1
Rio de Janeiro, 1989
Micaels Herz klopfte so heftig, dass es seine Brust zu zerreißen drohte, als er auf seinen kurzen Beinchen so schnell er konnte an Wellblechhütten und Holzverschlägen vorbeirannte, vor denen finstere Gestalten hockten. Ihm wurde klar, dass er in einer von Rios zahlreichen Favelas sein musste, aber er hatte keine Ahnung, wie er da herauskommen und nach Hause finden konnte, zu dem schönen großen Hotel, in dem er lebte. Er wollte zurück zu seiner Mutter, sich in ihre Arme kuscheln und ihr vertrautes Parfüm riechen. Wo war sie? Warum war sie nicht gekommen, um ihn zu holen? Nur mit Mühe konnte er die Tränen unterdrücken, die er seit dem Vortag zurückhielt.
Seine Lunge schmerzte vom Rennen und er bekam kaum noch Luft. Dennoch musste er weiterlaufen, damit der Mann und die Frau, die ihn gefangen gehalten hatten, nicht einholen und erneut einsperren konnten.
Die Beine gaben unter Micael nach, er strauchelte und fiel in eine Pfütze. Da bemerkte er den brennenden Durst in seiner Kehle, schöpfte hastig mit seinen kleinen Händen das dreckige Wasser und trank davon.
„Hey, Kleiner, was ist los mit dir?“ Er wurde von kräftigen Händen gepackt und auf die Füße gestellt. Micael starrte auf einen Mund voller Zahnlücken. Augen hart wie Stahl musterten abschätzend seine Kleidung, die zwar verschmutzt war, aber intakt und von sichtlich guter Qualität. „Du bist doch nicht von hier, oder?“
Micael schüttelte den Kopf, riss sich los und lief weiter. Er fröstelte, obwohl die Nachtluft mild war. Es waren Müdigkeit, Erschöpfung und Angst, die ihn frieren ließen. Doch er konnte sich nicht erlauben, ein Plätzchen zum Ausruhen zu suchen. Seine Mutter hatte ihn stets vor den Gefahren gewarnt, die in seiner Heimatstadt lauerten. Sie würde aufgebracht sein, weil er sich von Fremden hatte ansprechen lassen, die ihn und seinen Bruder nur wenige Meter vom Hotel entfernt in ein Auto gezerrt hatten, als die Nanny einen Moment lang nicht aufgepasst hatte. Und vor allem würde sie böse sein, weil er Rafael bei den Fremden zurückgelassen hatte. Doch sein Zwillingsbruder hatte fest geschlafen und nicht reagiert, als Micael ihn angestupst hatte. Bis er zu sich gekommen wäre, wäre die Gelegenheit womöglich vorbei gewesen. Micael hatte sich gesagt, dass er schnell entwischen und mit seinen Eltern zurückkehren würde, um Rafael da herauszuholen. Aber was, wenn er die Hütte nicht wiederfand oder Rafael inzwischen nicht mehr dort war? Sein Vater würde ihm den Hintern versohlen, so viel war sicher. Und seine Mutter würde heftig weinen, weil Rafael weg war. Bei diesen Gedanken liefen Micael nun doch Tränen über die kindlich runden Wangen. Er schluchzte kurz auf, wischte die Tränen mit dem Handrücken weg und stolperte weiter durch die Nacht.
Als es heller wurde und er besser sehen konnte, bemerkte er, dass die abgerissenen Hütten in Häuser aus Stein übergegangen waren und die Lehmwege in asphaltierte Straßen, in denen nur wenige Menschen geschäftig ihrer Wege gingen und sich nicht um ihn kümmerten. Er kletterte auf eine niedrige Mauer, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte sich suchend nach dem Meer um. Sein Zuhause lag direkt am Strand von Ipanema, er würde nur am Wasser entlanglaufen müssen und wäre wieder daheim.
Aber so sehr er auch Ausschau hielt, er konnte das Meer nicht entdecken. In der Ferne erblickte er immerhin den Corcovado mit der Christus-Statue, den er vor Kurzem mit seinen Eltern besichtigt hatte. Er erinnerte sich, dass dahinter der Zuckerhut auf seiner winzigen Halbinsel vor der Küste lag – wenn er den Berg fand, wäre er am Meer. Außerdem gab es an beiden Orten viele Touristen, die fotografierten und sich von Taschendieben bestehlen ließen. Sicher würde ihm von denen weniger Gefahr drohen als von seinen Landsleuten in den Favelas und sie würden ihm helfen. Micaels Vater war Engländer, daher hatte er Vertrauen zu Menschen, die aus dem Ausland kamen, um sich Rio anzusehen. So orientierte er sich in Richtung des Corcovado, schlief in einem versteckten Winkel eines Hauses einige Stunden, stahl vor Hunger etwas zu essen von einem Straßenhändler und sprang schließlich in einen Bus, von dem er hoffte, dass er ihn an sein Ziel bringen würde. Dann legte sich eine Art Nebel über alles.
Brighton, 2017
Vor Michael Silverstones Augen verblasste die Vision des Zuckerhuts langsam, als er aus dem Fenster auf den üppig begrünten Hotelgarten hinunterstarrte, dessen Friedlichkeit in so scharfem Kontrast zu seinem düster-bedrohlichen Traum stand. Der vielmehr eine Erinnerung war. Eine der ersten längeren Erinnerungen seines Lebens musste ausgerechnet die seiner Entführung sein.
Er atmete tief durch und zwang sich, geistig wieder in das luxuriös eingerichtete Büro seiner Mutter zurückzukehren, in dessen Besprechungsecke sie saßen, um dem Gespräch zwischen ihr und seiner jüngeren Schwester Claudia zu folgen. Sie diskutierten seit mindestens zehn Minuten darüber, ob sie das Zimmermädchen entlassen sollten, das sich ungefragt ein Partykleid von einem Hotelgast ausgeliehen hatte, um sich damit ins Nachtleben von Brighton zu stürzen. Auch wenn sie das Kleid am nächsten Tag gereinigt zurückgebracht hatte, war die Sache aufgeflogen und hatte bei der Dame der High Society, die im Fünfsternehotel Silverstone Brighton logierte, verständlicherweise für Unmut gesorgt.
„Sag endlich auch mal was dazu, Micael“, forderte seine Mutter Mariana ihn auf und schlug die schlanken Beine übereinander. „Sollten wir …“ Sie unterbrach sich plötzlich und blickte Michael prüfend an. „Hattest du letzte Nacht wieder den Traum?“
Er nickte und runzelte gleich darauf die Stirn. „Woran hast du das gemerkt?“
Sie seufzte und strich sich die langen schwarzbraunen Haare zurück. „Ich sehe es dir einfach an, querido.“
Michael betrachtete seine Mutter nachdenklich. Sie war eine attraktive Frau und sah bedeutend jünger aus als einundfünfzig. Besonders seit sie vor einigen Monaten aus Rio de Janeiro zurückgekehrt war, wo sie ein minimal-invasives Lifting hatte vornehmen lassen, wie sie es genannt hatte. Seitdem lag ihre seidige hellbraune Haut wieder straff über den bereits früher vom Schönheitschirurgen perfekt verfeinerten Zügen.
Michael war stolz auf seine Mutter, doch es war ein merkwürdiges Gefühl, dass Mariana nun als seine ältere Schwester durchging. Hingegen hatten auch die besten plastischen Chirurgen nicht die Spuren von Trauer und Bitterkeit tilgen können, die die Tragödie von Rafaels Verschwinden um ihren sinnlichen Mund und in den dunklen Augen eingegraben hatte. Aber vielleicht konnte auch nur er das sehen, weil ihn die gleichen Erinnerungen quälten. Und ihn in unregelmäßigen Abständen im Traum durch eine Favela hetzen ließen.
Doch das war über siebenundzwanzig Jahre her, und es verstörte ihn, dass ihn diese Alpträume nicht endlich losließen. Gerade so, als wolle sein als vermisst geltender Zwillingsbruder ihn immer wieder an seine Existenz erinnern.
Michael rieb sich konzentriert mit den Fingerspitzen über die Stirn, und es gelang ihm, den verängstigten fünfjährigen Jungen hinter sich zu lassen und in den Modus des stellvertretenden Hotelleiters zu schalten. „Wir werden Heather nicht kündigen, sondern es bei einer Abmahnung belassen“, bestimmte er. „Ich rede mit ihr und auch mit dem Gast. Heather wird sich entschuldigen und damit hat es sich. Sie arbeitet immerhin schon seit fünf Jahren für uns, und wir waren immer zufrieden mit ihr. Ich weiß nicht, was sie geritten hat, aber ich fände eine sofortige Kündigung zu hart.“
„Du bist zu weich, Michael“, kritisierte Claudia. „Im Gran Hotel Lisboa würde das nicht durchgehen, João hätte sie sofort gefeuert.“ Ihre graublauen Augen, die einen faszinierenden Kontrast zu ihrer beigebraunen Haut und den dunklen Augenbrauen bildeten, funkelten.
„Ich bin nicht dein Mann und dies hier ist das Silverstone Brighton, nicht euer Hotel in Lissabon – ich lege Wert darauf, dass unsere Angestellten fair behandelt werden“, stellte Michael klar und strich sich eine dunkle Locke aus der Schläfe, die sich aus seinen im Nacken zusammengebundenen Haaren gelöst hatte.
„Noch hat aber Dad das Sagen und nicht du“, trumpfte sie auf. „Und er wird sie rausschmeißen, wenn er von der Sache erfährt.“ Ihre scharfgeschnittenen Züge, die sie vom Vater geerbt hatte, verhärteten sich.
„Untersteh dich, ihm davon zu erzählen! Du interessierst dich doch auch sonst nicht für die Angestellten, warum mischst du dich nur ein, wenn du jemandem eins auswischen kannst? Außerdem untersteht die Personalabteilung mir und nicht Vater.“ Er fragte sich kopfschüttelnd, warum seine Schwester mit den Jahren immer boshafter wurde.
„Kinder, fangt nicht an zu streiten“, warf Mariana müde ein. „Mach es so, Micael, rede mit Lady Ashburn und lass deinen Charme spielen. Sie wird hoffentlich nicht auf einer Kündigung bestehen. Ihr Kleid ist ja nicht zu Schaden gekommen. Aber Heather werde ich ins Gewissen reden, ich denke, ich kann da deutlicher werden als du.“
„Gut.“ Michael warf einen Blick auf seine weißgoldene Rolex.
Claudia blickte ihren Bruder an. „Kommst du nachher mit ins Lakota? Freunde von mir haben dort einen Tisch reserviert.“
Michael zögerte. Er hatte nicht viel übrig für mondäne Clubs und für Claudias versnobte Freunde noch viel weniger. „Ich bin kaputt, ich arbeite schon die ganze Woche praktisch Doppelschicht, seit der Empfangschef krank ist. Ich muss noch bis zweiundzwanzig Uhr unten weitermachen und möchte dann gleich ins Bett.“
„Ach, du bist so langweilig“, murrte sie und verzog geringschätzig die schmalen Lippen.
„Wenn ich wie du jeden Morgen bis in die Puppen schlafen könnte, würde ich mir auch die Nächte in Clubs um die Ohren schlagen“, entgegnete er mit ungewöhnlicher Schärfe.
Seine leise Kritik prallte an Claudia ab, sie lachte nur und warf mit Schwung ihre schulterlangen mokkabraunen Haare zurück. „Einer muss ja das Geld für die Familie verdienen – danke dir, Brüderchen.“ Sie hauchte einen Kuss in seine Richtung. „Übrigens habe ich gehört, dass Amber Lyndhurst heute Abend auch kommen will. Sie ist übers lange Wochenende in Brighton.“
„Ein Grund mehr für mich, nicht mitzugehen“, brummelte Michael.
Mariana, die das Geplänkel zwischen ihren Kindern aufmerksam verfolgt hatte, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ein Grund mehr für dich, hinzugehen“, korrigierte sie sanft, aber bestimmt.
Seine Stirn kräuselte sich. „Du weißt genau, dass ich nichts von ihr will. Und heiraten will ich sie schon gar nicht.“
„Micael“, begann Mariana und setzte sich aufrecht in ihrem Sessel hin. Sie war die Einzige, die ihn noch bei der portugiesischen Version seines Namens nannte und in seiner Muttersprache mit ihm sprach. Selbst mit seiner Schwester redete er fast immer auf Englisch. „Du bist jetzt zweiunddreißig, du solltest langsam dran denken, eine Familie zu gründen. Und du magst doch Kinder.“
„Ich will aber keine in die Welt setzen, nur damit ihr einen weiteren Erben für die Hotels bekommt“, erwiderte er verärgert. „Ich will keine Vernunftehe eingehen. Ich weiß noch nicht mal, ob ich überhaupt heiraten will.“
„Querido, es macht mir Sorgen, dass du dich so wenig für Frauen interessierst. Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?“
„Aber nein! Ich interessiere mich nicht für Männer, falls du das meinst.“
„Es wäre ja nicht schlimm, Liebling. Nur …“
„Für Vater schon“, warf Michael ironisch ein.
„Nun ja, du weißt, er ist sehr traditionell …“ Unruhig rang sie ihre mit kostbaren Ringen geschmückten schmalen Hände.
„Mama, ich liebe Frauen. Ich habe nur noch nicht die Richtige getroffen. Ende der Diskussion, okay?“
„Du müsstest eben mehr ausgehen, um welche kennenzulernen. Du hockst immer nur im Hotel. Geh aus, flirte, tobe dich aus. Und dann heiratest du Amber. Oder Kate Wiseman.“
Michael verdrehte die Augen. „Bitte lass mich mit diesem Thema in Ruhe.“ Er erhob sich brüsk. „Ich muss an der Rezeption nach dem Rechten sehen.“
Gefolgt von Claudia durchquerte Michael die elegante Eingangshalle des Hotels. Vor der Empfangstheke aus Mahagoni sah er seinen Vater stehen, einen silberhaarigen Mann von imposanter Statur, der mit einer blonden Frau redete. Michael konnte nicht verstehen, was er zu ihr sagte, aber seine strengen Gesichtszüge wiesen darauf hin, dass es nichts Liebenswürdiges war. Dann wandte er sich ab und schritt in Richtung der Aufzüge. Sie starrte ihm hinterher, das hübsche, herzförmige Gesicht leicht verstört.
Schnell trat Michael auf sie zu. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich weiß nicht.“ Die junge Frau strich sich eine lange Haarsträhne aus der Stirn und blickte zu ihm auf. „Ich habe mich mit einer Frage an die Rezeption gewandt, und man verwies mich an diesen Herrn im grauen Anzug, der gerade dort stand. Aber er hat sich als eher unangenehmer Zeitgenosse entpuppt und hat mich abblitzen lassen.“
Ein Lächeln zuckte um Michaels Lippen. „Das ist unser Hoteldirektor, er kann manchmal etwas ruppig sein. Sie sind kein Gast, oder?“ Mit einem Gast wäre sein Vater nie so unhöflich umgesprungen.
„Nein. Ich bin Autorin und suche jemanden, der mir einige Recherchefragen beantworten kann. Ich habe deswegen bereits eine Mail an Ihre Pressestelle geschrieben, habe aber noch keine Antwort erhalten. Und da ich gerade hier vorbeigekommen bin, dachte ich, ich frage einfach mal persönlich nach.“ Sie lächelte ihn entwaffnend an, und Michael war wie gebannt von ihren sanften Zügen und der positiven Ausstrahlung, die sie umgab.
Dann fiel ihm etwas ein. „Sind Sie Stephanie Wellington?“
„Ja, genau.“
„Ihre Anfrage liegt in meinem E-Mail-Postfach. Tut mir leid, ich bin noch nicht dazu gekommen, sie zu beantworten, ich war diese Woche sehr beschäftigt.“
„Macht nichts – mir ist klar, dass Sie bestimmt Wichtigeres zu tun haben, als sowas zu beantworten.“
In der Tat. Michael hatte eigentlich vorgehabt, seine Sekretärin anzuweisen, der Dame eine Hotelbroschüre und einen Link zur Webseite des britischen Hotel- und Gaststättenverbandes zu schicken, doch nun änderte er seine Meinung.
„Was sind das für Fragen? Was schreiben Sie?“
Bevor Stephanie antworten konnte, tauchte Claudia hinter ihm auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Michael, falls du es dir anders überlegst: Der Tisch im Lakota ist ab zwanzig Uhr bestellt.“
Er nickte zerstreut. „Okay, aber rechne nicht ernsthaft mit mir. Wir sehen uns morgen, bevor du zurückfliegst.“ Dann wandte er sich wieder seiner Gesprächspartnerin zu. „Kommen Sie, setzen wir uns einen Moment in die Lobby.“
„Ich danke Ihnen, Mr. –?“
Er zögerte, ihr seinen Nachnamen zu nennen, denn dann wüsste sie sofort, dass es seine Familie war, der das Hotel gehörte. Es gab Leute, die es verschreckte, dass er ein Silverstone war, andere suchten seine Bekanntschaft und Freundschaft allein deswegen. Er hatte gelernt, vorsichtig zu sein. Auch wenn sein Instinkt ihm sagte, dass die junge Frau weder in die eine noch in die andere Kategorie fiel. Er tippte auf sein Namensschild, auf dem nur der Vorname stand. „Einfach Michael.“
Die Rezeptionistin tauchte neben ihm auf. „Michael, ich muss dringend los, meine Tochter wartet auf mich. Kannst du …?“
„Ja, mach Feierabend, Jane. Sorry, ich habe nicht gesehen, dass es schon so spät ist. – Entschuldigen Sie, ich muss an der Rezeption die Stellung halten, bis mich um zweiundzwanzig Uhr der Nachtportier ablöst“, sagte er zu Stephanie und ging hinter die Empfangstheke. „Aber wir können trotzdem einen Moment weiterreden.“
„Um Ihre Frage zu beantworten: Ich schreibe einen Krimi, der in einem Luxushotel in London spielt. Und natürlich habe ich bereits vieles im Internet recherchiert, doch es gibt Dinge, die nur ein Insider …“ Sie unterbrach sich, weil neben ihr ein älterer Herr im Anzug aufgetaucht war, der sich nach den Frühstückszeiten des Hotelrestaurants erkundigte.
Michael nannte sie ihm und wandte sich wieder Stephanie zu. „Sie schreiben Kriminalromane? Das finde ich super. Soll es einen Mord in dem Hotel geben?“
„Genau das.“
„Es ist der Alptraum eines jeden Hoteliers, dass so etwas in seinem Hotel passiert“, erwiderte er lachend. „Dramen geschehen in den Mauern jedes Hotels sicher genug. Allerdings bitte ich Sie um Verständnis, dass ich Ihnen keine pikanten Anekdoten erzählen darf. Ich würde in Teufels Küche kommen, wenn so etwas veröffentlicht würde.“
„Ich weiß, keine Sorge. Mir geht es mehr um einige praktische Abläufe in einem Luxushotel.“ Sie stützte sich mit den Unterarmen auf die Theke und kam ihm für einen kurzen verwirrenden Moment so nah, dass er ihr zartes pudriges Parfüm riechen konnte.
Rasch blickte er auf ihre zierlichen Hände, um festzustellen, ob sie einen Ehering trug. Er konnte keinen ausmachen, doch das war natürlich noch kein Beweis dafür, dass sie ungebunden war.
Ein Pärchen stellte sich an den Empfang, und Michael wandte ihnen seine Aufmerksamkeit zu. „Wir reisen morgen ab, würden Sie uns bitte die Rechnung fertigmachen?“
„Selbstverständlich. – Einen Moment bitte“, sagte er zu Stephanie.
Sie nickte verständnisvoll und blickte sich aufmerksam in der Lobby um, während sie auf ihn wartete.
„So, jetzt bin ich wieder für Sie –“, begann er, und wurde vom klingelnden Telefon unterbrochen. „Das Hotel Silverstone Brighton, die Rezeption, Sie sprechen mit Michael, guten Abend“, meldete er sich.
Als er das Gespräch beendet hatte, stand bereits eine kleine Reisegruppe, die einchecken wollte, am Empfang.
Er blickte Stephanie bedauernd an. „Das wird heute nichts mehr, fürchte ich.“
Sie hob resigniert die Schultern. „Ja, Sie scheinen sehr beschäftigt zu sein. Ich möchte Sie nicht länger aufhalten. Ich kann es ja mal beim Lyndhurst-Hotel versuchen.“
„Nicht doch. Was halten Sie davon, wenn wir das Gespräch morgen beim Mittagessen fortsetzen?“, hörte er sich sagen und staunte über sich selbst. Hatte er ihr gerade eine Art Rendezvous vorgeschlagen? „Dann können Sie mich mit so vielen Fragen über das Hotel löchern, wie Sie wollen“, fügte er hinzu, um den geschäftlichen Aspekt der Verabredung zu betonen. Auch wenn er sich eingestehen musste, dass sie ihm gefiel, hatte er schließlich keine Ahnung, ob sie überhaupt ungebunden war.
„Sehr gern.“ Stephanie strahlte ihn an, und für einen wohltuenden Moment versank er in der Wärme und Lebendigkeit ihrer tiefblauen Augen. Spätestens jetzt wusste er, dass er sie unbedingt wiedersehen wollte.
Michael blätterte gedanklich in seinem übervollen Terminkalender. „Passt es Ihnen gegen eins?“
„Ausgezeichnet. Und wo?“
Er zögerte kurz. Am liebsten hätte er sie in ein Restaurant ausgeführt, das möglichst weit vom Hotel entfernt lag, doch dadurch würde zu viel von der Zeit abgehen, die er zur Verfügung hatte. „Wäre es in Ordnung, wenn wir uns hier treffen?“
„Klar. Ich hole Sie um dreizehn Uhr ab.“
„Ich freue mich“, sagte er warm, und sie schenkte ihm ein Lächeln und ein kurzes Zwinkern, bevor sie sich abwandte. Er blickte ihr nach, wie sie mit leichtfüßigem Gang in ihren modischen Sneakers die Hotelhalle durchquerte. Ihr blondes Haar tanzte auf ihrer dunklen Bikerjacke und schimmerte im Licht der Kronleuchter. Auf einmal spürte Michael, dass die letzte Spur von Traurigkeit, die er seit dem Aufwachen mit sich herumtrug, verschwunden war.
2
Als Claudia erwachte, dröhnte ihr Schädel und sie hatte einen widerlich pelzigen Geschmack auf der Zunge. Vorsichtig öffnete sie die geschwollenen Lider einen Spalt, hob den Kopf und blickte sich um. Das Hotelzimmer, in dessen Bett sie splitternackt lag, war nicht ihr Zimmer im Silverstone. Und der blonde Mann, der neben ihr leise schnarchte, war nicht ihr Ehemann João. Verdammt. Dunkel erinnerte sie sich, im Lakota mit diesem Cousin von Amber Lyndhurst geflirtet zu haben. Ziemlich heftig sogar. Sie war in seinen Wagen gestiegen, mit auf sein Zimmer gegangen und … Oh Gott.
Leise, um ihn nicht zu wecken, schwang sie die Beine auf den Boden und huschte ins Bad. Dort lagen ihr Schmuck und ihre goldene Armbanduhr. Die Ziffern zeigten zehn nach neun an. Ihr blieben knapp drei Stunden Zeit, bis eine Limousine des Hotels sie zum Flughafen fahren würde.
Sie überlegte, ob sie duschen sollte, entschied sich dann aber, das lieber in Ruhe in ihrem eigenen Zimmer zu tun. Sie wollte so schnell wie möglich weg, bevor dieser Mann erwachte.
Hastig hüllte sie sich in den sandfarbenen Frotteebademantel mit dem goldenen Emblem der Lyndhurst-Hotelkette und suchte in dem kleinen Körbchen mit den Miniflaschen Shampoo, Duschgel und Bodymilk vergeblich nach Abschminkpads und Reinigungsmilch. Saftladen. Da waren die Hotels ihrer Eltern doch um Klassen besser. Mit Wasser und Seife wusch sie sich notdürftig das zerlaufene Make-up aus dem Gesicht und hinterließ Schlieren im blütenweißen Handtuch.
Als sie ins Zimmer trat, räkelte sich der Mann und lächelte ihr entgegen. „Guten Morgen, Süße. Gut geschlafen?“
„Ja, vielen Dank“, entgegnete sie kühl und schlüpfte aus dem Bademantel, den sie achtlos auf die Bettkante warf.
Er stöhnte begehrlich auf und betrachtete ihren geschmeidigen nackten Körper. „Komm her zu mir, Baby. Ich habe schon wieder Lust auf dich.“
„Geht nicht, ich muss mich beeilen. Ich fliege heute Nachmittag nach Lissabon zurück.“ Sie streifte sich das zerknitterte Partykleid über, das mit ihren anderen Sachen auf dem Sessel lag.
„Dann sehen wir uns vorerst nicht wieder?“, fragte er enttäuscht.
„Nein. Sorry, Bobby.“
„Robbie“, korrigierte er mit gerunzelter Stirn.
Claudia zuckte nur mit den Schultern und schlüpfte schnell in ihren Slip, ihre hochhackigen Pumps und zum Schluss in die glitzernde Abendjacke.
„Es war toll, Darling“, versicherte sie und warf ihm einen Kuss durch die Luft zu.
„Jederzeit wieder, meine Süße.“
Sie nahm ihr Täschchen, das an den Champagnerkübel gelehnt stand, und vergewisserte sich, dass sie ihr Handy eingesteckt hatte. Schmuck und Uhr hatte sie bereits im Bad wieder angelegt. Und nun nichts wie weg. An der Tür drehte sie sich noch einmal um.
„Und Robbie: Das hier bleibt natürlich unter uns – verstehen wir uns?“
Er grinste breit. „Worauf du dich verlassen kannst.“
Der Ausdruck in seinen grünen Augen gefiel ihr nicht und sie erinnerte sich auf einmal, dass sie Selfies gemacht hatten – nicht nur im Nachtclub, sondern auch eines nackt im Bett. Wie hatte sie sich dazu nur hinreißen lassen können? Sie musste ziemlich betrunken gewesen sein. Zum Glück war er Ambers Cousin, ein gut betuchter Londoner Banker, also aus ihren eigenen Kreisen, und kein zwielichtiger Fremder, der sich als Erpresser entpuppen könnte.
Claudia stieg in eines der Taxis, die vor dem Eingang warteten, und ließ sich zum Hotel ihrer Familie bringen, das nur zehn Minuten entfernt lag.
„Bitte setzen Sie mich am Hintereingang ab“, bat sie den Fahrer.
Auf keinen Fall wollte sie riskieren, in der Hotelhalle ihrem Vater oder Michael in die Arme zu laufen, und auch das Empfangspersonal brauchte sie so nicht zu sehen. Sie verwarf die Idee, mit dem Personalaufzug zu fahren, denn das würde bei den Mitarbeitern Aufsehen erregen. Bestimmt würden sie darüber tratschen und es könnte ihrer Familie zu Ohren kommen. Claudia Oliveira, geborene Silverstone, die morgens in zerknautschter Abendgarderobe ungekämmt und mit Make-up-Resten im übernächtigten Gesicht heimlich den Personalaufzug nahm, um in ihr Zimmer zu gelangen? Da hätte sie auch gleich eine Notiz am schwarzen Brett der Angestellten aushängen können, dass sie ihren Gatten betrogen hatte.
Sie entschied sich dafür, die Treppe zu nehmen. Ihr Vater und Michael würden hoffentlich in ihren Büros oder bereits in der ersten Besprechung sitzen. Ihre Mutter war als Leiterin der VIP-Betreuung und Event-Abteilung oft noch abends im Dienst und tauchte selten vor dem Mittagessen im Hotel auf.
Claudia hastete die Treppen in den dritten Stock empor, eilte atemlos den Korridor hinunter, dessen weiche Auslegware ihre Schritte schluckte, zog bereits ihre Keycard aus der Tasche und wollte auf ihre Zimmertür zugehen, als ihr Bruder in Begleitung der Hausdame um die Ecke bog. Er bemerkte sie sofort, unterbrach sein Gespräch mit Mrs Byron und kam zügig auf sie zu. „Guten Morgen, Claudia. Das trifft sich gut, dann können wir uns jetzt verabschieden. Ich muss nämlich gleich in eine Besprechung und habe direkt im Anschluss eine Verabredung zum Mittagessen. Du bist ja schon früh auf“, fügte er verwundert hinzu.
„Ich hatte noch was in der Innenstadt zu besorgen“, behauptete sie und merkte im gleichen Moment, wie unglaubwürdig es angesichts ihrer Aufmachung klingen musste.
Er musterte sie kritisch, und Claudia wusste, dass sie ihm nichts vormachen konnte. Aber er würde sie nicht verpetzen. Weder bei ihren Eltern noch bei João. Zwar hatten sie sich nie so richtig nahegestanden und sich in den letzten Jahren noch weiter entfremdet, doch Michael war loyal. Allenfalls würde er sie von seinem hohen Ross mit noch mehr Geringschätzung betrachten, als er es ohnehin schon tat, aber damit konnte sie leben. Er war eben eifersüchtig, weil sie immer der Liebling ihres Vaters gewesen war und er selbst oft einen schweren Stand bei ihm hatte. Dafür trug Papa ihm beruflich die guten Posten förmlich hinterher, während sie selbst auf ewig nichts als das Anhängsel eines reichen Ehemanns sein würde. So waren sie quitt. Sie musste zugeben, dass Michael immer für sie dagewesen war, wenn sie ihn gebraucht hatte und dass ihre Freundinnen sie um diesen gutaussehenden großen Bruder beneideten. Er ist eben Mr Perfect, dachte Claudia missgünstig und verzog unzufrieden das Gesicht.
„Alles okay bei dir?“, fragte Michael besorgt.
„Jaja, alles okay. Mach’s gut.“ Sie legte kurz die Arme um seinen Hals. Er drückte sie an sich und küsste ihre Wange. „Komm gut nach Hause.“
Ihr war bewusst, dass sie nach Ausdünstungen einer wilden Partynacht und vielleicht sogar nach Sex riechen musste und löste sich schnell aus seiner Umarmung, dankbar, dass er keinen Kommentar darüber machte. „Kannst du mir ein Zimmermädchen organisieren, das mir beim Packen hilft?“, bat sie.
„Natürlich. Ich sage Mrs Byron gleich, dass sie dir jemanden schickt. Guten Flug!“
Erleichtert verschwand Claudia auf ihrem Zimmer. Ein Pling ihres Smartphones kündigte eine eingehende WhatsApp-Nachricht an und sie sah sofort nach.
Hi, Sweetie, hattest du noch Spaß mit Robbie?
schrieb Amber Lyndhurst.
Hier ein paar Erinnerungsfotos von gestern Abend.
Angehängt war ein Bild, auf dem Robbie fest die Arme um sie gelegt hatte, während sie an seinem Hals knabberte. Und eines, auf dem sie engumschlungen auf dem Parkplatz vor dem Lakota an seinen Wagen gelehnt standen und sich leidenschaftlich küssten. Er hatte sein linkes Bein fordernd zwischen ihre gedrängt, und sie machte es ihm leicht, indem sie ihren rechten Fuß am Kotflügel abstützte und ihren Oberschenkel gegen seine Hüften presste. Ihr nacktes Knie ragte dem Betrachter durch den seitlichen Schlitz im Rock geradezu obszön entgegen, und kein Blatt Papier hätte mehr zwischen ihrer beider Lenden gepasst. Hastig löschte Claudia die Fotos, während sich ein ungutes Vorgefühl in ihr breitmachte. Allerdings hatte Amber nichts weiter geschrieben, vermutlich fand sie es einfach nur amüsant, dass Claudia einen One-Night-Stand mit ihrem Cousin gehabt und sie sie heimlich bei einer Art Vorspiel fotografiert hatte. So beschloss sie, es zu ignorieren und vergaß es wieder. Vorerst.