Leseprobe Das Erbe des Weinguts Etoile

Kapitel 1

Reims, 1965

Golden stand die Sonne am Firmament und tauchte die Hügel der Weinberge in ein sanftes Licht. Der Himmel strahlte schon in einem so tiefen Azurblau, dass Louise wusste, heute würde wieder kein einziger Regentropfen auf die Erde fallen. Für die aktuell laufende Lese war das gut, aber die Trauben könnten etwas Feuchtigkeit vertragen. Dennoch genoss sie diesen wunderbaren Herbsttag, der sie förmlich einlud, hoch zu Ross durch die Landschaft der Champagne zu streifen.

Einen kurzen Moment lang blieb sie stehen, hob ihren Kopf an und schloss genießerisch die Augen. Die warmen Strahlen der Sonne kitzelten ihre Wange, ohne sie zu erhitzen. Dazu war es noch zu früh am Tag. Den sie heute ganz für sich hatte, weil Vater sich mit dem Gutsverwalter besprach und sie ausnahmsweise nicht mit Aufgaben überschüttet hatte. Leise summend setzte sie ihren Weg zum Stall fort, in dem sich außer ihr noch kein Reiter blicken ließ. Nur der Stallbursche Alois eilte geschäftig umher.

Er tippte kurz an seine Kappe, als er sie sah, und ging weiter. Ambre, ihre wunderschöne Palomino-Stute mit beigegoldenem Fell und weißblonder Mähne, wieherte Louise bereits aufgeregt entgegen. Lachend lief sie auf sie zu und strich ihrem Pferd über die Nüstern.

»Ja, ma belle, du weißt: Wir reiten heute wieder lange aus. Ich habe auch ein paar Leckereien dabei.« Sie griff in ihre Tasche, in die sie vorhin einige Sachen gelegt hatte. Ein Baguette, Schinken, Paté, Obst, Käse, Mini-Quiche und Wein sowie Äpfel für Ambre. Einen Apfel gab sie Ambre sofort, die ihn mit einem zufriedenen Schnauben nahm und krachend zerbiss.

Dann hob Louise die Putzutensilien auf und begann, das Fell mit langsamen, gleichmäßigen Bewegungen zu striegeln, während sie sich in Gedanken einen Plan für heute machte. Erst würde sie in die Wälder reiten und danach bei den Weinbergen vorbeischauen, um zu sehen, wie weit die Männer mit der Weinlese waren. Wie weit er war – Miguel.

Ihre Stute schnaubte und bewegte sich unruhig hin und her. Vermutlich hatte Louise den Striegel zu fest angesetzt. Beruhigend klopfte sie ihr den Hals, bevor sie sich darauf konzentrierte, Ambre reitfertig zu machen.

Sie saß auf und dirigierte das Tier ins Freie. Ihr Weg führte sie in die dichten, sattgrünen Wälder neben ihrem Anwesen. Die Luft roch frisch und klar. Louise genoss die Stille, die nur vom Zwitschern der Vögel oder dem Rascheln von Mäusen, die im Unterholz nach Essen suchten, unterbrochen wurde.

Als sie einen breiten Weg erreichte, trieb sie ihre Stute in einen wilden Galopp. Ambre raste mit weit ausgreifenden Bewegungen davon und in Louise breitete sich eine ausgelassene Freude aus. Sie hoffte, dass Miguel sich nachher von der Weinlese davonstehlen konnte.

 

Gegen Mittag steuerte Louise das Anbaugebiet an, das die Erntehelfer heute bearbeiteten. Ihr Blick schweifte über die endlosen Reihen der Weinreben. Die schlanken Triebe wanden sich um die Spaliere und bildeten ein dichtes Geflecht aus Blättern und Früchten. Ein Windhauch strich durch die Reben, der das Laub leise rascheln ließ. Tief atmete Louise den Geruch der reifen Trauben ein. Stolz und Glück erfüllten sie beim Gedanken daran, dass all das irgendwann ihr gehören würde.

Die Erntehelfer durchpflügten gerade eine der höheren Lagen, in denen die älteren Chardonnay-Trauben wuchsen. Dutzende Menschen wuselten auf dem Weinberg herum, die meisten von ihnen Spanier und Italiener aus dörflichen Gebieten, die nur zur Lese gekommen waren. Nach einigem Suchen erblickte sie Miguel inmitten weiterer junger Männer. Seine Haltung war stolzer als die der anderen und er bewegte sich zielsicher durch die Rebpflanzen.

Ein Kribbeln machte sich in ihrem Bauch breit, als sie beobachtete, wie er vorsichtig die Weintrauben von den Rebstöcken schnitt. Anschließend legte er sie in einen Korb, der vor ihm auf dem Boden stand. Sein muskulöser Oberkörper und die braun gebrannte Haut, die einen scharfen Kontrast zu dem weißen, kurzärmeligen Oberteil darstellten, strahlten pure Kraft und Männlichkeit aus.

Seine Lippen hingegen waren ganz weich. Louise erschauerte bei der Erinnerung an ihren ersten süßen Kuss, der nach so viel mehr geschmeckt hatte. Aber das durfte sie ihm nicht geben. Niemals. Denn auch wenn ihr Herz Miguel gehörte – Henri Bernard besaß ihre Hand. Ein tiefer Seufzer entwich ihr, als sie an die Verlobung dachte, die der Verbindung ihrer Weinhäuser diente.

Sie wusste, dass sie nicht zu lange hierbleiben sollte, um nicht aufzufallen. Doch sie konnte einfach nicht aufhören, Miguel zu betrachten und seine Bewegungen zu bewundern. Schwungvoll hob er den Korb voller Trauben auf und legte die Riemen auf seine Schulter. Dann ging er die Reihen entlang und brachte die Früchte zu dem Sammelwagen, bevor er weiter aberntete.

Mit zunehmender Nervosität wartete sie darauf, dass er den Blick hob und sie sah. Doch er war völlig konzentriert auf seine Tätigkeit. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er eine Pause machte und sich mit dem Handrücken über die Stirn wischte. Seine Muskeln spannten sich bei der Bewegung leicht an und Louise sehnte sich danach, zu spüren, wie er diese Arme um sie legte und sie fest an sich drückte.

Dann drehte er den Kopf und schaute in ihre Richtung. Kurz nickte er ihr zu, bevor er sich ruhig abwandte und weiter arbeitete. Zur Pausenzeit würde er sich zu ihrem Treffpunkt schleichen. Dem kleinen Hain, der etwas abseits der Weinberge lag. Louise genoss jede Minute, jede Sekunde mit Miguel. Schließlich blieb ihnen nicht viel Zeit.

Der Gedanke an das drohende Ende ihrer Romanze schnürte ihr die Kehle so fest zu, als umklammerte jemand ihren Hals. Wie sollte sie nur ohne ihn leben? Bevor sie ihn kannte, hatte sie die Verlobung mit Henri Bernard klaglos akzeptiert. Aber nun, da ihr Körper in Flammen stand, wenn sie bloß an Miguel dachte, jagte ihr die bevorstehende Vernunftehe entsetzliche Panik ein.

Sie verscheuchte die Zukunftsängste wie eine der vielzähligen Bienen, die brummend um die reifen Trauben schwirrten. Zielstrebig lenkte sie Ambre zu ihrem Treffpunkt, den die mächtigen Eichen vor neugierigen Blicken schützten. Sie glitt von der Stute hinab und verknotete die Zügel, damit das Tier ihr nicht folgen konnte. Dann nahm sie eine Decke und den Beutel mit ihrem Mittagessen aus der Satteltasche, um alles bereit zu machen.

Sorgfältig breitete sie erst die rotgemusterte Decke auf dem Boden aus, danach platzierte sie Essen und den Wein. Leider mussten sie ihn aus Plastikbechern trinken, was ihr widerstrebte. Aber sie wollte kein Glas in die Satteltasche quetschen. Zum Schluss pflückte sie einen kleinen Strauß aus lila Herbstzeitlosen und Blauer Eisenhut. Sie liebte beide Pflanzen, obwohl sie giftig waren. Wie so oft im Leben lagen hier Schönheit und Gefahr dicht beieinander. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Ja, so sah es einladend aus. Nun fehlte nur noch der Ehrengast.

Sie wusch ihre Hände an einem kleinen Bächlein, das mit einem leisen Plätschern vorbei floss, und setzte sich auf die Decke. Mit geschlossenen Augen wartete sie auf Miguel, wobei ihr Puls beim Gedanken an ihn sofort wieder raste. Es dauerte einige Minuten, bis sie seinen vertrauten, energischen Schritt hörte, obwohl er sich anscheinend bemühte, nicht allzu viel Lärm zu machen. Aber sein spanisches Temperament beherrschte ihn; Vorsicht lag nicht in seiner Natur. Er lebte den Augenblick, kostete ihn aus.

Sofort riss sie die Augen auf und sprang auf. Glücklich winkte sie ihm zu. Nun kam er mit raschen Schritten auf sie zu, nahm ihre Hände und blickte sie voller Bewunderung an.

»Madre dios. Mirate! Schau dich nur an. Du bist das schönste Wesen, das jemals einen Fuß auf die Erde gesetzt hat. Mit diesen goldenen Haaren siehst du aus wie ein Engel.« Sein spanischer Akzent machte die rauchige Stimme noch charmanter.

Louise schmolz unter ihrer Melodie und seinen Blicken dahin. Zumal sie wusste, dass er dieses Kompliment ernst meinte. Miguel spürte alles aus der Tiefe seiner Seele und genau das liebte sie ja so an ihm. Französische Männer – und gerade Henri Bernard – waren meist so furchtbar beherrscht.

Dennoch machte sie sein impulsiver Ausruf verlegen und die Hitze stieg weiter in ihrem Gesicht an, das wegen der Sonne sowieso schon ziemlich gerötet sein musste. Hastig drehte sie den Kopf weg, wodurch sich ihre Haare bewegten und einige Strähnen ihre Schultern kitzelten.

Sie zwang sich, ihn wieder anzusehen. »Muchas gracias, mi amor.« Louise war sich nicht sicher, ob sie die Worte richtig aussprach, aber Miguel strahlte sie an.

»Mi angel, du lernst meine Sprache?« Er schaute auf die Decke mit den Köstlichkeiten und lächelte sie dankbar an. »Und du verwöhnst mich mit wunderbarem Essen. Dabei sollte ich dir die Sterne vom Himmel holen.«

Fest zog er sie an sich, vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Dann hob er sanft ihren Kopf an. Seine Lippen suchten ihre, senkten sich darauf und Louise fühlte sich wie im Himmel. Miguels Liebe war so rein, während seine Berührung sündige Hitze in ihr auslöste.

 

Köln, heute

Wie immer kribbelte es ein wenig in Hannahs Bauch, als sie das Gebäude des Grand Heritage erblickte, in dem sie als Sommelière arbeitete. Der üppige Barockbau bestach nicht nur durch seine schiere Größe, sondern vor allem durch die prunkvoll gearbeitete Fassade, die herrliche Säulen und Wandpfeiler schmückten. Sie boten einen atemberaubenden Anblick, der dem Grand Hotel einen zeitlosen Charme verlieh. Hannah fühlte sich jedes Mal wie eine Königin, die zu ihrem Schloss zurückkehrte, wenn sie die breite Treppe hinaufstieg.

An dem Eingang, über den eine rote Balustrade gespannt war, um die Gäste vor Regen zu schützen, stand Stefan Niemeyer, der Portier. Der ältere Herr mit dem gepflegten, grau melierten Schnurrbart sah in seiner dunkelblauen Uniform mit den goldenen Knöpfen und der weißen Mütze würdevoll und ernst aus; wie aus einer anderen Zeit entsprungen. Als er Hannah erblickte, nickte er ihr freundlich zu und öffnete die große Tür des Hotels, als offenbare er einen Schatz.

»Guten Morgen, Frau Kramer.« Obwohl sie sich privat duzten, würden sie das nie vor den Gästen machen.

»Guten Morgen, Herr Niemeyer.«

Ohne Hast, aber mit schnellen Schritten durchmaß sie den eleganten Empfangsbereich und erfreute sich an den prachtvollen Kronleuchtern und dem glänzenden Marmor. Wie immer stimmte jedes Detail, bis hin zur kleinsten Blume in den üppigen Arrangements. Für die Gäste gab das Team alles, damit ihr Aufenthalt in dem Hotel eine unvergessliche Erfahrung werden würde, an die sie sich gern erinnerten. Hannah war stolz darauf, ein Teil davon zu sein.

Die Konferenzräume lagen in einem Seitenflügel des Hauses, ein wenig abseits von den beiden Hotelrestaurants und der Bar, in der sie gern nach getaner Arbeit noch einen Absacker tranken. Natürlich zu Hotelkonditionen, sonst würde sie verarmen. Die Besprechung fand im Saal Lindbergh statt, einem der kleineren Räume. Hannah mochte die Weltoffenheit des Namensgebers. Allerdings befürchtete sie, dass sie im Gegensatz dazu im Inneren wieder Annemaries Engstirnigkeit erwartete.

Sie stöhnte, als sie an ihre neue Chefin dachte. Annemarie, die das Ruder des Luxushotels vor vier Monaten übernommen hatte, war mit ihren dreiunddreißig gerade einmal vier Jahre älter als sie. Sie sollte das Hotel moderner, kosmopolitischer machen – stattdessen versuchte sie, alle Kostentreiber auszuradieren. Genau dafür hielt sie Hannah. Dabei gehörten Sommeliers in Grand Hotels zum guten Ton. Aber Annemarie sah das als Verschwendung an.

Vorsichtig trat Hannah in den Konferenzraum. Wie im Rest des Hotels war der Boden mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt, in dem ihre Pumps beinahe versanken. Anders als in den übrigen Zimmern, die im Barockstil eingerichtet waren, dominierte hier moderne Eleganz. Im Zentrum stand ein halbdurchsichtiger Glastisch mit zwanzig schwarzen, lederbezogenen Stühlen. Durch die großen Fenster fiel das Sonnenlicht und ließ das Chrom an den Stühlen funkeln. Aus dem Augenwinkel erblickte Hannah die Silhouette des Doms, der sich keine hundert Meter entfernt vom Hotel befand. Normalerweise würde sie diesen Anblick genießen – wenn nicht ihre Chefin bereits im Raum wäre.

Obwohl Hannah extra zehn Minuten vor der angesetzten Zeit gekommen war, hatte sich Annemarie schon den besten Platz am Kopfende unter den Nagel gerissen. Voller Triumph lächelte sie Hannah an, die am liebste vor Enttäuschung geschrien hätte. Warum arbeitete ihre Chefin bloß immer gegen sie, anstatt sie als wertvolles Teammitglied zu sehen? Direkt daneben saß ihre Assistentin Manuela, die ihr wie ein Wachhund kaum von der Seite wich.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Hannah, ob sie wirklich weiter um ihren Job kämpfen sollte. Es war so ermüdend. Doch sie schätzte sowohl das Team als auch das Renommee des Hauses. Außerdem war es ihr großer Traum, eines Tages die Seiten zu wechseln und für ein Weingut zu arbeiten. Aber dafür war sie noch zu frisch in dem Metier. Also hieß es Zähne zusammenbeißen und durchhalten.

Sie versuchte, sich ihre Antipathie nicht anmerken zu lassen, als sie beiden Frauen zunickte. »Hallo, Annemarie, hallo Manuela. Wie geht es euch?«

»Gut. Danke.« Annemarie fragte nicht nach ihrem Befinden. So war sie halt. Hannah konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum eine völlig empathielose Frau wie Annemarie in der Top-Gastronomie arbeitete. Sie sah in jedem Gast nur die Einnahmen, aber niemals den Menschen.

Manuela sagte gar nichts. Anscheinend war sie der Meinung, es reichte, wenn die Chefin sprach.

Mit starrer Miene setzte sich Hannah neben die beiden und verband das Tablet mit dem Beamer. Dann murmelte sie etwas von Durst, erhob sich und ging hinaus zum Self-Service-Bereich, wo Kaffee, Tee und Kaltgetränke zum Genießen einluden. Hannah machte sich einen Latte macchiato und gönnte sich einen Keks. Nur während der Meetings durften sie sich hier bedienen. Und auch das vermutlich nicht mehr lange; sicher würde Annemarie dieses kleine Privileg aus Kostengründen streichen.

Mit stiller Resignation nahm sie einen Schluck. Während sie das Kaffeearoma in Verbindung mit dem leichten Schaum genoss, überlegte sie, ob sie in den Konferenzraum zurückgehen sollte oder nicht. Große Lust verspürte sie nicht, sich wieder zu Annemarie und Manuela zu gesellen. Aber alleine hierzubleiben, wirkte seltsam.

»Schau nicht so grimmig, das gibt Falten«, erklang auf einmal eine muntere Stimme.

»Nele!« Erleichtert drehte sich Hannah um und bemerkte, dass ihre beste Freundin gerade über den Gang auf sie zukam. »Was machst du denn schon hier? Du kommst doch sonst immer erst in letzter Sekunde.«

Nele grinste sie an, wodurch ihr fein geschnittenes Gesicht noch hübscher aussah als sonst. Bei der Gen-Lotterie hatte sie den Jackpot geknackt mit ihrer makellosen Haut, den ausdrucksstarken blauen Augen und diesen rotgoldenen Haaren, die schon beim Aufstehen perfekt saßen. Nur die elfenhafte Figur war mittlerweile einer kleinen Kugel gewichen, denn Nele war im siebten Monat schwanger und strahlte tief empfundenes Glück aus. Sie und ihr Freund Bastian waren der Inbegriff glücklicher werdender Eltern.

Kurz durchzuckte Hannah eine leise Woge der Eifersucht. Sie hätte ebenfalls gern jemanden, der sie so sehr liebte wie Basti Nele. Doch das war ihr bisher nicht gelungen. Länger als ein paar Monate war sie noch nie mit einem Mann zusammen gewesen. Andererseits war das vielleicht gut so, weil sie sich dadurch voll und ganz auf den Job konzentrieren konnte. Außerdem: Wenn es jemanden gab, der dieses Glück verdiente, dann die herzensgute Nele.

Als sie Hannah erreichte, drückte ihre beste Freundin sie fest. »Ich muss dir doch beistehen. Heute ist schließlich dein großer Tag.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Und bei unserem Hoteldrachen weiß man ja nie, wie sie reagiert.«

Hannah verdrehte die Augen. »Leider nein.«

»Ich würde ja gern mehr machen, als bloß anwesend zu sein. Aber ich bin nur die Pressefrau. Außerdem brauche ich diese Stelle nach der Geburt.« Schuldbewusstsein lag in den blauen Augen der Freundin.

Hannah legte einen Arm um ihre Schultern. »Das weiß ich doch. Hauptsache, du stärkst mir den Rücken.«

»Immer. Wir beide.« Demonstrativ strich sich Nele über ihre Kugel. Dann nahm sie sich einen Kräutertee und lud sich ein halbes Dutzend Kekse und etwas Obst auf den Teller. Als Hannah eine Augenbraue anhob, zuckte sie mit den Schultern. »Drittes Trimester. Ich könnte fressen wie ein Ackergaul.« Sie verdrehte lachend die Augen.

Hannah knuffte sie liebevoll in den Arm. »Na, wenn Junior Hunger hat, musst du wohl gehorchen.«

Immer noch grinsend gingen sie gemeinsam zurück in den Besprechungssaal. Mit ihrer besten Freundin an der Seite fühlte sich Hannah gleich viel selbstsicherer.

 

Langsam füllte sich der Raum mit dem Kernpersonal des Hotels. Ein gutes Dutzend Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedenen Gewerken wie Service, Küche und Eventbereich trafen sich heute wegen der Hochzeit von Maximilian Brenner; einem bekannten Kölner Multimillionär, der sein Geld mit klugen Investitionen in Luxusimmobilien gemacht hat. Es war zwar seine zweite Hochzeit, aber deswegen sollte sie nicht weniger aufwändig sein – und die Medien warteten schon sehnsüchtig auf Details. Hannah sah sich um und ihr Puls begann zu rasen, weil sie vor dieser Runde sprechen musste.

Die Aufmerksamkeit machte sie immer noch nervös; vor anderen zu reden lag ihr nicht. Bei ihrem alten Chef hatte sie ihre Nervosität abgelegt, weil er hinter ihr gestanden war. Aber unter Annemaries strengen Augen wurde ihr mulmig.

Endlich kam die letzte Kollegin – Nazar, mit knapp neunzehn Jahren das Küken des Teams. Hannah mochte ihre Heiterkeit und ihre Hilfsbereitschaft.

»Die Besprechung sollte um Punkt zwei Uhr beginnen.« Die Stimme ihrer Chefin war schneidend.

Hannah schaute auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Es war gerade einmal zwei Minuten später. Doch Annemarie hatte das Pünktlichkeitsempfinden eines preußischen Generals – und auch dessen Herzlichkeit.

Die junge Türkin wurde blass bei der Rüge der Chefin. Hannah wusste, dass sie Angst hatte, die Probezeit nicht zu überstehen. Daher schaltete sie sich hastig ein. »Sie hat noch etwas für mich herausgesucht. Danke, Nazar.«

Das Mädchen nickte ihr dankbar zu, während Annemarie sie starr musterte. Schließlich bedeutete sie Nazar mit einem Augenrollen, die Tür hinter sich zu schließen.

Als sie saß, schaute die Chefin streng in die Runde. »Nun, wo endlich alle da sind, können wir ja über die Weinauswahl für die Hochzeit der Brenners sprechen. Wenn du so nett wärst …«

Mit einem falschen Lächeln deutete sie auf Hannah.

»Danke, Annemarie.« Hannahs Magengrummeln verstärkte sich, als sich alle Augen auf sie richteten. Sie räusperte sich und blickte auf die Ausdrucke der Weine vor sich. Natürlich lagen alle Informationen auch auf der firmeninternen Cloud, aber sie mochte die Papierausdrucke, weil sie ihr ein gutes Gefühl vermittelten. »Martin hat ja bereits großartige Gerichte gezaubert, die ich alle probieren durfte. Vielen Dank für diese Offenbarungen!« Sie lächelte hinüber zu dem Chefkoch, der trotz seines Jobs wie ein Athlet aussah; ein Umstand, den sie stets bewunderte.

Martin grinste ihr zu und reckte den Daumen in die Höhe. Als Dankeschön für seine deliziösen Speisen hatte sie ihn mit den erlesenen Weinen versorgt – und er liebte sie alle.

»Zu dem göttlichen gebratenen Hummer mit Kürbispüree und Grünkohlchips empfehle ich einen Viognier aus der Rhône. Er hat Noten von Pfirsichen, Aprikosen und Honig, die meiner Meinung nach gut mit dem süßen und buttrigen Geschmack des Hummers harmonieren.«

Hannah nickte der Studentin zu, die heute den Service übernahm. Sie kannte ihren Namen nicht, denn das Mädchen hatte erst am Montag angefangen, als Hannah wegen der Geburtstagsfeier von Oma Louise frei hatte. Um etwas Zeit alleine mit ihr zu haben, war sie einen Tag länger geblieben. Diesen Extratag hatte Hannah genossen, denn sie liebte es, mit der Älteren über Weine aus aller Welt zu fachsimpeln. Allerdings konnte sie mit Großmutter Louise selten über die Weine Frankreichs schwärmen, da ihre Oma eine tief sitzende Antipathie gegen ihre Heimat hatte. Dann wurde die Ältere immer ungewohnt heftig, fast schon beleidigend. Wie schade, dass Großvater Paul vor fünf Jahren gestorben war. Er hatte seine Frau immer damit aufgezogen, ob sie dort geheime Liebhaber versteckt hielte. Hannah vermisste ihn immer noch sehr.

Die Servicekraft ging mit einem Tablett herum und reichte jedem ein Glas von dem Wein. Zudem platzierte sie Spucknäpfe auf den Tischen. Dankend nahm Hannah ihr Glas entgegen. Obwohl sie den Inhalt kannte, schwenkte sie ihn und bewunderte seine satte goldene Farbe; ergötzte sich an den feinen Aromen, die von ihm aufstiegen. Danach trank sie langsam einen kleinen Schluck und schloss kurz die Augen. Dieser Wein war etwas ganz Besonderes und würde hervorragend mit dem Gericht korrespondieren.

»Fantastisch.« Martin ergriff als Erster das Wort. »Ich kann beinahe fühlen, wie er den Hummer umschmeichelt.«

Auch andere lobten den Wein.

Nur Annemarie und Manuela schwiegen und verbreiteten eine Aura eisiger Ablehnung. Endlich ließ sich die Chefin zu einem Urteil herab. »Na ja, er ist nicht schlecht. Aber muss es gleich aus der Rhône sein? Den kriegen wir sicher nicht unter zwölf, dreizehn Euro im Einkauf, oder?«

»Es sind fast vierzehn«, gab Hannah zu. »Doch der Wein hat zahllose Auszeichnungen. Er ist jeden Cent wert.«

Annemarie schüttelte den Kopf. »Das frisst unsere komplette Gewinnmarge. Das muss günstiger gehen. Manuela, wir hatten doch beim letzten Abendessen so einen guten Weißwein gehabt. Woher kam der denn noch?«

»Das war ein Weißburgunder aus der Pfalz.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

Merkte sich diese Speichelleckerin eigentlich immer alles, was Annamarie von sich gab? Hannah wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Nele.

»Ah, ja, genau. Nun, ich schlage vor, du lässt dir von Manuela den Namen des Weins geben. Und dann probieren wir den beim nächsten Mal.«

Hannah ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten, als Manuela hämisch zu ihr hinüberblickte. Schlimm genug, dass Annemarie all ihrer Vorschläge sabotierte. Aber dass ihre Assistentin sich jedes Mal diebisch darüber freute, setzte ihrer Demütigung auch noch die Krone auf. Zumal Manuela den Weinverstand eines Toastbrots hatte.

Sie warf Martin einen hilfesuchenden Blick zu. Der Küchenchef wollte die Brennerhochzeit genauso wie sie zu einem kulinarischen Feuerwerk machen. Allerdings waren seine Vorschläge abgenickt. Wie edel der dazu passende Wein war, kümmerte ihn nicht so sehr wie Hannah. Er zuckte leicht mit den Achseln. Also lag es an ihr.

»Sorry, Annemarie, aber ich glaube nicht, dass wir den Brenners einen platten Weißburgunder aus der Pfalz anbieten sollten. Sie hatten extra um erlesene Qualität gebeten. Und das ist das Gegenteil davon.« Sie reckte das Kinn in die Höhe, um Entschlossenheit auszustrahlen.

Ihre Chefin musterte sie mit sichtlichem Unwillen. Kurz zuckte es in ihrem Gesicht. Dann setzte sie wieder die übliche arrogant-undurchdringliche Miene auf. »Obwohl ich die Weine aus der Pfalz keineswegs als platt bezeichnen würde, ist dein Punkt nicht ganz von der Hand zu weisen. Dann such etwas anderes. Zu einem anständigen Preis.«

Hannah lächelte. Schließlich war sie darauf vorbereitet gewesen, dass ihr Gegenwind entgegenwehen würde. »Das habe ich bereits vorsorglich gemacht. Ich hätte noch einen Sauvignon Blanc aus der Loire mit Noten von Stachelbeere und Äpfeln, der ebenfalls das Hummeraroma unterstreicht. Er liegt im Einkauf bei knapp zehn Euro.«

Wieder nickte sie dem jungen Mädchen zu. Nachdem alle Getränke verteilt waren, steckte Hannah ihre Nase ins Glas. Sie mochte den frischen, spritzigen Duft, auch wenn die Blume dieses Weins nicht so ausgeprägt war wie die des ersten. Nun, das lag eben an dem Qualitätsunterschied.

Die Mienen der anderen spiegelten ebenfalls Zufriedenheit wider. Alle – bis auf die von Annemarie und Manuela. Sie rümpften fast zeitgleich die Nasen.

»Na, so gut wie der Erste ist der nicht«, murrte ihre Chefin. »Da fehlt irgendwie etwas.«

»Das besondere Aroma der Rhône vielleicht?« Hannah konnte sich diesen sarkastischen Kommentar nicht verkneifen. Die anderen grinsten.

Nur Annemarie funkelte sie giftig an. »Deine Begeisterung für Frankreich in allen Ehren. Aber mir ist der Erste zu teuer und dieser zu fad. Hast du noch mehr Alternativen zum Hummer? Vielleicht aus Übersee?«

Hannah verdrehte die Augen. Das war ja mal wieder klar. Wenn nichts half, musste die Neue Welt herhalten. Wobei sie nichts gegen Weine aus Argentinien, Amerika oder auch Uruguay hatte. Privat trank sie die gern. Aber zur Hochzeitsfeier eines Mannes, der sein Geld mit Luxusimmobilien gemacht hatte, passte ihrer Meinung nach nun einmal Frankreichs stilvolle Eleganz am besten.

Warum konnte Annemarie nicht einfach ihrer Kompetenz vertrauen? Sie war gut in ihrem Job, verdammt! Aber die Chefin hatte wieder diesen entschlossenen Gesichtsausdruck, der absolute Ablehnung vermittelte, und Hannah wusste, alle Argumente würden nichts nutzen. Sie seufzte leise.

»Klar, mache ich. Vielleicht nehme ich ja einfach einen Chardonnay aus dem Napa Valley. Oder nein, die sind ja mittlerweile auch zu teuer.«

Bei dem Nachsatz traf sie wieder ein scharfer Blick von Annemarie. Allerdings verzichtete sie darauf, Hannah zurechtzuweisen. Ihre Chefin hatte schon gewonnen.

 

»Kopf hoch.« Nele drückte sie fest an sich, als sie nach der Arbeit gemeinsam zur Bahn liefen. »Du hast immerhin zwei Weine durchbekommen. Achte nur darauf, dass der Einkauf Bescheid weiß. Nicht, dass wieder ein Fiasko passiert wie bei der Gutmann-Hochzeit.« Sie sah Hannah bedeutsam an.

Das war so eine Gemeinheit gewesen; selbst für Annemarie. Sie hatte damals hinter ihrem Rücken einfach andere Weine einkaufen lassen als die ausgewählten. Die natürlich qualitativ schlechter waren. Danach gab es einen Riesenärger – und Annemarie schob alles auf Hannah. Angeblich hätte sie telefonisch falsche Bestellnummern durchgegeben. Klar, bei allen acht bestellten Weinen. Seitdem achtete sie darauf, alles schriftlich festzuhalten.

»Das mache ich, wenn die Auswahl irgendwann steht. Vermutlich mit Weinen aus irgendwelchen Provinzen, die so viel Stil haben wie Pommes mit Ketchup und Mayo.« Hannahs Puls raste und sie spürte wieder diese grenzenlose Hilflosigkeit, die Annemarie ihr während des Meetings vermittelt hatte. Dabei war sie immer stolz auf ihren guten Weingeschmack gewesen. Ihr alter Chef hatte sie stets in den höchsten Tönen gelobt. Doch nun kam sie sich vor wie eine Idiotin.

»Na … vielleicht suchst du wirklich mal nach günstigeren Varianten. Immerhin können nur wenige Weine so gut auseinanderhalten wie du.«

»Soll ich denen etwa mit Chardonnay und Pinot Grigio kommen?« Sie spürte einen Knoten im Hals, als Nele in dieselbe Kerbe wie ihre Chefin haute. Von ihrer besten Freundin hätte sie sich Unterstützung gewünscht.

Nele lachte und stieß sie in die Seite, während sie weiter durch die Altstadt gingen, den Touristen ausweichend. »Quatsch. Das weiß sogar ich – Go away with Chardonnay. Aber vielleicht findest du ja etwas Gutes aus Spanien oder Italien. Das transportiert auch Qualität, ist aber sicher etwas günstiger. Das kann doch nicht so schwer sein, einen Kompromiss zu finden. Es gibt Hunderte Weine.«

»Das schon. Aber ich habe mir ja bei meinem Konzept etwas gedacht. Die Weine sollten aufeinander aufbauen und die Qualität der Speisen unterstreichen.« Hannah biss sich auf die Unterlippe.

Diese Strategie hatte nicht funktioniert. Warum konnte sie es nicht lassen, ihren Qualitätsanspruch einzubringen? Aber sie begeisterte sich halt immer so rasch, wenn sie deliziöse Weine probierte. Und sie arbeitete nicht für irgendein Hotel, sondern für das Grand Heritage, verdammt!

Schon erreichten sie den Bahnhof und sie mussten sich trennen, weil Hannah im Agnesviertel wohnte, während Nele und Basti seit kurzem im Umland lebten. In einer Wohnung mit Garten, damit ihr Kind später dort spielen konnte.

»Hey, lass den Kopf nicht hängen.« Nele drückte sie erneut. »Du findest schon einen guten Kompromiss. Lass uns nachher noch mal telefonieren, ja? Ich muss jetzt dringend los, ich habe Schwangerschafts-Yoga.«

Hannah nickte. Sicher, sie verstand ja, dass die beste Freundin sich auf die Geburt vorbereitete. Aber gerade heute hätte sie ihren Trost gebraucht.

 

Hannah zitterte immer noch vor Wut, als sie ihre Wohnung erreichte. Zornig pfefferte sie die verhassten Pumps in eine Ecke des Flurs. Die hatten ihr heute auch nicht geholfen, sich durchzusetzen. Ebenso wenig wie der Anzug, den sie extra gekauft hatte. Vielleicht missfiel ihrer Chefin ja der leichte Erdbeerton in ihren halblangen Haaren, der einen Hauch zu flippig für ein 5-Sterne-Hotel war.

Aber eigentlich wusste Hannah, dass Annemarie und sie sich auch dann nicht verstünden, wenn sie ihre Haare genauso bieder trug wie die Chefin, deren Pagenkopf mit Haarspray einbetoniert war. Sie wollte sie loswerden. Punkt.

Frustriert stieß sie ihren Atem aus. Diese Frau brachte sie noch um den Verstand. Sie brauchte jetzt jemanden, mit dem sie reden konnte. Aber bis sich Nele meldete, würde es mindestens zwei Stunden dauern. Vielleicht hatte ja Emma Zeit für sie? Schnell nahm sie ihr Handy und schrieb ihrer zweiten Lieblingsfreundin eine kurze WhatsApp. Allerdings sah sie gleich an der Statusmeldung, dass Emma schon seit einer Stunde nicht online gewesen war. Sicher saß sie im Büro und entwickelte irgendwelche grenzgenialen neuen Strategiekonzepte. So kurz vor dem Börsengang ihrer Firma war das selbst um sieben Uhr abends nicht unrealistisch.

Verdammt, sie musste endlich mehr Leute in Köln kennenlernen. Aber bei Hannahs Arbeitszeiten war das schwer. Außerdem war sie kein Mensch, der tausend Bekannte brauchte. Ihr reichten zwei liebe Freundinnen. Wenn die nur greifbar wären … Sie sah auf die WhatsApp-Nachricht. Immer noch nicht gelesen. Sollte sie sie vielleicht einfach anrufen? Allerdings wollte sie nicht mitten in ein wichtiges Meeting platzen.

Seufzend ging Hannah in ihre viel zu kleine Küche und schenkte sich ein Glas von dem Pomerol ein, den Annemarie aus Kostengründen ebenfalls verschmäht hatte. Er schmeckte nach Cassis, schwarzen Waldbeeren, unterlegt mit der Würze von Kräutern und etwas Tabak. Seine Dichte und Komplexität waren atemberaubend und sollten mit Würde und Respekt genossen werden. Stattdessen trank Hannah den edlen Tropfen wie Wasser, wobei sie in der Küche stehen blieb. Schon nach wenigen Minuten war das erste Glas leer. Automatisch griff sie nach der Flasche, hielt jedoch inne.

Sollte sie wirklich noch mehr trinken? Immerhin musste sie morgen wieder im Service arbeiten. Mit einer Fahne konnte sie da nicht ankommen. Aber ein halbes Glas ging sicher noch. Mit einem Hauch schlechten Gewissens füllte sie ihr Glas erneut, doch nicht mehr ganz so voll.

Sie ging hinüber ins Wohnzimmer und machte den Fernseher an, um ihre Serie weiterzuschauen, vielleicht lenkte sie das ja ab. Während sie das Geschehen in der fiktiven Welt verfolgte, trank sie weiter ihren Wein und wartete sehnsüchtig darauf, dass jemand anrief.

Auch das halbe Glas leerte sich schneller, als es der Pomerol verdiente – und ihr guttat. Sie überlegte gerade, ob sie der Wut in ihrem Bauch oder der Vernunft folgen sollte, als das Handy klingelte. Endlich! Das war sicher Emma. Ohne auf das Display zu sehen, ging sie an das Telefon.

»Hey, du Arbeitstier. Endlich Feierabend?«

Sie horchte, doch der Anrufer am anderen Ende der Leitung meldete sich nicht. Vielmehr hörte sie leise Geräusche, als sei derjenige gerade irgendwo unterwegs. Dann war es vermutlich ein Hosentaschenanruf von Nele oder Emma. Das passierte ihr auch ständig.

Schulterzuckend wollte sie auflegen, als auf einmal die erstickte Stimme ihrer Mutter erklang. »Hallo, mein Schatz, ich … ich muss dir etwas Schlimmes sagen.«

»Hat es mit Papa zu tun? Oder mit Mara?« Gott, sie wollte sich gar nicht ausmalen, was wäre, wenn ihrer kleinen Schwester etwas geschähe. Sie war so sanft, so friedfertig, ganz anders als sie selbst mit ihrer impulsiven Art.

»Nein, nein«, sagte ihre Mutter sofort. »Es geht ihnen gut. Aber Oma Louise … Sie … sie liegt im Sterben.«

Hannahs Herz krampfte sich zusammen und sie spürte, wie eisige Kälte in ihr hochkroch. Oma Louise unterstützte sie immer, egal wie verrückt Hannahs Ideen waren. Sie schüttelte den Kopf, obwohl ihre Mutter es nicht sehen konnte.

»Nein. Das … das kann nicht wahr sein. Wir … wir waren doch am Wochenende auf ihrem Geburtstag. Da wirkte sie ganz fidel.« Tatsächlich war Oma Louise bei der Feier im Familienkreis wie immer die perfekte Gastgeberin gewesen, die sie mit wunderbarem französischem Essen bekocht hatte. Obwohl sie eisern über ihr Erbe schwieg, kochte sie leidenschaftlich gern Speisen aus ihrer Heimat.

»Sie … sie rief kurz vor dem Abendessen an und klagte über Kopfschmerzen und Schwindel. Es … es ging ihr nicht gut, deswegen …« Dann hörte sie nur noch das laute Schluchzen ihrer Mutter und ein Rascheln.

»Wir haben Oma Louise ins Krankenhaus gebracht.« Das war Vaters Stimme, der ernst und traurig klang. »Die Ärzte befürchten einen Schlaganfall. Morgen machen sie ein CT. Aber sie ist kaum bei sich. Ich denke, du solltest besser heute noch kommen. Nur für den Fall …«

Entsetzt starrte Hannah erst auf ihr Telefon und anschließend auf das Glas Wein. So konnte sie unmöglich Autofahren. »Äh … also, ihr müsstet mich wohl leider vom Bahnhof abholen. Ich hatte eben ein wenig Rotwein.«

Ihr Vater seufzte. »Kind, bloß, weil du als Sommelière arbeitest, musst du nicht ständig selbst Wein trinken. Aber ich kann dich gern in Frankfurt abholen. Sag mir nur, wann du am Bahnhof ankommst.«

»Danke Papa.« Hannah legte auf. Ein Gefühl der Schwere überkam sie wieder, als sie an ihre arme Oma dachte. Hoffentlich konnte sie sich noch von ihr verabschieden. Es wäre eine Tragödie, wenn sie zu spät käme.

Kapitel 2

Reims, 1965

»Schmeckt dir das Essen etwa nicht, Louise?« Die Stimme ihres Vaters ließ sie aufschrecken.

»Nein … nein, es ist wie immer exzellent.« Hastig tauchte Louise ihren Löffel in die vorzügliche Fischsuppe, die ihre Mutter zur Feier des Tages gemacht hatte. Dabei hatte sie Seezunge, Steinbutt, Garnelen und Hummer verwendet. Und natürlich Champagner, denn das machte den Charme dieser Fischsuppe aus, die Louise sonst immer liebte.

Heute jedoch kam sie ihr vor wie eine Henkersspeise, denn Guillaume Bernard und ihr Vater wollten über den Ehevertrag sprechen. Die Grundzüge kannte sie: Sobald Henri und sie sich vermählten, würde ein stattlicher Geldbetrag an das Weingut Etoile gehen, der ihr angeschlagenes Gut stärken sollte. Gleichzeitig würde Henris Vater als Mitbesitzer in das Grundbuch eingetragen.

Und Henri als zweiter Geschäftsführer, was eigentlich Louise werden sollte. Sie wollte Lily Bollinger nacheifern, die aus ihrem Gut eine weltbekannte Marke gemacht hatte. Bereits jetzt beriet Louise ihren Vater, der ihre Intuition schätzte. Nun, sicher würde Henri ihren Rat ebenfalls gern annehmen. Selbst wenn sie das Gut nicht offiziell leitete, wäre es immer noch das Erbe ihrer Familie.

Die feine Note des Champagners aus dem letzten Jahrgang, der zwar wenig Ertrag gebracht hatte, aber dafür exzellente Qualität besaß, prickelte auf ihrer Zunge. In Verbindung mit den deliziösen Fischen und der leichten Knoblauchnote war die Suppe zum Dahinschmelzen. Sie erlaubte sich kurz, das Aroma zu genießen, dann warf sie ihrem künftigen Schwiegervater einen vorsichtigen Blick zu. Er war gertenschlank und sein asketisches, ernstes Gesicht strahlte Entschlossenheit aus. Dieser Mann verfolgte eisern das Ziel, sein Familienvermögen weiter zu vergrößern. Er hatte sich nicht nur auf das Champagner-Gut verlassen, sondern zusätzlich in Hotels sowie Lebensmittelgeschäfte investiert. Trotzdem erlaubte er seinem Sohn, in ihr finanziell angeschlagenes Weingut einzuheiraten. Seltsam.

»Chérie, lass dir das Rezept dieser köstlichen Suppe geben! Du musst sie unbedingt genauso für mich kochen.« Glücklich strahlte Henri sie an, was seinem Gesicht mehr Charme verlieh, als es sonst besaß. Mit den derben Zügen, den kleinen Augen und der wulstigen Nase entsprach er nicht unbedingt dem gängigen Schönheitsideal. Vielleicht war es ihm deswegen so wichtig, mit ihr das angeblich schönste Mädchen in Reims zu erobern. Zumindest fanden das viele Männer. Sie war bereits zur Weinkönigin gekürt worden.

Im Stillen seufzte sie. Was hatte das Aussehen denn mit echten Gefühlen zu tun? Sicher, an Miguel hatte sie auch zunächst seine männliche Statur und sein kantiges, markantes Antlitz gereizt. In Liebe war sie aber erst entbrannt, als sie erkannt hatte, mit welcher verzehrenden Leidenschaft er lebte und liebte. Ihre Wangen brannten heiß, als sie sich an ihre glutvollen Küsse bei dem Picknick erinnerte. Warum war nicht er ihr Bräutigam, sondern Henri? Aber Miguel war für sie so unerreichbar wie der Mond.

»Oui, bien sûr«, erwiderte sie mit einem Lächeln. Bitterkeit erfüllte ihr Herz. Das sah er also in ihr. Seine zukünftige Köchin? Wobei die Bernards sicher Personal hatten. Ihre Aufgabe würde wohl eher darin bestehen, den Angestellten Anweisungen zu geben.

Dabei war sie der Meinung, man sollte möglichst viele Arbeiten mit den eigenen Händen erledigen, um deren Wert besser zu schätzen. Erneut sehnte sie sich mit schmerzlicher Verzweiflung nach Miguel.

 

Louise atmete leise auf, als sie von der Auffahrt aus zusah, wie die Familie Bernard das Haus in ihrer schwarzen Limousine verließ. Henri hatte sich mit einem leichten Kuss von ihr verabschiedet, den sie pflichtschuldigst erwiderte. Nun wurden die Rücklichter immer kleiner und eine zentnerschwere Last fiel von ihr ab.

Florence stellte sich neben sie und musterte sie. »Lass es dir nicht so sehr anmerken.« Tadel lag in der Stimme.

Schuldbewusst lächelte Louise ihr zu und knetete die Finger. »Ich versuche es. Aber die Familie …« Sie hielt inne.

»Ich weiß. Sie sehen uns als minderwertig an. Weil wir nicht so reich sind.« Florences Miene zeigte nun Verständnis und sie drückte ihre Schulter. »Doch diese Ehe wird dem Weingut viel Geld in die Kassen spülen. Ich hätte ihn ja geheiratet, allerdings war Henri nur an dir interessiert. Außerdem ist das Thema sowieso erledigt.« Lächelnd sah sie in das Wohnzimmer, in dem ihre Mutter mit ihrem Enkel Jean spielte, der bald zwei wurde und ihr Augenstern war.

Florences Mann Gustave unterhielt sich derweil mit Papa. Er war ein freundlicher Mensch, der ihre Schwester mit Respekt behandelte. Bei ihrer Vermählung war es dem Gut noch blendend gegangen, daher hatte sie ihren Gatten nach ihren Gefühlen und nicht nach dem Geldbeutel aussuchen dürfen.

Wenn sie doch bloß unverheiratet wäre, dann müsste ich nicht mein Leben für das Weingut opfern, schoss es Louise auf einmal durch den Kopf.

Sofort schämte sie sich für den Gedanken. Sie gönnte ihrer Schwester ja ihr Glück. Allerdings strebte sie selbst ebenfalls danach, glücklich zu werden. Die wahre Liebe würde sie jedoch nur mit Miguel finden, das wurde ihr immer klarer. Verzweifelt fragte sie sich, ob es nicht doch einen Weg geben könnte, es zu erlangen.

 

Frankfurt, heute

Rund zweieinhalb Stunden später erblickte Hannah trotz der Dunkelheit den prägnanten Frankfurter Messeturm, der sie immer an einen Bleistift erinnerte. Für sie stellte er stets den Inbegriff von Großstadtflair dar. Immerhin war die Bankenmetropole die nächstgelegene Großstadt gewesen. Noch immer beeindruckte sie dieses Gebäude.

Heute vermittelte es auch ein Gefühl von Heimat, versetzt mit der Angst um ihre Großmutter. Hoffentlich erholte sie sich wieder. Sie griff nach der Tasche und der leichten Jacke und reihte sich in die Schlange der Aussteigenden ein. Ihr Vater wartete direkt am Bahnsteig, sie konnte seine große, schlanke Gestalt schon von weitem ausmachen.

Er war alleine. Ihre Mutter wachte sicher mit Mara über Oma Louise. Er drückte sie kurz. Dann gingen sie schweigend zum Auto. Auch auf der Fahrt redeten sie nicht viel. Ihr Vater erkundigte sich lediglich, ob sie über Nacht blieb oder noch zurückmusste.

»Ich kann bleiben, so lange … es sein muss. Meine Chefin hat mir frei gegeben.« Erstaunlicherweise sogar ohne gemeine Sticheleien. Na, vielleicht hatte Annemarie ja doch Gefühle – und eine Oma, an der sie hing.

 

Hannahs Herz schmerzte beim Anblick von Großmutter Louise in dem nüchternen Krankenhauszimmer.

Die kleine, zierliche Dame lag völlig bewegungslos in dem Bett und hatte die Augen geschlossen. Sie wirkte fast so bleich wie die Wände, die sie zu erdrücken schienen. In den Armen steckten diverse Schläuche zur Versorgung mit Flüssigkeiten und Medikamenten. Ein weiterer Schlauch führte zu einer Sauerstoffmaske, die ihre Nase und ihren Mund bedeckte.

Der Geruch von Desinfektionsmittel und medizinischen Geräten erfüllte die Luft, verstärkte die beklemmende Stimmung. Ein Arzt stand mit einer Krankenschwester am Kopfende des Bettes und betrachtete die Aufzeichnungen auf den Monitoren. Seine Miene wirkte besorgt und er redete leise mit der Schwester. Hannah hörte nur Bruchstücke der Gespräche, aber das wenige, was sie verstand, reichte aus, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Es stand nicht gut um ihre Großmutter, das merkte sie ganz deutlich.

Erstickt schluchzte Hannah auf und stürzte zu ihrer Mutter, die mit Mara am Bett saß. Beide hatten rotverweinte Augen. Behutsam ließ ihre Mutter die Hand von Oma Louise los und ging zu Hannah, um sie fest an sich zu drücken.

»Danke, dass du hier bist«, flüsterte sie mit einer rauen Stimme, der man jede einzelne geweinte Träne anhörte. Dann schob sie Hannah zum Bett. Mara lächelte ihr schwach zu, ließ jedoch nicht Großmutters Hand los, die sie sanft umfing. Hannah setzte sich auf die andere Seite und nahm vorsichtig die zierliche Hand der alten Dame.

Sie besaß die langen, schlanken Finger einer Pianistin, die sie Hannah vererbt hatte. Wenn sie ihre Hände zusammen sah, wusste sie, wie ihre im Alter aussehen würden. Allerdings waren Oma Louises Hände bereits kalt und leblos, als nähmen sie das drohende Schicksal vorweg.

Trauer stieg in Hannah auf und schnürten ihr die Kehle zu. Ihre Großmutter durfte nicht sterben. Sie war doch erst siebenundsiebzig. Eine Schnapszahl, darüber hatte sie am Wochenende noch Scherze gemacht.

»Du musst wieder gesund werden, Oma«, flüsterte sie hilflos und drückte die dahinwelkende Hand. Dabei konnte sie nicht verhindern, dass eine Träne die Wange hinab rann und sie mit schwerer Nässe benetzte.

Plötzlich kam Leben in die schwache Person. In Oma Louises Gesicht zuckte es, dann schlug sie röchelnd die azurblauen Augen auf und sah Hannah direkt an.

»Ihr … ihr … m … müsst ihn … finden.« Sie sprach oder vielmehr keuchte diese Worte leise und stoßweise, sodass Hannah sie kaum verstand. Dabei krampften sich ihre Finger voller Druck um ihre. Hannah stöhnte vor Schmerz.

Kurz war sie versucht, ihre Hand wegzuziehen, aber sie wollte keinesfalls riskieren, dieses schwach aufflackernde Lebenszeichen zu unterbinden. Daher biss sie die Zähne zusammen und erwiderte den Druck.

»Wen sollen wir finden, Oma?«

»Ihn.« Das Gesicht der alten Dame verzerrte sich, Hannah wusste nicht, ob vor Entsetzen oder vor Schmerzen. »M …«

Mit sichtlicher Mühe versuchte sie, weitere Worte zu formulieren, doch es gelang ihr nicht mehr. So plötzlich, wie es gekommen war, erstarb das Bewusstsein ihrer Großmutter Louise. Mit einem leisen Seufzen schloss sie ihre Augen und entspannte ihre Finger, als sei alles gesagt.

Hannah jedoch hatte tausend Fragezeichen im Kopf. »Wer ist er, Oma? Warum sollen wir ihn finden? Und wie?«, wollte sie von der Älteren wissen. Sie drückte ihre Hand fester, hoffte, sie damit irgendwie wieder zurückzubringen.

Vergebens. Großmutter Louise befand sich erneut in der gierigen Umklammerung des Todes. Der Sensenmann wartete bereits geduldig in der tiefen Dunkelheit, um sein nächstes Opfer in den ewigen Schlaf zu ziehen.

 

Hannah saß immer noch am Bett von Großmutter Louise. Seit Stunden verharrte die Familie hier, zwischen Hoffen und Bangen. Hannah wünschte sich verzweifelt, dass die Ältere sich wieder erholte. Sie brauchte sie und ihre Liebe doch. Sanft strich sie über ihre Wange. Danach nahm sie die Hand weg und schloss die Augen, um etwas zu ruhen.

Auf einmal erklangen Warntöne. Sofort war Hannah hellwach und starrte auf den Herzmonitor. Die Anzeige war nicht mehr sanft und gleichmäßig, sondern sah völlig wirr aus. Adrenalin schoss durch ihren Körper, denn sie ahnte, was das bedeutete: Großmutter Louise rang um ihr Leben und es sah aus, als verlöre sie diesen Kampf. Auch ihre Mutter und Mara, die auf der anderen Seite saßen, rissen die Köpfe hoch. Nur ihr Vater schüttelte am Fußende des Bettes leise den Kopf. Als Arzt kannte er diese Vorgänge besser als sie.

Dann, ganz plötzlich wurde die Hand von Großmutter Louise schlaff und ihre Atmung, deren Rhythmus sich vorher schon verlangsamt hatte, setzte aus. Ein Stich durchzog Hannahs Inneres. Sie fühlte sich gleichermaßen hilflos wie traurig, weil sie nichts tun konnte, außer zusehen, wie ihre Großmutter langsam aus dem Leben glitt. Ein Teil von ihr wollte die Ältere nicht loslassen, doch tief im Inneren wusste sie, dass es für sie Zeit war zu gehen.

Ein gellender Schrei durchbrach die Stille, die folgte, als der Monitor keinen Herzschlag mehr kundtat. Das war ihre Mutter, aber sie klang kaum wie sie selbst, sondern eher wie ein verwundetes Tier. »Sie stirbt. Tut doch etwas!«

Hannah sprang auf, um jemanden zu holen. Sie konnte nicht glauben, dass ihre Großmutter einfach so aus dem Leben schied. Es gab so viel moderne Technik!

Da kamen die Krankenschwestern mit einem Arzt in den Raum geeilt. Kurz schöpfte Hannah Hoffnung. Sie verflog sofort, als sie die Resignation in ihren Gesichtern erkannte. Der Arzt fühlte den Puls und schüttelte den Kopf.

Ihre Mutter stürzte tränenüberströmt zu ihm. »Bitte, Sie … Sie müssen sie retten. Sie ist doch meine Mutter.«

Der Mann, der höchstens Mitte dreißig war, legte ihr beruhigend eine Hand auf dem Arm. »Es tut mir leid, Frau Kramer. Aber das wollte sie nicht. Das hat sie in ihrer Patientenverfügung explizit ausgeschlossen.«

Hilflos starrte ihre Mutter ihn an. Sie öffnete und schloss den Mund, als wollte sie widersprechen, ließ es jedoch.

»Mein Beileid, Frau Kramer, Herr Kramer. Und auch den jungen Damen.« Er schaute hinüber zu Mara und Hannah. »Wollen Sie sich noch von ihr verabschieden?«

Ihre Mutter nickte, während die Tränen weiter über ihr Gesicht rannen. Der Arzt warf den Krankenschwestern einen auffordernden Blick zu, bevor er mit leichten Schritten den Raum verließ. Eine Krankenschwester folgte ihm und kam nur wenige Augenblick später mit einer Kerze wieder. Sie stellte sie auf den kleinen Tisch, neben die drei Blumensträuße, die Hannah, Mara und ihre Eltern mitgebracht hatten. Mit ernster Miene entzündete sie die Kerze. Dann ging sie zu ihnen.

»Mein herzliches Beileid. Bitte nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen, um sich zu verabschieden.« Sanft drückte sie den Arm von Hannahs Mutter, bevor sie mit der zweiten Krankenschwester das Zimmer verließ.

Hannahs Mutter stand mit kläglicher Miene mitten im Raum, die Arme hingen hinab, als habe sie ihren Lebensmut verloren und könnte nicht einmal ihre Gliedmaßen bewegen. Hannah trat zu ihr und nahm sie in den Arm. Langsam schob sie ihre Mutter hinüber zu Großmutter Louise.

»Wir wollen ihr Lebewohl sagen«, flüsterte sie. Verzweifelt fragte sie sich, wie man sich für immer von einem geliebten Menschen verabschieden sollte. Eine Umarmung erschien ihr viel zu wenig zu sein für all die Liebe, die Großmutter Louise gespendet hatte. Aber es war zumindest ein guter Anfang. Sie setzten sich mit Mara wieder auf das Bett, umfassten die Hand der Großmutter.

»Alles Gute im Himmel, Oma Louise.« Weinend beugte Hannah sich vor und hauchte der alten Dame einen Kuss auf die Wange. Sie sah so gut und elegant aus wie früher, trotzdem erkannte man deutlich, dass mit dem letzten Atemzug ihr Wesen, das, was sie ausmachte, den Körper verlassen hatte.

Tränen liefen über Hannahs Wangen, weil sie die Ältere bereits jetzt vermisste. Ihr Fels in der Brandung, das war sie gewesen. Sie hatte ihre Enkelin gelehrt, in allem etwas Positives zu sehen, selbst in den schlechten Zeiten, die es sicherlich auch für Großmutter Louise gegeben hatte, obwohl sie nie darüber sprach. Wenn man sie danach fragte, lächelte sie stets und sagte: »Das ist kalter Kaffee. Und den sollte man wegschütten.«

So war sie gewesen und das würde Hannah für alle Zeiten in ihrem Herzen behalten. Ihren Optimismus, ihre Liebe und ihren Glauben daran, dass am Ende alles gut wurde.

***

Am nächsten Morgen fühlte sich Hannah, als hätte sie ein Zug überrollt. Sie hatte kein Auge zugetan, sondern still vor sich hin geweint und bestenfalls etwas vor sich hin gedöst. Ihrer Mutter und Mara schien es nicht anders zu gehen, denn die beiden sahen auch wie lebende Zombies aus. Der Einzige, der halbwegs fit wirkte, war ihr Vater. Aber er hatte Großmutter Louise nie so nahegestanden. Er schätzte sie als Schwiegermutter, ihr Tod warf ihn allerdings nicht um. Was vermutlich gut war, weil er die Nerven behielt, und alles regelte, was getan werden musste.

Er organisierte einen Bestatter, sprach mit dem Notar und bestellte die Pflegerin ab, die einmal täglich nach Großmutter Louise sah und ihr im Haushalt zur Hand ging. Seltsam, wie schnell ein Mensch aus dem Leben radiert werden konnte. Der Gedanke machte Hannah wieder traurig, doch sie drängte die Tränen zurück. Denn sie wusste, dass ihre Mutter sonst ebenfalls weinen musste, und das wollte sie nicht. Sie hatte gerade die Fassung gefunden und trank einen Kaffee. Später, wenn sie wieder alleine war, hatte Hannah genügend Zeit zu trauern. Jetzt würde sie sich um ihre Mutter kümmern.

***

Die Beerdigung fand knapp eine Woche später im kleinen Kreis statt. Ihre Mutter hatte keine Geschwister, daher waren nur ihre eigene Familie sowie einige Freundinnen mit ihren Männern da. Sie sahen genauso erschüttert aus wie sie, als sie ihnen ihr Beileid zu dem frühen Verlust aussprachen.

Der Pfarrer führte die Zeremonie voller Würde und Wärme durch. Man merkte, dass er Großmutter Louise, die sich in der Diakonie engagiert hatte, gemocht hatte. Er berichtete von ihrer Güte und Herzlichkeit, was Mutter und Mara sofort wieder zum Weinen brachte. Nur Hannah verkniff sich die Tränen trotz des bohrenden Schmerzes, der sich durch sie hindurchfraß. Sie wollte Stärke zeigen, wie ihre Oma es sich gewünscht hätte.

 

Nach dem Leichenschmaus kam Charlotte, die Großmutter Louises beste Freundin gewesen war, zu ihnen. Sie war einundachtzig, sah aber wie siebzig aus. Nur wenige Falten zierten ihr Gesicht, das von eleganten, silbergrauen Haaren umrahmt wurde. Sie drückte Hannah fest an sich.

»Wer hätte gedacht, dass sie als Erste von uns stirbt? Sie war immer so lebenslustig, so voller Elan.«

Hannah lächelte betrübt. Ja, so war Großmutter Louise gewesen. »Du weißt doch, was man sagt: Die Lichter, die besonders hell brennen, verlöschen früher.«

»Ja, das stimmt. Und das traf auf Louise wahrlich zu. Wie hell hat sie gebrannt!« Charlotte strich ihr lächelnd über die Wange und musterte sie. »Darin erinnerst du mich an sie. Du bist ebenfalls voller Kraft und Leidenschaft für die Dinge, die du liebst. Wie deinen Wein.«

»Die Liebe dazu hat Oma Louise in mir geweckt. Sie hatte wohl früher, in Frankreich mit Weinen zu tun gehabt. Zumindest hat sie hin und wieder etwas in der Art angedeutet. Aber du weißt ja, wie sie war …«

»Kalten Kaffee schüttet man weg.« Charlotte lächelte bitter, als sie den Spruch zitierte, den Oma Louise so gern zum Besten gegeben hatte. Dann runzelte sie die Stirn. »Allerdings muss etwas wirklich Schlimmes in Frankreich geschehen sein. So, wie sie immer reagiert hat.«

»Weißt du etwas darüber?« Aufregung machte sich in Hannah breit. Sie brannte regelrecht vor Neugierde auf die französische Vergangenheit, über die sich Großmutter Louise so beharrlich ausgeschwiegen hatte. Sie erzählte nur von ihren Anfängen hier, wo sie als Fabrikarbeiterin bei Opel gearbeitet hatte. Ein spanischer Bekannter hatte ihr zu dem Job verholfen, das hatte sie zumindest gesagt.

»O nein, darüber redete sie nie mit mir.« Charlotte schüttelte den Kopf. »Aber bei einem unserer letzten Treffen wirkte sie unruhig. Sie hatte eine Anwaltsserie gesehen, in der einer Familie ihre Fabrik durch Arglist weggenommen worden ist. Sie murmelte etwas von: So etwas muss mit unserem Weingut geschehen sein, anders macht es keinen Sinn … Als ich sie fragte, was sie meinte, hat sie sofort abgewunken.« Charlotte beugte sich über den Tisch vor und sah Hannah ernst in die Augen. »Seltsam, oder?«

»Das ist es wirklich.« Hannah dachte einen Augenblick nach. Was meinte Großmutter Louise damit wohl nur? Hatte ihrer Familie etwa früher einmal ein Weingut gehört? Aber das würde sie wissen. Sicherlich hätte ihre Oma irgendwann davon erzählt, trotz der sonstigen Verschwiegenheit gegenüber ihrer Vergangenheit. Allerdings kannte Großmutter Louise sich ausgesprochen gut mit Weinen aus, das war ihr schon oft aufgefallen. Vor allem, seit sie sich selbst einiges an Weinverstand angeeignet hatte.

»Vielleicht meinte sie nur, dass sie dort gearbeitet hatte? Ich rede vom Grand Heritage oft auch als mein Hotel.« Hannah blickte Charlotte fragend an.

Die ältere Dame hob ihre fein nachgestrichenen grauen Augenbrauen. »Nun, das könnte natürlich sein. Aber da war etwas in der Art und Weise, wie sie es gesagt hat …« Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Ich kann es nicht in Worte fassen. Dennoch glaube ich, da steckt mehr dahinter.«

Nachdenklich erwiderte Hannah ihren Blick. Das klang in der Tat geheimnisvoll. Enthielt der Nachlass ihrer Großmutter vielleicht mehr Überraschungen, als sie ahnten?