihr Euch mit mir verloben wollt.«
»Von der Seite erwarte ich keinen Widerstand.«
»Ja.« Alice verzog das Gesicht. »Er ist ziemlich versessen darauf, mich loszuwerden.«
»Und seine Freude wird sich noch steigern, wenn er als Brautgeschenk von mir ein paar Gewürze erhält.«
Alice sah ihn abermals scharf an. »Ihr verfügt über einen Gewürzvorrat?«
»Ja.«
»Sprechen wir von wertvollen Gewürzen, Mylord, oder lediglich von minderwertigem Salz?«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Nur das Allerbeste.«
»Zimt? Safran? Pfeffer? Feines weißes Salz?«
»Das alles und noch mehr.« Hugh zögerte, da er nicht wusste, wie viel er ihr von seiner finanziellen Situation verraten sollte.
Die meisten erfolgreichen Ritter, die nicht das Erbe ihrer Väter angetreten hatten, machten ein Vermögen mit Geiselnahmen und Raub. Sie wurden reich, indem sie sich auf Turnieren miteinander maßen oder ihre Schwerter an großzügige Herren verkauften, die sie für ihre Dienste gut belohnten. Nur wenige ließen sich dazu herab, schlichten Handel zu treiben.
Hugh hatte selbst häufig genug Lösegeld für Geiseln gefordert und wertvolle Rüstungen und gute Schlachtrösser auf diversen Turnieren gewonnen, auch bei der Wahl seiner Herren hatte er immer eine glückliche Hand gehabt. Aber die Hauptquelle seines sich ständig vermehrenden Reichtums war der Gewürzhandel.
Bisher hatte es ihm wenig bedeutet, was andere von seiner Betätigung hielten, doch plötzlich merkte er, dass er von Alice wegen seiner Arbeit nicht verachtet werden wollte.
Andererseits war sie eine praktisch veranlagte Frau, und vielleicht hätte sie nichts dagegen. Das Wissen, dass er eine solide Einnahmequelle besaß, gäbe ihr vielleicht sogar eine gewisse Sicherheit.
Geschwind wog Hugh diese verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander ab und beschloss, es mit der Wahrheit zu versuchen.
»Im Allgemeinen spreche ich nicht darüber«, begann er, »aber ich verlasse mich nicht nur auf mein Schwert, was meine Einnahmen betrifft.«
Sie sah ihn überrascht an. »Ihr handelt mit Gewürzen, Sir?«
»Ja. In den letzten Jahren treibe ich regelmäßig Handel mit verschiedenen Kaufleuten aus dem Osten. Falls Ihr also in ein Kloster eintreten wollt, werde ich in der Lage sein, Euch mit einer mehr als respektablen Aussteuer zu versehen, Mylady.«
»Ich verstehe.« Diese Neuigkeit überwältigte sie. »Wenn mich eins der großen Klöster nimmt, werde ich auch eine große Aussteuer benötigen.«
»Natürlich. Klöster sind mindestens so wählerisch wie die heiratsfähigen Männer reicher Adelsfamilien, nicht wahr?«
»Vor allem, wenn sie einen halbwegs schlechten Ruf der Bewerberin ignorieren sollen«, murmelte Alice. »Wenn ich als Eure Verlobte bei Euch lebe, ohne dass wir im Anschluss an die Verlobungszeit heiraten, ist mein Ruf auf jeden Fall dahin.«
Hugh nickte. »Man wird allgemein annehmen, dass wir wie Mann und Frau gelebt haben. Aber, wie Ihr schon sagtet, eine angemessene Aussteuer wird jedes Kloster dazu bewegen, solche Nebensächlichkeiten zu übersehen.«
Alice knetete immer noch ihre Arme. »Aber ich rate Euch, Sir Ralf zu verschweigen, dass Ihr für mich eine Aussteuer bereitstellen wollt, Sir, denn dann versucht er bestimmt, Euch irgendwie das Fell über die Ohren zu ziehen.«
Nur mit Mühe unterdrückte Hugh ein Grinsen der Erheiterung. »Ich habe nicht vor, mir das Fell über die Ohren ziehen zu lassen, Mylady. Keine Angst, ich bin kein Neuling in Geschäftsverhandlungen und verspreche Euch, dass ich nicht zu viel für Euch bezahlen werde.«
Sie runzelte die Stirn, immer noch nicht überzeugt. »Sir Ralf kennt nicht die geringsten Skrupel, wenn es um Geschäfte geht. Er hat sogar die Erbschaft meines Bruders gestohlen.«
»Vielleicht räche ich diesen Diebstahl an ihm, indem ich ihn Euch für einen Hungerlohn abnehme.«
Wieder verfiel Alice in grüblerisches Schweigen und diesmal war sie es, die im Zimmer auf- und abstapfte. »All das würdet Ihr tun, wenn ich Euch bei der Suche nach dem grünen Stein behilflich bin und mich kurzfristig mit Euch verlobe?«
»Ja.«
»Dann liegen Euch diese beiden Dinge sehr am Herzen.«
»Es ist der kürzeste und bequemste Weg zu meinem Ziel.«
»Und deshalb ist es natürlich der Weg, den Ihr wählt«, murmelte sie.
»Ich habe nichts für Zeitvergeudung übrig.«
»Ihr seid ein kühner Mann, Sir.«
»Dann passen wir ja zusammen.« Hugh klang milde.
Alice blieb stehen und sah ihn an. Ihr Gesicht verriet neuerliche Begeisterung. »Also gut, Mylord, ich bin einverstanden. Ich werde den Winter als Eure Verlobte auf Scarcliffe verbringen, und im Frühjahr werden wir die Situation neu überdenken.«
Hugh war überrascht von der Freude, die ihr Einverständnis in ihm weckte. Es war schließlich nur ein Geschäft. Sonst nichts. Er versuchte, die Gefühlsaufwallung zu unterdrücken.
»Ausgezeichnet, dann ist es also abgemacht.«
»Ich sehe allerdings noch ein Hindernis.«
»Welches denn, bitte?«
Alice blieb neben dem Astrolabium stehen. »Mein Onkel wird zwar froh sein, mich loszuwerden, aber an so viel Glück wird er kaum glauben.«
»Macht Euch deswegen keine Gedanken, Lady Alice.« Hugh hatte es eilig, die Sache voranzutreiben, nun, da das Abkommen tatsächlich zustande gekommen war. »Wie gesagt, mit Eurem Onkel werde ich mich schon einigen.«
»Aber Euer plötzlicher Wunsch, mich zu heiraten, wird ihm verdächtig vorkommen«, wiederholte sie.
Hugh runzelte die Stirn. »Und warum?«
»Falls Ihr es noch nicht bemerkt haben solltet«, stellte sie trocken fest, »bin ich bereits weit über das normale Brautalter hinaus.«
Hugh lächelte. »Einer der Gründe, weshalb Ihr so ungemein passend seid, Lady Alice, ist, dass Ihr kein frivoles, unschuldiges, junges Mädchen mehr seid.«
Sie rümpfte die Nase. »Ja, nicht wahr? Ich kann mir gut vorstellen, dass Ihr dieses Geschäft wohl kaum einer Frau vorgeschlagen hättet, die noch nicht erwachsen ist und die keinerlei Erfahrung hat.«
»Genau.« Abermals rechnete Hugh nach, wie viel Erfahrung Alice wohl besaß. »Ich brauche eine Geschäftspartnerin und keine anspruchsvolle Braut, die schmollt und beleidigt ist, wenn ich keine Zeit habe, sie zu unterhalten. Ich brauche eine reife, praktisch veranlagte Frau.«
Ein wehmütiger Schatten legte sich auf Alice’ Gesicht. »Eine reife, praktisch veranlagte Frau. Ja, das ist wohl eine passende Beschreibung für mich, Mylord.«
»Dann gibt es keinen Grund mehr, weshalb unser Arrangement nicht erfolgreich sein sollte.«
Alice zögerte. »Ich bezweifle trotzdem, dass es Euch gelingen wird, meinen Onkel davon zu überzeugen, dass Ihr mich ohne Hintergedanken heiraten wollt.«
»Wie gesagt, überlasst diese Angelegenheit ruhig mir.«
»Ich fürchte, es wird nicht so einfach werden, wie Ihr meint«. Sie sah besorgt aus. »Nachdem Sir Ralf meinen Bruder und mich hierher nach Lingwood Manor geholt hat, hat er mehrere Male versucht, mich zu verheiraten.«
»Was ihm, wie ich sehe, nicht gelungen ist.«
»Nein. Schließlich war er so verzweifelt, dass er sogar eine kleine Aussteuer geboten hat, aber selbst davon ließ sich keiner der Nachbarn dazu bewegen, mich zu ehelichen.«
»Es gab kein einziges Angebot?« Das überraschte Hugh. Schließlich war eine Aussteuer eine Aussteuer, und es gab immer ein paar arme Männer, die dringend auf der Suche nach einem kleinen Vermögen waren.
»Ein oder zwei Ritter mit kleinen Burgen in der Nähe gingen so weit, mich zumindest persönlich in Augenschein zu nehmen. Aber nachdem sie mich erst einmal kennengelernt hatten, verloren sie bald das Interesse.«
»Woran Ihr sicher nicht ganz unbeteiligt wart«, ergänzte Hugh.
Alice errötete zart. »Tja, nun, ich habe keinen der beiden länger als ein paar Minuten ertragen. Der Gedanke, einen von ihnen zu heiraten, reichte aus, um mich völlig hysterisch zu machen.«
»Hysterisch? Ihr wirkt eigentlich nicht wie eine Frau, die zu hysterischen Anfällen neigt.«
Ihre Augen blitzten fröhlich auf. »Ich versichere Euch, in Gegenwart der beiden Bewerber bekam ich sehr schwere Anfälle dieser Krankheit. Danach hat sich das Fieber sofort wieder gelegt.«
»Und der Gedanke, weiterhin auf der Burg Eures Onkels leben zu müssen, war weniger unerträglich als die Vorstellung zu heiraten?«,
Alice zuckte die Schultern. »Bisher war es immer das geringere Übel. Solange ich nicht verheiratet bin, habe ich zumindest noch die Chance, mein Ziel zu erreichen. Nach einer Trauung ist alles vorbei.«
»Wäre eine Ehe denn so schrecklich?«
»Eine Ehe mit einem der Kerle, die mein Onkel ausgesucht hatte, wäre unerträglich gewesen«, sagte Alice bestimmt. »Nicht nur, weil ich unglücklich gewesen wäre, sondern weil keiner von ihnen meinen Bruder geduldet hätte. Waffenträger sind im Allgemeinen grausam und unfreundlich zu Jungen, die zum Kriegshandwerk nicht taugen.«
»Ich verstehe, was Ihr meint«, Hugh nickte. Ihm wurde klar, dass die Sorge um ihren Bruder der wichtigste Faktor bei all ihren Entscheidungen war.
Alice presste die Lippen aufeinander. »Mein Vater hatte für Benedict keine Verwendung mehr, nachdem er von einem Pony gefallen war und sich das Bein gebrochen hatte. Er sagte, Benedict könnte niemals zum Ritter ausgebildet werden und wäre deshalb überflüssig. Nach dem Unfall hat er seinen Sohn vollkommen ignoriert.«
»Es ist durchaus verständlich, dass Ihr Benedict nicht einem weiteren unfreundlichen Menschen aussetzen wollt.«
»Allerdings. Mein Bruder hat genug darunter gelitten, dass unser Vater ihn nicht zur Kenntnis nahm. Ich tat, was ich konnte, um die schlechte Behandlung wieder wettzumachen, aber es hat nicht gereicht. Wie übernimmt man die Vaterrolle im Leben eines Jungen?«
Hugh fiel unwillkürlich Erasmus ein. »Es ist nicht leicht, aber möglich.«
Alice schüttelte sich, als versuche sie, die unglücklichen Erinnerungen loszuwerden. »Nun, damit habt Ihr nichts zu schaffen. Ich werde mich weiterhin um Benedict kümmern.«
»Sehr gut. Ich gehe sofort zu Sir Ralf und spreche mit ihm.«
Hugh wandte sich zum Gehen, das Ergebnis der Verhandlungen beflügelte ihn. Gut, er hatte Alice nur dazu bewegen können, in die Verlobung einzuwilligen, aber eine Verlobung war der erste Schritt zum Ehebund. Sobald sie unter seinem Dach auf Scarcliffe lebte, würde er sich über die Fortsetzung des Abkommens Gedanken machen.
Alice hob gebieterisch die Hand. »Einen Augenblick noch, Sir Hugh. Ich habe Euch davor gewarnt, Sir Ralfs Argwohn zu wecken, da er sonst einen königlichen Brautpreis verlangen wird. Wir brauchen also eine vernünftige Erklärung, weshalb Ihr mich heiraten wollt. Schließlich sind wir uns erst gestern Abend begegnet, und ich habe noch nicht einmal eine Aussteuer.«
»Mir wird schon etwas einfallen.«
»Aber was?«
Hugh starrte sie einen Augenblick lang an. Im Licht der Morgensonne schimmerte ihr Haar feuerrot. Ihr offener, klarer Blick zog ihn magisch an, und auch die Rundungen ihrer Brüste unter dem blauen Kleid waren durchaus annehmbar.
Er trat einen Schritt auf sie zu. Plötzlich war sein Mund wie ausgetrocknet, und er spürte ein wohlbekanntes Ziehen in seinem Schoß. »Es ist offensichtlich, dass es unter den gegebenen Umständen nur eine vernünftige Erklärung für eine Heirat gibt.«
»Und die wäre, Sir?«
»Leidenschaft.«
Sie starrte ihn an, als hätte er in einer fremden, unverständlichen Sprache gesprochen. »Leidenschaft?«
»Ja.« Er trat weiter zwei Schritte auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand.
Alice riss den Mund auf und klappte ihn wieder zu. »Unsinn. Ihr werdet meinen Onkel niemals davon überzeugen, dass ein legendärer Ritter wie Ihr hirnlos genug sein kann, sich aus einem solchen trivialen Grund zu verloben, Mylord.«
Er legte seine Hände auf ihre zarten Schultern und stellte überrascht fest, wie angenehm diese Berührung war. Sie hatte feine Knochen, war aber dennoch kräftig gebaut. Sie strömte eine elastische weibliche Stärke aus, die ihn eindeutig erregte, und war wunderbar lebendig unter seinem Griff; obendrein stieg ihm der Kräuterduft ihres Haars in die Nase.
»Ihr irrt Euch, Madam.« Seine Zunge lag wie geschwollen in seinem Mund. »Hirnlose Leidenschaft ist der einzige Grund, der stark genug ist, um einen Mann alle Vernunft vergessen zu lassen.«
Ehe sie begriff, was er im Schilde führte, zog Hugh sie an seine Brust und presste seine Lippen auf ihren Mund.
In diesem Augenblick fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass der Wunsch, sie zu küssen, bereits seit ihrer ersten Begegnung in der flammenerleuchteten Halle in ihm keimte.
Sie war ein Geschöpf schimmernder Magie. Nie zuvor hatte er eine Frau wie sie berührt.
Er durfte unter gar keinen Umständen zulassen, dass eine Frau ihn derart verzauberte, und er wusste, dass der einzige Weg, um ihn von dieser gefährlichen sinnlichen Neugierde zu befreien, darin bestand, sich dem Impuls zu ergeben. Doch nun, da er den zarten Schauder spürte, der Alice durchrann, überlegte er, ob er vielleicht eine Kraft freigesetzt hatte, die schwerer zu bezähmen wäre als erwartet.
Sie stand vollkommen reglos da, als wisse sie nicht, wohin mit sich, und Hugh nutzte ihre Unsicherheit schamlos aus.
Ihr Mund war so warm und feucht wie Feigen in köstlichem Honig-Ingwer-Sirup.
Ihr Geschmack verzauberte ihn.
Alice zu küssen war berauschender als ein Spaziergang durch ein exotisches Gewürzarsenal. Süß, weich und duftend. Sie strömte eine Hitze aus, bei der sämtliche Sinne eines Mannes dahinschmelzen mussten.
Hugh vertiefte den Kuss in Erwartung einer Reaktion.
Alice’ leises Stöhnen verriet weder Empörung noch Furcht. Sie war einfach völlig überrascht.
Er zog sie enger an sich, bis er ihre weichen Brüste unter dem Kleid zu spüren bekam. Ihre Hüften lagen an seinen Schenkeln, und sein Glied stellte sich begierig auf.
Alice seufzte, und als wäre plötzlich der Bann gebrochen, der jede Bewegung verhindert hatte, packte sie die Ärmel seiner Tunika, stellte sich auf Zehenspitzen und klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn. Hughs Herz begann schneller zu schlagen.
Dann öffneten sich ihre Lippen für ihn. Er nutzte die Gelegenheit und plünderte die üppige Höhle, die er fand. Plötzlich überwältigte ihn das Verlangen, sie ganz zu besitzen, als wäre sie ein namenloses Gewürz, exotischer und tausendmal edler als alles, was es bisher für ihn gab.
Hugh war sich der Wirkung einzigartiger Weiblichkeit auf die Sinne der Männer durchaus bewusst. Bereits vor langer Zeit hatte er gelernt, sein Verlangen danach zu mäßigen. Er wusste, dass ein Mann, der seine Erregbarkeit nicht zu zügeln verstand, dazu verdammt war, der Sklave seiner Gelüste zu sein.
Aber plötzlich galt dieses Wissen nichts mehr. Alice war eine allzu betörende Essenz, ihr Geschmack und ihr Duft waren verlockender als alles zuvor Erlebte.
Er wollte mehr. Viel mehr.
»Sir Hugh.« Alice rang nach Luft. Sie löste ihre Lippen von seinem Mund und sah mit großen, überraschten Augen zu ihm auf.
Einen Augenblick lang konnte Hugh nur daran denken, sich ihren Mund wiederzuholen. Er senkte erneut den Kopf, doch Alice trat einen Schritt zurück und sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an. »Einen Augenblick bitte, Sir.«
Hugh zwang sich, tief durchzuatmen. Die Erkenntnis, dass er die eiserne, lebenslang geübte Selbstbeherrschung fast geopfert hätte, traf ihn wie ein Schlag.
Es durfte nicht sein, dass Alice ihn mit der Macht einer Frau zu beherrschen verstand. Es war einfach unmöglich. Seit seiner frühesten Jugend war er immun gewesen gegen weibliche Lockungen, und er hatte gewiss nicht die Absicht, zuzulassen, dass ausgerechnet diese Frau seinen Schutzpanzer durchbrach.
Jeder seiner Schritte gehörte zu dem Plan, sagte er sich. Alice zu küssen war lediglich Teil des Spiels, und ihre geröteten Wangen verrieten ihm, dass die Taktik richtig gewesen war. Die Dame besaß ein gewisses Talent für Leidenschaft – zweifellos ein Vorteil!
»Wie gesagt«, murmelte Hugh. »Ich glaube, dass es mir gelingen wird, Euren Onkel davon zu überzeugen, dass ich von Euch tief ergriffen bin.«
»Die Verhandlungen mit meinem Onkel solltet wirklich Ihr übernehmen, Mylord.« Ihre Wangen glühten. »Ihr scheint Euch mit diesen Dingen auszukennen.«
»Oh ja, das kann ich versichern.« Hugh atmete erneut tief durch und ging zur Tür. »Fangt schon mal an zu packen. Gegen Mittag machen wir uns auf den Weg.«
»Sehr wohl, Mylord.« Als sie ihn ansah, entdeckte er freudiges Strahlen in ihrem Blick.
»Vor unserer Abreise müssen wir nur noch eine Kleinigkeit klären«, sagte Hugh.
Alice sah ihn fragend an. »Und das wäre, Sir?«
»Ihr habt mir bisher noch nicht verraten, in welche Richtung die Reise geht. Es ist an der Zeit, dass Ihr Euren Teil des Abkommens erfüllt, Alice. Wo ist der grüne Stein?«
»Oh, der Stein.« Sie kicherte. »Bei allen Heiligen, bei all der Aufregung hätte ich diesen Teil unserer Abmachung fast vergessen.«
»Der grüne Stein ist immerhin die Hauptsache«, erwiderte Hugh kühl.
Der Schimmer in Alice’ Augen erlosch. »Natürlich, Mylord. Ich werde Euch zu ihm führen.«