Leseprobe Das Erbe der Teeblüten

Kapitel 1

Kensington, Anfang 1883

Als eine der ersten Amtshandlungen nach ihrer Krönung ließ sich Königin Victoria eine Tasse Tee bringen. Sie wisse jetzt, dass sie tatsächlich regiere, sollen ihre Worte dabei gewesen sein.

Auch wenn sie an diesem schicksalhaften Tag das Teetrinken zum Kulturgut erklärte, wurde die Tradition in den britischen Teehäusern gelebt und perfektioniert. Maßstab dafür war die royale Etikette:

Beim Trinken soll die Tasse mitsamt Untertasse aufgenommen und nur ein kleines Stück zum Mund angehoben werden. Es gilt als unrühmlich, den kleinen Finger abzuspreizen.

Bei der Zugabe von Milch (bevor oder nachdem der Tee in die Tasse eingeschenkt wurde) zeigt sich die Gesellschaft durchaus aufgeschlossen. Beides ist erlaubt. Wenngleich auch die Milch vor dem Tee das feine Porzellan zu schützen vermag, aus dem verbindlich serviert und getrunken wird.

Maryanne Landerton hatte jene Regeln verinnerlicht. Mehr als drei Jahre waren vergangen, seit sie sich des Kensington Crown angenommen hatte. Der Tod ihres Vaters war damals ausschlaggebend gewesen. Auf dem Sterbebett hatte sie ihm das Versprechen gegeben, sich um das familieneigene Teehaus zu kümmern. Ein Vorhaben, das sie nicht nur in eine ungewisse Zukunft führen sollte, sondern für eine junge Frau auch vollkommen inakzeptabel war. Die Londoner hatten Schwierigkeiten damit gehabt, eine Frau in einer Männerdomäne zu akzeptieren. Dennoch war es Maryanne nach einigen Herausforderungen gelungen, sich zu etablieren. Zwar gab es immer noch Menschen, die sie aufgrund ihres Lebensstils ablehnten – immerhin weigerte sie sich strikt zu heiraten und löste sich damit aus den Erwartungen, die die Gesellschaft an eine Frau ihrer Zeit hatte –, doch es gab auch solche, die sie für ihren Mut bewunderten. Für Lady Drummond jedenfalls, die sich regelmäßig mit ihrer Gruppe der fortschrittlichen Damen im Hinterhaus des Kensington Crown traf, war Maryanne eine Inspiration. Ein Freigeist, der allen Frauen mit gutem Beispiel voranging. Bei kräftigem Schwarzen Tee, Kuchen und Sandwiches diskutierten sie über die Rechte der Frauen und hielten Forderungen für das Parlament fest. Maryanne war stolz, diese Gruppe unter ihrem Dach zu wissen, deren Einsatz – da hatte sie keine Zweifel –, allen eines Tages zugutekommen würde. Doch nicht nur die einflussreiche Lady Drummond hatte ihren Teil dazu beigetragen, dass das Kensington Crown wieder in altem Glanz erstrahlte. Es war auch jenen zu verdanken, denen die Traditionen am Herzen lagen. Stammgäste füllten die Stube und sprachen ihre Empfehlungen unter Freunden und Bekannten aus. So war das Teehaus, das Maryannes Vater so wichtig gewesen war, zu einem der beliebtesten Treffpunkte Londons geworden. Ein Ort, an dem die feine Gesellschaft mit Freuden verkehrte, wo Familien und Freunde in der gemütlichen Gaststube zusammenkamen. An dem aber auch neben all der Behaglichkeit, Toleranz und Fortschritt ihren Platz hatten. Und Maryanne galt als dessen gute Seele. Nicht zuletzt hatte sie deshalb die leise Hoffnung darauf, eines Tages auch dessen Eigentümerin zu sein. Als Erbe und Familienoberhaupt verwaltete ihr Bruder Anthony das gesamte Vermögen und den Besitz der Landertons von seinem Wohnsitz in York aus. Obgleich Maryanne dieser Umstand, allein schon durch Anthonys ständige Abwesenheit, nicht immer bewusst war, war da doch dieses dumpfe Gefühl, das sich hin und wieder bemerkbar machte, und sie daran erinnerte, dass sie in einer fortwährenden Abhängigkeit zu ihm lebte. Dass der schöne Schein des Kensington Crown, für den sie verantwortlich war, ihm zustand, und sie, trotz all ihrer Bemühungen, keinerlei Anspruch darauf hatte. Ironischerweise hatte Anthony keinen Bezug zum Teehaus. Sein Interesse galt einzig seiner Druckerei. Obwohl er zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vorzuhaben schien, das Kensington Crown zu veräußern, umgab Maryanne dennoch die ständige Angst davor, er könnte seine Meinung ändern. Wann immer diese Angst in ihr anschwoll, klammerte sie sich an das Vertrauen in Lady Drummond. Daran, dass deren Forderung nach einer Änderung des Erb- und Besitzrechts für Frauen beim Parlament Gehör fand. Vielleicht, so dachte Maryanne dann, würde sie eines Tages mit einem Schmunzeln auf die Tage ihrer Abhängigkeit zurückblicken, so wie sie inzwischen auf die Zeit zurückschaute, in der von ihr einzig erwartet wurde, eine gute Partie zu machen – den Weg der ehrbaren Frau zu gehen und sich einem Dasein als Ehefrau und Mutter zu verschreiben.

Mit den Jahren war jene Bevormundung leiser geworden, aber nie ganz verstummt. Immerhin hatten die meisten Menschen um sie herum begriffen, dass sie andere Ziele im Leben verfolgte. Dass sie sich dem Teehaus widmen wollte und ihrer Freiheit – als Mensch und weniger als Frau. Das Geschlecht, so sagte sie inzwischen jedem, der mit ihrer Lebensweisheit noch nicht vertraut war, sei unbedeutend, wenn es darum gehe, sich zu verwirklichen. Mittlerweile hatten sich ihre Mutter und sogar ihre strenge Tante Ursula damit abgefunden, dass es Maryanne nicht auf eine Heirat ankam. Letztere besuchte sie nun sogar mit einer gewissen Regelmäßigkeit im Kensington Crown, ließ sich von ihr über die neu eingetroffenen Teesorten unterrichten und wich so manches Mal sogar von ihrem altbewährten Kräutertee ab, um eine der exotischen Sorten zu kosten, die aus den Kolonien eintrafen. Oolong, Darjeeling, Ceylon … Und manchmal glaubte Maryanne, so etwas wie Bewunderung in den grauen Augen ihrer Tante aufblitzen zu sehen, und Stolz löste ihre Unsicherheit ab. Denn Ursula, die immerzu betont hatte, dass eine Dame nicht arbeite, dass nur eine Anstellung als Gesellschafterin oder Gouvernante für eine junge Frau akzeptabel sei, schien von ihr bekehrt worden zu sein.

***

»Henry hat geschrieben.« Bertha betrat die Küche, in der Maryanne gerade Teeblätter in die Kannen füllte. Erschrocken schaute sie zu ihr auf, ließ den Messlöffel sinken und hielt den Atem an. Selten hatte sie ihre Mutter aufgewühlter gesehen.

»Geht es … Geht es Trudi gut?«

Ihre Mutter sank in einen Stuhl, fasste sich keuchend an die Brust, dann nickte sie strahlend. »Deine Schwester hat alles ohne Schwierigkeiten überstanden.«

»Und … das Kind?«

»Ein strammer, kleiner Junge.« Freudig wedelte Bertha mit dem Brief in der Hand. »Beide sind wohlauf.«

Maryanne prustete erleichtert, ging auf sie zu und las sich die Nachricht ihres Schwagers durch.

»Wie wundervoll!«, sagte sie gerührt. »Ich freue mich so sehr für sie.«

Seit sie erfahren hatte, dass Gertrud ein Kind erwartete, hatte sie um deren Wohlergehen gebangt. Immer wieder hatte sie aus Londoner Kreisen gehört, wie gefährlich eine Geburt für die Mutter sein konnte. Zu erfahren, dass Gertrud alles unbeschadet überstanden hatte, ließ sie aufatmen.

»Wir sollten sie schnellstmöglich besuchen. Denkst du nicht auch?« Bertha sah sie mit großen Augen an.

»Gewiss … doch. Ja …« Maryanne druckste herum, abwägend ließ sie ihren Blick umherschweifen. Das Geschirr stapelte sich in der Spüle. Die Auftragsbücher waren zum Bersten voll. Noch dazu stand die monatliche Abrechnung an, auf die ihr Bruder penibel bestand. Bisher war ihr dafür einfach keine Zeit geblieben.

»Du solltest fahren, Mama. Unbedingt. Ich fürchte, ich bin momentan nicht abkömmlich. Es ist einfach zu viel zu tun. Und die Arbeit … die …«

»Aber, Maryanne, du wirst dir doch gewiss ein paar Tage frei nehmen können. Sophie und Charlotte schaffen das. Mit Bettys Unterstützung werden sie die Teestube gewiss allein unterhalten können. Und dann ist da noch das neue Mädchen …«

»Prudence«, sagte Maryanne, weil ihrer Mutter deren Namen einfach nie einfallen wollte.

»Sehr richtig.« Bertha nickte hastig. »Prudence. Sie ist doch schon recht gut eingearbeitet. Oder etwa nicht?«

Maryanne presste die Lippen aufeinander, während sie nachdachte. Prudence war noch keine Woche bei ihnen und die Auftragsbücher waren so gut gefüllt, dass Maryanne bereits Überstunden für sich eingeplant hatte. In den kommenden zwei Wochen hatten sie mehrere Feiern und wichtige Veranstaltungen, über die sie wachen musste.

»Es geht leider nicht, Mama«, sagte sie schließlich. »Die Verantwortung ist zu groß. Vielleicht im Herbst.«

Bertha winkte schnaufend ab. »Im Herbst. Das ist hoffentlich nicht dein Ernst, Maryanne. Deine Schwester hat gerade ein Kind zur Welt gebracht und du willst dich hier verkriechen.«

»Mir sind die Hände gebunden. Ich werde nun einmal hier gebraucht.«

»Du musst auch mal Verantwortung abgeben, Liebes. Das täte dir gut.«

»Schon möglich. Momentan aber bin ich im Kensington Crown einfach unentbehrlich.«

Bertha schüttelte grummelnd den Kopf. »Was ich weiß, ist, dass es dir so scheint, Maryanne. Da bist du eben genau wie dein Vater.«

Maryanne schluckte ein bitteres Seufzen hinunter. Mitunter schien ihre Mutter nämlich zu vergessen, wie sehr sie sich für den Erhalt des Kensington Crown aufgeopfert hatte, und das schmerzte sie. Es war ihrem unermüdlichen Einsatz zu verdanken, dass sie alle inzwischen gut von der Teestube leben konnten – trotz der hohen Pacht, die sie jeden Monat an Anthony und seine Familie entrichten mussten.

»Nun denn, wie du meinst, Liebes.« Bertha stimmte ihren Ton milder, als hätte sie Maryannes Gedankengänge verfolgt. »Nichtsdestotrotz, Trudi wird traurig sein, wenn du mich nicht begleitest. Sie hätte sich so sehr gefreut, dich wiederzusehen.«

»Trudi wird es verstehen.«

»Mag sein, das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sie enttäuscht sein wird. Aber, was rede ich … Was das angeht, bist du so genauso unbelehrbar, wie dein Vater es war.« Bertha tätschelte ihr den Arm, schnalzte mit der Zunge, nahm ein Teegedeck aus dem Regal und trug es in die Gaststube. Gedankenverloren schaute Maryanne ihr nach. Sie musste zugeben, dass ihre Mutter nicht ganz Unrecht hatte. Maryanne konnte sich schon gar nicht mehr an den Moment erinnern, an dem sie begonnen hatte, das Kensington Crown allem voranzustellen. Es war einfach passiert. Und es tat ihr leid, dass sie deswegen Treffen mit Familie und Freunden aufschob, sie versäumte. Doch sie hatte auch dafür Sorge zu tragen, dass ihre Gäste zufrieden waren und die von ihnen gewohnte Qualität erhielten – damit sie wiederkamen, sie weiterempfahlen. Nur so würde ihre Familie auch in Zukunft finanziell abgesichert sein. Zwar liefen die Geschäfte äußerst zufriedenstellend, aber die Vergangenheit hatte Maryanne gezeigt, wie schnell sich das wieder ändern konnte. Die Sorge blieb, dass die Zeiten wieder schlechter werden würden. Zu viel hatte Maryanne in den vergangenen Jahren in das Teehaus investiert. Und sie wollte auf keinen Fall aufs Spiel setzen, was sie sich so hart erarbeitet hatten. Obgleich sie sich nach ihrer Schwester sehnte, die ihr stets einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben gewesen war, musste ihr Wiedersehen warten. Gertrud hatte mittlerweile in York ihre eigene Familie gegründet und selbstverständlich wollte sie an ihrem Glück teilhaben. Auch konnte Maryanne nicht bestreiten, dass ihr der Sinn nach einer Auszeit stand. Oft arbeitete sie rund um die Uhr. An manchen Tagen war sie so viele Stunden auf den Beinen, dass sie am Abend kaum noch Gefühl darin hatte. Meist bemerkte sie es jedoch erst in der Nacht, dann, wenn die Erschöpfung sie förmlich überrollte. Da war dieser stechende Schmerz im Rücken, der in ihre Oberschenkel strahlte und sie anhielt, sich herumzuwälzen, auf der Suche nach einer Liegeposition, die ihr Linderung verschaffte. Letztlich wurde sie jedoch immer schneller von der Müdigkeit überwältigt und ehe sie es sich versah, brach schon wieder ein neuer Tag an. Mit ihm wiederholten sich die Verpflichtungen, die das Teehaus mit sich brachte. Maryanne lebte eine ewige Schleife. Zuweilen hatte sie Glück, wenn ein tiefer, traumloser Schlaf die Frage danach auslöschte, was das Leben neben dem Kensington Crown für sie bereithielt.

Maryanne schätzte das gesellige Treiben in der Teestube. Sie mochte den Kontakt zu den Gästen und war stets daran interessiert, die Karte zu erweitern, neue Teesorten hinzuzufügen und den Londonern in gemütlicher Atmosphäre feinstes Gebäck zu servieren. Viele der Gäste, die, seit sie das Teehaus übernommen hatte, zu ihnen gefunden hatten, waren inzwischen zu Freunden geworden. Stammgäste, die das persönliche Gespräch schätzten und sich hie und da sogar Maryannes Rat erboten.

Seit einiger Zeit besuchte eine junge Frau das Kensington Crown, die anders zu sein schien. Maryannes Nichte Betty war sie zuerst aufgefallen. Sie hatte bemerkt, dass sie ohne Begleitung am Tisch unter dem Fenster in der Ecke saß, in einen Roman vertieft war und dabei genussvoll ihren Earl Grey trank. Immerzu allein? Es war dieses Gebaren, das der fantasievollen Betty Anlass genug gab, um in der jungen Frau ein Geheimnis von empirischem Ausmaß zu wittern. Hinzu kam ihre Verlässlichkeit: Jeden Donnerstag war sie um Punkt sechzehn Uhr in der Teestube. Sie hielt ihre Kleidung schlicht, was jedoch, wollte man der fünfzehnjährigen Betty glauben, eine Strategie sein konnte. Vielleicht, um nicht aufzufallen, so hatte Betty in einem mitternächtlichen Gespräch mit ihrer Tante verlauten lassen.

»Warum auch sonst?«, hatte Maryanne daraufhin entgegnet, sich die Bettdecke bis unters Kinn gezogen und war schmunzelnd eingeschlafen. Bettys Ideen waren stets Ausdruck ihrer außergewöhnlichen Vorstellungskraft. Auch deshalb konnte Maryanne es weder Charlotte noch Sophie und auch nicht der leicht zu beeindruckenden Prudence verübeln, die nur unwesentlich älter war als Betty, dass sie deren Verdacht teilten. Immerhin konnte Betty sehr überzeugend sein. Maryanne schätzte sie für ihre lebhafte Fantasie, mit der sie die Familie immer wieder zu unterhalten wusste. Selbstverfasste Geschichten gehörten, neben dem Lesen von Romanen, zu ihrer Leidenschaft.

Auch wenn Maryanne in der jungen Frau am Tisch in der Ecke, unter dem Fenster, kein großes Geheimnis vermutete, musste sie zugeben, dass die vornehme und dabei selbstbewusste Art und Weise, wie sie ihren Nachmittagstee einnahm, das Kensington Crown bereicherte. Denn sie schien das Alleinsein nicht zu scheuen, sondern vielmehr zu genießen. Und so war es nicht verwunderlich, dass auch sie inzwischen jeden Donnerstag darauf hoffte, sie im Kensington Crown anzutreffen.

»Da ist sie wieder.« Charlotte spähte mit der Schüssel voll Scones-Teig unter dem Arm von der Küche aus in die Teestube.

»Bestimmt ist sie von zu Hause fortgelaufen. Wahrscheinlich der Liebe wegen.« Mit Betty, die neben Charlotte gekommen war, ging einmal mehr die Fantasie durch.

Sophie drängte sich zwischen die beiden.

»Eine Gefallene der Gesellschaft?«, flüsterte sie übertrieben echauffiert.

Betty nickte, als hätte sie den Fall der rätselhaften Dame gelöst. Charlotte umklammerte die Teigschüssel fester und schaute erwartungsvoll zu ihr.

»Nun ja, offenbar scheut sie die Gesellschaft anderer. Vermutlich ist sie enttäuscht von der Welt, von den Menschen, die ihr kein Verständnis entgegenbringen.«

Sophie pflichtete ihr nickend bei. »Sie spricht immer nur das Allernötigste. Lediglich ihre Bestellung. Earl Grey mit zwei Stück Zucker.«

Maryanne, die von einem der Tische in der Nähe aus alles mitangehört hatte, brachte das Geschirr in die Küche und drängte sich unwirsch an ihnen vorbei. Betty folgte ihr auf dem Fuß. »Was denkst du, Tante Maryanne?«

Maryanne wandte sich um und stellte fest, dass nicht nur Betty ihre Einschätzung ungeduldig abwartete, sondern auch Charlotte und Sophie. Perplex blinzelte sie mehrmals hintereinander. »Vielleicht möchte sie allein sein? Also für mich sieht es danach aus, als wäre es ihre freie Entscheidung gewesen.«

Charlotte runzelte die Stirn. »Wer trinkt denn schon gerne immer nur allein seinen Tee?«

Betty ließ ein theatralisches Seufzen hören. »Das sehe ich auch so. Sie wirkt traurig auf mich.«

Maryanne schüttelte fast unmerklich den Kopf, während sie gleich zwei Tabletts auf einmal mit Teeservice bestückte. »Ihr dürft das Alleinsein nicht mit Einsamkeit gleichsetzen. Es ist sehr gut möglich, dass sie bei uns einfach nur zur Ruhe kommen möchte. Wer weiß, womöglich kommt sie gerade deswegen her, weil sie hier niemand behelligt. Bei Gott, ich wünschte mir manchmal auch so einen Ort für mich.« Rasch biss sie sich auf die Unterlippe, als ihr klar wurde, wie harsch ihre Worte gewesen waren. In den Mienen ihrer Nichte und der Bediensteten hatten sie jedenfalls Staunen und gleichermaßen Ratlosigkeit hinterlassen. Sogleich setzte Maryanne ein beschwichtigendes Lächeln auf und winkte ab. »Die Scones machen sich nicht von allein. Die Gäste warten, Sophie. Betty?«

»Ja?« Sie sah sie mit großen Augen an.

Maryanne lächelte sanftmütig. »Auch du gehst jetzt bitte zurück an die Arbeit.«

Betty ließ die Schultern hängen, befolgte jedoch, wie die anderen, Maryannes Anweisungen.

Als sie wenig später gemeinsam in der Stube bedienten, fiel Maryanne auf, dass sich Betty nur schwer von dem einsamen Gast am Tisch in der Ecke unter dem Fenster lösen konnte. Immer wieder warf sie der Dame verstohlene Blicke zu, sodass Maryanne ihre Nichte sanft am Arm fasste, um sie zur Einsicht zu bringen.

»Vielleicht ist sie eine Prinzessin.« Betty verzog die Lippen zu einem Lächeln, als Maryanne sie sanft zurück durch die Küchentür schob. Sie stützte die Hände in die Hüften und betrachtete sie streng. »Ist das deine neue Theorie? Wirklich, Betty?«

Diese zuckte verhalten die Schultern. »Es wäre sehr romantisch und es hätte etwas Verschwörerisches an sich. Wäre das nicht ungemein aufregend?«

Maryanne stöhnte leise, dann drückte sie Betty eine Etagere mit Scones in die Hand, die Prudence soeben fertig eingedeckt hatte. »Dein Tisch wartet«, sagte sie. Betty trottete zur Tür.

»Und … Betty?«

Sie wandte sich Maryanne noch einmal zu.

»Du hast recht. Es wäre aufregend!« Maryanne zwinkerte mit einem Auge. Lächelnd kehrte Betty in die Teestube zurück.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen brach Bertha nach York auf, um Gertrud zu besuchen. Zunächst hatte Betty sie begleiten wollen, doch Maryanne hatte auch sie auf den Herbst vertrösten müssen. Zu viel Arbeit wartete in der Teestube und sie benötigte ihre Unterstützung, um die kommenden Veranstaltungen im Hinterhaus zu stemmen. Ein wenig wehmütig blieben sie zurück, doch Maryanne wusste ihre Nichte aufzuheitern. Beim Abendessen einigten sie sich auf deren Theorie über die rebellische Prinzessin, die im Kensington Crown Zuflucht suchte. Und der Ehrgeiz, ihren Verdacht bestätigt zu wissen, entschädigte Betty letztlich für York. Bettys Behauptungen fanden jedoch in den darauffolgenden Tagen so großen Anklang unter Sophie und Prudence, dass diese sie an Bedienstete anderer Häuser weitergaben. Binnen kürzester Zeit war somit ein neues Gerücht geboren, über das in London getuschelt wurde und das sich jedes Mal, wenn es jemand Neuem zugetragen wurde, ein wenig veränderte. Am Hafen, wo Maryanne einmal im Monat persönlich die Teelieferungen entgegennahm, kamen ihr gleich mehrere Versionen zu Ohren. Mal ging es um die Enkelin der Königin, die einer aufgezwungenen Heirat entflohen war, dann war es eine ausländische Prinzessin, die nach einer unerwiderten Liebe in London Zerstreuung suchte. Maryanne war erleichtert darüber, den Klatsch derart auseinandergezogen zu erleben, dass ihn niemand mehr mit dem Kensington Crown in Verbindung brachte. Damit dies so blieb, hatte sie Betty und ihre Bediensteten angewiesen, bis auf Weiteres nicht mehr über die Dame am Tisch in der Ecke unter dem Fenster zu sprechen.

Die Zeit verwässerte den Klatsch weiter, bis er irgendwann beinahe restlos fortgespült war wie der Regen mit dem Themsestrom.

Der Sommer lockte noch mehr Gäste als gewöhnlich an die Themse und sorgte im Kensington Crown für eine volle Gaststube. Für den Nachmittagstee war es mittlerweile unumgänglich, sich einen Tisch vormerken zu lassen. Jedes Mal, wenn Maryanne eine ruhigere Woche witterte, kamen neue Reservierungen für das Hinterhaus hinzu, die nunmehr bereits bis in den Herbst hineinreichten. Zwar war sie froh darüber, denn sie gaben dem Teehaus Sicherheit, gleichzeitig aber sehnte sie zunehmend eine Pause vom Trubel und den Anstrengungen herbei, die es ihr ermöglichen würde, ihre Schwester zu besuchen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch rückte eine Reise nach York, mit dem zunehmend vollen Auftragsbuch, immer weiter in die Ferne.

Berthas Briefe brachten die ersehnte Ablenkung. Sie schrieb, dass sich der kleine Junge prächtig mache und dass er bereits gelächelt habe und dabei aussehe wie seine liebe Mama. Maryanne freute sich darauf, ihren Neffen kennenzulernen und vor allem ihre geliebte Schwester nach so vielen Monaten der Trennung wieder in ihre Arme schließen zu können. Doch die Tatsache, dass sie zu Hause geblieben war, hatte auch etwas Gutes. Denn sie brachte ihr die Möglichkeit ein, ihren langjährigen Freund Robert Webber persönlich im Kensington Crown begrüßen zu können. In einem Brief hatte er sich angekündigt. Er habe eine Stelle als Anwalt in einer Londoner Kanzlei angenommen und beschlossen, seinen Lebensmittelpunkt deshalb zu ihnen zu verlagern. Seine Entscheidung ließ Maryannes Herz mit einer Leichtigkeit schlagen, die sie lange entbehrt hatte. Ihren ältesten Kindheitsfreund in der Nähe zu wissen, war etwas, worauf sie schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Es erfüllte sie mit Stolz, dass er seinen Weg festen Schrittes gegangen war und nun Teilhaber in einer Kanzlei werden würde. Er jedenfalls war seinem Traum vom Lord Oberrichter so nah wie noch nie. Sie konnte es kaum erwarten, ihn zu sehen und gänzlich, als gute Freundin, für ihn da zu sein.

***

Die Dämmerung senkte sich langsam über London und Maryanne fieberte dem Ende eines weiteren erschöpfenden Tages entgegen. Ihre Beine fühlten sich vom ständigen Hin- und Herlaufen schwer an, ihre Füße brannten von den vielen Wegen quer durch die Stube und die Küche. Wieder einmal hatte sie kaum gesessen. Stöhnend presste sie eine Hand gegen ihre Lendenwirbel, während sie mit der anderen über die Tische in der Gaststube wischte. Gedanklich ging sie den Brief ihrer Mutter durch, der sie am Morgen erreicht hatte. Bertha hatte geschrieben, dass sich der kleine Alfred prächtig entwickle und sogar schon ein Zähnchen bekomme, was, laut ihrer Erfahrung, ungemein früh sei. Schon bald, so teilte sie Maryanne mit, sei er gewiss in der Lage, seine Großmutter zu erkennen. Und diesen wesentlichen Moment seiner Entwicklung wolle sie auf keinen Fall verpassen. Ihrem Brief entnahm Maryanne, dass ihre Mutter ihren Aufenthalt ausdehnen wollte. Und sie würde es nicht über sich bringen, ihr diesen Wunsch abzuschlagen. Maryanne hatte beschlossen, ihr nichts darüber zu schreiben, dass ihr die Arbeit in Kensington über den Kopf wuchs. Zu sehr freute es sie, zu erfahren, dass ihre Mutter in Gegenwart des neuen Familienmitgliedes regelrecht aufblühte. Die Schicksalsschläge der Vergangenheit, der frühe Tod ihrer anderen Kinder und die Witwenschaft hatten sie gezeichnet. Oft fragte sich Maryanne, wie sie überhaupt die Kraft hatte aufbringen können, weiterzuleben. Doch es waren genau jene Lichtblicke, die ihrer Mutter Kraft verliehen, aus denen diese Hoffnung für die Zukunft schöpfte. Bertha teilte ihre neu gewonnenen Kräfte nach Bedarf ein, und nun war eben Gertrud an der Reihe. Maryanne gönnte ihrer Schwester die intensive Zeit mit der Mutter. Bis zu deren Rückkehr galt es für Maryanne, allein durchzuhalten. Und schließlich hatte sie ja noch Betty, Charlotte und Sophie. Prudence gewöhnte sich zunehmend ein und mit ihrer Unterweisung würde sie schon bald ihre eigenen Bestellungen aufnehmen können. Problematisch war einzig die Tatsache, dass sie weder lesen noch schreiben konnte. Was das anging, so schufen Maryanne und Betty nach Ladenschluss Abhilfe, indem sie das Mädchen darin unterwiesen. Maryanne war sicher, dass die Zeiten auch wieder leichter werden würden. Trotzdem ließ sie das Gefühl, für alles verantwortlich zu sein, mitunter innerlich brodeln wie eine Kartoffel im zu heißen Ofen. Dann erwischte sie sich dabei, wie sie im Umgang mit den Bediensteten versehentlich ungeduldig, zuweilen sogar ruppig klang. Neben dem laufenden Betrieb blieb ihr kaum Zeit für einen wesentlichen Teil ihres Geschäfts: die Buchführung. Anthony drängte darauf, regelmäßig von ihr über die Einkäufe und Absätze informiert zu werden. Obwohl das Teehaus seit zwei Jahren Gewinne erzielte, die es ihnen ermöglicht hatten, den Kredit bei der Bank zurückzuzahlen, für den sich Gertruds Ehemann Henry für sie verbürgt hatte, blieb Anthony immer noch skeptisch, was die Zukunft des Kensington Crown anging. Offenbar sah er in Maryannes Geschäftsführung nach wie vor lediglich eine Übergangssituation. Erst an Weihnachten hatte er sie darüber ausgefragt, ob ihr denn endlich jemand den Hof mache. Als Maryanne dies verneint hatte, hatte sie geglaubt, seine Enttäuschung in Form eines gedehnten Seufzers herausgehört zu haben. Doch sie hatte nicht weiter nachgehakt und es einfach dabei belassen.

***

Draußen vor den Fenstern war es dunkel geworden. Die Straßenlaternen warfen ihr gelbes Licht auf das Pflaster. Müde rieb sich Maryanne die Augen. Neben ihr flackerte eine Kerze in ihrer Halterung. Im Haus war es still geworden. Betty hatte sich zur Nachtruhe begeben. Maryanne hatte ihr zugesichert, alsbald nachzukommen und diesmal nicht über den Büchern einzuschlafen. Ein kurzer Blick auf die Standuhr im Flur verriet ihr jedoch, dass sie ihr Versprechen wieder einmal nicht würde einhalten können. Die Einnahmenliste, auf die ihr Bruder wartete, musste fertiggestellt werden, damit Maryanne sie noch in dieser Woche in die Post geben konnte. Daneben galt es, die Aufträge und Reservierungen zu überprüfen, um frühzeitig bei den Händlern anzufordern, was benötigt wurde. Maryannes Augen brannten, ihre Schläfen pochten. Es gelang ihr kaum noch, sich zu konzentrieren. Prustend sank sie zurück in die Stuhllehne und ihr Blick glitt zur Kerze, die fast abgebrannt war. Heißes Wachs tropfte vom Ständer und ergoss sich auf den Tisch. Eilig kramte Maryanne eine neue Kerze aus der Schublade, entzündete den Docht an der flackernden Flamme und wechselte die Kerzen aus. Den Stumpf legte sie in die oberste Schreibtischschublade, in der sie auch die Briefe ihrer Mutter und ihrer Schwester aufbewahrte. Ihre Gedanken schweiften ab. Noch bis vor drei Jahren hatte sie das Kensington Crown zusammen mit Gertrud geführt, bevor diese sich entschieden hatte, sich zu verändern. Gertrud, der aufgrund ihrer Schüchternheit kaum jemand zugetraut hatte, sich von zu Hause loszueisen, geschweige denn einen Ehemann zu finden, ging nun im eigenen Familienglück auf. Obwohl Maryanne nie am Mut ihrer Schwester gezweifelt hatte und auch nicht daran, dass sie ihr Glück finden konnte, erwischte sie sich bisweilen dabei, wie sie der Zeit nachtrauerte, in der sie gemeinsam im Kensington Crown gearbeitet hatten. Und obgleich sie sich bewusst für das Teehaus entschieden hatte, folgte darauf die Frage danach, ob das Leben auch für sie noch etwas anderes vorgesehen hatte. Unwillkürlich seufzte sie gedehnt. Zischend umfasste sie ihren schmerzenden Nacken. Dabei glitt ihr Blick über die Postkarten, die ihr begeisterte Gäste geschrieben hatten und die nun die Wand über ihrem Schreibtisch schmückten. Sie riefen ihr ins Gedächtnis, was sie geschafft hatte. Ihre Unabhängigkeit war bedeutsam. Sie war so viel mehr als das, was die meisten Frauen ihrer Zeit je erreichen würden. Warum war da diese Leere? Sie keimte in ihr seit geraumer Zeit und schien sich auszudehnen. Doch was am schlimmsten war: Sie drängte ihr einen Vergleich auf. Scheuchte sie in die Vorstellung davon, was sie hätte haben können, hätte sie sich in einer kalten Herbstnacht anders entschieden. Edward. Sein Name hallte in ihren Gedanken wider. Was er wohl gerade tat? Ihr war, als läge der Moment, an dem sie ihm widerstrebend mitgeteilt hatte, dass sie, aufgrund ihrer beider Verpflichtungen, nicht zusammen sein konnten, eine Ewigkeit zurück. Seither hatte sie weder etwas von ihm gehört noch gelesen, geschweige denn ihn gesehen. Im Nachhinein hatte sie das Gefühl, zu hart mit sich und ihm umgesprungen zu sein. Edward hatte sich ihre Worte mehr zu Herzen genommen, als ihr lieb gewesen war. Still und ohne Aufsehen zu erregen, hatte er London den Rücken zugekehrt. Er war aus ihrem Leben verschwunden, nicht aber aus ihrem Herzen. Insgeheim hatte Maryanne sich die Erinnerung an ihn bewahrt. Die Liebe zu ihrem Edward, Lord Grey, hatte sie tief in sich eingeschlossen – sicher und für niemanden zugänglich.

Leise aufseufzend strich sich Maryanne über die Stirn. Zweifellos waren die Gedanken an die Vergangenheit ihrer Erschöpfung geschuldet und der Einsamkeit, die sie hin und wieder überfiel. Mittlerweile, da war sie sich sicher, gab es in Edwards Leben keinen Platz mehr für sie. Sie schluckte schwerfällig, rieb sich erneut die Augen, um der Müdigkeit zu trotzen, dann wandte sie sich wieder den Büchern zu. Fein säuberlich schrieb sie die Listen für ihren Bruder ab und verstaute sie in einem Kuvert. Anschließend widmete sie sich dem Auftragsbuch und notierte die Bestellungen für die Händler:

- eine Kiste Ceylon-Tee für die fortschrittlichen Frauen zusätzlich

- eine Kiste Oolong-Tee

- fünf Säcke Mehl

- zwei Pfund Butter

- Zucker …

… für die Prinzessin am Tisch in der Ecke … unter dem Fenster.

Ihre Lider wurden schwer. Maryanne sank mit der Wange zuerst aufs Blatt, das sich ihr plötzlich überraschend behaglich und überaus einladend darbot.