Prolog
Zu sagen, dass Ramsey Scott nie eine Kindheit hatte, wäre untertrieben. Seine Mutter, Gott schütze ihre Seele, starb, kurz nachdem sie ihn auf die Welt gebracht hatte – eine Welt, die durch den Verlust ihrer liebreizenden Seele kälter wurde. Sein immerzu missmutiger Vater, der Marquess of Sterling, nahm den kleinen gewickelten Säugling von der Hebamme entgegen, schritt aus dem Geburtsraum in den Saal und blickte nicht zurück. Es hatte nur wenig Zuneigung zwischen den Eltern gegeben und Ramseys Mutter war nur ein Mittel zum Zweck gewesen … wobei der Zweck ein Erbe war.
Sein Vater hatte nun die Gewissheit, dass seine Linie fortbestehen würde, und so hatte er nur ein Ziel.
Ehre.
Aber nicht auf die Weise, wie diese Tugend Aufmerksamkeit verdiente. Nein, Ehre in ihrer verdorbensten Form, Ehre, die aus der Vollkommenheit kam, aus dem Verzicht auf Skandale, Ehre, die einen hohen Preis hatte. Denn die einzige andere Option, wenn schon keine Ehre, war die Schande. Der Marquess hatte durchaus Erfahrung damit. Die Schande hatte ihn sein ganzes Leben lang verfolgt, durch seinen eigenen Vater … und wie es sich mit der Geschichte nun mal verhielt, musste sie sich in den kahlen Hallen von Glenwood Manor wiederholen. Bevor Ramsey Scott eine Stunde alt war, war sein Lebenspfad festgelegt.
Ein Pfad, der nur ein Ende haben konnte.
Den Ruin.
Denn wer konnte schon Perfektion erreichen?
Niemand.
Doch wer konnte Schande erreichen?
Jeder.
Jeder einzelne von uns.
Kapitel 1
Edinburgh, Schottland – vorerst
Miss Iris Grace Morgan hatte ihren Namen schon immer gehasst, und angesichts der Tatsache, dass sie in nur einer Woche in London ankommen würde, traf sie eine Entscheidung. Sie würde nicht als Iris nach London gehen, die Frau, die keinen Walzer tanzen konnte, selbst wenn es darum gegangen wäre, ihre Seele zu retten, und auch nicht als die junge Dame, die maßlos in allen damenhaften Dingen versagte. Nein, sie würde als Grace ankommen: die Frau, die alles war, was … nun, was sie nicht war. Es konnte nicht schaden, einen Namen zu haben, der etwas andeutete, was sie nicht besaß – Grazie –, und sie hoffte, dass es tatsächlich nützlich sein würde. Immerhin hatte ihre Gouvernante, nun die Frau ihres Vormunds, sie unter die Fittiche genommen und ihr mit großem Aufwand den dringend nötigen Schliff verpasst, zusammen mit einer dringend notwendigen Freundschaft.
Aber sosehr sie es versuchte, Iris – nein, Grace – war sich nicht sicher, ob der Schliff funktioniert hatte. Lord Kilpatrick versicherte ihr, dass sie viele Blicke auf sich ziehen würde, was nett von ihrem Vormund war. Aber sie machte sich nicht darum Sorgen. Sie war sich sicher, dass sie auffallen würde.
Sie wusste nur nicht, ob sie positiv auffallen würde. Wahrscheinlich würde sie über ihre eigenen Füße stolpern, mit einer schrulligen Witwe zusammenstoßen und den Ballsaal mit Limonade übergießen. Das war nicht unwahrscheinlich.
Es war beim letzten Abendessen fast so geschehen, nur dass es keine Limonade, sondern Weißwein gewesen war, und sie war auch nicht über ihre eigenen Füße gestolpert. Es war ein verdammter Stuhl gewesen. Samantha, die Frau ihres Vormunds und ihre einstige Gouvernante, hatte ihr sanft zugelächelt und ihr geholfen, das Chaos zu beseitigen, bevor Mrs Keyes, die Haushälterin, sie weggescheucht und dabei gegluckst hatte.
Grace lächelte bei der Erinnerung daran. Sie liebte es, auf Kilmarin zu leben. Alle Diener waren freundlich und erwarteten nicht, dass sie jemand war, der sie nicht sein konnte. Sothers, der Butler, war sehr geduldig mit ihr und öffnete die Tür extra weit, nur für den Fall, dass sie sich beim Gehen verschätzte, und Mrs Keyes beschwerte sich nicht ein einziges Mal, wenn sie aus Versehen etwas verschüttete oder über etwas stolperte.
Und sogar Samantha. Grace runzelte die Stirn, wenn sie daran dachte, wie oft sie ihr auf die Zehen gestiegen war, als sie ihr den Walzer beibringen wollte. Dieser Tanz war ihre Achillesferse. Sie hoffte inständig, dass sie einfach im Boden des Londoner Ballsaals versinken würde, sobald die ersten Walzerklänge erklangen. Denn während viele junge Damen im Rampenlicht stehen und eine passende Partie finden wollten, war Grace völlig zufrieden damit, einfach nicht aufzufallen. Aber sie würde ihre Saison bekommen und es war nicht mehr lange bis dahin. Nein. Sie planten, Kilmarin schon in wenigen Tagen zu verlassen und zum Londoner Haus des Viscounts zu reisen, wo sie sich in die Gesellschaft einfügen könnte.
Um Himmels willen, das würde ein Desaster werden.
Wenn sie doch mit potenziellen Verehrern nur reden und nicht tanzen müsste. Sie könnte Arabesques mit ihren Worten tanzen! Sie konnte sich zu fast jedem Thema intelligent äußern, und ihre Eltern, Gott hab sie selig, hatten ihr eine Erziehung zuteilwerden lassen, die nicht einmal Eton bieten konnte, aber sie hatten es versäumt, ihr das beizubringen, was sie im Moment am meisten brauchte.
Wie man eine Dame war.
Also erlaubte sie Maye mit großer Beklommenheit und nach mehr als ein paar Gebeten und mehreren nächtlichen Tanzrunden, ihre Sachen für die Reise nach London zu packen.
Es würde nicht so schlimm werden … oder?
Sie kannte die Antwort auf ihre Frage bereits.
Doch. Doch, es konnte schlimm werden.
Zunächst einmal war London nicht so, wie sie es erwartet hatte. Da sie mit ihren Eltern einen Großteil der bekannten Welt bereist hatte, konnte sie sich damit brüsten, die Sphinx in Ägypten oder die Marktplätze in Indien gesehen zu haben, aber London – das war ein Ort, den sie noch nie besucht hatte. Ihr Vater hatte es immer „tristes altes London“ genannt und ihre Mutter hatte ihn nie korrigiert. Grace’ Erwartungen waren zwar gering, aber sie rechnete mit einem gewissen Erstaunen über das Zentrum ihres geliebten Englands. Während der Kutschfahrt zu ihrem Ziel hatte sie Schönheit in der Natur gefunden, in den Wäldern, den Mooren und in ein, zwei Flüssen. Doch als sie sich der Stadt näherten, wo alle ihre Erfolge und Misserfolge stattfinden würden, fühlte sich ihre Brust schwer an, genau wie die dicke Luft, die nach Menschheit und Rauch roch. Ein trüber Nieselregen verschmierte die Kutschenfenster und versperrte ihr die Sicht, als sie in die gepflasterten Straßen Londons einfuhren. Die Luft schien noch stickiger zu sein, und sie blickte zu Samantha hinüber und rümpfte die Nase.
„Sie werden sich daran gewöhnen.“ Samantha lächelte freundlich, wenn nicht sogar leicht amüsiert.
Der Viscount sah zu seiner Frau und drückte ihre Hand. „Es wird schlimmer, je weiter man sich der Stadt nähert. Bedauerlich.“ Er öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, schüttelte aber stattdessen den Kopf und sah aus dem Fenster.
Grace tippte sich ans Kinn. Sie war neugierig, was er hatte sagen wollen. „Muss ich noch etwas wissen?“, fragte sie.
Er wandte sich ihr zu, sein Ausdruck war zwiegespalten. „Sie haben wohl bei Ihren Reisen durch Indien schon Slums gesehen. Sie sind auch hier ein Problem und die Hygiene ist grauenvoll, falls vorhanden. Noch ein Grund, warum ich das schottische Landleben bevorzuge.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist ein legislatives Problem, für das das Parlament wenig getan hat, und für mich ein wunder Punkt.“
„Ich verstehe.“ Grace nickte.
Samantha legte den Kopf schief und sah ihren Mann an, äußerte sich aber nicht zu dem Thema.
Grace wandte sich wieder dem Fenster zu. „Wo ist Ihr Zuhause?“
„In Mayfair natürlich. Es liegt ganz in der Nähe des Hyde Parks, in den Sie sich zweifellos oft zurückziehen werden.“
„Wunderbar“, hauchte Grace, dankbar dafür, dass es einen Aspekt Londons gab, der ihr gefallen könnte.
„Aber Sie müssen daran denken, vorsichtig zu sein“, fügte Samantha hinzu und hob eine Augenbraue. „Sie sind jetzt in London und müssen sich an alle Anstandsregeln halten.“
Grace unterdrückte ein Stöhnen. „Verstanden.“
„Verstanden heißt nicht, dass Sie vorhaben, sich an diese Anstandsregeln zu halten“, gab Samantha wissend zurück. Ihre grünbraunen Augen waren groß und wachsam; ihr Ausdruck verriet auch, dass sie ein mündliches Versprechen erwartete, dass Grace sich an die gesellschaftlichen Regeln halten würde.
Grace stieß einen langen Seufzer aus. Sobald sie den Atem freigegeben hatte, hob sie eine Hand. „Ich weiß, kein Seufzen. Verflixt, das wird eine Katastrophe werden. Ich atme sogar falsch.“
Samantha griff quer durch die Kutsche nach ihrer Hand und tätschelte sie. „Sie machen viel mehr richtig, als Sie falsch machen. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Erfolge, nicht auf die Misserfolge. Wir alle sind in etwas nicht gut, aber wenn nur darauf unser Fokus liegt, verlieren wir uns selbst.“ Sie sprach so weise, als wäre sie doppelt so alt, und zog dann sanft ihre Hand zurück.
Grace verzog die Lippen. „Müssen Sie immer recht haben?“
Der Viscount lachte leise.
Samantha schaute ihn amüsiert an. „Ich habe nicht immer recht. Er kann das sicher bestätigen!“
Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt, dass der Viscount nichts erwiderte und auch keine Beweise für ihre Behauptung lieferte, und so stand Grace wieder im Mittelpunkt des Gesprächs.
„Ich warte noch immer auf das Versprechen“, ermutigte Samantha sie.
Und so war es tatsächlich. Samantha hatte eine Engelsgeduld und das Aussehen eines Engels. Sie ermutigte immer, anstatt zu entmutigen. Es war unmöglich, ihr böse zu sein oder sich von ihrem Beharren darauf, dass Grace sich an die Regeln hielt, die sie aufgestellt hatten, beleidigt zu fühlen. Manchmal war es ärgerlich, manchmal aber auch so angenehm wie heißer Tee an einem kalten Tag.
Heute war es von der irritierenden Sorte, aber das zeugte mehr von Grace’ Gemütszustand als von Samanthas. Nichtsdestotrotz nickte Grace. „Ich verspreche es. Ich werde mein Bestes tun, um alle Anstandsregeln zu beachten, die von einer Dame verlangt werden.“
„Ich danke Ihnen. Und ich werde immer in der Nähe sein, um Sie zu unterstützen; Sie sind nicht allein.“ Samantha nickte zum Abschluss.
Die Kutsche rüttelte ein wenig, als sie in eine Spurrille fuhr, und bog dann links in eine andere Straße ein. Grace blickte wieder aus dem Fenster. Das Kondenswasser tropfte herunter und bildete kleine Rinnsale auf dem Glas, die die Sicht noch mehr verzerrten. Sie wünschte sich, die Feuchtigkeit wegzuwischen, aber sie hatte Angst, ihre Handschuhe schmutzig zu machen – nur eine weitere Einschränkung der Gesellschaft. Indien und Ägypten sahen immer einladender aus, sogar mit ihrer erstickenden Hitze. Wenigstens brauchte sie dort keine Handschuhe zu tragen.
„Wir werden in Kürze eintreffen“, verkündete der Viscount, warf einen Blick zum Fenster und tat die Aussicht als allzu vertraut ab.
Tatsächlich hielt die Kutsche nach einigen Minuten an, rollte noch ein paar Meter vorwärts und kam dann zum Stehen. Sie schwankte leicht, als der Kutscher von seinem Sitzplatz aufstand. Ein Diener öffnete den Schlag, wodurch Licht, Nebel und der Geruch von Rauch hereinwirbelten. Grace’ Augen strengten sich an, um alle Details des Ausblicks aufzunehmen. Sie wartete ungeduldig, als Samantha ausstieg, dann reichte sie dem Diener die Hand, damit auch sie aussteigen konnte.
Das Erste, was ihr auffiel, waren die Bäume. Sie überragten den Gehweg und bildeten ein Blätterdach über den Häusern, die die Straße säumten. Als ihr Blick die Straße hinunterschweifte, bemerkte sie die Buchsbäume, an der Vorderseite der Häuser. Es war ordentlich, es war gepflegt.
Es war nicht natürlich.
Aber andererseits, was hatte sie denn erwartet? Dies war eine kultivierte Stadt, und sie konnte sich von der perfekt gepflegten Vegetation eine Scheibe abschneiden. Sie war eine wilde Rose, aber sie wurde in London eingepflanzt und musste sich daher an ihre Umgebung anpassen. Sie konnte es schaffen; sie würde es schaffen. Es gab keine Herausforderung, vor der sie zurückgeschreckt wäre, und sie hatte nicht vor, jetzt damit anzufangen.
„Kommt.“ Der Viscount gestikulierte zum Vordereingang seines Londoner Hauses, und als sie sich ihm näherten, schwang die Tür auf und gab den Blick auf einen Butler frei, der jünger war als jeder andere Butler, den sie je gesehen hatte.
Er stand steif und aufrecht da, den Blick nach vorn gerichtet, als ob er als Soldat vor der Tür stünde und sich darauf vorbereitete, seinen befehlshabenden Offizier zu treffen. Grace musterte ihn. Er konnte nicht viel älter als sie sein, aber er war viel größer. Seine Schultern schienen zu breit für seine schlanke Statur, und sie wandte den Blick ab, als sie sich der Tür näherten.
„Danke, John.“ Der Viscount nickte und erntete eine Verbeugung, die so zackig wie ein Salut daherkam. „Erlauben Sie mir, Ihnen meine Frau und mein Mündel vorzustellen.“ Der Viscount gestikulierte zu Samantha und Grace.
Grace vermied es, ihre Augen weit aufzureißen. Selbst sie wusste, dass es nicht üblich war, sich den Bediensteten vorzustellen.
John – sie hatte noch nie einen Butler mit einem so normalen Namen gekannt – wandte seinen Blick zuerst Samantha zu und verbeugte sich tief, dann wandte er sich Grace zu und vollzog wortlos denselben Gruß. Seine Augen hatten die Farbe von satter Erde und waren absolut unleserlich.
Grace nickte zur Begrüßung und folgte dann ihren Vormunden in das gut ausgestattete Haus. Die drei Stufen zur Tür führten in eine Eingangshalle aus glänzendem Marmor. Die hohen Decken vermittelten ein offenes Gefühl, das in merkwürdigem Kontrast zu dem nebligen und düsteren Außenbereich stand. Eine Person kam aus dem langen Flur auf sie zu, und als sie näher trat, bemerkte Grace die Schönheit der Frau in der Kleidung der Haushälterin. Sie konnte nicht älter als fünfundvierzig sein, aber sie hatte eine würdevolle Erscheinung, die mehr Klasse ausstrahlte, als eine Hilfskraft sie üblicherweise besaß. Grace bemerkte ihr warmes Lächeln und spürte einen Schauer der Neugierde. Noch nie zuvor hatte sie eine so hübsche Haushälterin gesehen. Zugegeben, sie war noch nie in einer Londoner Residenz gewesen, aber sie stellte sich die Personen auf den höheren Posten des Butlers und der Haushälterin eher als ältere Angestellte vor, die aufgrund ihres Alters eine gewisse Würde besaßen.
„Ach, Mrs Marilla!“ Der Viscount grüßte die Haushälterin herzlich, und Grace blieb zurück und beobachtete das Geschehen mit Interesse.
„Mylord.“ Die Haushälterin knickste ergeben, und ihr Blick richtete sich erfreut auf Samantha. „Und dies ist bestimmt Eure reizende Frau. Ich muss sagen, das gesamte Personal freut sich so sehr für Euch! Darf ich Euch meine persönlichen Glückwünsche aussprechen, ebenso wie die des gesamten Personals?“ Sie machte einen Knicks vor Samantha, sichtlich erfreut.
Samantha trat einen Schritt vor und nickte freundlich. „Danke.“
„Und dies ist Miss Iris Grace Morgan, mein Mündel.“
Grace trat näher und nickte langsam, im Versuch, mehr Grazie zu zeigen, als sie eigentlich besaß, auch wenn es nur vor einer Dienstbotin war. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber mit Grace angesprochen werden. Und es ist schön, Sie kennenzulernen.“
Samantha lächelte sie anerkennend an. Sie konnte vielleicht nicht gut knicksen, aber zumindest konnte sie ohne Folgen nicken. Wenn sie nur dem Rest der Londoner Gesellschaft zunicken könnte, aber sie hatte das Gefühl, dass ein gut ausgeführtes Nicken beleidigender sein würde als ein schlecht ausgeführter Knicks.
„Wir freuen uns sehr, dass Sie hier sind“, erwiderte Mrs Marilla und klatschte dann sanft in die Hände. „Alles ist bereit, Mylord. Und ich habe die Köchin über Eure Ankunft informiert, und es werden Erfrischungen serviert, wann immer es gewünscht wird. Gibt es sonst noch etwas, womit ich Euch dienen kann?“
Grace wandte sich dem Viscount zu und beobachtete, wie er anerkennend lächelte. „Nein, es ist alles in Ordnung, wie immer. Mit Ihnen und Mrs Keyes ist mein Leben gut organisiert. Wir werden in einer halben Stunde im roten Salon Tee trinken.“
Die Haushälterin nickte. „Soll ich Sie zu Ihren Zimmern bringen, Miss Grace?“
Grace warf ihren Vormunden einen kurzen Blick zu, dann sah sie wieder zur Haushälterin. „Ja, bitte.“
„Hier entlang.“ Mrs Marilla deutete auf die Treppe und führte Grace in den zweiten Stock hinauf.
Grace warf einen Blick nach unten zu dem Viscount und seiner Frau. Sie hielten einander an den Händen, während der Viscount Samantha in ein Nebenzimmer brachte. Grace errötete und wandte den Blick ab. Der Viscount und Samantha waren noch nicht so lange verheiratet, dass sie gegen ihre offensichtliche Zuneigung immun war, aber es war ihr nicht mehr so peinlich. Vielmehr sah sie darin ein großartiges Beispiel dafür, wie Liebe sein sollte. Aus ihrer Hingabe ging klar hervor, dass sie sehr verliebt waren, und das war liebenswert anzusehen. Solche Gedanken ließen sie auf die Zukunft blicken, die vor ihr lag, denn die Liebe könnte auch für sie in greifbarer Nähe sein.
Gerade als sie darüber nachdenken wollte, blieb die Haushälterin vor einer großen Tür aus Ahornholz stehen. „Das sind Ihre Zimmer. Ich habe sie von Regina vorbereiten lassen, und falls Sie irgendetwas brauchen, sie ist Ihr persönliches Dienstmädchen und wird sich um alles Nötige kümmern. Und Sie können auch mich jederzeit um Hilfe bitten. Wir sind so froh, Sie hier zu haben, Miss Grace.“
Grace bedankte sich und betätigte dann sanft die Messingklinke zu dem Zimmer, in dem ihr Abenteuer beginnen würde.
Ja, sie hatte sich fest vorgenommen, den nächsten Schritt im Leben als ein Abenteuer zu betrachten. Es war weit weniger beängstigend, es so zu sehen. Schließlich war ein Großteil ihres Lebens ein Abenteuer nach dem anderen gewesen; dies war einfach eine andere Art davon.
Durch die Fenster gegenüber der Tür fiel Licht auf den polierten Holzboden, und Grace hielt einen Moment inne, um sich mit dem Raum vertraut zu machen. An einer der Wände befand sich ein zartes Himmelbett mit einer geblümten Tagesdecke, was das Zimmer ausgesprochen feminin wirken ließ. Neben dem Bett stand ein Beistelltisch, auf dem eine durchsichtige Kristallvase mit gelben Tulpen stand. Als Grace ihren Blick weiter schweifen ließ, sah sie jenseits des Fensters eine grüne Fläche, die nach ihr rief. Einen Fuß vor den anderen setzend, ging sie zum Fenster und schob die dünnen Vorhänge beiseite, die ihr die Sicht versperrten. Der Blick ging auf die andere Seite der Straße, die direkt vor dem Haus entlangführte, auf einen schmalen Streifen mit Bäumen und Gras, der sich zwischen einer anderen Häuserreihe befand. Ein Rotkehlchen flog von einem hohen Ast und stürzte sich auf die Wiese darunter, dann wurde es von einem vorbeihuschenden Eichhörnchen aufgeschreckt. Das Rotkehlchen flüchtete sich in den dunstigen grauen Himmel.
Grace atmete tief durch und drehte sich dann um, um den Rest ihres Zimmers zu betrachten. Neben dem Fenster gab es einen Schreibtisch, und an derselben Wand befand sich der Kamin mit zwei gemütlichen Sesseln, die das warme Flackern der Flammen einrahmten. Ein Spiegel und eine Frisierkommode vervollständigten den Raum, bevor ihr Blick zur Tür zurückkehrte. Es gefiel ihr gut, denn sie hatte die Erwartung, dass dieses Zimmer der perfekte Rückzugsort sein würde, wenn es nötig war.
Und sie war sich sicher, dass ein Rückzugsort manchmal sehr notwendig sein würde. Samantha hatte erklärt, dass sie gleich nach ihrer Ankunft an mehreren gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen würden, und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sich ihr Terminkalender nicht weiter füllen würde. Es gab jedoch einen Aspekt, der ihnen allen Sorgen bereitete.
Der Duke of Chatterwood.
Kurz gesagt, der Duke war Samanthas Vater. Aber da Grace mit einem wunderbaren Vater gesegnet gewesen war, war sie nicht geneigt, dem Mann, der Samantha und ihre Schwester, Lady Liliah Heightfield, gezeugt hatte, den Titel eines Vaters zu verleihen. Der Duke war ein grausamer, tyrannischer Mann, dessen unterdrückende Art seine Töchter dazu gezwungen hatte, unterzutauchen.
Aber sie waren nach London zurückgekehrt. Verheiratet und als solches unter dem Schutz ihrer Ehemänner, aber keine von ihnen vertraute dem Duke. Sein Stolz war tödlich verwundet worden. Und Grace hatte mehr als einmal gehört, dass der Viscount nicht damit rechnete, dass der Duke eine solche Kränkung ungesühnt lassen würde.
Grace hatte versucht, diese Möglichkeit als Rechtfertigung dafür zu nutzen, in Schottland zu bleiben. Aber der Viscount, Samantha und Lord und Lady Heightfield wollten nichts davon hören. Sie hielten das für feige, und tatsächlich hatten sie nichts zu verbergen. Aber sie würden besonders vorsichtig und wachsam sein. Die Entscheidung war also gefallen … und hier fand Grace sich wieder.
In London.
Sie setzte sich an das schwach brennende Feuer und seufzte.
Wohl oder übel würde sie ihr Debüt geben.
Und sie ging davon aus, dass es eher übel laufen würde.