Kapitel 1
Schon als ich sie zum ersten Mal traf, habe ich es gespürt. Irgendetwas stimmt nicht mit unseren neuen Nachbarn. Mein Ehemann, Warren, hasst es, dass ich sie von unserem Wohnzimmer aus, wo ich hinter den schweren Leinenvorhängen stehe, durchs Fernglas beobachte. Aber in der heutigen Zeit ist es nur klug, etwas über die Menschen zu wissen, die neben einem wohnen. Besonders wenn sie in dem voll möblierten Mietshaus wohnen, in das ich mein Geld gesteckt habe, nachdem meine Eltern letztes Jahr viel zu früh bei einem Feuer in diesem Haus ums Leben gekommen waren. Dass ich sie auf eine so plötzliche und entsetzliche Weise verloren habe, nimmt mich immer noch mit. Mom hatte versehentlich eine Herdplatte in der Küche angelassen und sie gingen zu Bett, ohne an ihre letzte, fatale Handlung zu denken. Als ihr einziges Kind habe ich alles geerbt, doch ich würde es sofort zurückgeben, wenn ich dafür meine Eltern wieder hier hätte.
„Jetzt hör auf, Kay. Du machst dich zum Narren“, grummelt Warren und schaut von seinem Laptop auf. „In Kalifornien ist es illegal, dass Vermieter ihre Mieter ausspionieren. Ganz abgesehen davon, dass es unheimlich ist. Wenn sie dich dabei erwischen, können sie uns wegen Verletzung ihrer Privatsphäre verklagen.“
„Das glaube ich nicht!“, keuche ich und stelle das Fernglas an dem kleinen Rädchen daran scharf. Warren habe ich gesagt, ich hätte es zur Vogelbeobachtung gekauft. „Gary brät Fleisch auf dem Grill draußen. Sieht aus wie … hm … Flankensteak oder vielleicht ein Tafelspitz. Auf jeden Fall irgendwelches Fleisch.“
Warren stößt entnervt den Atem aus. „Hast du nichts Besseres zu tun, als mich darüber auf dem Laufenden zu halten, was es bei den Nachbarn zum Abendessen gibt?“
Ich fahre herum und werfe ihm einen bösen Blick zu. „Du verstehst es nicht! Gary hat die Hähnchenkasserole abgelehnt, die ich ihnen zum Einzug gebracht habe. Er sagte, sie seien Vegetarier, erinnerst du dich?“
Warren zuckt desinteressiert die Achseln. „Na und? Würdest du von jemandem, den du nicht kennst, bei eurer ersten Begegnung Essen annehmen? Du warst zu forsch, Kay. Wie immer. Lass sie sich doch erst einmal eingewöhnen. Sie sind erst seit ein paar Tagen hier.“
Ich lege das Fernglas auf den Tisch und setze mich mit einem übertriebenen Schnaufen neben Warren auf die Couch. „Ich habe bei ihnen einfach kein gutes Gefühl. Besonders bei ihm nicht. Wer bei kleinen Dingen lügt, tut es auch bei großen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das ein Zitat von jemandem Berühmten ist, und es ist vollkommen richtig.“
„Du hast sie nur unvorbereitet erwischt, das ist alles. Wahrscheinlich ist Gary auf die Schnelle keine höfliche Art eingefallen, deine Kasserole abzulehnen. Er hat das Erste gesagt, was ihm einfiel.“
Warren stellt seinen Laptop beiseite, rutscht zu mir herüber und legt einen Arm um meine Schultern. „Ich weiß, du meinst es gut, Süße, aber Gary sagte mir, dass er und Beth gern für sich sind. Nicht jeder ist so gesellig wie du. Ich bin sicher, dass sie total nette Leute sind. Ich habe sie überprüft, wie ich dir gesagt habe. Mittleres Alter, keine Kinder, keine Haustiere – ist doch super. Besser sind sie zu ruhig als zu laut.“
Meine Entrüstung über die Ablehnung meines Essens flaut schon wieder ab, doch immer noch verspüre ich das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen. „Ich wollte nur nachbarschaftlich sein, das ist alles. Ich wollte ihnen von der Party erzählen, die nächste Woche im Viertel stattfindet, und hatte gehofft, sie vorher ein wenig kennenzulernen, um sie ein paar Leuten vorstellen zu können. Damit sie sich willkommen fühlen. Du kennst mich, ich möchte nur, dass alle miteinander zurechtkommen wie in einer großen glücklichen Familie. Und als diesjährige Vorsitzende der Hausbesitzergemeinschaft ist es meine Pflicht, die Nachbarschaft im Blick zu behalten.“
Warren drückt meine Schulter. „Du machst das ganz fantastisch, mit all den Unternehmungen, die du initiiert hast. Handgemachte Delikatessen für die Senioren, Kinderspielkreise im Park, die Winter-Ping-Pong-Liga – du hast es geschafft, Leute zusammenzubringen, die seit Jahren in derselben Straße gewohnt und kaum ein Wort miteinander gewechselt haben. Ich bin sicher, dass Gary und Beth sich schon bald mit allen anfreunden und sich hervorragend einfinden werden.“
Ich schenke meinem Mann ein schmallippiges Lächeln. Die Wahrheit ist, dass ich nicht so sicher bin, dass ich mich für Gary erwärmen kann. Seinetwegen habe ich mich wie eine Närrin gefühlt, als ich mit meiner nicht vegetarischen Kasserole in den Händen auf seiner Türschwelle stand, und er mich angrinste, als hätte ich wissen müssen, dass sie kein Fleisch essen. Offenbar eine Unwahrheit von Garys Seite, wenn das, was ich auf seinem Grill gesehen habe, irgendetwas zu sagen hat.
Aber das ist nicht das Einzige, was mich an ihm stört. Wenn er mich ansieht, hat sein Blick irgendetwas Listiges an sich, als würde er meine Geheimnisse kennen. Und es gefällt mir nicht, wie er immer die Sätze seiner Frau beendet und dabei subtil ihren Arm drückt. Beth hatte ihren Blick die meiste Zeit gesenkt gehalten, als ich bei ihnen war, um mich vorzustellen. Doch als ich gerade gehen wollte, schaute sie mich einen flüchtigen Moment lang direkt an, und in ihrem Blick lag etwas Unausgesprochenes. Ich befürchte, sie braucht Hilfe. Ich muss einen Weg finden, mich mit ihr zu unterhalten, wenn Gary nicht in der Nähe ist, damit sie sich mir öffnet. Wenn er sie schon in der Öffentlichkeit dermaßen kontrolliert, möchte ich nicht wissen, was hinter geschlossenen Türen passiert.
Kapitel 2
Am nächsten Morgen beobachte ich, wie Garys dunkelgrüner BMW die Auffahrt hinabfährt, und warte, bis das Auto um die Ecke verschwindet. Dann handle ich. Ich habe eine großzügige Auswahl von Gemüse aus meinem Garten zusammengestellt und sie hübsch in ein Weidenkörbchen gelegt, damit meine neuen Nachbarn mein Willkommensgeschenk diesmal nicht wieder ablehnen können. Ich bin sicher, dass Beth den Flyer, den ich ihr in den Briefkasten gelegt habe und der das kommende Straßenfest ankündigt, bereits gesehen hat, doch ich möchte noch eine persönliche Einladung hinzufügen. Für eine introvertierte Person wie sie muss es beängstigend sein, alle neuen Nachbarn auf einmal kennenzulernen. Deshalb möchte ich sichergehen, dass sie im Vorhinein zumindest ein freundliches Gesicht kennt.
Warren ist schon vor Stunden zur Arbeit aufgebrochen und kann mir folglich diesen weiteren Versuch, eine Verbindung herzustellen, nicht ausreden. Ein paar Minuten später stehe ich auf der Veranda unserer Nachbarn und balanciere den vollen Gemüsekorb auf meiner Hüfte. Vielleicht habe ich es mit den Zucchini übertrieben, aber nun ist es zu spät, um noch etwas zu ändern. Ich betätige die Klingel und verlagere ein paarmal das Gewicht des Korbs, bis die Tür schließlich aufgeht und Beth mit großen Augen herausspäht.
„Oh, Sie sind es. Ich dachte, es wäre die Post oder so.“ Sie lacht peinlich berührt auf und deutet auf ihren Morgenmantel aus Flanell. „Ich … habe keinen Besuch erwartet. Es ist ja nicht so, als würden wir hier irgendjemanden kennen.“
Ich lächle sie entwaffnend an. „Sicher haben Sie den Flyer wegen der Party im Viertel gesehen. Das ist die perfekte Gelegenheit, um ein paar Leute kennenzulernen.“
Beth bemüht sich, mein Lächeln zu erwidern, erscheint aber bei der Aussicht auf das Fest halb gelähmt vor Angst.
„Wir haben ein paar ganz tolle Menschen in dieser Straße“, versichere ich ihr. „Glauben Sie mir, es dauert nicht lange, bis Sie alle kennen.“ Ich deute auf den übervollen Korb an meiner Seite. „Ich habe Ihnen frisches Gemüse aus meinem Garten mitgebracht.“
„Danke. Ich … äh …“ Sie zupft am Kragen ihres Mantels herum. Ein unsicherer Blick gleitet über ihr Gesicht, während sie angstvoll über meine Schulter schaut. „Möchten Sie … hereinkommen?“
Sie bemüht sich nicht, die Tür weiter aufzuziehen, als wollte sie mir zu verstehen geben, dass es ihr lieber wäre, wenn ich ihre enthusiastische Einladung ablehnte. Aber ich habe noch nicht vollbracht, wozu ich hergekommen bin. Ich bin entschlossen, mich mit ihr anzufreunden und ihr zu versichern, dass ich immer für sie da bin, falls sie Hilfe benötigt. In eine neue Stadt zu ziehen, kann mit Einsamkeit einhergehen, und die Vorstellung, dass sie in einer Beziehung mit einem kontrollsüchtigen Mann gefangen ist, ohne mit jemandem darüber reden zu können, gefällt mir nicht. Vielleicht ziehe ich voreilige Schlüsse, aber ich vertraue lieber meinem Gefühl, als es zu ignorieren. „Danke, Beth, ich würde sehr gern für ein paar Minuten hereinkommen.“
Erleichtert seufze ich, als sie schließlich die Tür öffnet. Wenn ich diesen Korb nicht bald abstellen kann, werden meine Arme ihre Funktion einstellen.
„Sie müssen meinen Aufzug entschuldigen“, murmelt Beth, während sie mit ihren flauschigen Hausschuhen aus Schaffell vor mir her in die Küche geht. „Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, mich anzuziehen.“
Im Vorbeigehen werfe ich einen Blick ins Wohnzimmer. Es sieht nicht so aus, als hätten sie den Versuch gemacht, den Raum persönlich zu gestalten. Die Regale sind nackt. Keine Fotos, Bücher, Dekorationsartikel oder Accessoires irgendeiner Art sind zu sehen. Vielleicht sind sie noch nicht dazu gekommen, all ihre Kartons auszupacken. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was Beth in den letzten Tagen sonst getan haben soll, aber sie scheint zu dem Typ zu gehören, der leicht überfordert ist.
Ich stelle den Gemüsekorb auf die Kücheninsel und mein Blick fällt auf eine leere Wodkaflasche, die neben einem halb vollen Glas auf der Küchenzeile steht. Ich bemühe mich um einen neutralen Gesichtsausdruck, obwohl meine Gedanken rasen. Sicher ist sie doch nicht schon den ganzen Morgen am Trinken? Läuft sie deswegen noch in ihrem Morgenmantel und mit diesem vernebelten Blick herum?
„Sie müssen einen grünen Daumen haben“, sagt Beth und spielt mit einer Strähne ihres schlecht gebleichten Haars. „Dieses Gemüse sieht köstlich aus.“
„Ich muss zugeben, dass es ein Hobby geworden ist. Ich habe noch viel mehr davon. Sicher brauchen Sie eine Menge Gemüse, wenn Sie kochen. Sie müssen mir ein paar Ihrer Lieblingsrezepte geben.“
Beth schaut mich seltsam an. „Um ehrlich zu sein, bin ich keine große Köchin.“
„Wirklich nicht? Gestern Abend hat etwas Gegrilltes köstlich geduftet. Hat Gary das gemacht?“
„Äh, ja.“ Blinzelnd wendet Beth den Blick ab. „Möchten Sie etwas zu trinken?“
„Ich hätte gern eine Tasse Kaffee, wenn Sie koffeinfreien haben. Ich vertrage am Morgen nur eine Tasse mit Koffein. Warren meint, es putscht mich zu sehr auf.“ Ich zwinkere ihr verschwörerisch zu. „Ehemänner, nicht wahr? Sie glauben, sie wissen alles.“
Sie springt nicht auf den Köder an, doch ich sehe einen Anflug von Beklemmung in ihren Augen, als sie sich mir wieder zuwendet. Ich setze mich auf einen Barhocker an der Kücheninsel, während sich Beth mit der Kaffeemaschine beschäftigt.
„Erzählen Sie mir von diesem Straßenfest“, sagt sie und stellt eine dampfende Tasse vor mich. Sie zieht den Hocker neben mir heraus und setzt sich. Aus der Nähe betrachtet ist ihr Gesicht hohlwangig und voller Falten, als hätte sie ein hartes Leben gehabt. Oder es ist, weil sie Alkoholikerin ist. Die Vorstellung, mein Haus mit allen Problemen, die daraus entstehen mögen, an eine Trinkerin vermietet zu haben, begeistert mich nicht gerade. Warren mochte unsere neuen Mieter überprüft haben, aber er hatte wohl kaum nach ihrem wöchentlichen Alkoholverbrauch gefragt.
„Jeder bringt etwas zu essen mit“, sage ich. „Die liebsten Rezepte einer jeden Familie. Sie können gern etwas Vegetarisches mitbringen. Für die Kinder gibt es Spiele. Mit Kreide malen, Seifenblasen machen und schminken und für die Teenager eine Schnitzeljagd. Maiswerfen und Ping Pong. Es gibt jedes Mal einen Backwettbewerb, dessen Gewinner den Pokal des Viertels mit nach Hause nehmen darf. Wir tragen alle Namensschilder und schreiben auch unsere Berufe und Hobbys darauf. Es ist eine tolle Gelegenheit für Neulinge wie Sie, das Eis zu brechen.“
Beth umklammert ihre Tasse fester. Das Zittern ihrer Hände entgeht mir nicht. Ich hatte gehofft, sie zu beruhigen, doch es sieht so aus, als hätte meine Beschreibung unserer tollen Party den gegenteiligen Effekt. Vielleicht hat sie Angst vor Menschen. Das könnte der Grund sein, dass Gary ihre Sätze beendet. Vielleicht sollte ich bei ihm die Unschuldsvermutung gelten lassen, bis ich mehr über die beiden weiß.
„Es muss viel Arbeit sein, das alles zu organisieren“, sagt Beth und legt die Stirn in Falten.
„Eigentlich geht es. Wir brauchen natürlich von der Stadt eine Genehmigung, um die Straße zu sperren, doch wir tun das nun schon seit mehreren Jahren, also haben wir eine Liste der Dinge, die zu erledigen sind. Jeder trägt seinen Teil dazu bei und meine Freundin Amber, die ein paar Häuser weiter wohnt, ist eine große Hilfe.“
Amber ist auch meine Vertraute und ich hatte bereits ein Gespräch mit ihr über meinen schlechten ersten Eindruck von meinen Mietern. Sie denkt, ich urteile voreilig.
„Haben Sie bereits ein paar der Nachbarn getroffen?“, frage ich.
Hastig nimmt Beth einen Schluck Kaffee. „Nein. Ich hatte … zu viel zu tun. Ich bin noch nicht dazu gekommen, das Haus zu verlassen.“
So schockierend ihr Geständnis ist, hatte ich es doch schon befürchtet. Ich habe sie noch nie im Hof gesehen und auch noch nie beobachtet, dass sie das Haus durch die Vordertür verlässt oder von irgendwoher zurückkommt. Zugegebenermaßen beobachte ich sie nicht rund um die Uhr, doch wenn ich zu Hause bin, denke ich, dass ich sehr gute Arbeit mache. „Ich lade gern ein paar der anderen Frauen zum Mittagessen ein, damit Sie sie kennenlernen können.“
Beth verschluckt sich an ihrem Kaffee. „Nein! Ich meine … das hat keine Eile, danke. Ich warte bis zur Party. Ich muss mich noch um eine Menge Dinge kümmern, wie Sie sich vorstellen können.“
Ich strahle sie an, um ihr offensichtliches Unbehagen zu dämpfen. „Ich kann Ihnen helfen. Sagen Sie einfach Bescheid. Und sagen Sie Gary, dass Warren einen Haufen Werkzeuge hat, falls Sie etwas borgen möchten.“
Beth schaut mich über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg neugierig an. „Wie lange sind Sie und Warren bereits verheiratet?“
„Diesen September zweiundzwanzig Jahre. Und Sie?“
„Fast drei Jahre.“ Stirnrunzelnd senkt sie ihren Blick. „Gary … war schon einmal verheiratet.“
Ich weiß nicht, warum sie das Thema aufgebracht hat. Vielleicht glaubt sie, sie müsse erklären, warum sie erst spät im Leben geheiratet hat. Ich schätze, sie sind beide Anfang fünfzig, vielleicht zehn Jahre älter als Warren und ich. Ich kann mir nicht vorstellen, was Beth je in Gary gesehen hat, das sie überzeugt hat, ihn zu heiraten. Er ist auf jeden Fall kontrollsüchtig. Ich bemühe mich, mir nicht das Schlimmste auszumalen. Vielleicht kümmert sich Gary nur um seine unsichere Ehefrau. Ich frage mich, ob Beth auch bereits verheiratet gewesen ist. Sie erscheint mir wie der Typ, der von einer erniedrigenden Beziehung in die nächste stolpert, unsicher und niedergeschlagen. Nach allem, was ich weiß, könnte sie unter ihrem Morgenmantel blaue Flecken verstecken. Aber das ist reine Spekulation. Ich muss ihr Vertrauen gewinnen, bevor sie mich in irgendwelche Geheimnisse einweiht, die sie vielleicht hat.
„Wie haben Sie und Gary sich kennengelernt?“, frage ich mit einem gut gelaunten Lächeln.
Sie zieht eine Grimasse. „In einer Trauergruppe.“ Sie hebt ihren Becher an ihre Lippen und schlürft einen kleinen Schluck.
Schockiert schweige ich. Ich habe erwartet, dass sie mir erzählt, sie hätten sich online kennengelernt, wie so viele Menschen heutzutage, oder vielleicht durch gemeinsame Freunde. Ich lasse den Moment lange genug zwischen uns hängen, bis sie weitere Einzelheiten preisgibt. Ist Garys erste Frau gestorben oder ist er geschieden? Ich kenne Beth nicht gut genug, um sie zu drängen. Ich möchte fragen, ob einer von ihnen Kinder hat, doch das ist eine gewagte Frage, wenn man bedenkt, wo sie sich kennengelernt haben. Über Verlust weiß ich mehr als mir lieb ist.
Mit einem dumpfen Geräusch stellt sie ihre Tasse ab und schaut mich forschend an. „Haben Sie Kinder?“
Meine Haut kribbelt. Es ist beinahe, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Leider nicht. Ich hatte ein paar Fehlgeburten. Warren und ich können keine Kinder bekommen.“
Beth wendet sich ab und schaut aus dem Küchenfenster in die Ferne. „Ich habe mein einziges Kind verloren. Eine Tochter. Sie war gerade neunzehn.“
Ich winde mich auf meinem Hocker, verstört von der plötzlichen und unerwarteten Enthüllung. „Das … tut mir so leid, Beth. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm das gewesen sein muss.“
Sie beißt sich auf die Unterlippe. „Sie dürfen niemandem sagen, dass ich es Ihnen erzählt habe.“
Von der schieren Panik in ihrem Blick verunsichert blinzle ich. Ich lege meine Hand auf ihren zitternden Arm. „Beth, Sie können mir vertrauen. Ich werde es niemandem erzählen, wenn Sie es nicht möchten.“
„Es sind nicht die Nachbarn, um die ich mir Sorgen mache. Es ist er.“ Mit einem manischen Blick beugt sie sich zu mir. „Er hält mich für verrückt.“
Kapitel 3
„Natürlich sind Sie nicht verrückt“, sage ich und versuche, meine Entrüstung über Garys Gefühllosigkeit zu verbergen. „Ein Kind zu verlieren, ist das Traumatischste, was jemandem passieren kann. Es ist natürlich, dass man damit zu kämpfen hat.“
„Sie verstehen das nicht.“ Beth vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen. Ihre Schultern beben. „Gary sagt, sie ist nicht tot.“
Ich runzle die Stirn und bin mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden habe. Was ihr Ehemann zu ihr gesagt hat, klingt wie etwas wirklich Grausames. Doch ohne weitere Informationen sollte ich ihn nicht infrage stellen. Mein erster Eindruck von Beth sagt mir, dass sie emotional instabil ist. Vielleicht denkt Gary, dass sie mit der Wahrheit nicht klarkommt. Oder sie ist ein bisschen verwirrt. Es hat fast den Anschein. „Warum sagt er so etwas?“, frage ich vorsichtig.
„Vergessen Sie es. Ich hätte nichts sagen sollen.“ Abrupt steht sie auf und spült ihre Kaffeetasse aus, um mir zu sagen, dass unser Gespräch beendet ist. Ich trage meine Tasse zu ihr hinüber und sie reißt sie mir aus den Händen, als wollte sie meinen Aufbruch beschleunigen.
„Beth, falls Sie reden möchten, ich bin für Sie da“, sage ich sanft.
Sie unternimmt keinen Versuch, die Unterhaltung wieder aufleben zu lassen, also danke ich ihr für den Kaffee und gehe.
Zu Hause setze ich mich auf die Couch und gehe unser Gespräch noch einmal durch. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Warum sollte Gary seiner Frau sagen, ihre Tochter sei nicht tot? Glaubt er das wirklich? Sicher ist das keine Ansichtssache. Es muss schließlich irgendwo eine Sterbeurkunde geben. Oder will Gary sie aus irgendeinem kranken Grund, den nur er kennt, verwirren? Oder ist Beth wirklich verrückt? Als wir uns unterhalten haben, klang sie vernünftig genug, doch die leere Wodkaflasche, die ich gesehen habe, lässt mich innehalten. Ist sie heimliche Alkoholikerin? Hat sie nach dem Tod ihrer Tochter zum Trost mit dem Trinken begonnen?
Und weshalb war Gary in der Trauergruppe? Hatte er einen Grund, dort zu sein, oder suchte er nur nach verletzlichen Frauen? Beth erwähnte, dass er schon einmal verheiratet war. Vielleicht ist seine erste Frau gestorben. Ein Schauder läuft mir über den Rücken, als ich an unser erstes Treffen und seinen listigen Blick denke. So verrückt es sich auch anhört, ich kann den Gedanken nicht beiseiteschieben, dass Gary etwas mit dem Tod seiner ersten Frau zu tun hatte.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schreibe Amber, ob wir uns zum Mittagessen treffen wollen. Ich muss ihr alles erzählen und hören, was sie dazu meint. Ich habe Beth versprochen, niemandem vom Verlust ihrer Tochter zu erzählen, doch weil es mein einziges Motiv ist, ihr zu helfen, betrachte ich es nicht als tratschen. Außerdem kann ich Amber vertrauen, dass sie ein Geheimnis für sich behält.
Nachdem ich mich mit Amber in einem mexikanischen Restaurant verabredet habe, stelle ich die Waschmaschine an und setze mich dann an meinen Computer, um zu arbeiten. Ich liebe meinen Teilzeitjob als Projektmanagerin im Gesundheitswesen, das Planen von Ausgaben und die Einhaltung von Terminen. Dazu stelle ich sicher, dass mein Team glücklich ist und gut arbeitet. Projekte zu koordinieren und Menschen zu führen liegt in meiner Natur, deswegen macht es mir auch Spaß, das jährliche Straßenfest zu organisieren und der Hausbesitzergemeinschaft vorzustehen. Ich bin froh, dass Warren weiß, wie gut ich bin, und dass er stolz auf mich ist. Ich kann mir nicht vorstellen, mit jemandem wie Gary verheiratet zu sein – herablassend, kontrollsüchtig und froh, eine verschüchterte Frau gefunden zu haben, die in seiner Gegenwart ein nervliches Wrack ist.
Ich will mich gerade auf den Weg zum Essen machen, als ein Piepton meines Handys eine Textnachricht ankündigt. Ich werfe einen Blick darauf und merke auf, als ich sehe, dass sie von Gary ist. Ich tippe darauf und lese sie mit wachsender Verwirrung.
Beth war extrem durcheinander, als ich sie vor ein paar Minuten anrief. Der Umgang mit Fremden fällt ihr sehr schwer und der Umgebungswechsel setzt ihr ebenfalls zu. Ich würde es begrüßen, wenn Sie sie in meiner Abwesenheit nicht besuchten.
Ungläubig starrte ich ein paar Minuten lang auf die Nachricht und schwanke zwischen Entsetzen und Wut, während ich überlege, was ich antworten soll. Vielleicht kann Gary seine Frau dermaßen terrorisieren, dass sie sich unterwirft, doch wenn er glaubt, er kann das mit mir ebenso machen, hat er sich geirrt. Ich habe jedes Recht zu besuchen, wen ich möchte. Das hier bestätigt nur meine Vermutungen über sein kontrollsüchtiges Verhalten. Wenn er nicht will, dass Beth frei mit mir spricht, muss es dafür einen guten Grund geben. Das macht mich umso entschlossener, der Sache auf den Grund zu gehen.
Ich komme zu spät in Marco’s Taqueria an. Amber hebt fragend eine Braue, als sie mich entdeckt, wie ich auf die Kabine zueile, in der sie sitzt. „Geschäftiger Morgen?“, fragt sie grinsend.
„Sorry. Ich wollte gerade das Haus verlassen, als ich eine seltsame Nachricht bekam.“
Der Kellner kommt zu uns herüber, Stift und Block in der Hand, und wir bestellen unsere Lieblingstacos.
„Also, was war das für eine seltsame Nachricht?“, fragt Amber und dippt einen Taco in die Salsa vor ihr.
Ich nehme mein Glas und trinke einen Schluck Wasser. „Dazu komme ich gleich. Erinnerst du dich, dass ich dir gesagt habe, dass ich nicht sicher bin, ob ich unsere neuen Mieter mag?“
Sie schnaubt. „Das ist aber nett ausgedrückt. Wenn ich mich richtig erinnere, sagtest du, Gary sei ein Blödmann und Beth ein Weichei.“
Röte steigt mir in die Wangen. „Um ehrlich zu sein, batest du mich, sie dir in einem Wort zu beschreiben. Wie dem auch sei, es gibt mehr zu berichten. Ich glaube, er misshandelt sie psychisch. Er manipuliert sie.“
Amber drückt ihre Zitronenspalte über ihrem Wasserglas aus. „Bist du sicher, dass du keine voreiligen Schlüsse ziehst? Ich weiß, was für einen Helferkomplex du hast. Immerzu möchtest du dich in alles hineinstürzen und jeden retten.“
Ich verziehe meine Lippen zu einer spöttischen Miene. „Immerhin bin ich wachsam. Ich hasse es, wenn Menschen misshandelt werden. Jetzt hör mir zu. Ich habe Beth heute Morgen Gemüse aus dem Garten gebracht. Zuerst wollte sie mich nicht hereinbitten und hatte die Tür nur ein paar Zentimeter geöffnet. Und hör dir das an: Sie sagt, sie hat das Haus seit ihrem Einzug vor einer Woche nicht verlassen. Findest du das nicht komisch?“
Amber zuckt die Achseln. „Ungewöhnlich, ja. Aber vielleicht ist sie mit Auspacken beschäftigt. Hat sich ihr Auto denn gar nicht bewegt?“
„Nicht, dass ich wüsste. Und wenn ich darüber nachdenke, bin ich mir nicht mal sicher, dass sie überhaupt ein Auto hat. Außer dem BMW, mit dem Gary zur Arbeit fährt, habe ich keins gesehen. Ich glaube langsam, dass sie das Haus nicht verlassen darf, während er bei der Arbeit ist.“
Amber schüttelt den Kopf. „Du interpretierst da zu viel hinein. Viele Paare teilen sich ein Auto. Wenn sie von zu Hause aus arbeitet, braucht sie vielleicht keins.“
„Ich glaube nicht, dass sie überhaupt arbeitet. Ich möchte sie nicht verurteilen, aber heute Morgen habe ich eine leere Wodkaflasche und ein halb volles Glas in der Küche gesehen.“
Amber schaut mich beunruhigt an, als der Kellner zurückkehrt und unser Essen vor uns auf den Tisch stellt.
Ich wickle mein Besteck aus der Serviette und lege sie mir auf den Schoß. „Ich denke, dass sie vielleicht ihren Führerschein verloren hat. Wegen Trunkenheit oder so.“
„Möglich“, sagt Amber und greift nach einem Rinder-Taco.
„Da ist noch mehr“, sage ich und schlucke einen Happen Shrimps hinunter. „Aber behalte das für dich. Beth fragte mich, ob ich Kinder habe, und dann teilte sie mir mit, dass sie ihre neunzehnjährige Tochter verloren hat. Aber hör dir das an: Sie hat gesagt, Gary darf nicht erfahren, dass sie mir das gesagt hat.“
Amber runzelt die Stirn. „Warum denn nicht? Ist er für ihren Tod verantwortlich, oder was?“
Ich tupfe mir mit der Serviette die Lippen ab. „Beth sagte mir, dass Gary sie für verrückt hält. Er behauptet, ihre Tochter sei nicht tot.“
Ambers Mund klappt auf. „Das ist verrückt. Manipuliert er sie oder ist sie tatsächlich verrückt?“
„Ich weiß es nicht. Um das herauszufinden, brauche ich deine Hilfe. Ich weiß nicht, wem ich glauben soll.“ Ich zeige ihr die Nachricht, die Gary mir aufs Handy geschickt hat. „Das hat Gary mir geschickt, als ich gerade zur Tür hinauswollte. Was meinst du dazu?“
Amber liest die Nachricht und stößt einen leisen Pfiff aus. „Das ist ziemlich direkt. Aber vielleicht ist er nur um das Wohlergehen seiner Frau besorgt, falls sie wirklich … du weißt schon.“ Sie dreht ihren Finger neben ihrer rechten Schläfe.
Ich schüttle entschieden den Kopf. „Das glaube ich nicht. Wenn er sich wirklich um ihr Wohlergehen sorgen würde, hätte er mich gebeten, nach ihr zu sehen, während er bei der Arbeit ist. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich fürchte, Beth ist in Gefahr.“
Kapitel 4
Die Party ist in vollem Gange und dem Lachen nach zu urteilen, das um mich herum ertönt, den dauernden Gesprächen und dem Lächeln auf allen Gesichtern ist sie der Erfolg, zu dem ich sie gemacht habe. Sogar das Wetter spielt mit – angenehme vierundzwanzig Grad. Nicht schlecht für einen April in Südkalifornien.
Trotz der Befriedigung, die ich empfinde, weil ich alles so gut gemacht habe, kann ich den kleinen Anflug von Enttäuschung nicht ignorieren, weil Gary und Beth nicht gekommen sind, obwohl ich mich so um sie bemüht habe. Ihr grüner BMW steht in der Einfahrt, also sind sie offensichtlich zu Hause. Ich war mir sicher, dass sie sich die Gelegenheit, ihre neuen Nachbarn in dieser zwanglosen Umgebung kennenzulernen, nicht entgehen lassen würden. Doch das hatten sie und machten sich damit zum Gegenstand von Spekulationen. Ich sehe mich einer Reihe von Fragen gegenüber, die ich nicht beantworten kann, während ich an meinem Stand neben Amber Gegrilltes auf Papptellern serviere.
„Was ist mit deinen Mietern?“
„Möchten sie sich nicht mit uns Normalsterblichen abgeben?“
„Hast du sie eingeladen?“
„Sind sie nicht zu Hause?“
„Sag nicht, sie haben Angst vor Krankheitserregern oder so?“
Ich tue mein Bestes, um meine Nachbarn mit gemurmelten Ausreden über Gary und Beth abzuwehren, die nach ihrem großen Umzug wahrscheinlich erschöpft sind und keine Lust auf eine rauschende Party und viele neue Leute haben.
„Soll ich gehen und an ihrer Tür klopfen?“, bietet Amber an, während sie die Getränkespender mit Eistee und Limonade auffüllt.
„Nein. Ich habe sie bereits mehrmals eingeladen. Ich möchte nicht, dass sie sich von mir belästigt fühlen. Außerdem müssen sie sowieso mitbekommen, was hier draußen los ist. Offensichtlich möchten sie nicht teilnehmen.“ Ich werfe Amber einen bedeutungsvollen Blick zu. „Ich hoffe, Gary hält Beth nicht davon ab herzukommen, um sie zu bestrafen, weil sie mich ins Haus gelassen hat.“
„Woher weiß er überhaupt, dass du dort warst?“, fragt Amber und hilft dabei einem Kind, seinen Pappbecher mit Limonade zu füllen.
Ich schnaube. „Gute Frage. Er hat Warren gedrängt, draußen eine Überwachungskamera zu installieren, bevor sie einzogen. Jetzt weiß ich, warum. Er hat die App auf seinem Handy. Wahrscheinlich hat er eine Nachricht bekommen, dass ich an der Eingangstür war. Offensichtlich möchte er nicht, dass Beth Besuch bekommt, von dem er nichts weiß.“
„Wenn man vom Teufel spricht“, murmelt Amber und knufft mich in die Seite.
Ich blicke von dem leeren Teller auf, den ich erneut mit Chili fülle, und sehe Gary und Beth, die die Straße herunter auf unser Fest zukommen. Ein paar der Nachbarn gehen auf sie zu und schütteln ihnen die Hände. Ich kann nicht hören, was sie sagen, doch sie lächeln und lachen, was ein gutes Zeichen dafür ist, dass sie sich eingliedern möchten. Vielleicht wollten sie im Haus nur etwas fertigstellen oder Beth musste erst den Mut aufbringen, uns gegenüberzutreten.
Ich kann meinen Stand nicht verlassen, um sie zu begrüßen, werfe jedoch immer wieder einen Blick in ihre Richtung, während sie durch die Menge spazieren. Beth hält einen Plastikbecher mit Wein in der Hand und Gary weicht ihr nicht von der Seite, beinahe als ob er sie führen würde. Ich bin nicht sicher, ob sie vielleicht betrunken hier erschienen ist und er fürchtet, dass sie sich blamiert, oder ob er einfach um sie herumscharwenzelt, um sicherzugehen, dass sie nichts sagt, was sie für sich behalten soll.
Schließlich kommen sie zu den Essensständen und stellen sich an.
Als sie vor mir stehen, strahle ich sie an. „Hallo! Ich bin so froh, dass Sie es einrichten konnten! Was darf ich Ihnen geben? Salat, Coleslaw und Chili? Klingt das gut?“
Gary deutet auf das Fleisch. „Ich möchte gern etwas von diesem köstlich aussehenden Tafelspitz und dem gegrillten Hähnchen. Beth ist die überzeugte Vegetarierin.“
Sofort dreht sie ihren Kopf zu ihm. „Nein, ich …“ Sie möchte mehr sagen, überlegt es sich dann aber anders und nimmt stattdessen schnell einen Schluck Wein.
Ich werfe ihr einen mitfühlenden Blick zu, mit dem ich ihr meine Unterstützung zusichern möchte, und belade einen Teller mit einer ordentlichen Portion vegetarischen Essens. Ich muss meine Zunge im Zaum halten. Ist das Garys Art, sie zu kontrollieren? Indem er ihr vorschreibt, was sie essen darf und was nicht? Ich hoffe, sie weiß, dass sie nur zu fragen braucht, damit ich ihr helfe, wo ich kann. Bis dahin gibt es nicht viel, was ich tun kann, ohne als störend wahrgenommen zu werden. „Das ist meine gute Freundin Amber“, sage ich und deute auf sie, als Gary und Beth zum Getränkestand weitergehen.
Amber streicht sich eine verschwitzte Strähne ihres kastanienbraunen Haars aus der Stirn und schiebt sie hinter ihr Ohr. „Schön, Sie kennenzulernen. Kay hat mir alles über Sie erzählt. Wie gewöhnen Sie sich ein?“
Beth wirft mir einen wachsamen Blick zu, als ob sie sich fragen würde, ob sie mir glauben kann, dass ich nichts weitersage. „Es ist ein bisschen …“
„Hervorragend, danke“, fällt Gary ein und fasst seine Frau ein wenig fester am Arm.
„Was hat Sie nach Santa Morelos verschlagen?“, fragt Amber. Ihr strahlendes Lächeln steht im Gegensatz zu ihrer Absicht.
„Wir brauchen einen Tapetenwechsel“, sagt Gary in einem vagen Ton, der Ambers Nachfrage beenden soll.
Ich breche das unangenehme Schweigen, das folgt. „Beth, wie wär’s, wenn Amber und ich Sie am Montag zu unserem Lieblingsmexikaner zum Essen einladen? Sagen wir, gegen zwölf, wenn Ihnen das passt.“ Ich wüsste nicht, was dagegenspräche. Es ist ja nicht so, als würde sie jemals irgendwo hingehen.
Sie starrt in ihren Weinbecher, als würde sie dort nach einer Antwort suchen. „Äh, da habe ich einen Arzttermin.“
„Kein Problem“, entgegne ich. „Sie können selbst fahren und wir treffen uns in der Stadt. Wir sind zeitlich flexibel.“
Gary räuspert sich. „Beth fährt nicht. Vor einem Jahr hatte sie einen Wildunfall, der ihr Selbstbewusstsein zerstört hat. Ich fahre sie zu ihrem Termin.“
Bevor ich die Gelegenheit habe zu antworten, zieht er sie so abrupt in Richtung der Picknicktische, dass sie beinahe stolpert.
„Bezaubernd! Ich habe doch gesagt, er ist ein Kontrollfreak“, murmle ich durch zusammengebissene Zähne. „Nun hast du es mit deinen eigenen Augen gesehen.“
Sichtlich entsetzt dreht sich Amber zu mir um. „Ohne Worte. Er hat klargestellt, dass er nicht möchte, dass Beth mit uns Zeit verbringt.“ Sie schaut zu den beiden hinüber, während sie sich gerade setzen. „Glaubst du diese Geschichte mit dem Wildunfall?“
Ich reiche dem nächsten Gast in der Schlange einen Teller mit Essen und warte, bis er außer Hörweite ist, bevor ich antworte. „Möglich. Vielleicht sind sie wegen Beths Trinkerei sogar umgezogen. Ein Neuanfang oder so. Ich glaube, es hat sie wirklich hart getroffen, ihre Tochter zu verlieren.“
Zu forsch gebe ich eine Kelle voll Chili auf einen Teller und die Soße spritzt umher. „Ups! Entschuldigung“, sage ich zu dem Teenager vor mir, der zu sehr mit seinem Handy beschäftigt ist, um zu bemerken, was passiert ist.
„Es ist seltsam, dass Gary sie überall hinfährt. Aber vielleicht ist er nur übermäßig besorgt und bemüht zu verbergen, dass sie Alkoholikerin ist“, sagt Amber.
Ich senke meine Stimme. „Oder er ist der Grund dafür. Ich glaube, Beth hat Angst vor ihm. Was, wenn er für den Tod ihrer Tochter verantwortlich ist?“