Leseprobe Das dunkle Herz des Earls

Kapitel 1

London, England

Sommer 1846

Lily Thornton griff nach dem Türknauf und drehte ihn. Das Zimmer war dunkel, bis auf das Feuer im Kamin und die Flamme einer einzigen Kerze auf dessen Sims. Die zugezogenen Vorhänge schlossen die Welt aus.

»Darf ich reinkommen?«, fragte sie leise.

Keine Reaktion. Unsicher, ob sie das Zimmer betreten sollte, öffnete sie die Tür noch ein Stückchen weiter. Matthew Larkspur, der Earl of Arnsbury, war erst vor wenigen Tagen in Begleitung ihres Bruders aus Indien zurückgekehrt. James hatte sie vor einem Besuch gewarnt, denn Lord Arnsbury sei vom Feind gefangen gehalten und gefoltert worden. Er ist nicht mehr der Mann, den du von früher kennst.

Aber er ist mein Ehemann, bestärkte sie sich. Außer ihnen beiden wusste das zwar niemand, und doch hatte sie jedes Recht, ihn zu sehen. Sie machte einen einzelnen Schritt in die Dunkelheit und fragte sich, wie schlimm er verletzt worden war.

Lord Arnsbury saß auf einem großen Ohrensessel am Feuer. Sein Gesicht konnte sie im Schatten nicht sehen – nur die Umrisse eines Mannes mit gesenktem Kopf. In seiner Haltung nahm sie Schmerz und Missmut wahr. Anspannung machte sich im Zimmer breit und sie überlegte, ob sie seine Mutter oder den Diener als Aufsicht rufen sollte. Beide warteten im Korridor.

»Matthew, ich bin es, Lily«, murmelte sie.

Sie betete, ihre Stimme möge den Bann seiner Melancholie brechen und ihn zurückholen. Die Stille wurde schwerer und einen Augenblick lang hatte sie Zweifel.

»Ich habe dich so vermisst«, sagte sie. »Wie geht’s dir?« Schau mich an. Erkenne, dass ich dich liebe und immer geliebt habe.

Schließlich hob er den Kopf und ihr war, als stünde sie einem verwundeten Tiger gegenüber. »Gehen Sie weg.«

Er sprach undeutlich und Schmerz schwang in seiner Stimme mit. Auf einem Beistelltisch neben dem Sessel entdeckte sie ein Glas. Hatte er getrunken? Oder vielleicht Laudanum genommen, um schlafen zu können?

Sie achtete nicht auf seine Aufforderung, zog einen Stuhl heran und setzte sich so nah vor ihn, dass er sie hätte berühren können. Ihr Herz pochte stark und die Gefühle stauten sich in ihr auf. Ein Seitenblick zur Tür verriet, dass Lady Arnsbury direkt vor dem Zimmer wartete, sie gönnte ihnen etwas Privatsphäre, behielt sie aber dennoch im Auge.

Lily flüsterte möglichst leise, damit niemand lauschen konnte. »Ich bin so froh, dass du zurück bist«, sagte sie. »Ich habe so lange gewartet.«

Wieder keine Antwort. Als wäre er ein Fremder – ein von Visionen geplagter Mann. Seine Hände umklammerten die Armlehnen und er verlangte: »Ich will allein sein.«

Seine Forderung traf sie tief. »Aber ich bin deine Ehefrau«, flüsterte sie. »Wie kannst du mich nur wegschicken? Wir standen uns doch so nahe.«

»Ich habe keine Frau«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Er ließ den Kopf hängen und einen atemlosen Moment lang fühlte sie sich wie betäubt. Schwer wog die Silberkette um ihren Hals. Sie zog sie aus ihrem Kleid und zeigte ihm den goldenen Siegelring: seinen Ring, den er als kleiner Junge von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte.

»Was soll das heißen, du hast keine Frau?« Tränen stiegen ihr in die Augen, entsetzliche Angst packte sie. Ihr Herz klopfte so stark, dass ihr schwindlig wurde.

Matthew beugte sich vor und funkelte sie an. Die braunen Augen waren geweitet, Feuersteinsplitter im starren Gesicht. Verschwunden war der lebensfrohe Earl, den sie gekannt hatte, und an seine Stelle war ein von Leid geplagter Mann getreten. In seiner Miene suchte sie nach einem Zeichen der Zuneigung, einem Hoffnungsschimmer für sie beide. Aber nichts deutete darauf hin, dass er sie erkannte. Er schien sie nicht einmal zu verstehen.

»Lassen Sie mich in Ruhe«, verlangte er.

Vernünftig wäre, auf ihn zu hören und zu warten, bis es ihm besser ging. Offensichtlich war er gefangen in seinem Kummer und brauchte Zeit.

Sie wusste zwar nicht, was mit Matthew geschehen war, aber in seiner Not würde sie sich nicht von ihm abwenden. Gemeinsam würden sie sich dem Problem stellen und es überwinden.

Lily berührte ihn an der Wange. Sie strich über die dunklen Bartstoppeln. Sein ruppiges, zerzaustes Aussehen störte sie nicht. Sogar sein Haar war länger als sonst. Er war durch die Hölle gegangen und zurückgekehrt. Auf seiner linken Wange heilte eine Verletzung: ein Schnitt, wahrscheinlich von einem Säbel.

»Ich habe versprochen, dich niemals zu verlassen«, sagte sie und streichelte ihm übers Gesicht. »Und du hast versprochen, dich um mich zu kümmern. Weißt du das nicht mehr?«

Plötzlich packte er sie am Handgelenk und stand auf. Er war so groß, dass sie den Kopf nach hinten neigen musste, um ihm in die Augen zu sehen. Die Kleidung hing ihm lose am Leib und die scharfen Gesichtszüge ließen erahnen, dass er in Indien Hunger hatte leiden müssen.

»Wie könnte ich so etwas versprechen?« Ein Hauch von Ironie umspielte seine Lippen. »Wo ich Sie doch noch nie im Leben gesehen habe.«

Ihr war, als kippte ihr der Boden unter den Füßen weg, Blut rauschte ihr in die Wangen. »Das verstehe ich nicht.« Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wie war das möglich? Wie hatte er sie nur vergessen können? Einen Gedächtnisverlust hatte ihr Bruder nicht erwähnt.

Er machte Anstalten, sich wieder zu setzen, schwankte wie ein Betrunkener und stolperte in den Sessel. Etwas stimmte nicht. Hoffentlich konnte sie seinen Schmerz irgendwie lindern.

Lord Arnsbury funkelte sie an und deutete zur Tür. »Ich habe Sie noch nie gesehen. Ich weiß nicht, wer Sie sind. Aber ich will, dass Sie verschwinden. Sofort.«

Gelähmt von den Worten rührte sie sich nicht. Mit einem festen Griff ums Handgelenk zwang er sie aufzustehen und stieß sie Richtung Tür. »Verschwinden Sie, habe ich gesagt!«

Erst als sie über die Schwelle getreten war, ließ er los. Dann knallte er ihr die Tür vor der Nase zu.

Mit zitternden Fingern berührte Lily das Holz. Gütiger Himmel. Tränen strömten ihr ungehindert übers Gesicht. Niemals hätte sie mit so einer Reaktion gerechnet. Nicht von dem Mann, den sie liebte.

Was jetzt? So hatte sie sich seine Rückkehr ganz und gar nicht vorgestellt. Sie war davon ausgegangen, sie könne ihn bei seiner Heilung unterstützen und ihm als liebende Ehefrau zur Seite stehen.

Aber er hatte sie nicht einmal erkannt.

 

***

 

Er hatte Schmerzen und sein Blick war vor Erschöpfung getrübt. Wann hatte er zuletzt geschlafen? Matthew wusste es nicht. Tage und Nächte verschwammen ineinander, bis er Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden konnte. Vage erinnerte er sich an das Schaukeln eines Schiffs und an Nächte, in denen ihn Fieberschauer gequält hatten. James Thornton, der Earl of Penford, hatte ihn aus Indien zurückgebracht, aber manchmal wünschte sich Matthew, sein bester Freund hätte ihn dort sterben lassen.

Er war nicht viel mehr als eine Hülle, gequält von den Dämonen der Vergangenheit.

Er fuhr sich durch den Bart, unsichtbare Hände würgten ihn.

Das Kerzenlicht brannte ihm in den Augen. Er schloss sie in der Hoffnung, den Gräueln seiner Fantasie zu entkommen.

Lilys Duft hing noch in der Luft.

Er hatte sie angelogen. Natürlich erinnerte er sich an sie. Zumindest teilweise. Seit der schrecklichen Reise aus Indien war sein Gedächtnis lückenhaft. Er wusste, dass sie James’ jüngere Schwester war, eine Frau mit gutem Herz, die Tiere liebte. Und die auch ihn vor so vielen Jahren geliebt hatte.

Sogar Lilys Geruch erinnerte ihn an Lilien. Rein und weiß, mit der Sanftmut eines Engels. Im Schein der Kerze hatte er einen Blick auf braunes Haar mit goldenem und rotem Schimmer erhascht. Die Augen waren braun mit einem Hauch von Grün. Und sie hatten ihn voll Liebe und Sehnsucht angesehen.

Matthew ließ das Gesicht in die Hände sinken und atmete langsam, bis der letzte Rest von Lily verschwunden war. Ihm dröhnte der Kopf und das Zimmer drehte sich.

Das Laudanum benebelte seinen Geist so stark, dass er kaum wusste, was Traum und was Erinnerung war. Er fühlte sich, als wäre er in das Leben eines anderen zurückgekehrt. Zwar hatte er Charlotte Larkspur erkannt, die Frau, die ihn in den Arm genommen und Sohn genannt hatte, aber sie war ihm fremd. Die Dienerschaft sprach ihn als Earl of Arnsbury an und das Haus deutete auf Wohlstand hin.

Aber auf all das würde er freiwillig verzichten, entkäme er dadurch den Albträumen.

Seit einem Jahr war Schmerz sein täglicher Begleiter. Seine Peiniger hatten ihm die Fußsohlen verbrannt. Durch die Narben spürte er beim Gehen fast gar nichts mehr. Manchmal machte sich der Wetterumschwung in dem Bein bemerkbar, das sie ihm gebrochen hatten. Und dann war da noch der Schnitt, der auf seiner Wange heilte, kaum mehr als ein leichtes Ziehen.

Seine körperlichen Verletzungen waren fast verheilt, aber sein Geist war es nicht. Wenn er sich traute, die Augen zu schließen, durchlebte er die Folter noch einmal, Stunde um Stunde. Es fühlte sich nicht richtig an, in sein altes Leben als Earl zurückzukehren, mit Abendgesellschaften und einem Sitz im House of Lords. Er fühlte sich völlig einsam, und er wollte niemanden in sein Leid hineinziehen – am allerwenigsten eine schöne, junge Frau, deren einziger Fehler es war, sich in ihn verliebt zu haben.

Ihm war, als hätten sich sein Geist und seine Seele vollkommen verschlossen – für Gefühle war kein Platz mehr. Aber mitten in diesem Chaos wanderten seine Gedanken zurück zu Lady Lily. Die zarte Berührung auf seinem Gesicht hatte ihn wieder in die Gegenwart geholt. Wie eine Sirene lockte sie ihn aus der Dunkelheit.

Ob er den ersten Schritt riskieren sollte?

***

 

Lily kehrte ins Stadthaus ihrer Familie zurück. Ihr Bruder James starrte im Gesellschaftszimmer durch das Fenster auf die Straßen von London, Gesicht und Hände gebräunt von der indischen Sonne, und auch er hatte Schatten unter den Augen.

»Du siehst müde aus, James.« Sie stellte sich hinter ihren Bruder und legte die Arme um ihn. Er drehte sich um und drückte sie fest.

»Das bin ich auch. In den letzten zwei Jahren habe ich kaum geschlafen.« Liebevoll zerzauste er ihr das Haar und trat einen Schritt zurück. Trotz seines heiteren Gemüts hatte die Indienreise auch ihn verändert – das konnte sie in seinen Augen sehen.

»Möchtest du etwas essen?«

Er nickte. »Ich habe seit Wochen nichts Anständiges mehr gegessen. Und danach würde ich am liebsten zwei Wochen durchschlafen.«

Anstatt sich zu setzen, stellte er sich zurück ans Fenster und blickte wieder nach draußen. Sie wartete eine Weile, ob er noch etwas sagen würde. Dann sprach sie aus, was sie wirklich beschäftigte. »Was ist in Indien mit Lord Arnsbury passiert?«

James ging nicht darauf ein. »Du hast ihn also besucht? Davon habe ich dir doch abgeraten.«

»Das hättest du dir ja denken können. Aber von seinem Gedächtnisverlust hast du gar nichts erzählt.«

Ihr Bruder seufzte schwer und drehte sich zu ihr um. »Gott allein weiß, woran er sich erinnert, Lily. Wir mussten ihm auf der Heimreise Beruhigungsmittel geben. Ich weiß nicht genau, was sie ihm auf dem Schiff verabreicht haben. Wahrscheinlich Opium und Alkohol. Kein Wunder, dass er sich an fast nichts erinnert.« Er sah sie mitleidig an. »Ich weiß, er hat dir etwas bedeutet, Lily. Aber er ist nicht mehr derselbe.«

Beide schwiegen. Lily hoffte, ihr Bruder würde das genauer ausführen. Dann hakte sie noch einmal nach: »Was ist passiert?«

Er legte die Hand an die Fensterscheibe und verbarg das Gesicht. »Matthew hat Glück, dass er noch lebt. Mehr muss man dazu nicht sagen. Er wurde gefangen genommen und gefoltert, weil sie Informationen über die britischen Truppen wollten.«

Sie runzelte die Stirn. »Aber ihr wart doch gar nicht im Heer. Warum sollte man ausgerechnet euch gefangen nehmen?«

James schüttelte den Kopf. »Wir waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Wir sind Engländer, darum dachten die, wir wissen etwas über den Krieg.«

Ihr zog sich der Magen zusammen, als sie daran dachte, was Matthew durchgemacht haben musste. »Wird er wieder gesund?«

»Das weiß niemand. Am wenigsten ich.« James ließ die Schultern hängen und sah sie wieder an. »Manche Wunden heilen nie, Lily. Am besten hältst du dich fürs Erste von ihm fern. Er soll sich im Kreise seiner Familie erholen.«

Das hatte sie ganz gewiss nicht vor. Er brauchte Zeit, natürlich, aber sie hatte ein Gelübde abgelegt und versprochen, ihn in Gesundheit und Krankheit zu lieben. Sicher gab es eine Möglichkeit, durch seine Albträume zu ihm durchzudringen und ihm wieder auf die Beine zu helfen.

»Du hörst sowieso nicht auf mich, oder?« James seufzte.

»Du meinst, dass ich mich von ihm fernhalte? Nein. Ich lass ihn nicht im Stich.« Sie ging zu ihrem Bruder. »Genauso wenig wie dich.«

Hoffnungslosigkeit lag in seinem Blick und er musste schwer schlucken. »Ich lebe, und wir sind wieder in England. Das ist alles, was zählt.«

Sie nahm seine Hände in ihre. »Und was ist mit dir, James? Was hast du in Indien erlebt?«

Er schwieg. »Darüber will ich nicht sprechen. Erzähl mir lieber, was ich in den letzten zwei Jahren verpasst habe.«

Sie zögerte. Wo sollte sie anfangen? »Nach Vaters Tod wollten wir dich benachrichtigen. Aber unsere Briefe kamen wahrscheinlich nicht an.«

James schüttelte den Kopf. »Kein einziger. Aber wir sind ja auch quer durch Indien gereist.«

Nach einer Weile gestand sie: »Ich hatte Angst, dich nie wiederzusehen. Wir wussten nicht, was aus dir geworden ist. Ich habe mit dem Schlimmsten gerechnet.«

Langsam atmete er aus. »Eine Zeit lang tat ich das auch. Aber jetzt bin ich hier und kann meine Abwesenheit hoffentlich wiedergutmachen.« James legte den Arm um sie und sagte: »Ich weiß, ich war eine Weile nicht hier, Lily. Aber ich gebe mein Bestes, damit alles wieder in Ordnung kommt.« Er drückte ihre Schulter. »Auf Arnsbury würde ich allerdings keine Hoffnung setzen. Ihm ist es viel schlimmer ergangen als mir.«

»Ich liebe ihn«, murmelte sie. »Und außer Hoffnung bleibt mir nichts.«

Mit gesenktem Blick schüttelte James den Kopf. »Ich fürchte, er wird dir das Herz brechen, Lily. Er sitzt in seiner eigenen dunklen Welt fest.«

Sie sah ihrem Bruder in die Augen. »Dann werde ich ihn in unsere Welt zurückholen. Egal, wie lange es dauert.«

***

 

Seit ein paar Tagen kehrte Matthews Erinnerung allmählich zurück. Die Medikamente hatte er abgesetzt, weil er von den Schlafmitteln Halluzinationen bekam. Der Entzug machte seine Hände zittrig und er hatte Kopfschmerzen.

Aber Klarheit war ihm lieber als der Nebel des Vergessens. Er saß in einem Ohrensessel und seine Mutter stand auf der anderen Seite des Zimmers.

»Matthew, bitte«, bat sie leise. »Iss doch eine Kleinigkeit, dann geht es dir bestimmt gleich besser.« Sie deutete auf das Frühstückstablett auf dem Beistelltisch neben ihm.

Schon beim Gedanken ans Essen drehte sich ihm der Magen um. Er brachte es nicht fertig, etwas zu sich zu nehmen. Vage erinnerte er sich, dass sein Freund James ihm auf der Überfahrt nach England ein Stück altes Brot aufgezwungen hatte.

Seine Zunge war trocken und er griff nach dem Glas. Die Hände zitterten immer noch, aber das Wasser löschte seinen Durst. »Ich habe keinen Hunger«, sagte er. »Lass mich allein.«

Charlotte hörte nicht auf ihn, ging durchs Zimmer ans Fenster und zog die Vorhänge auf. Das Sonnenlicht erhellte den Raum und er musste die Augen zukneifen. »So. Schon viel besser.«

Nein, war es nicht. Das Licht stach ihm in den Augen und weckte Erinnerungen an die heiße indische Sonne in der Thar-Wüste. Der gelbe Sand hatte ihm die Haut verbrannt und der Staub den Atem genommen. Er trank noch mehr, um die Erinnerung an die Dürre wegzuspülen.

»Zieh bitte die Vorhänge zu.«

»Du sitzt schon seit zwei Tagen in der Dunkelheit. Ich weiß, es geht dir nicht gut, aber der Arzt sagt …«

»Was weiß der schon. Seine Medizin nehme ich sowieso nicht mehr.« Er verschrieb ihm ohnehin nur Laudanum, das ihm die Sinne betäubte.

»Ich lasse einen anderen Arzt kommen. Vielleicht Dr. Fraser.«

Der Name klang vertraut, Matthew versuchte ihn einzuordnen.

»Er ist mit seiner Frau zu Besuch in London«, erklärte Charlotte. »Wenn du möchtest, bitte ich ihn vorbeizuschauen. Bestimmt freut sich Juliette, dich zu sehen.«

Jetzt erinnerte er sich wieder. Der schottische Arzt war mit Matthews Patin und Cousine Juliette verheiratet. Matthew versuchte, sich Juliettes Gesicht vorzustellen. Sie hatte braunes Haar mit goldenen und auch ein paar silbernen Strähnen. Ihre Augen waren grün, das wusste er noch genau. Und sie war immer nett zu ihm gewesen.

Doch der Gedanke an weitere Gäste ermüdete ihn. »Nein, danke.«

»Matthew, du darfst dich nicht so gehen lassen.« Charlottes Haltung versteifte sich, verkrampft waren ihre Hände ineinandergelegt. »Du bist wieder zu Hause, und du bist sicher. Bitte versuche doch wenigstens, dich zu erholen. Ich ertrage es nicht, dich so leiden zu sehen.«

Seit einem Jahr kannte er nichts anderes mehr als Leid. Wieder in den normalen Alltag zurückzukehren war unmöglich. So lange hatte er keine Kontrolle über sein Leben gehabt. Endlich durfte er selbst entscheiden, wann er schlief und wann er aß. Aber schon allein von der Vorstellung wurde ihm schlecht.

Ein Klopfen ertönte und seine Mutter bat das Dienstmädchen herein. Die Frau flüsterte Charlotte etwas ins Ohr, die wiederum dachte kurz nach und nickte. »Ja, bringen Sie sie herauf.«

»Ich will keinen Besuch«, entgegnete Matthew. Aber ihrem Blick nach zu urteilen, würde seine Mutter nicht lockerlassen. Wie ein General im Gefecht war sie entschlossen, ihren Willen durchzusetzen.

»Ich kann nicht einmal erahnen, weshalb Lady Lily dich in diesem Zustand sehen möchte«, sagte Charlotte. »Aber sie ist noch hartnäckiger als ich. Und vielleicht gelingt es ja einer schönen, jungen Dame zu dir durchzudringen.« Sie lächelte ihn an.

»Ich will sie nicht sehen.« Aber als er die Worte aussprach, rührte sich etwas in ihm. Seit ihrem Besuch hatte er nicht aufhören können, an sie zu denken.

Lady Lilys Schönheit hatte ihn gefesselt, aber sie durfte sich wegen ihrer gemeinsamen Vergangenheit, welcher Art sie auch gewesen sein mochte, keine Hoffnungen machen.

»Du wirst sie empfangen und du wirst dich benehmen. Brownson begleitet sie, nur für den Fall, dass du deine guten Manieren vergisst.« Seine Mutter ging zur Tür und lächelte zaghaft. »Lady Lily wird dir helfen.«

Aber die Vergangenheit barg Geheimnisse, an die er sich nicht erinnern wollte. Gedankenverloren berührte er den Schnitt auf seiner Wange. Die Wunde fühlte sich rau an.

Charlotte öffnete die Schlafzimmertür, dahinter wartete Lily. Die junge Frau trug ein blaues Tageskleid mit langen Ärmeln, das an der Taille V-förmig geschnitten war. Die Haare waren unter einer passenden Schute zusammengesteckt. In den grün-braunen Augen spiegelte sich ihre Entschlossenheit: Sie war für einen Kampf gewappnet.

Seine Mutter sprach mit ihr, als wäre er gar nicht anwesend. »Ich fürchte, Matthew ist missgestimmt. Aber Brownson ist hier, falls Sie Unterstützung brauchen. Soll ich auch bleiben?«

Lily schüttelte den Kopf, nahm ihre Schute ab und reichte sie dem Diener. »Ich komme zurecht.«

Ihr Blick war herausfordernd, als rechnete sie damit, dass Matthew ihr wieder die Tür wies. Sie nickte seiner Mutter zu und Charlotte zog die Tür hinter sich ins Schloss. Sie waren allein.

Lady Lily hielt Abstand, ihr Gesicht drückte Neugier und Mitgefühl aus. »Guten Morgen«, begrüßte sie ihn und setzte ein Lächeln auf. »Geht es dir besser?«

»Eigentlich nicht.« Er lehnte sich im Sessel zurück, als wäre es ihm egal, ob sie blieb oder ging. »Aber immerhin bin ich nicht tot.«

»Wohl wahr.« Ihre Gesichtszüge entspannten sich und sie kam näher. Sie lehnte sich an die Wand. »Erinnerst du dich überhaupt an irgendetwas?«

»Bruchstückhaft. Manchmal blitzen einzelne Eindrücke auf.« Er musterte sie ungeniert und auch sie taxierte ihn offen. Eine unerwartete Hitze flackerte in seinen Adern auf. Die plötzliche Gefühlsregung überraschte ihn.

Sie trat einen Schritt näher. »Woran erinnerst du dich?«

Sein Verstand trieb Spott mit ihm: Er sah sie nackt auf seiner Bettdecke liegen, er streichelte über ihre Haut. Konnte das wahr sein? Gütiger Himmel, hatte er diese junge Frau verführt und dann verlassen? Die Erinnerung sickerte ihm durch den Kopf wie Wasser durch die Finger. Er musste herausfinden, was vor seiner Abreise wirklich geschehen war.

Aber er konnte ja wohl kaum sagen: Ich weiß noch, dass Sie nackt waren. Er wollte sie nicht verschrecken.

Stattdessen suchte er nach einer anderen Antwort. »Wir haben uns am Debüt Ihrer Schwester kennengelernt.«

Ihre Miene hellte sich auf und sie nickte. »Ja, das stimmt. Vor vielen Jahren.« Lily ging ans Fenster. Die Sonne ließ ihr braunes Haar golden und rötlich schimmern. Ihre Haut war blass, die Lippen rosafarben wie eine Blume. »Woran erinnerst du dich noch?«

Sein Gedächtnis beschwor ein weiteres Bild herauf: sanfte Rundungen und die Wölbung ihrer Hüfte. Er schloss die Augen, um sich einen letzten Rest Würde zu bewahren. Offenbar verhöhnte ihn seine Fantasie mit unangebrachten Traumbildern.

Lily nahm eine Erdbeere vom Frühstückstablett, das er noch nicht angerührt hatte, und drehte sie, während sie näherkam, gedankenverloren am Stiel. »An irgendetwas?«

Sollte er ihr die Wahrheit sagen? Gewiss würde sie das abschrecken. Aber vielleicht wäre das ohnehin am besten. Sie sollte sich lieber ihrem eigenen Leben widmen, anstatt zu versuchen, seine Scherben zusammenzusetzen.

Also gut. Matthew bedeutete ihr mit einem Finger, sich zu ihm vorzubeugen. Als ihre Gesichter sich fast berührten, flüsterte er: »Sie lagen auf dem Bett, nur vom Laken bedeckt. Ich habe es zurückgeschlagen, ließ meine Hände über Ihren nackten Körper wandern und habe Ihre Hüfte an meine gezogen.«

Er hatte mit einer Ohrfeige gerechnet. Oder zumindest mit einem empörten Blick, bevor sie wütend aus dem Zimmer stürmte. Aber sie widersprach nicht. Ihr Blick wurde nachdenklich.

»Das war kein Traum, oder?«, fragte er leise. »Wir waren ein Paar.«

Zu seiner Überraschung nickte sie. Sie errötete, gab aber zu: »Ja, das waren wir. Das war sozusagen unsere Hochzeitsnacht.«

Er wusste nicht, was er glauben sollte. Doch wahrscheinlich lag Wahrheit in ihren Worten. Er verstand nur nicht, weshalb er ihr die Unschuld genommen und sie dann verlassen hatte. So einer war er nicht.

»Unser Wiedersehen habe ich mir anders vorgestellt.« Sie zog die Silberkette mit dem goldenen Ring hervor und sah ihn an. »Aber mein Bruder James hat gesagt, dass man dich in Indien gefoltert hat. Ich denke, es wäre am besten, wenn wir zunächst einfach nur Freunde bleiben, bis du dich an mehr erinnerst.«

»Ich will lieber in Ruhe gelassen werden.«

Lily nickte kurz. »Nach allem, was du durchgemacht hast, ist es bestimmt schwer, wieder hier zu sein.« Sie zog sich zurück, die Erdbeere immer noch in der Hand. »Aber ich gebe nicht auf.« Sie setzte ein Lächeln auf, das ihre Augen nicht erreichte.

»Ich heiße Lily Thornton. James, der Earl of Penford, ist mein Bruder und ich habe eine Schwester, Rose, die nach ihrer Krankheit langsam wieder laufen lernt. Meine Mutter lebt noch, aber ihr Verstand geht oft eigene Wege.« Sie richtete sich auf. »Jetzt kannst du nicht mehr behaupten, mich nicht zu kennen.«

Matthew blieb standhaft. Ihm war nicht klar, worauf sie hinauswollte. Aber mit jedem Schritt, den sie tat, verspannte er sich mehr. Sie ging langsam auf ihn zu, die grün-braunen Augen drückten Sorge aus. Tief in ihm erstarrte etwas.

Auf Armlänge blieb Lily stehen. Seine Augen hatten sich an das Licht gewöhnt und die Morgensonne erhellte ihre zarten Züge. Eine Erinnerung blitzte auf: der Geschmack ihrer süßen Lippen.

Ihre Nähe entfachte ein so starkes Verlangen, dass sich seine Hände auf der hölzernen Armlehne verkrampften. Er stellte sich vor, wie er sie auf den Schoß zog, ihren Mund mit Küssen bedeckte und sich seiner wilden Lust hingab. Er verstand nicht, weshalb er so auf sie reagierte. Offenbar erinnerte sich sein Körper an ihren.

Matthew rührte sich nicht. Auch nicht, als sie ihm die Erdbeere an den Mund führte.

»Willst du?«, fragte sie leise. Einen atemlosen Moment lang fragte er sich, ob sie gar nicht die Erdbeere meinte. Er empfand ein unbändiges Verlangen und wusste nicht, ob er sich zurückhalten konnte. Diese Frau machte ihn verrückt.

Er biss in die Erdbeere, sie schmeckte süß. Hunger rumorte in ihm. Lady Lily hielt den Strunk zwischen den Fingern. »Willst du mehr?«

Ja, das wollte er. Aber nicht nur essen, er wollte ihren Mund schmecken. Instinktiv spürte er: Sie war die letzte Frau, die er berührt hatte. Die Jahre der Enthaltsamkeit holten ihn ein und das Verlangen ertränkte ihn.

Er wollte sie küssen, jeden Zentimeter ihrer Haut erkunden, sie lustvoll aufstöhnen lassen. Stattdessen stand er auf. Einen Augenblick lang schaute er sie an, abwartend, ob sie blieb oder die Flucht ergriff.

»I-ich hole das Tablett«, stammelte sie und ging zum Tisch, auf dem sein kaltes Frühstück stand. Sie griff danach, zögerte aber, als müsse sie sich zunächst sammeln.

»Willst du noch immer, dass ich gehe?« Sie hielt Abstand und er begriff, dass er mit seinem unverhohlenen Interesse ihre Entschlossenheit in die Unsicherheit einer jungen Frau verwandelt hatte. Aber hierherzukommen war schließlich ihre eigene Entscheidung gewesen.

»Sie müssen mich nicht füttern.« Sein Ton war ruppig und abweisend. Je länger sie blieb, umso mehr ging ihm ihre Anwesenheit auf die Nerven.

Aber sie achtete nicht darauf, zog ihren Handschuh aus und legte ihn auf den Tisch. Sie bestrich eine Scheibe Toast mit Brombeermarmelade und reichte sie ihm. Das Zittern ihrer Hände entging ihm nicht. Um nichts sagen zu müssen, aß Matthew, obwohl das Brot schmeckte wie Pappe.

Sie schloss die Augen, als wählte sie die nächsten Worte mit Bedacht. »Ich habe auf dich gewartet und vom Tag deiner Rückkehr geträumt. Ich habe nie einen anderen geliebt, Matthew.«

Er konnte nicht antworten, aber er wusste, dass sein Schweigen sie verletzte. Lady Lilys Herz war voller Liebe – das war offensichtlich. In dem Glauben, seine Frau zu sein, hatte sie eine Nacht in seinen Armen verbracht. Aber das Gelübde konnte nicht rechtskräftig gewesen sein, denn vor seiner Reise nach Indien war keine Zeit für eine offizielle Heiratserlaubnis gewesen. Das musste sie doch gewusst haben. Warum also hatte sie sich ihm hingegeben? Und warum hatte er sich darauf eingelassen?

An Einzelheiten konnte er sich kaum erinnern. Als hätte sein Verstand die Vergangenheit weggeschlossen, und wenn er versuchte nach ihr zu greifen, fand er nichts als Bruchstücke.

Lily griff nach der Gabel, dabei stieß sie versehentlich gegen eine Teetasse. Das Porzellan schwankte kurz auf dem Tablett, fiel hinunter und zersprang auf dem Parkett. Wie ein Projektil durchdrang ihn das Geräusch.

Er zuckte zusammen, sein Herz raste. Wieder hörte er die sanfte Stimme: »Sag mir, wo die Soldaten sind, dann hören die Schmerzen auf. Versprochen.«

Kalter Schweiß brach ihm aus, aber er gab nicht nach. Mit festem Griff hielt jemand seine Knöchel fest, ein sengender Schmerz bohrte sich durch seine Füße, Scherben schnitten durch die verbrannten Sohlen und wieder wurde ihm dieselbe Frage gestellt.

»Sag mir, wo sie sind …«

»Matthew!« Lily schrie ihn an, aber nicht laut genug, um seine Erinnerung zu vertreiben. Er wusste nicht, wo er war und wie ihm geschah. »Bitte lass die Tasse los.«

Er blickte hinunter und begriff, dass er die Porzellanscherben aufgehoben haben musste. Er presste sie so fest in die Handfläche, dass Blut zwischen den Fingern hervorquoll.

Der Diener Brownson war bereits bei ihm. »Mylord, gestatten Sie mir, die Wunde zu verbinden.« Er zog ein Taschentuch hervor und drückte es vorsichtig auf Matthews Handfläche.

Lily blickte ihn angsterfüllt an. »Was ist passiert? Was hast du gesehen?«

Er konnte nur den Kopf schütteln, er fand keine Worte.

»Sie sollten gehen, Lady Lily. Es geht mir nicht gut.«

Sie machte Anstalten, ihn an der Wange zu berühren, aber er wich aus. Er wollte nicht, dass sie näherkam. Mitgefühl lag in ihrem Gesicht, aber schließlich stand sie auf und ließ sich von Brownson hinausbegleiten.

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und er blieb allein zurück mit blutenden Händen, der zerbrochenen Tasse und ihrem Handschuh.

Kapitel 2

Zwei Jahre zuvor

»Bestimmt freust du dich zu hören, dass ich einen Mann für dich gefunden habe«, sagte ihr Vater. »Lord Davonshire hat um deine Hand angehalten, und in deinem Namen habe ich zugestimmt.«

Lily war entsetzt. Dem zufriedenen Gesichtsausdruck ihres Vaters nach zu urteilen, sollte sie sich über diese Vereinbarung freuen. »Du hast was?«

»Ich habe mich mit Lord Chesham unterhalten, du wirst seinen Sohn John heiraten.« Im letzten Jahr waren er und Davonshires Vater, der Marquess of Chesham, gute Freunde geworden. Bestimmt hatten die beiden den Plan ausgeheckt, um die Familien durch eine Heirat zu verbinden.

Aber sie würde nicht mitspielen.

»Nein, Vater. Ich werde ihn nicht heiraten.« Sie hatte den Gentleman erst zweimal gesehen, im Grunde war Davonshire ein Fremder. Und nicht nur das. Seit ihrem siebzehnten Lebensjahr war sie in Matthew Larkspur, den Earl of Arnsbury, verliebt. Ihr Vater wusste das.

Von ganzem Herzen glaubte sie daran, eines Tages Lord Arnsbury zu heiraten. Er war älter als sie, aber das spielte keine Rolle. Auf jedem Ball hatte er mit ihr getanzt und sie sogar zweimal geküsst. Sie ließ sich von der Erinnerung mitreißen. Das hitzige Drängen seiner Lippen auf ihren hatte noch ganz andere Freuden erahnen lassen. Die Intensität hatte ihr Blut in Aufruhr versetzt und sie zur Hingabe verführt.

»Lily«, unterbrach ihr Vater den Tagtraum. »Hörst du mir überhaupt zu?«

Sie verscheuchte die Erinnerung. »Tut mir leid.«

Ihr Vater richtete sich auf und sah sie an. »Lord Davonshire wird den Titel seines Vaters erben. Er sieht anständig aus, ist in deinem Alter und recht wohlhabend.«

Mit diesen Worten ließ George sich in einen Ohrensessel sinken und legte die Füße auf eine Fußbank. Obwohl er eine fröhliche Miene aufsetzte, entging ihr der Schatten in seinen Augen nicht. Seit einigen Monaten war ihr Vater krank und trotz der vielen ärztlichen Untersuchungen stritt er immer noch ab, dass etwas nicht stimmte.

Er lehnte sich zurück und fügte hinzu: »Die Hochzeit findet noch vor Weihnachten statt.« Seufzend rieb er sich das Bein.

Lily biss sich auf die Unterlippe und versuchte ihren Ärger hinunterzuschlucken. Für ihren Vater war die Ehe doch nur eine Möglichkeit, das Familienvermögen zu vergrößern. Wenn es nach ihm ginge, würde er einfach den reichsten Verehrer auswählen und sie verheiraten. Er begriff einfach nicht, dass sie ihrem Herzen folgen wollte, nicht dem Verstand.

Sie versuchte es mit einer anderen, wenn auch etwas ungerechten Strategie. »Wieso fragst du nicht Rose? Sie ist älter und sollte zuerst heiraten.«

»Davonshire möchte keine Ehefrau, die älter ist als er. Außerdem hat er explizit nach dir gefragt.« Er atmete tief ein. »Sei doch vernünftig, Lily. Ein besseres Angebot bekommst du nicht.«

»Das habe ich schon«, rutschte ihr heraus, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber ihr fiel nichts Besseres ein, um ihn abzulenken. »Lord Arnsbury hat mir einen Antrag gemacht.« Das war eine Notlüge. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.

Ihr Vater verzog seufzend das Gesicht. »Warum willst du dich mit einem Earl zufriedengeben, wenn du einen Marquess haben kannst?«

»Weil ich ihn liebe und er mich liebt.«

Das wünschte sie sich zumindest. Lily wusste, dass sie Lord Arnsbury sehr wichtig war, und vielleicht würde er sie lieben, sobald sie erst einmal verheiratet waren. Das war durchaus möglich.

»Ich kann Lord Davonshire nicht heiraten«, sagte sie nachdrücklich. »Richte ihm aus, dass sein Angebot mir schmeichelt, aber ich bin nicht interessiert.«

Wieder rieb sich ihr Vater das Bein. Als er eine empfindliche Stelle berührte, zuckte er zusammen. Sein Gesicht nahm harte, ernste Züge an. »Ich werde diesen Antrag nicht ablehnen, Lily. Lord Arnsbury hat dich betört, das sehe ich. Aber er ist zu alt für dich. Außerdem kennst du ihn kaum.«

»Ich kenne ihn seit zwei Jahren und er ist James’ bester Freund. Lord Davonshire hingegen kenne ich gar nicht.« Es wurde Zeit, dass sie für sich einstand und sich durchsetzte. »Tut mir leid, Vater. Aber ich werde nicht die Hände in den Schoß legen und zusehen, wie du mein Leben lenkst.«

Sein versteinertes Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass ihn nichts von seiner Entscheidung abbringen konnte. »Als Vater bin ich für deine Zukunft verantwortlich, Lily. Ich tue, was in meiner Macht steht, damit du jemanden heiratest, der für dich sorgt. Das gilt auch für Rose, sobald ich einen geeigneten Ehemann für sie finde.«

»Das hat noch Zeit, Vater«, bat sie ihn. »Jetzt noch nicht.« Sie war schließlich erst achtzehn und noch lange keine alte Jungfer. »Lass uns ein andermal darüber sprechen.«

Er murmelte etwas von fehlender Zeit. Plötzlich begriff sie und sah ihn mit großen Augen an. »Was haben die Ärzte gesagt, Vater?«

Wieder verzog er das Gesicht. »Sie meinen, ich hätte zu reichhaltig gegessen. Darüber musst du dir deinen hübschen Kopf nicht zerbrechen.« Er setzte ein Lächeln auf, aber sie hatte Zweifel. Sie wollte gerade nachhaken, als James das Gesellschaftszimmer betrat. Etwas an seinem Verhalten beunruhigte Lily, aber sie wusste nicht was.

Mit dem Blick auf seinen Vater gerichtet sagte James: »Ich wollte dich wissen lassen, dass ich in ein paar Tagen abreise.«

Kopfschüttelnd richtete George sich im Sessel auf. »Du kannst nicht verreisen, James. Hier gibt es zu viel zu tun.«

»Ich werde nach Indien segeln«, antwortete ihr Bruder. »Voraussichtlich bin ich mindestens ein Jahr unterwegs. Vielleicht auch länger.«

Lily blieb die Luft weg, sie sah ihren Bruder fassungslos an. »Warum?« Indien lag am anderen Ende der Welt.

Umständlich richtete sich ihr Vater auf. Zornesröte verdunkelte sein Gesicht. »Das wirst du nicht.«

Im Blick ihres Bruders spiegelte sich Widerstand. Er begegnete Georges Wut mit Gleichgültigkeit. »Wir machen Geschäfte mit der Ostindien-Kompanie. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, unsere Interessen auszuweiten.«

»Du hast hier Pflichten«, entgegnete George. »Du bist mein Erbe, du kannst es dir nicht leisten, deine Zeit in Indien zu verschwenden. Das gestatte ich nicht.«

James lächelte matt. »Natürlich tust du das nicht.« Aber er wirkte nicht im Geringsten besorgt. »Ich fahre trotzdem. Du kannst mich nicht davon abhalten.«

Das Gesicht ihres Vaters verfinsterte sich. »Dann werde ich dich nicht mehr unterstützen.«

»Auf dein Geld bin ich nicht angewiesen, Vater. Und sicher kannst du Penford ohne mich genauso gut regieren wie in den letzten fünfundzwanzig Jahren.«

Das hatte er schon länger geplant, dämmerte es Lily. Seit er seine Ausbildung beendet hatte, musste James sich den Befehlen seines Vaters unterordnen und auf seine Stellung als Earl vorbereiten. Aber wie sie wusste, hatte er jeden Augenblick davon gehasst.

»James, bitte.« Lily wollte ihn zur Vernunft bringen. »Indien ist so weit weg. Ich will mir gar nicht vorstellen, dass du ein Jahr lang alleine bist. Das ist bestimmt gefährlich.«

Er zerzauste ihr das Haar. »Aber ich reise doch nicht allein. Arnsbury begleitet mich. Das wird unser Abenteuer. Wir suchen unser Glück, bevor uns die Ketten der Ehe fesseln.«

Der Boden unter ihren Füßen schien zu wanken. »Lord Arnsbury begleitet dich?« Ihr war, als wäre sie in einem Tunnel. Sie hatte ein Rauschen in den Ohren.

Sie sah den selbstgefälligen Blick ihres Vaters. Wenn Matthew nach Indien reiste, hielt George nichts davon ab, sie zur Hochzeit zu zwingen. Auch James könnte ihr dann nicht zur Seite stehen.

»Ja, Matthew passt auf, dass ich keine Dummheiten mache.« James zwinkerte ihr zu. »Jedenfalls wird er das versuchen.«

Lily griff nach einem Stuhl und setzte sich, bevor ihre Knie nachgaben. Sie musste Lord Arnsbury treffen und von ihm selbst hören, ob das stimmte. Ihre Gedanken kreisten um James’ Reise und deren Folgen. Ihr Bruder stritt sich mit dem Vater, aber Lily achtete kaum auf die Worte. Es ging um Kontrolle, James wollte nicht die Marionette seines Vaters zu bleiben. Ungeachtet der Konsequenzen würde er seinen eigenen Weg gehen.

Und anscheinend musste sie das auch.

***

 

Matthew Larkspur hatte das Gefühl, sein Leben sei innerhalb von zwei Tagen aus den Fugen geraten. Sein bester Freund hatte beschlossen, nach Indien zu reisen, und Lily Thornton hatte in einer verzweifelten Nachricht um ein Treffen gebeten.

James wollte sich in ein Abenteuer stürzen, aber wie Matthew seinen leichtsinnigen Freund kannte, würde James sich geradewegs in Gefahr begeben. Dabei konnte Matthew nicht untätig zusehen. Für ihn war James wie der kleine Bruder, den er nie hatte. Und Matthew hatte so eine Vorahnung, dass der junge Mann niemals zurückkehren würde, wenn er ihn auf eigene Faust ziehen ließ. Vielleicht war Matthew abergläubisch und verhielt sich lächerlich, aber er hatte keine andere Wahl, als ihn zu begleiten.

Und dann war da noch Lily.

Er wollte sie nicht verlassen. Trotz ihres Altersunterschieds übte sie eine starke Anziehung auf ihn aus, das konnte er nicht leugnen. Ihr braunes Haar rahmte das unschuldige Gesicht mit den grün-braunen Augen ein, und ihr Lächeln brachte ihn völlig um den Verstand.

Und Herr im Himmel, ihre Küsse ließen ihn in die Knie gehen. Erst zwei hatte er ihr bisher gestohlen, aber von dem Augenblick an, als er sie in den Arm genommen hatte, war seine Leidenschaft entfacht.

Sein Diener hatte ihren Besuch angekündigt. Er wusste, dass sie wegen seiner Abreise aufgebracht war, aber er musste ihren Bruder schützen. Doch ohne sich zu verabschieden, würde er nicht nach Indien aufbrechen.

Er hatte das Gesellschaftszimmer kaum betreten, da sprang sie ihm schon in die Arme. Sie klammerte sich an ihn, Matthew wich zurück und sah ihr ins Gesicht. »Sie tun ja gerade so, als käme ich nie wieder, Lady Lily.«

Die grün-braunen Augen wirkten besorgt und sie gestand: »Ich brauche Ihre Hilfe. Mein Vater hat einen schrecklichen Plan.«

Er legte ihre behandschuhte Hand auf seine Armbeuge und bedeutete ihr, sich zu setzen. »Was hat er vor?«

»Er arrangiert eine Hochzeit zwischen mir und Lord Davonshire.« Ihre Miene wurde zunehmend betrübt. »Ich kann ihn nicht heiraten, Matthew. Ich kenne ihn doch kaum. Und wenn Sie abreisen …«

»… dann zwingt er Sie zur Ehe«, beendete er den Satz. Sie nickte und legte die Hände ineinander, als müsse sie Mut sammeln.

Unsicher, was das Richtige war, setzte er sich neben sie. Lord Penford kümmerte sich um Lilys Wohlergehen, er wollte dafür sorgen, dass sie alles bekam, was sie sich jemals erträumt hatte – und Matthew verstand ihn.

Lily selbst war machtlos. Zweifelsohne war ihr Vater in der Lage, die Heirat durchzusetzen. Ohne ihren Bruder konnte sie ihn nicht davon abhalten. Genauso wenig wie er.

»Was wollen Sie tun?«, fragte er ruhig.

Sie presste die Lippen zusammen und dachte kurz nach. »Wenn wir heimlich heiraten, könnte er mich, selbst wenn Sie weg sind, nicht zur Ehe zwingen.«

Matthew antwortete nicht sofort, ihm war bewusst, dass sie ihn durch eine rosarote Brille sah. Einerseits wollte er gern glauben, er sei der richtige Ehemann für sie, andererseits wollte er sie in so jungen Jahren nicht voreilig in eine Ehe binden.

Da er nichts sagte, weiteten sich ihre Augen und sie platzte heraus: »Wollen Sie mich etwa nicht?«

Er streichelte über ihre Wange und sagte wahrheitsgemäß: »Ich will Sie viel mehr, als es angemessen wäre, Lily.« Wenn James wüsste, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen, würde der seine Pistole laden.

Aber die Bestätigung beruhigte Lily und sie legte ihm die Arme um den Hals. »Sie sind der einzige Mann, den ich je geliebt habe, Matthew. Ich kann mir nicht vorstellen, jemand anderen zu heiraten. Oder noch schlimmer: Das zu tun, was einen nach der Hochzeit erwartet.« Die Andeutung an das Ehebett ließ ihr die Schamröte aufsteigen. »Bitte helfen Sie mir.«

Unerwartete Eifersucht keimte in ihm auf. Er konnte nicht zulassen, dass ein anderer Lily berührte. Als sie den Kopf hob, küsste er sie vereinnahmend. Süß und unschuldig gab sie sich ihm hin. Lily hatte ein Talent dafür, sich in seine Gedanken zu schlingen, bis es keinen Platz mehr für etwas anderes gab. Diese schöne, junge Frau war ihm wichtig und sie sollte in seiner Abwesenheit weder verletzt noch bedroht werden.

Matthew zog seinen goldenen Ring vom kleinen Finger und gab ihn ihr. Er hatte seinem Großvater gehört. Als er ihn Lily reichte, erhellte sich ihr Gesicht.

»Ich werde ihn mit Stolz tragen«, sagte sie und streifte ihn sich über. »Vielleicht an einer Halskette, bis Sie zurückkommen.«

Er küsste sie noch einmal. »Ich komme zurück zu Ihnen, Lily. Das verspreche ich.« Womöglich reichte eine Verlobung aus, um Lord Penford davon abzubringen, seine Tochter mit einem anderen zu verheiraten.

Sie fuhr die Kante des Rings nach und sagte: »Ich rufe einen Geistlichen, der uns morgen Abend das Eheversprechen abnimmt. Aber nicht hier in London. Lieber irgendwo in einem Gasthaus.«

Ihr überstürzter Plan verdeutlichte, wie ernst es ihr war. Er nahm sie bei der Hand und sagte ehrlich: »Lily, so schnell können wir nicht heiraten. Ihnen fehlt die Zustimmung Ihres Vaters und wir haben keine Heiratserlaubnis. Die Ehe wäre nicht rechtskräftig.« Er wollte ihr keine Hoffnungen machen, die ohnehin nur enttäuscht werden konnten.

»Ich weiß«, flüsterte sie. »Aber wenn mein Vater glaubt, wir hätten die Ehe vollzogen, wird er nicht wagen, eine Hochzeit zwischen mir und Lord Davonshire zu arrangieren. Das gäbe einen schrecklichen Skandal.« Einen Moment lang schloss sie die Augen und ihre Stimmung veränderte sich. »Matthew, wenn Sie schon ein Jahr lang weg sein werden, lassen Sie mir doch wenigstens die Vorstellung, es wäre Wirklichkeit. Lassen Sie mich glauben, dass ich Ihre Frau bin und Sie mich lieben.« Sie legte die Hände auf seine Brust. »Mehr will ich nicht.« Ihre grün-braunen Augen waren so voller Vertrauen, dass er das Gefühl bekam, sie nicht zu verdienen.

»Ich komme zurück zu Ihnen«, versprach er. Und wenn die ungültigen Ehegelübde sie bis zu seiner Rückkehr vor der unerwünschten Heirat schützten, dann sollte es so sein.

Als er sie ein weiteres Mal küsste, hoffte er, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.