Prolog
An einem Ort ohne Zeit
Die Neonröhren über dem Obduktionstisch flackerten hektisch. Ihr zitterndes Licht zauberte gespenstische Schatten auf das Gesicht der jungen Frau, die reglos auf der metallenen Oberfläche lag. Einen Augenblick lang fühlte er sich wie ein Rechtsmediziner, der im Begriff war, eine Leiche zu sezieren. Dann zerstörte das leise Röcheln, das aus der Kehle seines mit Gurten fixierten Opfers drang, diese erheiternde Vorstellung.
„Nein, nein, nein“, sagte er enttäuscht, als er sah, dass die Lider der Frau flatterten und ihr Bewusstsein erneut in sich zusammenfiel. In einer beinahe liebevollen Geste tätschelte er ihre Wange. „Aufwachen. Ich brauche dich und deine Emotionen. Lass mich in deinen Augen lesen, was du fühlst. Das ist das Mindeste, was du für mich tun kannst, nachdem du hier so eine schreckliche Sauerei veranstaltet hast.“
Er nahm einen Wattebausch und drückte ihn auf die Wunde oberhalb ihrer linken Brust. Mit kindlicher Faszination beobachtete er, wie ihr hellrotes Blut den Tupfer binnen weniger Sekunden aufquellen ließ.
Die Frau gab einen gequälten, heiseren Laut von sich. Sie hatte bereits vor zwei Tagen zu schreien aufgehört.
Das Weinen und Strampeln hingegen hatte sie nicht eingestellt. Nicht dauerhaft jedenfalls.
„Das wird jetzt ein bisschen brennen, Lydia“, warnte er sie vor und spülte die Wunde mit Desinfektionsmittel aus.
Lydia.
Er mochte den unschuldigen Klang ihres Namens. Wann immer er ihn aussprach, wurde ihm ganz warm ums Herz. Dann sah er das wunderschöne Lächeln der Frau wieder vor sich, die nun wimmernd und blutverschmiert auf dem kalten Metalltisch lag und nicht mehr den Hauch jener Eleganz besaß, die vor wenigen Wochen seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Nachdenklich betrachtete er die feinen Probeschnitte, die er in Lydias Körper geritzt hatte und die sich zu seinem Leidwesen wieder und wieder mit ihrem Lebenssaft füllten.
Er würde weniger tief schneiden müssen, wenn er die Wirkung seines Werkes nicht durch zu viel Blut beeinträchtigen wollte.
„Auf ein Neues“, sagte er feierlich, griff nach dem Skalpell auf dem Beistelltisch und beugte sich über die schluchzende Frau.
„Hm. Wo setzen wir den nächsten Schnitt, Lydia? Was meinst du? Ich glaube, für das große Finale möchte ich deinen Rücken haben. Aber vorher muss ich mich noch ein bisschen austoben.“
Noch bevor das Seziermesser ihre Haut berührte, bäumte sie sich unter ihren Fesseln auf. Verärgert schüttelte er den Kopf. War es denn zu viel verlangt, dass sie ihm zumindest ein kleines bisschen entgegenkam? Dass sie endlich zu heulen aufhörte und verdammt nochmal ein paar Sekunden lang stillhielt, wenn er sich mit dem Skalpell an ihrer wunderschönen Haut zu schaffen machte?
Es wäre ein Leichtes gewesen, sie bereits nach den ersten Stunden in seiner Gewalt dem Kuss des Todes auszusetzen, der ihre Lippen am Ende der Nacht ohnehin verschließen würde. Doch dann wären seine Worte genau das, was sie immer schon gewesen waren: leer. Unwahr. Gewöhnlich.
Er musste sich in Geduld üben. Den Prozess des Sterbens langsam einleiten, so wie er es während der letzten Tage getan hatte. Lydia zuerst die Nahrung, dann das Wasser entziehen. Ihren Körper von innen verfallen lassen und ihn dann auch von außen für den Exitus aufbereiten.
Denn genau dieser Balanceakt auf dem immer schmaler werdenden Seil ihres Lebens war es, der jedem einzelnen Buchstaben Bedeutung verlieh. Der seine Inspiration ihren Höhepunkt erreichen ließ.
Er setzte die Klinge erneut an, doch Lydias Kampfgeist schien wiedererwacht. Wie von Sinnen warf sie ihren ausgemergelten Körper auf dem kalten Metall hin und her.
„So wird das nichts.“ Resigniert ließ er das Skalpell sinken. Kurz sah er so etwas wie Hoffnung in Lydias geröteten Augen aufflammen. Dann öffnete er ihr in einer blitzschnellen Bewegung die Pulsadern des linken Armes. Gerade so weit, dass das Leben langsam und kontrolliert aus ihr heraussickern konnte.
Er drehte sich um, nahm Stift und Papier zur Hand und starrte Lydia in das schreckensverzerrte Gesicht.
„Keine Sorge, meine Schöne“, sagte er leise. „Du wirst ganz langsam verbluten und noch ausreichend Zeit haben, dich von dieser Welt zu verabschieden.“ Er streichelte ihr sanft über das goldene Haar. „Dein Körper wird meiner Kunst auch dann noch dienen, wenn dein Herz schon längst nicht mehr schlägt.“
Kapitel 1
Samstag, 21. September, 22:45 Uhr
Josef Winter war kein Mann der großen Worte.
Vor allem dann nicht, wenn er nach zwölf Stunden auf dem Revier seinen wohlverdienten Feierabend genießen wollte. Den Mann, der am anderen Ende der Leitung ohne Punkt und Komma auf ihn einredete, schien das nicht im Geringsten zu interessieren.
„Wie gesagt, leider sind die Peperoni aus“, plapperte der Angestellte des PizzaPane fröhlich weiter, nachdem er seinen Monolog über die neue Auswahl an Dips beendet und zur ursprünglichen Thematik zurückgefunden hatte. „Das ist uns noch nie passiert! Ist doch verrückt. Als würden die Leute neuerdings auf scharfes Essen stehen. Wer weiß? Vielleicht ist das jetzt ein Trend. Kann ja sein – kennen Sie diese durchgeknallten Videos, in denen die Kids von heute Schärfe-Wettessen veranstalten? Möglich wär’s doch, dass wir so einer Truppe heute zum Opfer gefallen sind.“
Josef massierte sich die Nasenwurzel. Er hatte sich online eine Pizza bestellt – mit Peperoni als Extrabelag – und war nur wenige Minuten später von einem Mitarbeiter des Lieferdienstes zurückgerufen worden. Zu seinem großen Verdruss von einem überaus engagierten und kommunikativen Mitarbeiter.
„Mhm. Vielleicht“, brummte er lakonisch in sein Handy.
„Alternativ kann ich Ihnen jedenfalls die Tabasco-Sauce empfehlen. Bringt das nötige Feuer auf Ihre Pizza.“
„Nein, danke. Ich esse sie als normale Margherita.“
„Sicher? Kann ich Ihnen sonst noch etwas Gutes tun? Käse im Rand vielleicht? Oder ein kleines Dessert?“
„Nein.“ Josef wertete die Redseligkeit des jungen Mannes als Strafe für seine zunehmend ungesunde Ernährung. Während der letzten Wochen war er kaum zu Hause gewesen und hatte weder die Zeit noch die Lust gehabt, nach Dienstschluss für sich zu kochen. Hin und wieder malte er sich aus, was wohl seine Exfrau zu seinem übermäßigen Fast-Food-Konsum sagen würde. Als Sportfanatikerin durch und durch hatte Sandra schon damals die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn er den Tag mit nichts als einem Kaffee und einer Zigarette begonnen und abends seine erste warme Mahlzeit gegessen hatte.
Immerhin das Rauchen hatte er aufgegeben. Vorübergehend jedenfalls.
„Kommen Sie, man muss sich auch mal etwas gönnen. Meine Mutter sagt immer: Leb dein Leben als gäb’s kein Morgen. Wenn Sie mich fragen, ist das –“
„Danke, ich möchte bitte einfach nur eine Margherita haben. Ziehen Sie den Betrag für die Peperoni von der Rechnung ab. Einen schönen Abend noch.“
Josef beendete das Gespräch, seufzte tief und stand von seinem Sofa auf. Der Fall, der sein Team und ihn beinahe den halben September über in Atem gehalten hatte, steckte ihm noch immer in den Knochen. Ein grausamer Doppelmord an einem Ehepaar, über dessen Motive lange Unklarheit geherrscht hatte, war erst vor wenigen Tagen aufgeklärt worden. Während zunächst die Familien der Opfer in den engen Kreis möglicher Verdächtiger gerückt waren, hatte sich am Ende herausgestellt, dass ein Jahrzehnte in der Vergangenheit liegendes Ereignis der Auslöser für die Bluttat gewesen war. Eine verschmähte Schulfreundin des Ehemannes hatte ihre Gewaltfantasien wahrgemacht und verspätete Rache geübt. Die Sinnlosigkeit dieses Verbrechens erschütterte Josef nach wie vor.
Gähnend schlurfte er ins Badezimmer seiner Anderthalbzimmerwohnung, in die er nach der Scheidung von Sandra gezogen war und die ursprünglich nur eine Notlösung hatte darstellen sollen. Während seine Exfrau und die zwei Töchter im gemeinsamen Haus geblieben waren, hatte Josef sich die überraschend günstige Immobilie in Friedrichshain gemietet. Von dort aus hatte er – mit dem gebotenen Abstand – alles Weitere regeln und den Verkauf des Hauses in die Wege leiten wollen, um dessen Erlös unter ihnen aufzuteilen. Daraus jedoch war bis heute, zwei Jahre später, nichts geworden. Josef fühlte sich wohl auf seinen 35 Quadratmetern und brachte es nicht übers Herz, Amelie und Vanessa aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen.
Wenn die 5-Jährige und die 7-Jährige bei ihm übernachteten, was selten genug vorkam, schlief er auf dem Sofa und überließ den Mädchen sein Schlafzimmer. Meist besuchte er sie zu Hause und nutzte hin und wieder sogar das Gästezimmer, das Sandra ihm anstandslos zur Verfügung stellte.
Josef schüttelte die Gedanken an seine Exfrau ab, die sich mit Vorlieb zu später Stunde einstellten, und öffnete den Spiegelschrank über dem Waschbecken. Er angelte sich eine Ibuprofen aus der fast leeren Verpackung, steckte sie sich in den Mund und spülte sie mit einem Schluck aus dem Wasserhahn hinunter. Als er sich wieder aufrichtete, streifte sein Blick sein Spiegelbild.
Josef sah älter aus als 41, das wusste er. Die mittlerweile über zwanzig Jahre bei der Polizei, drei davon als leitender Ermittler der Mordkommission, hatten ihre Spuren hinterlassen. Sein Gesicht war gezeichnet von zu vielen schlaflosen Nächten, der Blick immer ein wenig zu ernst.
An den Schläfen war sein Haar bereits sichtbar ergraut und insbesondere um die Mundwinkel herum hatten sich tiefe Falten in seine Haut gegraben. Seine verhältnismäßig schlanke Statur verdankte er einzig dem Stress. Und vielleicht der damit einhergehenden Tatsache, dass Kaffee und Nikotin lange Zeit sein Hauptnahrungsmittel gewesen waren.
Der jäh einsetzende Klingelton seines Handys ließ Josef zusammenfahren.
Wenn das wieder dieser Pizza-Heini ist, reißt mir der Geduldsfaden. Dann fiel ihm auf, dass es sein Diensthandy war, das klingelte. Fluchend eilte Josef zurück ins Wohnzimmer und sah mit einem Blick aufs Display seine Befürchtung bestätigt: Die angezeigte Nummer gehörte zur Einsatzzentrale der Direktion.
„Winter?“, meldete er sich barsch.
„Herr Winter, uns wurde ein Leichenfund am Goethe-Denkmal gemeldet. Den Beschreibungen des Zeugen nach zu urteilen ein Mord. Die Kollegen am Tatort haben diese Einschätzung soeben bestätigt. Die Spurensicherung ist schon informiert und dürfte in Kürze eintreffen.“
Josef klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter, schnappte sich Jacke und Autoschlüssel und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
„Bin schon auf dem Weg.“
Kapitel 2
Samstag, 21. September, 23:17 Uhr
Manchmal kam sich Rika Hohenstedt im pulsierenden Herzen Berlins wie ein Fremdkörper vor.
Dann fragte sie sich, wie sie von der norddeutschen Provinz ausgerechnet in eine Metropole hatte ziehen können, die so bunt, laut und aufregend war wie die Landeshauptstadt.
Dabei war die Antwort simpel: Sie hatte vor acht Jahren, kurz nach ihrem 30. Geburtstag, eine Juniorprofessur für die Fächer Literaturwissenschaft und Soziologie an der Humboldt-Universität ergattert. Als sie sich ein Jahr später in den Dekan verliebt und ihn ein weiteres Jahr später geheiratet hatte, war an eine Rückkehr in den Norden nicht mehr zu denken gewesen.
Rika und Oliver Hohenstedt wohnten in einer schicken Altbauwohnung im Bezirk Mitte, besuchten in ihrer Freizeit Theater und Museen und luden sonntags zum Kaffeetrinken ein.
Das entschleunigte Leben, das sie mit ihrem sechs Jahre älteren Ehemann führte, gab ihr das Gefühl, sich in einer sicheren Blase zu befinden. Jenseits des teuren Porzellangeschirrs und der Weinverkostungen unter aufwändigen Stuckdecken aber wartete mehr auf Rika – etwas, das zu Staub zerfiel, wann immer sie sich nahe genug heranwagte.
Auch heute war ihr Versuch der Assimilation an das Klima ihrer Wahlheimat fehlgeschlagen. Sie hatte sich mit zwei Kolleginnen in einem Pub verabredet und sich sogar richtig auf den Abend außerhalb ihrer Komfortzone gefreut. Live-Musik, Bier und lockere Gespräche – all das hatte Rika vorgeschwebt, als sie die Wohnung am frühen Abend verließ.
Kaum hatte sie das stickige Lokal betreten, in dem sich die Gäste dicht an dicht drängten und sie ihr eigenes Wort nicht mehr verstand, war ihre Euphorie jedoch schon wieder verflogen. Jetzt, drei Stunden später, saß sie stocksteif auf einem Hocker an der Bar und wünschte sich, ganz einfach zu Hause geblieben zu sein.
„Unfassbar, wie die Zeit rennt, oder?“, rief Darya neben ihr über den eher mittelmäßigen Gesang des Musikers und die Lachsalven einer Männergruppe hinweg. Die gebürtige Russin sah sie an, als erwarte sie eine Antwort auf diese rhetorisch klingende Frage. Offenbar hatte Rika einen wesentlichen Teil der vorangegangenen Unterhaltung versäumt.
„Da hast du absolut recht. Nur noch zwei Wochen, bis der Wahnsinn wieder beginnt. Ich fühle mich noch gar nicht bereit für das nächste Semester“, kam Martina, die Dritte im Bunde, ihr mit einer Antwort zuvor. Sie waren also zum Arbeitsthema zurückgekehrt.
Rika konnte sich den Meinungen ihrer Kolleginnen nicht anschließen. Sie begrüßte das nahende Ende der vorlesungsfreien Zeit, die sie neben den Korrekturen von Hausarbeiten und Klausuren auch für das Verfassen eigener wissenschaftlicher Abhandlungen genutzt hatte. Sie arbeitete gern theoretisch, fand jedoch wesentlich mehr Freude am Unterrichten.
„Ich glaube, ich werde mich langsam auf den Weg machen“, sagte sie unbehaglich und erntete empörte Blicke.
„Schon? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Ich dachte, wir wollten noch weiterziehen.“ Darya schob die Unterlippe vor, wie immer, wenn sie ihr Bedauern zum Ausdruck bringen wollte.
„Ehrlich gesagt habe ich ein bisschen Kopfschmerzen und bin auch sonst ziemlich kaputt“, erwiderte Rika und kam sich dabei vor wie die größte Spaßbremse in ganz Berlin.
Vermutlich bin ich genau das. Rika Hohenstedt, hauptberuflich Langweilerin. Eine 80-Jährige, gefangen im Körper einer 38-Jährigen.
Darya und Martina waren jeweils nur zwei und drei Jahre jünger als Rika, und doch schienen Welten zwischen ihnen zu liegen. Beide Frauen besaßen eine erfrischend unverkrampfte Art, nahmen sich selbst und das Leben nicht zu ernst und unterschieden sich in ihrer naiven Sorglosigkeit grundsätzlich kaum von ihren Studenten. Rika hingegen war, wenn sie es sich recht überlegte, nie wirklich unbeschwert gewesen. Es hatte immer irgendetwas gegeben – eine Sorge, eine Befürchtung oder eine komplizierte Fragestellung – das ihr durch den Kopf kreiste. Dass die Kolleginnen sie trotz der markanten Unterschiede zwischen ihnen mochten, konnte Rika sich selbst nicht so recht erklären.
„Reisende soll man nicht aufhalten“, räumte Martina ein, klopfte Rika mit der einen Hand auf die Schulter und schnappte sich mit der anderen ihr noch halbvolles Glas. „Vor allem dann nicht, wenn sie so nett sind, ihren Freundinnen ein Getränk dazulassen.“
Rika erwiderte das Lächeln ihrer Kolleginnen und umarmte beide zum Abschied. Als sie aus dem Pub hinaus in die erfrischende September-Kälte trat, lockerten sich ihre verspannten Muskeln merklich.
Ursprünglich hatte sie ein Taxi nehmen wollen, doch ein Spaziergang erschien ihr nun, da sie während der letzten Stunden nichts als verbrauchte Luft geatmet hatte, durchaus verlockend. Sie würde durch den Tiergarten gehen; dieselbe Strecke, die sie bei Tag gern zum Joggen nutzte. Vorbei an dem beeindruckenden Denkmal zu Ehren Goethes, das auf sie als Liebhaberin seiner Schriften eine ganz besondere Faszination ausübte.
Die Hände tief in den Taschen ihres Mantels vergraben, überquerte sie die Hauptstraße und betrat nach einem Fußmarsch von nur wenigen Minuten die Parkanlage.
Zu so später Stunde war Rika noch nie hier gewesen.
Sie fand, dass es etwas Düster-Romantisches an sich hatte, das Herbstgold der Natur einmal im Mondschein zu bewundern.
Nach nur wenigen Schritten war sie umgeben von dem beruhigenden Geräusch der im Wind raschelnden Blätter, das bei Nacht eine ganz eigene Wirkung entfaltete.
Ich sollte öfter mal einen Mitternachtsspaziergang unternehmen, dachte sie und lächelte in sich hinein.
Vielleicht würde sie ja Oliver überreden können, sie zu begleiten. Immerhin hatte er sich ihr zuliebe sogar einmal zu einer gemeinsamen Jogging-Einheit aufgerafft.
Sie hatte sich schon immer gewünscht, ein Hobby mit ihm zu teilen, das zumindest ein kleines bisschen verrückt war.
Die Stadt bei Nacht zu erkunden, kam dem ziemlich nahe, wie sie fand.
Darya und Martina jedenfalls würden Augen machen, wenn sie plötzlich auch etwas Aufregendes zu erzählen hätte.
Schon oft hatte sie sich gewünscht, die Freundinnen würden ihr mit der gleichen Begeisterung zuhören, wie sie es tat, wenn sie den Großstadtabenteuern der Lebefrauen lauschte.
„Träumen wird man ja noch dürfen“, murmelte sie zynisch und beschleunigte ihren Gang ein wenig.
Es dauerte nicht lange, bis das Goethe-Denkmal in ihrem Sichtfeld auftauchte. Rika hatte eigentlich vorgehabt, ein paar Minuten zu Füßen des großen Dichters zu verweilen, doch merkte sie schon von Weitem, dass irgendetwas nicht stimmte.
Als sie näher kam, konnte sie rund um das Denkmal ein riesiges Polizeiaufgebot ausmachen. Ein weißes Zelt, das Rika aus Dokumentationen und Fernseh-Krimis kannte, war zur Rechten der Statue aufgebaut worden.
Das kann nichts Gutes bedeuten, dachte sie mit klopfendem Herzen. Allem Anschein nach hatte sich nur wenige hundert Meter von ihr entfernt ein schweres Verbrechen ereignet.
Auf einmal kam es ihr ganz und gar nicht mehr romantisch, sondern ungeheuer leichtsinnig vor, um diese Uhrzeit ohne Begleitung durch den Tiergarten zu laufen.
Kaum war ihr diese Erkenntnis gekommen, stieg Rika plötzlich der penetrante Geruch nach Alkohol in die Nase.
Im selben Moment, da sie den Kopf auf der Suche nach dem Quell des Gestanks nach links wandte, sah sie aus dem Augenwinkel eine Gestalt aus dem Gebüsch springen und davonlaufen.
Rikas Herz setzte einen Schlag aus, ihre Knie fühlten sich buttrig weich an. Offenbar hatte sie einen Betrunkenen aufgeschreckt, der gerade im Begriff gewesen war, sich zu erleichtern.
Was sonst sollte jemand in einem Busch zu suchen haben?
Den Tatort beobachten, vielleicht.
Sie verscheuchte diesen paranoiden Gedanken wie eine lästige Fliege.
Einen Moment lang erwog Rika, ihren Weg ganz einfach fortzusetzen und an der Polizeiabsperrung vorbeizugehen. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte im Laufschritt zurück zur Hauptstraße.
Das nächste Mal ist es vielleicht kein Betrunkener, der dich aus dem Gebüsch anspringt, sondern ein Mörder.
Es gab menschliche Abgründe, in die hinein sie nicht einmal einen flüchtigen Blick werfen wollte.
Schon gar nicht allein und bei Nacht.