1
London, 1825
Justin Kinmurrie, der Herzog von Kylemore, warf einen Blick zum Bett, wo seine Mätresse scheinbar erschöpft auf den zerwühlten Laken lag. Seine Gnaden hegte den Verdacht, dass die Erschöpfung nur vorgetäuscht war, doch seine Lust war zu erfüllend befriedigt worden, als dass er sich von diesem Anflug von Falschheit hätte aus der Ruhe bringen lassen.
Er war gerade dabei gewesen, sein Halstuch zu binden, und hielt nun inne, um ihren auf dem Rücken liegenden nackten, weichen Körper zu bewundern, der in der Nachmittagssonne schimmerte. Die zart gerundeten Hüften. Den leicht nach innen gewölbten Bauch. Die herrlichen Brüste, zwischen denen der taubenblutrote Rubinanhänger ruhte, den er ihr zwei aufregende Stunden zuvor aus Anlass ihres einjährigen Zusammenseins überreicht hatte.
Einen köstlichen, nicht enden wollenden Moment lang verweilte sein Blick auf diesen üppigen weißen Rundungen mit den rosigen Spitzen. Dann ließ er ihn zu ihrem Gesicht gleiten, das in seiner blassen Reinheit an ein Madonnenbildnis erinnerte.
Sogar jetzt, nach all der Zeit, die sie bereits zusammen waren, ließ der Anblick ihres sündigen Leibes, gepaart mit dem Antlitz einer Heiligen, allzu männliche Erregung durch seinen Körper zucken.
Sie war schön.
Sie war die berüchtigtste Frau Londons.
Und sie gehörte ihm. Sie trug genauso zu seinem hohen Ansehen bei wie seine perfekt geschneiderte Kleidung, seine berühmte Herkunft oder seine reichen Anwesen.
Er gestattete sich ein leichtes Lächeln über sein Gesicht huschen zu lassen, als er sich wieder ihrem großen vergoldeten Spiegel zuwandte, um sich fertig anzukleiden.
»Soll ich nach Ben Ahbood rufen, um Euch zur Hand zu gehen, Euer Gnaden?« Ihre außergewöhnlichen Augen, hellgrau und glasklar, schauten ihn wie immer ausdruckslos aus ihrem makellosen, unbewegten Gesicht an. Gelegentlich fragte er sich, ob dies wohl der Grund für die Faszination war, die sie auf ihn ausübte – die ihr eigene Gleichgültigkeit, die im Gegensatz zu ihren Fähigkeiten als Geliebte stand.
Nein, es war mehr als das.
Es war das Versprechen, dass bei der richtigen Berührung, dem richtigen Wort, dem richtigen Mann ungeahnte Leidenschaft und tiefe Gefühle hinter diesem ernsten Blick warteten. Der Herzog hatte sich trotz des Wohlbehagens, das ihn gerade erfüllte, nie zu der Annahme verleiten lassen, diese mächtige Mauer jemals durchbrochen zu haben. Und nach einem Jahr als ihr Gönner beschlich ihn allmählich die Erkenntnis, dass es ihm auch nie gelingen würde.
War sie sich im Klaren darüber, wie faszinierend sie durch diese Gleichgültigkeit wirkte? Es hätte ihn überrascht, wenn dem nicht so wäre. Sie war so schlau wie ein ganzes Tal voller Füchse und hatte ihre Gefühle streng im Griff.
»Mylord?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich schaffe es allein.« In Wahrheit löste der riesige, stumme Diener, über den das Gerücht kursierte, er wäre ein Eunuch, Unbehagen in ihm aus. Doch er hätte sich eher kielholen lassen, als diese beschämende Tatsache zuzugeben.
Sie streckte ihren geschmeidigen Körper, diesen Körper, der ihn gleichermaßen verrückt machte und ihm mehr Vergnügen schenkte, als er sich je hätte vorstellen können. Kylemore merkte, wie seine Erregung zurückkehrte. Am Funkeln in ihren Augen erkannte er, dass es auch ihr – warum musste sie auch so aufmerksam sein? – nicht entgangen war.
»Eigentlich ist es noch gar nicht so spät.« Eine schmale Hand glitt nach oben, um mit dem Rubin zu spielen. Die Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit – was ihr vollkommen bewusst war, wie er merkte – auf die runden, vollen Brüste, die er so verlockend fand.
»Ich habe heute Nachmittag noch zu tun, Madam.«
»Das ist aber schade«, sagte sie gleichgültig und streckte dabei die Hand nach einem blauen Negligé aus, das auf dem Boden lag. Kylemore ignorierte bewusst ihren nackten Rücken und ihre Pobacken, die sich bei der Bewegung anspannten – zumindest ignorierte er den Anblick so weit, wie es einem normalen Mann möglich war.
So war es immer zwischen ihnen gewesen – vom ersten Moment an, als er vor sechs Jahren ihrem kühl musternden Blick in einem brechend vollen Salon begegnet war. Damals war sie die Mätresse eines anderen Mannes gewesen. Und danach hatte sie sich trotz Kylemores Bemühungen, ihr Interesse zu wecken, noch einen weiteren Gönner genommen. Sie hatte sich erst zu dem gegenwärtigen Arrangement bereit erklärt, nachdem ein kleines Vermögen den Besitzer gewechselt hatte und detaillierte Verträge aufgesetzt worden waren, die eine ganze Horde von Anwälten einen Monat lang auf Trab gehalten hatten.
Doch wenn er geglaubt hatte, ihre subtilen Machtkämpfe wären beendet und er hätte diese Frau endlich in seinen Besitz gebracht, sah er sich getäuscht. Wenn überhaupt möglich, hatte sich das Spiel zwischen ihnen sogar noch verschärft. Und wenn es auch nach außen so aussehen mochte, dass er alle Vorteile auf seiner Seite hatte, wusste er doch, dass seine Mätresse ebenfalls über mächtige Waffen verfügte. Ihre Schönheit. Ihre Gleichgültigkeit. Vor allem aber die Tatsache, dass er sie schon vor sechs Jahren gewollt hatte und – der Teufel sollte sie holen! – sie immer noch wollte.
Mit widerwilligem Bedauern beobachtete Kylemore, wie sie ihre geschmeidigen Rundungen mit dem Negligé verhüllte. Nicht dass die durchsichtige Seide den herrlichen Leib, der darunter lag, hätte verbergen können.
Sie warf ihr schwarzes, bis zur Taille reichendes Haar zurück und trat hinter ihn. Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel.
»Und ich kann Euch nicht dazu bringen, Eure Meinung zu ändern, Euer Gnaden?« Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihren warmen Körper an seinen. Der Duft einer gerade befriedigten Frau, vermischt mit dem sinnlichen Hauch des Parfüms, das sie bevorzugte, stieg ihm in die Nase. Er schloss die Augen, als ihre geschickten Finger sich am Verschluss seiner Hose zu schaffen machten und dann hineinglitten, um sein Geschlecht zu streicheln, das schon wieder steif wurde.
Die Schnelligkeit und Heftigkeit, mit der er reagierte, ließ ihn ihre Hand zur Seite schieben. Ein Mann, seinem Verlangen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, war nicht mehr denn ein Tier. »Das nächste Mal.«
Sie ließ sich keinen Verdruss anmerken, zuckte nur die Achseln und lehnte sich gegen einen der Bettpfosten, um ihn dabei zu beobachten, wie er seine von ihr in Unordnung gebrachte Kleidung wieder richtete. Er zog seinen Gehrock an und drehte sich um.
»Ich danke Euer Gnaden für Eure unendliche Freundlichkeit.« Sie trat zu ihm und küsste ihn auf den Mund.
Sie küssten sich selten. Ein Kuss als Geste der Zuneigung war ein noch nie da gewesenes Ereignis, und genau so hatte Kylemore diesen Kuss empfunden. Sie versuchte nicht, ihn zu verführen. Nach einem Jahr würde er das bemerken. Davon abgesehen hatte er ihr bereits den extravaganten Anhänger geschenkt. So habgierig sie auch sein mochte, konnte sie kaum hoffen, ihm einen weiteren Edelstein abzuluchsen, der eines Maharadschas würdig wäre.
Nein, er konnte also davon ausgehen, dass sie ihn geküsst hatte, weil sie es hatte tun wollen.
Dieser nahezu unfassbare Gedanke hatte gerade angefangen, Gestalt anzunehmen, als sie sich schon wieder von ihm löste. Die weichen rosigen Lippen, die sich so süß auf seine gedrückt hatten – und süß war das einzige Wort, das ihm in diesem Zusammenhang in den Sinn kam –, verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Ich wünsche Euch einen guten Tag, Euer Gnaden.«
Er griff nach ihrer Hand, und immer noch unter dem Eindruck der Erinnerung ihres Kusses – was vollkommen absurd war angesichts der Ausschweifungen, denen sie sich an diesem Nachmittag hingegeben hatten – führte er ihre schmalen Finger mit einer Ehrfurcht an seine Lippen, die einer Prinzessin gebührt hätte.
Als er den Kopf wieder hob, fing er in ihren silbergrauen Augen einen Ausdruck des Erstaunens auf, der dem seinen ähnelte. »Ich wünsche Euch auch einen guten Tag, Madam«
Er ließ ihre Hand los und ging mit großen Schritten aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und aus dem kleinen Anwesen, das er ihr vor einem Jahr gekauft hatte. Doch egal, wie weit er sich auch entfernte, es gelang ihm nicht, die Erinnerung an ihren Mund auf seinem, an ihren fast schon keuschen Kuss abzuschütteln.
Seine berüchtigte, gefährliche, rätselhafte Soraya. Sie war für ihn noch immer genauso undurchschaubar wie vor sechs Jahren.
Sie lauschte dem entschlossenen Schritt des Herzogs beim Verlassen des hübschen Hauses. Er bewegte sich immer so, als wüsste er ganz genau, wohin er wollte. Das war eines der ersten Dinge gewesen, die sie an ihm bemerkt hatte.
Doch einen Augenblick lang, als sie ihn küsste, hatte er jung und unsicher gewirkt, so gar nicht wie der kühle, selbstbeherrschte Herzog von Kylemore. Nachdenklich trat sie hinter einen grellbunten – außerordentlich geschmacklosen – chinesischen Wandschirm und tauschte das blaue Negligé gegen einen schlichten Baumwollumhang. Es klopfte an der Tür, als sie gerade wieder hinter dem Wandschirm hervorkam.
»Herein«, rief sie, während sie gedankenverloren auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke aufsammelte. Das Haus verfügte über das gesamte, für einen Haushalt dieser Größe nötige Personal, das vom Herzog bezahlt wurde – doch alte Gewohnheiten legte man nicht so schnell ab.
Eine große, stämmige Gestalt in gestreiften orientalischen Gewändern trat ein und musterte sie aus scharfen dunkelbraunen Augen.
»Ich habe die Mädchen unten Wasser für dein Bad heiß machen lassen, Verity«, sagte er mit jenem schweren Yorkshire-Akzent, den ihm abzugewöhnen sie sich vergeblich bemüht hatte.
»Danke.« Verity Ashton, die die ganze Welt nur als die unvergleichliche Soraya kannte, schaute sich in dem verwüsteten Schlafzimmer um. »Ich kann es kaum fassen, dass mein Leben als Soraya schließlich doch zu Ende ist.«
Der Mann stieß einen Seufzer aus und nahm seine wallende Kopfbedeckung ab. Sofort verwandelte sich der undurchschaubare Ben Ahbood, der stumme arabische Wächter von Londons skandalumwitterter Halbweltdame, in Benjamin Ashton, einen aus Nordengland stammenden Bauernjungen, der so unverkennbar englisch war wie Schweinepasteten oder die weißen Klippen von Dover. »Hast du dem hohen Herrn irgendwas gesagt?«
Verity ignorierte den Anflug von Feindseligkeit gegen den Herzog. Ihr jüngerer Bruder hatte keinen ihrer Beschützer gebilligt, doch aus irgendeinem Grund hielt er für Kylemore immer besondere Schmähungen bereit. Sie mutmaßte, dass sie Ausdruck einer Abneigung waren, die der Herzog teilte, wenn er sich denn dazu herablassen würde zuzugeben, dass er einem solch niederen Geschöpf wie dem Diener einer gefallenen Frau Emotionen entgegenbrachte.
»Nein, du und ich waren uns einig, dass es besser wäre, einfach zu verschwinden.«
Ben gab einen missbilligenden Laut von sich. »Aber jetzt fühlst du dich deswegen schlecht. Ich begreife einfach nicht, wie so eine weichherzige Närrin wie du in dieser Welt voller Halsabschneider überhaupt überleben kann.« Er nahm ein Tablett von der Frisierkommode und begann, die verstreuten Teller und Gläser sorgfältig ineinanderzustapeln. Sie wusste, dass das Durcheinander seinem Gefühl für Ordnung gänzlich zuwider war.
In den vier Jahren mit ihr hatte Ben sich im Grunde nie mit ihrem Gewerbe abgefunden. Wäre er nicht erst zehn gewesen, als sie sich für diesen Gelderwerb entschieden hatte, hätte er sie davon abgehalten – das wusste sie. Wäre er andererseits nicht so jung gewesen und ihre Schwester sogar noch jünger, hätte sie vielleicht eine andere Wahl gehabt.
»Ich glaube … ich glaube, der Herzog ist ein unglücklicher Mensch«, sagte sie leise und verdrängte dabei die alten Erinnerungen. Sie dachte selten über die Vergangenheit nach. Doch der heutige Tag stellte einen Schlusspunkt dar, sodass ihr unwillkürlich die Anfänge von Soraya in den Sinn gekommen waren.
Ben bedachte sie mit einem völlig unbeeindruckten Blick.
»So unglücklich wie man eben ist mit einem riesigen Vermögen, einem ansprechenden Gesicht und allem, was man sich nur wünschen kann. Er ist nichts weiter als verwöhnt. Es wird ihm nicht gefallen, sein Spielzeug zu verlieren. Aber mit seinem Vermögen wird er sich schon bald was Neues kaufen. Mach dir keine Sorgen um deinen vornehmen Pinkel.«
»Einfach zu verschwinden, ohne auf Wiedersehen zu sagen, erscheint mir so gemein. Wir brauchen uns doch nicht davonzustehlen. Als ich die Mätresse des Herzogs wurde, wusste er, dass das Arrangement nur für ein Jahr gilt. Er hat sogar einen Vertrag unterschrieben.«
»Er war damals so verrückt nach dir, dass er sogar seine Seele verkauft hätte, wenn du ihn darum gebeten hättest. Und er hätte dabei selig gelächelt. Glaub mir, Mädchen – eine schriftliche Vereinbarung bedeutet so einem Mistkerl von Herzog gar nichts. Als er dich bekam, hatte er schon fünf lange Jahre nach dir gegiert. Er wollte dich unbedingt haben – egal, wie hoch der Preis war.« Sie senkte den Kopf und musterte den schönen türkischen Teppich unter ihren Füßen. Es handelte sich dabei tatsächlich um den einzigen echten orientalischen Gegenstand im Raum.
»Das ist wohl wahr.«
Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, den Herzog nicht geküsst zu haben. Jede Frau von zweifelhaftem Ruf, die ihr Geld wert war, wusste, dass das nur Ärger heraufbeschwor.
»Du bist jetzt achtundzwanzig, Verity. Du wirst bald zu alt für diesen Blödsinn sein. Dann wollen wir doch mal sehen, ob unser hochwohlgeborener Kylemore es sich zweimal überlegt, ehe er dich gegen was Jüngeres eintauscht.«
Verity lachte kurz auf. »Bei dir klingt das so, als wäre ich schon uralt!«
Ihr Bruder lächelte sie an. »Ach was, zum Abdecker musst du wohl noch nicht. Aber du hast das hier schon lange Zeit geplant. Ändere jetzt nicht wegen unangebrachtem Mitleid deine Meinung.«
»Du hast recht.« Der Herzog war stets nur Mittel zum Zweck gewesen – ihre Chance, dieses unnatürliche Leben für immer hinter sich zu lassen. Er würde sich schon bald wieder von dem Schaden erholen, den sein Stolz durch ihr Weggehen erleiden mochte. »Soraya gibt es nicht mehr.«
Bens Lächeln wurde breiter. »Das ist großartig, Verity. Und dann will ich dir noch was sagen – ich werde wirklich froh sein, wenn ich auch diesen verdammten Ben Ahbood, den Lieblingseunuchen des Sultans, hinter mir lassen kann!«
Eine Stunde nachdem er seine Mätresse verlassen hatte, stand der Herzog von Kylemore in seiner großen Bibliothek und stritt sich mit seiner Mutter.
Das war nichts weiter Ungewöhnliches. In guten Zeiten war die Beziehung zwischen Kylemore und der Herzogin als schwierig zu bezeichnen – und gute Zeiten waren immer nur kurz und selten. Der heutige Zusammenstoß aber war sogar noch erbitterter als gewöhnlich.
»Du wirst heiraten, Justin! Das schuldest du deinem Namen und deiner Familie. Du schuldest es mir. Du schuldest es dem Titel.« Dieser Streit war nicht neu, aber seine Mutter hatte sich an diesem Nachmittag mit besonderer Heftigkeit hineingestürzt. Groß und schlank stand sie ihm gegenüber, wild entschlossen, ihre Wünsche durchzusetzen.
»Es gibt Momente, in denen ich glaube, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn der Titel in ewige Vergessenheit geraten würde«, entgegnete Kylemore müde, während er sich mit einem Ellbogen auf die marmorne Kamineinfassung stützte und auf den kalten Rost blickte.
»Justin! Was würde dein lieber verstorbener Vater sagen, wenn er dich hören könnte?«
»Mein Vater war zu sehr dem Alkohol, dem Opium und den schmutzigen Sünden des Fleisches verfallen, um sich darum zu scheren.«
»Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen?«
»Weil es stimmt.« Kylemore schaute auf. Mit dem Gefühl der Unvermeidlichkeit beobachtete er, wie seine Mutter ein Spitzentüchlein hervorzog, um sich damit die Augen zu tupfen.
»Womit um Himmels willen habe ich einen so gefühllosen Sohn verdient?«
»Ich glaube nicht, dass Ihr die Diskussion in dieser Richtung fortführen wollt, Madam«, schloss er kühl.
Seine Mutter konnte nach Lust und Laune Krokodilstränen vergießen. Sie dabei zu beobachten, wie sie ihr Taschentuch zerknüllte, rief bei ihm nur Überdruss hervor.
»Letitia wäre die perfekte Ehefrau für dich, Justin.«
Kylemore unterdrückte einen Schauder. »Sie wäre die perfekte Spionin für Euch, meint Ihr wohl eher.« Seine Mutter drängte ihm schon seit Jahren ihr Mündel, Lady Letitia Wade, auf, doch in letzter Zeit hatten ihre Bemühungen fast schon verzweifelte Züge angenommen. Vielleicht weil sie merkte, dass ihr Einfluss auf ihren Sohn immer mehr im Schwinden begriffen war.
Für Margaret, die Herzogin von Kylemore, zählte nur eins – Macht. Um die zu erreichen, hatte sie die halbe Regierung verführt, gelogen, Intrigen gesponnen und manipuliert. Völlig bedenkenlos hatte sie alles und jeden vernichtet, der sich ihren Absichten in den Weg gestellt hatte. Er hatte sie oft genug dabei beobachtet.
Doch ihre einflussreichen Tage gingen ihrem Ende entgegen, und das wusste sie. Die käsebleiche Letitia, die ihr schon immer vollkommen hörig gewesen war, im Haushalt ihres Sohnes unterzubringen, war somit etwas wie der letzte Versuch, die Stellung zu halten.
Um das zarte Kinn der Herzogin legte sich ein eigensinniger Zug. »Die Leute reden schon. Wenn du jetzt nicht das einzig Richtige tust, wird der Ruf des armen Kindes unwiderruflich zerstört sein.«
»Wenn tatsächlich geklatscht wird, dann gibt es dafür nur einen Grund, und der seid Ihr.« Kylemore machte einen Schritt auf sie zu. »Ich werde diese kleine, schafgesichtige Petze nie in mein Bett nehmen. Wenn man sich das Maul zerreißt, weil sie unter meinem Dach schläft, obwohl eine Anstandsdame anwesend ist, möchte ich darauf hinweisen, dass da schnell Abhilfe geschaffen werden kann. Der Witwensitz ist bezugsfertig.«
Der wütende Aufschrei seiner Mutter hatte nichts Gekünsteltes an sich. »Ich soll die Stadt verlassen? Mitten in der Saison? Du musst verrückt sein. Jeder wird dich für deine Grausamkeit und deine rüde Vernachlässigung verdammen, wenn du mir etwas so Schreckliches antust.«
Kylemore hatte die Nase voll. Er mochte sie vielleicht nicht die gesamten siebenundzwanzig Jahre seines Lebens gehasst haben, doch, Himmel, er hatte plötzlich das Gefühl, als ob dem so wäre. Und die vollendete Rache war so naheliegend. Der Augenblick war gekommen, um der Herzogin zu zeigen, wie schrecklich grausam er sein konnte.
Er erlaubte sich ein kaltes Lächeln. »Ich glaube nicht. Die Welt wird meine Vorgehensweise für einen frisch verheirateten Mann für vollkommen gerechtfertigt halten.«
Natürlich begriff seine Mutter nicht sofort. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit den tiefblauen Augen und den schwarzen geschwungenen Brauen – ein Gesicht, das ihm jedes Mal entgegensah und das er verabscheute, wenn er in einen Spiegel blickte – entspannte sich vor Erleichterung. »O Justin! Du hast mich aufgezogen. Lieber Himmel, ich hätte von selbst darauf kommen müssen. Letitia wird ganz außer sich sein vor Freude. Sie hat immer ein tendre für dich gehabt.«
Es fiel Kylemore nicht weiter schwer, sein Lächeln zu bewahren. »Das bezweifle ich.« Er wusste, dass das Mündel der Herzogin Angst vor ihm hatte. Dass das junge Ding ihn überhaupt als Ehemann in Erwägung zog, ohne schreiend ins nächste Kinderzimmer zu flüchten, sprach Bände über Margarets Einfluss auf sie. »Ich fürchte, Ihr habt mich falsch verstanden, Mutter.«
Die Herzogin war eine scharfsinnige Frau, wenn auch Eitelkeit und Eigennutz ihr Urteilsvermögen manchmal trüben mochten. »Tu nichts Unbesonnenes, nur um mir eins auszuwischen, Justin. Denk an die Ehre der Kinmurries«, sagte sie plötzlich ernst.
»Oh, die Ehre der Kinmurries steht bei mir an erster Stelle, liebste Mutter.« Er sah, wie sie beim scharfen Klang, mit dem er das Kosewort aussprach, zusammenzuckte.
»Ich beabsichtige, eine Braut nach Hause zu führen, die diese Ehre mit Stolz erfüllen wird.«
»Justin …« Sie streckte die Hand nach ihm aus, doch er wich vor ihr zurück. Es bereitete ihm Genugtuung zu sehen, dass sie es jetzt wirklich mit der Angst bekam.
»Ich rechne nicht mit einer langen Verlobungszeit, Mutter. Meine Frau wird ihre Pflichten so bald wie möglich aufnehmen wollen. In Anbetracht dessen sollten Letitia und Ihr Euch umgehend um die Vorbereitung des Umzugs kümmern.« Er deutete eine Verbeugung in ihre Richtung an. »Meine Hochachtung.« Entschlossenen Sinnes schritt er aus der Bibliothek.
Verity war gerade in der Küche, als das Dienstmädchen zu ihr kam. »Verzeihung, Miss, aber Seine Gnaden ist im Salon und fragt nach Euch.«
»Was?« Sie wirbelte so schnell herum, dass der Kerzenhalter aus Ton, den sie gerade hatte einpacken wollen, ihren Händen entglitt und auf die Fliesen fiel.
»O Miss!« Elsie flatterte um sie herum und rang die Hände angesichts der Scherben auf dem Boden. »O Miss, rührt Euch nicht, sonst schneidet Ihr Euch noch.«
»Schon gut, Elsie.« Doch eigentlich hatte Verity den wuchtigen braunen Kerzenhalter ganz gern gemocht. »Hast du gerade gesagt, dass der Herzog von Kylemore da ist?«
»Ja, Miss. Ich hole einen Besen und kehre die Scherben zusammen.«
Das angstvolle Pochen von Veritys Herz ließ die Aufregung des Dienstmädchens wegen der Scherben in den Hintergrund treten. Warum war Kylemore hier? Er besuchte sie mit fast schon militärisch anmutender Regelmäßigkeit jeweils am Montag, Dienstag und Donnerstag. Er kam, nahm sich sein Vergnügen und ging wieder. Gelegentlich schickte er eine Kutsche, die sie in die Stadt ins Theater oder zu einer Feier brachte. Doch wenn er Kensington verlassen hatte, kam er niemals am selben Tag wieder zurück.
War es Zufall, dass es nun an ebenjenem Abend passierte, an dem sie aus seinem Leben verschwinden wollte? Wahrscheinlich hatte er es irgendwie herausgefunden. Doch wie? Sie war so vorsichtig gewesen.
Ihre Hände zitterten, als sie die schmutzige Schürze abstreifte und an Elsie vorbeitrat, die sich um die Überreste des Kerzenhalters kümmerte. Verity wurde der legendären Soraya in ihrem schlichten grauen Musselinkleid kein bisschen gerecht, doch den Herzog gegen sich aufzubringen, indem sie ihn warten ließ, erschien ihr unklug. Wenn er herausgefunden hatte, was sie beabsichtigte, musste sie so viel guten Willen bekunden, wie sie aufbringen konnte.
Zwar trat sie mit hoch erhobenem Kopf in den Salon, doch ihr Herz raste. Das, was sie vorhatte, war eigentlich nicht unrechtmäßig, doch eine strenge Auslegung dessen, was rechtmäßig war, wurde unwichtig, sobald man es mit einem mächtigen Mann zu tun hatte. Und ein Herzog war nun einmal so ziemlich das Mächtigste, was es gab.
»Euer Gnaden? Was für ein … unerwartetes Vergnügen.«
Langsam drehte er sich um und riss sich von der Betrachtung der leeren Stellen auf den Wänden los. Der Kunsthändler war vor einer Stunde mit den weniger bemerkenswerten Gemälden, die Kylemore als angemessen für die Behausung seiner Mätresse erachtet hatte, gegangen.
Verity stürmte vor, ehe er etwas sagen konnte. »Ich werde uns Tee bringen lassen. Oder würde es Euer Gnaden vorziehen … nach oben zu gehen?«
Dieser in seiner Offenheit schon ungehobelte Vorschlag war der großen Soraya unwürdig, doch sie war völlig durcheinander.
Der verwirrte Blick des Herzogs richtete sich mit fast dem gleichen Ausdruck auf sie, mit dem er die leeren Wände betrachtet hatte. »Ihr seht … anders aus.«
Das konnte sich Verity sehr gut vorstellen. Soraya zeigte sich ihrem Beschützer immer in den besten und teuersten Kleidern – oder mit gar nichts.
Kylemore sah sich in dem leer geräumten Zimmer um. »Was geht hier vor?«
Verity stieß Sorayas Lachen aus – leise, heiser und ungeheuer verführerisch. »Euer Gnaden haben mich in einem Moment erwischt, in dem ich mich mit dem Haushalt beschäftige. Wir säubern das Haus.« Mit einstudierter anmutiger Eleganz ließ sie sich auf ein Sofa sinken und bedeutete dem Herzog, ebenfalls Platz zu nehmen.
»Wir? Von meiner Mätresse erwarte ich nicht, dass sie sich mit Hausarbeit abplagt. Wenn Ihr mehr Dienstboten benötigt, braucht Ihr mich nur darum zu bitten.« Er setzte sich ihr gegenüber hin und verströmte dabei aus jeder Pore jene ihm eigene blaublütige Aura. Seine enzianblauen Augen musterten sie kritisch.
Sie zuckte die Achseln. »Es gefällt mir, wenn alles nach meinen eigenen Vorstellungen erledigt wird, Euer Gnaden. Das Haus gehört schließlich mir.« Sie hoffte, dass er sich daran erinnern würde, wenn sie erst fort war.
»Ihr habt Schmutz auf der Wange.«
Es war unglaublich, doch sie errötete. Sie, die ihre Keuschheit im Alter von fünfzehn Jahren verkauft hatte, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der heutige Tag schien voller einmaliger Ereignisse zu sein.
Der Kuss. Der zweite Besuch des Herzogs. Und jetzt ihr Erröten.
Vielleicht war wirklich der Moment gekommen, dass die großartige Soraya sich zur Ruhe setzte.
»Ich habe Euch mit meinem Aussehen verstimmt«, stellte sie gleichmütig fest. »Ich werde mir gleich etwas Passenderes anziehen, um Euer Gnaden gebührend zu empfangen.« Sie machte Anstalten, sich zu erheben.
»Nein, ich war unhöflich. Bitte verzeiht.«
Vor Überraschung setzte sich Verity wieder hin.
Das war wirklich noch nie vorgekommen! Sie meinte, ihren Ohren nicht trauen zu können – ihr stolzer, schwieriger Liebhaber hatte sie um Entschuldigung gebeten!
Die Miene des Herzogs gab keine Emotionen preis. »Ihr seht wie immer atemberaubend aus.«
»Danke«, erwiderte sie, obwohl sich seine Bemerkung nicht unbedingt nach einem Kompliment angehört hatte.
»Ihr werdet eine Aufsehen erregende Herzogin abgeben.«
Wenn sie nicht gewusst hätte, dass es unmöglich war, hätte sie angenommen, er habe zu tief ins Glas geschaut. Ihre Angst ließ so weit nach, dass sie allmählich begann, sich über Kylemores seltsamen Humor zu ärgern.
»Euer Gnaden belieben zu scherzen.«
Kylemores Augen funkelten hart. »Ich bin weit davon entfernt zu scherzen, Madam.« Seine tiefe Stimme nahm ihren befehlsgewohnten Klang an. »Ich bin hier, um Euch darüber in Kenntnis zu setzen, dass wir heiraten, sobald ich eine Sondergenehmigung erwirkt habe.«
Der Schock ließ sie nun ein echtes Lachen ausstoßen. »Jetzt weiß ich, dass Ihr mich wirklich verspottet.« Sie stand auf, um ihm ein Glas Wein zu bringen, doch er streckte die Hand aus und fasste nach ihrem Handgelenk, um sie aufzuhalten.
»Das ist eine seltsame Antwort auf meinen Antrag.«
»Ich habe nicht gehört, dass mir ein Antrag gemacht worden wäre«, sagte sie, ehe sie sich zurückhalten konnte.
»Ich möchte, dass Ihr meine Frau werdet.«
Sie blickte nach unten in sein Gesicht und bemerkte den Muskel, der auf seiner Wange zuckte. Sie erkannte, dass er von heftigen Gefühlen beherrscht wurde. Nicht nur das – er schien es mit seiner hirnrissigen Idee sogar ernst zu meinen.
»Euer Gnaden, wie sehr ich mich von Eurem Interesse auch geschmeichelt fühlen mag, müsst Ihr doch verstehen, dass Euer Vorschlag unmöglich ist.« Als sich ein eigensinniger Zug um seinen Kiefer legte, fuhr sie mit festerer Stimme fort. »Selbst wenn die Welt, Euer Name und Eure Familie solch eine Mesalliance gutheißen würden, fürchte ich doch, dass mein Stolz so etwas nicht zuließe.«
»Stolz?« Er sprach das Wort so aus, als wäre es unvereinbar mit einem gefallenen Geschöpf wie ihr. »Das ist ein gesellschaftlicher Aufstieg, wie Ihr ihn Euch in Euren kühnsten Träumen nicht habt vorstellen können.«
»Meine Träume sind ausgesprochen bescheiden.«
Neben einem wachsenden Gefühl der Unwirklichkeit war Verity wütend. Nur ein herrschsüchtiger Tyrann konnte erwarten, dass sie für dieses verrückte Angebot dankbar war. Sie war schlau genug, um zu erkennen, dass er irgendeinen Plan verfolgte, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, wie der wohl aussehen mochte.
Eine eingebildetere Frau hätte das Angebot des Herzogs wohl einem plötzlichen Anfall von Leidenschaft zugeschrieben, doch Verity machte sich nichts vor. Er plante etwas zu seinem eigenen Vorteil. Und sie hatte nicht vor, sich in seine Pläne hineinziehen zu lassen.
Sie, eine Herzogin? Die Vorstellung war so unrealistisch, dass sie schon wieder komisch war.
Sie behielt einen kühlen Tonfall bei. »Bitte, lasst mich los. Euer zärtliches Werben hinterlässt wahrscheinlich einen ganzen Ring von blauen Flecken.« Das stimmte nicht ganz. Sein Griff war zwar fest, doch im Grunde tat er ihr nicht weh.
»Ich lasse Euch los, wenn Ihr mir geantwortet habt.« »Ich dachte, das hätte ich schon.« Fast ihr ganzes Leben lang war sie gezwungen gewesen, die Wünsche von ichbezogenen Männern zu befriedigen. Jetzt war bei ihr eine Grenze erreicht. »Aber wenn Euer Gnaden darauf bestehen – hier ist meine Antwort: Ich habe mich damit einverstanden erklärt, Eure Mätresse zu werden, Mylord, doch keine Macht auf Erden könnte mich dazu bewegen, Eure Frau zu werden.«
Hätte er seinen lächerlichen Vorschlag weniger arrogant vorgebracht, wäre sie vielleicht versucht gewesen, ihre Ablehnung etwas milder klingen zu lassen. Aber vielleicht war sie einfach nur nicht mehr in der Lage, wo die Flucht jetzt so dicht bevorstand, ihre natürliche Offenheit zu beherrschen, die sie als Soraya verborgen hatte.
Vor Wut stieg ihm die Röte in die Wangen. »Ihr antwortet übereilt, Madam, und mit einem Hochmut, den ich doch wohl nicht verdient habe. Ich bin hergekommen, um Euch aus der Gosse in den ehrenwerten Stand der Ehe zu erheben.«
»Zumindest habe ich in der Gosse meine Freiheit.«
Er sprang auf und blickte auf sie hinunter. Nicht einmal in den heftigsten Momenten der Leidenschaft hatte es so viel echte Gefühle zwischen ihnen gegeben. »Ihr sprecht sehr leichtfertig von der Gosse. Ihr vergesst, dass ich Euch mit einem Wort vernichten könnte.«
Der Herzog ragte groß und mächtig über ihr auf, und sein schlanker muskulöser Körper strahlte Kraft aus. Doch Verity weigerte sich, vor ihm zu kuschen. Verity, nicht Soraya. Irgendwo im Verlaufe dieser Begegnung war Soraya für immer verschwunden.
»Ganz reizend, Sir. Ich bin von Eurem Charme so überwältigt, dass ich fast versucht bin, Euren Antrag anzunehmen.«
Verity dachte, dass er sie vielleicht schlagen würde – er, der seine Hand noch nie im Ärger gegen sie erhoben hatte. Sie wappnete sich dagegen. Sie hatte in der Vergangenheit Gewalt ertragen müssen. Sie könnte sie wieder ertragen.
Doch unglaublicherweise beherrschte er seine Wut. Er ließ ihren Arm mit einer ironischen Geste los. »Es hat keinen Zweck, jetzt weiterzureden. Ihr seid durcheinander und könnt nicht klar denken.«
Verity unterließ es, darauf hinzuweisen, dass er auch nicht gerade ein Vorbild an Gelassenheit war; schließlich hatte sie nach diesem Nachmittag ohnehin nicht vor, ihn je wiederzusehen.
Ganz normal zu sprechen kostete sie große Anstrengung. »Wie Euer Gnaden wünschen.« Geh einfach!, rief ihr Herz. Geh einfach, und lass mich in Ruhe.
Insgeheim hatte sie den Herzog von Kylemore immer gemocht, denn sie spürte den einsamen Kampf, den er ausfocht, um seine perfekte Fassade aufrechtzuerhalten. Doch sein bestürzender, völlig unpassender Heiratsantrag und sein Verhalten in den letzten paar Minuten riefen ihr die Gerüchte in Erinnerung, die vom Wahnsinn sprachen, der bei den Kinmurries immer wieder hervorbrach.
Seine geröteten Gesichtszüge zeigten, dass er weit davon entfernt war, seine innere Ruhe wiedergefunden zu haben. »Ich werde morgen wiederkommen, um Eure Antwort zu hören. In der Zwischenzeit könnt Ihr Euch ja auch ein paar Gedanken über die Juwelen der Herzogin von Kylemore machen. Sie lassen den Rubin von heute wie Ramsch vom Jahrmarkt erscheinen.«
Dann haltet Ihr mich also nur für ein habgieriges Weibsstück, dachte Verity ärgerlich. Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. »Ich versichere Euch, dass sich meine Gedanken nur um Diamanten und Smaragde drehen werden.«
Sie konnte sehen, dass ihm ihre Antwort nicht gefiel. »Morgen um vier, Madam. Ich erwarte Eure Einwilligung.« Diesmal gab er ihr keinen zarten Kuss auf die Hand. Offensichtlich stand seiner Mätresse eine Höflichkeit zu, die seine zukünftige Braut nicht zu erwarten hatte.
Kylemore ignorierte ihren Knicks und marschierte zur Tür. »Wie Ihr mittlerweile herausgefunden haben werdet, bekomme ich immer alles, was ich will. Und es besteht kein Zweifel daran, dass ich diese Ehe will.« Er nickte ihr noch einmal kühl zu – ganz der männliche allmächtige Aristokrat – dann ging er.
Doch als Kylemore am nächsten Tag zu dem hübschen kleinen Anwesen geritten kam, war es still und leer. Die berüchtigte Soraya, die Waffe seiner Wahl gegen seine verhasste Familie, war fort.
2
Kylemore trat ins Haus, und es war nur eine Sache von ein paar Augenblicken, festzustellen, dass es nicht nur unbewohnt, sondern auch alles von Wert ausgeräumt worden war.
Hatte sein Heiratsantrag seiner Mätresse so viel Angst eingejagt, dass sie überstürzt geflohen war? Seiner Meinung nach war Soraya keine Frau, der man schnell Furcht einflößen konnte. Gestern schien sie denn auch eher wütend denn verängstigt gewesen zu sein.
Vielleicht hatte die Drohung, die er beim Gehen ausgestoßen hatte, sie irgendwo Zuflucht suchen lassen, doch er bezweifelte das.
Aus langjähriger Gewohnheit behielt er sein Temperament im Zaum. Es hatte keinen Sinn, seiner Wut jetzt freien Lauf zu lassen. Nein, da war es viel besser, sie sich bis zu dem Moment aufzusparen, wenn er das hinterhältige Miststück in die Finger bekam.
Und er würde sie in die Finger bekommen.
Er verweilte kurz im Salon. Er hätte schon gestern merken müssen, dass etwas im Gange war, als so viele Sachen im Haus fehlten. Sie hatte gesagt, sie wäre beim Hausputz.
Hausputz, o ja, das konnte man wohl sagen! Er würde wetten, dass das habgierige Miststück in seinem ganzen Leben noch nie einen Besen in der Hand gehalten hatte. Er musste sich allerdings eingestehen, dass sie dafür passend gekleidet gewesen war. Plötzlich durchzuckte ihn die Erinnerung an das Bild, das sie in ihrem bemerkenswert schäbigen Kleid abgegeben hatte, als sie vor ihm saß.
Wunderschön hatte sie ausgesehen und so verdammt entzückend wie immer. Aber gleichzeitig auch kerzengerade, hoch aufgerichtet und hochmütig, als wäre sie bereits die Herzogin, zu der er sie machen wollte. Und auf subtile Weise irgendwie nicht die Gleiche wie die willfährige Kurtisane, von der er sich am frühen Nachmittag verabschiedet hatte –mit einem Kuss.
Einem Judas-Kuss.
Er erinnerte sich an die unterdrückte Panik, die er bei ihr gespürt hatte, als er ihr den Antrag machte. Nein, sie hatte den Betrug schon lange geplant, bevor er sie gebeten hatte, ihn zu heiraten. Das leer geräumte Haus roch förmlich nach einem sorgfältig vorbereiteten Auszug.
Er wollte gerade nach oben gehen, als er einen gedämpften Laut aus dem hinteren Teil des Hauses vernahm.
Also war er doch nicht allein. Triumphierend riss er die hintere Tür des Salons auf und fand sich in einem ihm völlig unbekannten Flur wieder. Sein Herz pochte mit einer freudigen Erwartung, der ein beschämender Hauch von Erleichterung beigemischt war.
Mit langen Schritten ging er durch den dunklen Flur, wobei seine Stiefel laut auf den Fliesen klapperten. Die Küche war genau wie der Rest des Hauses ausgeräumt worden. Doch hier war es nicht ganz so ordentlich. Sein Blick fiel auf ein paar Krümel neben dem Spülstein.
»Kommt heraus. Ich weiß, dass Ihr hier seid.« Seine Stimme hallte im leeren Raum wider. »Das ist kindisch.«
Er begann, Türen aufzureißen, und war dabei von einer leichten Erheiterung erfüllt, wenn er sich vorstellte, dass die herrliche Soraya sich dazu erniedrigte, sich in einem Schrank zu verstecken. Doch als er die Tür zur Speisekammer weit aufriss, entdeckte er stattdessen ein junges Dienstmädchen, das sich, vor Furcht erstarrt, an den Überresten eines Brötchens festhielt.
»Verdammt!«, fluchte er. »Was um Himmels willen machst du denn da drin? Komm sofort raus!«
Das Mädchen wimmerte, und zu seinem Entsetzen füllten sich seine Augen mit Tränen.
»Hör auf damit!«, fuhr er sie an. »Wo ist deine Herrin?« Und meine Mätresse, dachte er grimmig.
Sie schüttelte nur den Kopf und wich noch weiter vor ihm zurück.
Kylemore holte tief Luft. Wenn er dem Mädchen Angst einjagte, würde sie als Quelle für weitere Informationen nutzlos werden. Doch trotz seiner Ungeduld erinnerte er sich selber noch schwach daran, was für ein Gefühl das war, allein und hilflos zu sein und eine Todesangst auszustehen. Er verfrachtete die unangenehme Erinnerung wieder in einen dunklen Winkel seiner Seele, wo sie mit anderen Ereignissen lauerte, denen er sich nie wieder aussetzen wollte – nie wieder.
»Komm, mein Kind. Ich tu dir nichts.« Er trat von der Tür zurück, als wollte er damit seine guten Absichten beweisen.
Das Mädchen rührte sich nicht von der Stelle, aber zumindest sprach es. »Bitte, Sir! Bitte, Euer Gnaden, tut mir nichts. Mr. Ben hat uns gestern Abend alle weggeschickt, aber ich wusste nicht, wohin ich sollte, und deshalb habe ich mich hier unten versteckt. Bitte, tut mir nichts.«
»Ich habe nicht die Absicht, dir wehzutun«, sagte er schroff, und bedauerte es sofort, einen so harten Ton angeschlagen zu haben, als sie sich wieder an die Wand drückte. Bewusst gab er seiner Stimme einen freundlichen Klang. »Ich gebe dir mein Wort. Komm her, damit ich dich sehen kann.«
Er trat zurück, als das Mädchen zögernd herauskam. »Ich kenne dich doch, oder?«
Ihr Knicks war etwas unbeholfen. »Ja, Euer Gnaden. Elsie. Ich habe Euch gestern hereingelassen. Es war keine böse Absicht dahinter, dass ich hiergeblieben bin. Mr. Ben hat gesagt, wir sollten morgen alle zum Haus Eurer Gnaden gehen, um unseren Lohn abzuholen. Der Käufer übernimmt das Haus erst nächste Woche. Ich wollte niemandem Schaden zufügen, Sir.«
Kylemore schlug den freundlichsten Ton an, den er angesichts des Sturms, der in ihm tobte, zustande bringen konnte. »Ich bin mir sicher, dass du das nicht wolltest, Elsie. Dies wird unser Geheimnis bleiben, wenn du bereit bist, meine Fragen zu beantworten. Es bleibt unser Geheimnis, und ich werde dir noch einen Gold-Sovereign für deine Hilfe geben.«
Elsies Augen wurden bei diesem Angebot groß und rund, obwohl sie immer noch zitterte. Er nahm an, dass der Umgang mit dem Adel außerhalb ihres Erfahrungshorizonts lag.
»Ja, Sir, d-danke, Sir.« Sie versank wieder in einen Knicks.
»Als Erstes – wo ist deine Herrin?«
Elsie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Euer Gnaden. Sie und Mr. Ben sind gestern Abend in einer Mietdroschke weggefahren. Ich war die Einzige, die zurückblieb, aber ich habe nicht gehört, in welche Richtung sie wollten. Sie trugen beide Reisekleidung.« Wenn Elsie nicht gerade um Leben oder Tugend fürchtete, war sie eindeutig nicht dumm.
»Haben sie alle Haushaltsgegenstände mitgenommen?«
»Nein, Sir. Nur ein paar Kisten in der Droschke. Alles andere ist verkauft worden, sogar Miss Sorayas Kleidung. Das kam mir seltsam vor. Denn sie muss doch schließlich etwas anziehen, nicht wahr?« Elsie entspannte sich sichtlich beim Erzählen. »Die ganze Woche sind Kerle ein und aus gegangen und haben Bilder, Möbel und Sachen mitgenommen.«
»Und du glaubst, das Haus ist auch verkauft worden?«
»O ja, Sir. Ein Nabob zieht hier ein. Ich habe letzte Woche einen kurzen Blick auf ihn werfen können – er ist ganz braun und hat eine verbrannte Haut, Sir. Ziemlich hässlich. Mr. Ben hat gesagt …«
Plötzlich merkte Kylemore, was schon die ganze Zeit an ihm genagt hatte. »Mr. Ben? Du meinst wohl Ben Ahbood, den Diener? Er hat geredet?«, fragte er mit scharfer Stimme.
Elsies Selbstvertrauen sackte in sich zusammen. Nervös schaute sie zu Kylemore auf. »Natürlich, Sir.«
»Und er hat die ganze Zeit geredet?« Ein schrecklicher Verdacht nahm in seinem Kopf Gestalt an. Ein Verdacht, dass das geheimnisvolle Verschwinden von Soraya letztendlich doch nicht so geheimnisvoll war, sondern einfach nur die älteste Geschichte der Welt.
Elsie hielt seine Fragen bestimmt für verrückt. »Ja, Sir. Wie hätte er uns sonst sagen können, was wir tun sollten?«
»Und wie hörte sich dieser Mr. Ben an?«, fragte er mit gefährlicher Stimme.
»Wie meint Ihr das, Sir?«
Er zügelte seine Ungeduld, damit sie nicht vor Angst wieder in der Speisekammer verschwand. »Sprach er so wie ich? Oder wie du? Hörte er sich ausländisch an?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, was Ihr mit ausländisch meint. Er hörte sich nicht so an wie ich – und wie Ihr auch nicht, Sir.«
Angesichts der Tatsache, dass Kylemore im geschliffenen Ton der Oberklasse sprach und Elsie einen deutlichen Cockney-Akzent hatte, grenzte das die Möglichkeiten nicht sonderlich ein.
»Und er und … und Miss Soraya.« Er erstickte fast an dem Namen. Seine Mätresse hatte Glück, dass sie gerade nicht da war, sonst wäre er vermutlich der Versuchung erlegen, dafür zu sorgen, dass sie erstickte. »Wirkten sie nah, vertraut miteinander?«
»O ja, Sir!«, sagte Elsie nachdrücklich.
Doch dann musste sie wohl seine feindselige Reaktion auf diese Information gespürt haben, denn sie fuhr fort: »Nicht in unzüchtiger Weise, Sir. Einfach nur vertraut, einander zugetan. Bitte, bekommt keinen falschen Eindruck von Miss Soraya, Sir. Sie war immer schrecklich nett zu uns Dienstboten, was sie auch sonst sein mochte, wenn Ihr verzeiht. Na, sie hat uns allen doch einen zusätzlichen Monatslohn und gute Referenzen gegeben, ehe sie ging. Auch wenn sie sagte, dass Euer Gnaden sich bestimmt um uns kümmern würden, wenn man berücksichtigt, dass wir ja eigentlich für Euch arbeiten.«
Kylemore war nicht in der Stimmung, sich Lobpreisungen über geflüchtete Geliebte anzuhören. Aber Elsie war Soraya eindeutig zugetan gewesen, und außer Lobliedern über den Charakter seiner Mätresse bekam er nichts mehr aus dem Mädchen heraus. Schließlich schickte er sie mit dem versprochenen Sovereign und der Anweisung los, sich an seinen Butler im Kylemore House zu wenden, damit er ihr Arbeit in der Küche gäbe.
Dann durchkämmte er wütend jeden einzelnen Zentimeter des Hauses, obwohl er schon wusste, dass das schlaue Miststück, das er mit allem versorgt hatte, bestimmt nichts zurückgelassen hatte, das ihm helfen würde, sie aufzuspüren. Sie hatte ihm noch nicht einmal eine Tasse zum Zerschlagen dagelassen, und als er seine rasende Suche endlich beendet hatte, brauchte er eindeutig etwas, an dem er seine Wut auslassen konnte. Vorzugsweise Ben Ahboods selbstgefälliges Gesicht.
Die ganze Zeit drehten sich alle seine Gedanken um Soraya und wie sie ihn während ihres schwindelerregend teuren Jahres zum Narren gehalten hatte.
Ben Ahbood war also nicht stumm. Wenn er nicht stumm war, war er höchstwahrscheinlich auch kein Eunuch. Und es gab keinen Mann, der Soraya kannte und sie nicht begehrt hätte.
Hatte sie Kylemore etwa mit ihrem Diener an der Nase herumgeführt?
Sie hatten zusammengelebt. Der Teufel sollte sie holen. Nur ein kompletter Dussel könnte sich vorstellen, dass ihre Beziehung zueinander unschuldig gewesen war.
Die Vorstellung, wie dieser ungeschlachte Hüne über Sorayas bleicher nackter Schönheit stöhnte, war zu viel. Fluchend stürzte Kylemore aus dem Haus in den Garten. Er atmete tief ein und versuchte, die wild durcheinanderwirbelnden Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen.
Er war der kalte Kylemore, berühmt für seine Selbstkontrolle. Keine verdammte Zwei-Penny-Hure und ihr Liebhaber konnten seiner Kaltblütigkeit etwas anhaben.
Wo zum Teufel mochte sie wohl hingegangen sein? Warum im Namen von allem, was heilig war, hatte sie ihn verlassen? Hatte sie ihn wirklich wegen eines anderen Liebhabers sitzen gelassen?
Verzweifelt suchte er nach Hinweisen und überlegte, was er eigentlich über die Frau wusste, mit der er das letzte Jahr das Bett geteilt hatte. Überraschend wenig, musste er feststellen.
Vergeblich wünschte er sich nun, er hätte sich die Zeit genommen, um mehr über sie zu erfahren, doch er war so sehr in seine körperliche Leidenschaft verstrickt gewesen, dass er nie mehr als ihren Körper erforscht hatte.
Blicklos drehte er sich wieder zum Haus um, in dem er die wenigen glücklichen Stunden seines Erwachsenenlebens verbracht hatte. Nun, da der Abend näher rückte, ragte es vor ihm auf: dunkel, leer, verlassen.
Wenn diese hinterhältige Schlampe meinte, den Herzog von Kylemore ebenso beraubt zurückgelassen zu haben, hatte sie im Laufe ihrer Liaison nichts gelernt.
Wenn sie dachte, sie wäre ihm mit ihren Lügen und ihrer mitternächtlichen Flucht entkommen, dann irrte sie sich auch in dieser Hinsicht.
»Verdammt soll sie sein«, flüsterte er in die hereinbrechende Nacht hinein. »Zur Hölle soll sie gehen.« Er konnte es nicht ertragen, noch länger hierzubleiben, wo noch vor Kurzem Soraya gewesen war.
Das leere Haus schien ihn zu verspotten. Kylemore stieg auf sein Pferd. Er achtete nicht auf das protestierende Schnauben des Tieres, sondern riss es herum und galoppierte mit laut klappernden Hufen Richtung London.
Er ritt schnell und ohne auf etwas zu achten. Er ritt ohne Rücksicht auf das edle Pferd zwischen seinen Schenkeln. Und die ganze Zeit dröhnte im Rhythmus des halsbrecherischen Ritts ein Name in seinem Kopf.
Soraya, Soraya, Soraya.
Erst als er die Stadt wieder erreicht hatte, war er dazu gezwungen, den rasenden Galopp seines Pferdes zu verlangsamen. Als sein Tier beinahe eine Frau umgerissen hätte, die gerade die Straße überquerte, holte er tief Luft und zog an den Zügeln.
Er schüttelte den Kopf, um ihn wieder freizubekommen, und schaute sich in der dämmerigen Stadt um. Wie seltsam, dass für andere Menschen das Leben so normal weiterging, während sich seine Welt im Verlaufe eines Nachmittags unwiderruflich verändert hatte. Um ihn herum schlossen Ladenbesitzer ihre Geschäfte, spielten Kinder mit Reifen, Kreiseln und Puppen, und Familien genossen die frische Luft des Spätfrühlingstages. Alles war genau wie immer. Alles Dinge, die er schon zehntausendmal gesehen hatte.
Sein Blick fiel auf ein Liebespaar, das in ein Schaufenster sah. Ein großer junger Mann und ein hübsches blondes Mädchen.
Wie er sie hasste. Wie sehr er ihnen den Tod wünschte!
Eine Frau mit einer modischen Haube ging an ihnen vorbei – eine kleine Frau mit schmaler Taille und selbstbewusster Ausstrahlung. Eine Frau, die sich mit ganz besonderer Anmut bewegte.
Ihm stockte der Atem.
Er schwang sich aus dem Sattel. Bei diesem Gedränge holte er sie zu Fuß eher ein. Und bei Gott, er hatte vor, sie einzuholen.
Die Frau bog um eine Ecke und verschwand.
Soraya hatte ihn wirklich unterschätzt, wenn sie dachte, er würde sie so nah an seinem Zuhause nicht finden.
Ohne einen Gedanken an sein Pferd zu verschwenden, stürzte er los. Er behandelte die Leute auf der Straße wie leblose Hindernisse, die er, ohne sich zu entschuldigen, beiseitestieß.
Er hielt nicht einmal inne, als er den Reifen eines Kindes wegsegeln ließ und ein Welpe eilig vor ihm flüchtete. Für ihn zählte nur eins – dass ihm das verräterische Miststück nicht entkam.
Als er um die Ecke bog, rutschte er aus und wäre fast gestürzt. Als er sich an der rauen Ziegelmauer abstützte, war die Schlampe vor ihm, und es sah ganz so aus, als würde sie einen Abendspaziergang genießen.
Oh, sie würde dafür zahlen, was sie ihm angetan hatte. Sie würde mit allem zahlen, was sie besaß. Und dann würde er noch mehr verlangen. Sie wusste nicht einmal, dass ihr kurzer Ausflug in die Freiheit bereits wieder zu Ende war!
Wie amüsant. Wie er lachen würde, wenn er ihr Gesicht sah.
Seine Lippen verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen, während er sich seinen baldigen Triumph über das hinterhältige Flittchen ausmalte.
Er stürzte nach vorn und packte sie. Dabei war es ihm egal, dass sich seine Finger tief in die schmale Schulter gruben. Die Frau schrie leise auf und drehte sich um.
Aber da wusste er es bereits.
»Sie wünschen?«, fuhr sie ihn wütend an.
Kylemores Hand fiel herunter, während sich sein Herz zusammenzog. Das war nicht Soraya. Soraya war zu schlau, um eine Entdeckung zu riskieren, nachdem sie alles so minutiös geplant hatte.
»Ich habe mich getäuscht, Madam. Ich bitte um Verzeihung. Ich dachte, Ihr wärt jemand anders.«
»Behalten Sie Ihre Hände bei sich, Sir, bis Sie sicher sind, wen Sie ansprechen!« Sie war ein attraktives Weibsbild, das zwar die erste Jugendblüte hinter sich hatte, doch einen hübschen sinnlichen Mund und blitzende dunkle Augen besaß. Einst hätte er sich vielleicht die Zeit genommen, sie zu besänftigen und herauszufinden, ob die wohlgeformte Figur nur das Ergebnis eines guten Korsetts war.
Kylemore entschuldigte sich noch einmal, doch in Wahrheit hatte er die Frau schon vergessen. Er hatte sie aus seinem Geist gestrichen, ohne sich wie bei einem Fussel auf seiner Kleidung weiter Gedanken über sie zu machen. Vielleicht sogar noch weniger Gedanken als bei einem Fussel, denn makellose Kleidung nahm bei ihm einen hohen Stellenwert ein.
Er eilte zu der Stelle zurück, an der er so hastig aus dem Sattel gesprungen war. Nur der Himmel wusste, ob sein Pferd noch da sein würde, doch irgendein hilfsbereiter Mensch hatte es vor einem Gasthof angebunden. Zumindest würde er also nicht zu Fuß bis nach Mayfair laufen müssen – obwohl es in seinem jetzigen Gemütszustand vielleicht sicherer gewesen wäre.
Er stieg auf und ritt los, aber in Gedanken war er weit von den belebten Straßen der Hauptstadt entfernt.
Wo konnte Soraya sein? Er kannte sie seit sechs Jahren.
Irgendetwas aus dieser Zeit musste doch Hinweise auf ihren Verbleib geben.
Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn, als er sich an ihre erste Begegnung erinnerte. Wie ein Blitz am klaren Sommerhimmel war sie aus Paris kommend in London aufgetaucht. Ihr damaliger Beschützer war Sir Eldreth Morse gewesen, ein reicher, alternder Baron, der in der Botschaft in der französischen Hauptstadt gearbeitet hatte. Sir Eldreth war ein Junggeselle mit einem Faible für schöne Dinge. Und das schönste Stück seiner berühmten Sammlung war seine junge Mätresse, die unvergleichliche Soraya.
Kylemore, der wirklich neugierig war, das Geschöpf zu sehen, das alle Männer des bonton in Aufruhr versetzt hatte, lernte sie kurz darauf zu Hause bei Morse kennen. Seine Reaktion auf ihren Anblick hatte ihn unvorbereitet getroffen, obwohl ihn der allgemeine Begeisterungstaumel hätte vorwarnen müssen.
Natürlich hatte London schon vorher wunderschöne Frauen gesehen. Aber Soraya war noch mehr.
Ein Blick quer durch Sir Eldreths Salon und der Drang zu besitzen und zu erobern, der aus seinen räuberischen Vorfahren, die unbedeutende Gutsherren gewesen waren, Herzöge gemacht hatte, hatte von Kylemore Besitz ergriffen, doch das Desinteresse im kühlen Blick der Schönheit war beleidigend offenkundig gewesen. Nichts, was er tat oder sagte, auch keine materiellen Anreize, die er vor ihrer herrlichen Nase baumeln ließ, konnten sie dazu veranlassen, sich von ihrem ältlichen Liebhaber zu trennen.
In jener Saison schien jeder einzelne Mann der beau monde versessen darauf gewesen zu sein, sie zu erobern. Bis es schließlich ganz offensichtlich war, dass sie überraschenderweise völlig damit zufrieden zu sein schien, ihrem gegenwärtigen Beschützer die Treue zu halten.
Und das war der Moment, in dem sie wahrhaft berühmt wurde.
Drei junge Männer, der hoffnungsvolle Nachwuchs altehrwürdiger Familien, erschossen sich aus unerfüllter Liebe zu ihr. Es gab Duelle, mehrere Morde, obwohl die Überlebenden eigentlich gewusst haben mussten, dass ihr Sieg sie dem, wonach es sie so verzweifelt verlangte, kein Stück näher brachte.
Innerhalb weniger Monate nach ihrer Ankunft gab es keine Frau in England, die mehr gehasst, mehr idealisiert und skandalumwitterter war als Sir Eldreth Morses Mätresse.
Kylemore beobachtete den Aufruhr mit ständig wachsender Frustration. Es musste doch etwas geben, das er tun konnte, um sie für sich zu gewinnen. Doch all die Macht, über die er verfügte, all sein Vermögen oder sein gutes Aussehen konnten sie nicht von ihrer unerklärlichen Ergebenheit für den korpulenten Baron abbringen.
Insgeheim schickte er Detektive nach Frankreich, damit die etwas über sie herausfanden. Aber in Paris war sie genauso berühmt, treu und geheimnisvoll gewesen wie in London.
Natürlich kursierten viele Gerüchte, aber es erwies sich als enervierend schwierig, sie zu bestätigen. Einige sagten, Sir Eldreth hätte sie aus einem türkischen Harem gerettet – oder einem Harem in Ägypten, Syrien oder Persien. Eine recht unwahrscheinliche Heldentat, die dem außerordentlich phlegmatischen Baron da zugeschrieben wurde - doch der Name des Mädchens wies tatsächlich auf eine exotische Herkunft hin.
Wenn sie denn tatsächlich Soraya hieß, was Kylemore immer bezweifelt hatte.
Andere Gerüchte besagten, sie wäre eine Wäscherin, die Morse in den Gassen in der Gegend von Les Halles aufgelesen hatte, oder eine Prostituierte, die ihre Chance ergriffen hatte, durch ein Verhältnis mit dem reichen englischen Lord aufzusteigen.
Kylemore genoss diese Gerüchte – und noch exotischere Geschichten, die ihm im Laufe der Jahre zu Ohren gekommen waren – mit Vorsicht. Er selber nahm an, dass sie – wenn sie wirklich Französin war – aus einer angesehenen Familie stammte, die durch die Revolution oder Bonaparte ihrer Privilegien verlustig gegangen war. Er hätte darauf gewettet, dass sie von edler Abstammung war. Die mühelose Selbstbeherrschung, die sie an den Tag legte, übertraf die jeder feinen Dame, die er kannte.
Vielleicht war sie aber auch Engländerin. Sie beherrschte die Sprache genauso gut wie er.
»Passt auf, Euer Lordschaft!«
Der Ruf brachte Kylemore wieder in die Gegenwart zurück. Ein stämmiger Bauer klammerte sich an den Zügel seines Pferdes. Es war eindeutig zu erkennen, dass er versuchte, nicht niedergetrampelt zu werden.
Der einschüchternde Kinmurrie-Blick traf den Mann, obwohl Kylemore wusste, dass sich der Bauerntölpel nur des Vergehens schuldig gemacht hatte, ihm unbewusst in die Quere gekommen zu sein. Dennoch zwang er sich nun dazu, sich darauf zu konzentrieren, ohne Schaden anzurichten zum Grosvenor Square zu gelangen.
***
In dem Moment, in dem Kylemore in sein Stadthaus stürmte, erschien seine Mutter oben an der Treppe. Seit ihrer gestrigen Auseinandersetzung war er ihr bewusst ausgewichen. Leicht amüsiert fragte er sich, wie lange sie wohl dort oben gestanden und auf ihn gewartet hatte. Er hoffte, dass es Stunden waren.
»Justin, ich muss mit dir sprechen.«
Er streifte seine Handschuhe ab und reichte sie dem wartenden Lakaien. »Nicht jetzt, Madam.«
Ganz elegante Entschlossenheit, kam sie die Treppe herunter. »Was hast du vor? Was soll dieses lächerliche Gerede über eine Verlobung?«
»Ich werde Euch über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden halten.« Er ging auf die Bibliothek zu.
Seine Mutter ließ alle Arroganz fahren und ging so weit, ihm hinterzulaufen. »Das reicht mir nicht! Du kannst doch nicht im Ernst von mir erwarten, London zu verlassen!«
Er wirbelte zu ihr herum, als er die Tür erreicht hatte. »Das war mein letztes Wort, Mutter. Und als Oberhaupt der Familie erwarte ich von Euch, dass Ihr mir gehorcht. Ihr und Euer Mündel werdet bis zum Ende der Woche dieses Haus verlassen haben.«
»Justin, das ist grausam. Das ist …«
Er wusste nicht, was sie in seinem Gesicht sah, aber seine Miene war wohl einschüchternd genug, um sie davon zu überzeugen, dass Rückzug die klügste Entscheidung war. Dabei war die Herzogin eine Frau, die für gewöhnlich nie den Mut verlor.
»Wie du wünschst«, sagte sie in einem unterwürfigen Ton, wie er ihn noch nie bei ihr gehört hatte.
»Ja, wie ich wünsche«, bekräftigte er wütend, wobei ihm völlig klar war, dass im Grunde nichts so war, wie er es sich wünschte.
Er marschierte in die Bibliothek, ohne sich noch einmal umzublicken. Soraya wusste nicht, was ihre Flucht bei ihrem Liebhaber entfesselt hatte. Doch sie würde es erfahren. Und es würde ihr leidtun.
Kylemore schenkte sich einen Brandy ein und stürzte ihn in einem Zug hinunter. Normalerweise war er maßvoll in seinen Gewohnheiten. Das traurige Beispiel seines Vaters war stets ein warnender Hinweis für ihn gewesen, sich vor den Gefahren der Maßlosigkeit zu hüten. Doch jetzt füllte er sein Glas nach und ließ sich in einen Sessel vor dem Feuer fallen. Er war mit alten Freunden in seinem Klub verabredet, doch er war heute Abend nicht in der Stimmung, den zivilisierten Gentleman zu spielen.
Die Wärme des Alkohols vermochte die eisige Kälte in seinem Innern nicht zum Schmelzen zu bringen. Was tat Soraya jetzt? Hatte sie ihn wegen eines anderen Beschützers verlassen? Wussten bereits alle von seiner Demütigung? Lachte die ganze Welt ihn heute Abend aus, weil Kylemores Mätresse zu irgendeinem anderen reichen Dummkopf geflüchtet war?
Wie sich seine Rivalen über die Zurückweisung freuen würden! Wie sie um den glücklichen Kerl herumscharwenzeln würden, der Soraya jetzt aushielt!
Er fluchte und warf das leere Glas ins Feuer.
Hatte sie sich einen anderen Liebhaber genommen? Oder schenkte sie ihre Gunst jetzt nur noch ihrem muskulösen Diener? Der Gedanke ließ wieder Wut in ihm aufsteigen. Wann war Ben Ahbood fester Bestandteil von Sorayas geheimnisvoller Aura geworden?
Kylemore konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er den Kerl das erste Mal bemerkt hatte. Auf jeden Fall war er schon nach Sir Eldreths Tod vor drei Jahren bei ihr gewesen, als die Hälfte der Männer der guten Gesellschaft – wie vorherzusehen – verrückt geworden war und versucht hatte, ihr Interesse zu erringen. Zwei andere Herzöge waren im Rennen gewesen, außerdem ein italienischer Prinz sowie einer der Cousins des Zaren und, nicht zu vergessen, ein ganzer Haufen von Kerlen mit nicht so hohen Titeln.
In den folgenden sechs Monaten, in denen sich Soraya ihre nächsten Schritte überlegte, kam es zu mehreren Duellen zwischen besonders gereizten Anwärtern. Doch Gott sei Dank kam es durch den Hang der adligen Sprösslinge zur Selbstzerstörung zu keiner vorzeitigen Entscheidung.
Kylemore war sich seiner Sache sicher gewesen – und ihrer. Er hatte sich nicht an dem vulgären männlichen Wettstreit beteiligt, der die Saison in jenem Jahr angeheizt hatte. Tief im Innern hatte er immer gewusst, dass sie irgendwann ihm gehören würde. Und sie hatte das auch gewusst. Sie hatte zwar stets die Gleichgültige gespielt, doch irgendetwas, irgendein unsichtbares Band hatte sie unerbittlich zu ihm hingezogen.
Er hatte sich aus den Raufereien herausgehalten und auf ihre zwangsläufig kommende Wahl gewartet. Um dann zu erleben, wie Soraya etwas tat, mit dem keiner gerechnet hatte.
Aus der laut schreienden Schar ihrer Bewunderer wählte sie James Mallory. Er wies nicht einmal den Hauch eines Titels auf. Nur ein Mr., ein schüchterner junger Mann, der gerade aus Indien zurückgekehrt war. Aus einer guten, aber unbedeutenden Familie. Reich. Zumindest damit hatte sie Kylemores Erwartungen erfüllt.
Wenn es die unpassende Faszination für das junge Ding zugelassen hätte, hätte Kylemore da das Spiel aufgegeben. Sie hatte ihre Chance gehabt, einen großartigen Fang zu machen, und stattdessen hatte sie sich an einen gewöhnlichen Schlappschwanz ohne großes gesellschaftliches Ansehen – wie voll seine Taschen auch sein mochten – weggeworfen.
Um gerecht zu sein, musste man jedoch zugeben, dass James Mallory eine recht gute Figur abgegeben hatte, nachdem Soraya ihn als ihren Liebhaber auserkoren hatte. Er hatte innerhalb kürzester Zeit so viel gesellschaftlichen Schliff bekommen, dass er sich eine der hübschesten Erbinnen der Saison angeln konnte. Der er erstaunlicherweise vollkommen treu zu sein schien, was wiederum bedeutete, dass Soraya nach einem neuen Beschützer suchte.
Allerdings hatte sie sich durch nichts anmerken lassen, dass ihr ihre plötzliche Freiheit missfiel. Zu diesem Zeitpunkt war Ben Ahbood oder wie dieser Mistkerl auch in Wirklichkeit heißen mochte, bereits stark in Erscheinung getreten.
Natürlich hatte sie keine Erklärungen oder Entschuldigungen vorgebracht. Der Diener der legendären Soraya war ein stummer arabischer Herkules. Wenn die Welt etwas missbilligte, zuckte sie nur mit ihren geraden, schmalen Schultern und tat genau das, was sie immer vorgehabt hatte.
Dieses Mal überließ Kylemore nichts dem Zufall. Keine höfliche Zurückhaltung, kein überhebliches Zögern, sein Interesse zu bekunden. An dem Morgen, als Mallorys Verlobung mit Lady Sarah Coote angekündigt wurde, gab Kylemore seine Karte bei Soraya ab. Er hatte sich fünf Jahre in Geduld geübt. Er hatte nicht die Absicht, auch nur einen Moment länger zu warten.
Soraya wirkte weder erfreut noch bestürzt oder verwirrt, einen Herzog zu einer Tageszeit in ihrem Salon anzutreffen, die passender fürs Frühstück denn für Besuche gewesen wäre. Stattdessen hörte sie ihm ruhig zu und erklärte, sie würde über seinen Vorschlag nachdenken. Ihr Beschützer war nicht zu sehen gewesen, obwohl Kylemore sich gern auf eine Kraftprobe mit ihm eingelassen hätte.
Aber dann erinnerte sich Kylemore mit einem Stechen im Magen daran, dass Ben Ahbood ihn eingelassen und in den Salon geführt hatte. Und das Benehmen des Flegels hatte keine Ehrfurcht vor seiner Herzogswürde gezeigt.
Sorayas Antwort war eine Woche später, verpackt in einem Haufen gesetzlicher Abmachungen, eingetroffen. Kylemores ursprüngliches Angebot war extravagant gewesen. Sie dagegen forderte, es auf die Höhe eines Lösegeld für einen König zu erhöhen und festzulegen, dass alles, was er ihr gab, in ihren rechtmäßigen Besitz überging.
Mit einem unangenehmen Gefühl erinnerte er sich jetzt auch wieder an einen anderen Passus: Wenn einer der Beteiligten nach Ablauf eines Jahres unzufrieden war, konnte das Arrangement unverzüglich aufgelöst werden.
Oh, sie war schlau gewesen, seine gierige, gerissene Mätresse. Schlau und treulos. Und er hatte sich verhängnisvoller Selbstgefälligkeit schuldig gemacht.
Sie war ihren beiden vorherigen Beschützern absolut treu gewesen. Er sollte das wissen – schließlich hatte er alles versucht, um sie ihnen abspenstig zu machen. Aber vielleicht hatte sie ja auch alle getäuscht, und ihre wahre Ergebenheit galt dem Schuft, mit dem sie zusammenlebte.
Ihre Andeutungen über Ben Ahboods Impotenz waren ein Meisterstreich gewesen. Kylemore hatte Soraya immer bewundert, doch jetzt raubte ihm ihre Dreistigkeit den Atem.
Sein hervorragender Verstand – den er wie sein Aussehen von der von ihm verabscheuten Mutter geerbt hatte – begann, wieder zu arbeiten. Kalt und innerlich ganz ruhig schwor er, die betrügerische Schlampe und ihren Liebhaber aufzuspüren.
Das Blut von Generationen unbarmherziger Männer floss durch seine Adern. Soraya hatte ja keine Ahnung, was sie in Gang gesetzt hatte, als sie den Herzog von Kylemore zum Narren hielt. Er lächelte in düsterer Vorfreude auf den Moment, in dem sie erkannte, was für ein Fehler es gewesen war, Justin Kinmurrie zu hintergehen.
Ein spätsommerlicher Sturm hatte die Nordsee vor Whitby Sands aufgewühlt. Verity schlug den Schleier ihrer schwarzen Haube zurück und betrachtete die windgepeitschte Landschaft um sie herum. Der Strand war fast leer, und keiner würde es bemerken, dass die Witwe Symonds ihr Gesicht dem kalten Sturm entgegenstreckte oder in Richtung des wild bewegten Meeres lächelte.
Sie wohnte jetzt seit drei Monaten in Whitby und konnte es immer noch nicht ganz glauben, dass der Übergang in ihr neues Leben so leicht gewesen war.
Die skandalumwitterte Soraya hatte London mit ihrem Diener verlassen. Ein paar Tage später hatte die respektable Witwe Mrs. Charles Symonds mit ihrem Bruder Benjamin Ashton ein Haus in diesem Fischerdorf in Yorkshire bezogen.
Ich bin frei. Ich bin frei, sang ihr Herz im Takt mit den grauen Fluten, die gegen das Ufer brandeten.
Ich bin frei. Ich bin unabhängig. Endlich gehört mein Leben nur mir allein.
Ich bin frei, werde aber allmählich unangenehm nass, stellte ihre deutlich praktischer veranlagte Hälfte fest, als die Gischt die schwarze Seide ihres Kleides noch dunkler werden ließ. Sie kicherte und entfernte sich von der Uferkante.
Die Dorfbewohner, alles gute, aufrechte Leute, waren bei ihrer Ankunft schon etwas neugierig gewesen, hatten die beiden neu Zugezogenen aber bald akzeptiert. Verity Symonds war noch in tiefer Trauer um den jungen Ehemann, den sie vor sechs Monaten durch ein Fieber verloren hatte. Der junge Ehemann hatte die Witwe allem Anschein nach gut versorgt zurückgelassen.
Auch Mr. Benjamin Ashton schien ein recht netter Bursche zu sein, dem man die ländliche Herkunft jedoch deutlich anmerkte, denn im Gegensatz zu seiner Schwester hatte er seinen Akzent nicht verloren. Es ging sogar schon bald das Gerücht, dass Mr. Ashton nach einem geeigneten Besitz suchte, auf dem er eine Schaffarm aufbauen konnte.
Während sie die Stufen zu ihrem Haus auf dem Hang hinaufstieg, überlegte Verity, ob sie in Whitby bleiben sollte.
Sie liebte das Meer, die alte Stadt und die verfallenen Überreste der ehrwürdigen Abtei auf dem Hügel. Hier war man weit genug von den Blicken der Gesellschaft entfernt und in der Nähe der Hochmoore, wo ihr Bruder immer hatte leben wollen.
Ben hatte London gehasst. Sie empfand eine tiefe Befriedigung zu sehen, wie glücklich er war, nachdem er wieder zu seiner wahren Identität zurückgekehrt war. Endlich konnte er wieder seinen eigenen Wünschen folgen, nachdem er so lange ihren schweigenden Leibwächter gespielt hatte. Ihm bei der Erfüllung seiner Träume zu helfen, war das Mindeste, was sie ihm dafür schuldete.
Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, ihre Schwester aus der Schule nahe bei Winchester holen zu können, in der sie seit dem Alter von fünf Jahren untergebracht war. Wie wundervoll wäre es, die ganze Ashton-Familie wieder zu vereinen. Doch das Risiko, dass Sorayas Ruf einen Schatten auf Marias Zukunft werfen könnte, war zu groß.
Wohin Verity auch gehen mochte – Soraya würde immer im Hintergrund lauern. Der ernüchternde Gedanke begleitete sie auf den letzten paar Stufen, die sie zu ihrem Haus führten.
Sie trat ein und blieb im engen Flur stehen, um Haube und Handschuhe abzulegen. In dem Moment hörte sie die wütend erhobene Stimme ihres Bruders im hinteren Teil des Hauses.
Das war seltsam genug, um sie in Richtung der Stimme eilen zu lassen. Doch als sie sich der Küche näherte, war es die andere Stimme – leise, aber deutlich und so schneidend wie ein Säbel, der durch Fleisch fuhr –, die sie stehen bleiben ließ.
Der Herzog von Kylemore hatte sie gefunden.