Prolog
Es ist nicht klar, von wem der Schrei stammt. Aber sobald er erklungen ist, folgt ein zweiter kurz darauf aus einer anderen Richtung.
Es entsteht eine Pause. Ein Moment, in dem die Waagschale zwischen Ordnung und Chaos erzittert, sich verlagert und dann überläuft. Das Chaos regiert.
Gäste springen von ihren Plätzen auf und rennen zum Tischende, an dem die Moncrieffs sitzen. Patrick ist nach vorne gekippt, bewegt sich nicht.
Die zukünftige Braut rüttelt an ihrem Verlobten, versucht eine Antwort von ihm zu erhalten. Aber seine Augen starren leblos ins Nichts. Kein Wort kommt ihm über die Lippen. Ihre Eltern treten an die Kopfseite des Tisches. Helfen ihrer Tochter dabei, etwas aus ihrem zukünftigen Schwiegersohn herauszubekommen.
Ein älterer Verwandter tritt an den Tisch und tastet mit zwei Fingern nach dem Puls am Hals. Wartet.
»Ruft den Rettungsdienst!«, schreit jemand.
»Das habe ich, sie sind auf dem Weg«, sagt ein anderer.
»Macht Platz, sie brauchen Luft«, ertönt eine weitere Stimme.
Der alte Mann erklärt panisch: »Ich fühle keinen Puls. Ich fühle keinen Puls.«
»O mein Gott«, schreit jemand.
»Sie sind tot!«
»Jemand meinte gerade, dass sie alle tot sind.«
»Ernsthaft?«
»Ja, alle. Jemand hat nach dem Puls getastet.«
»Ich glaube, dass einer vielleicht noch am Leben ist, aber ich bin nicht sicher.«
»Scheinbar kann niemand einen Puls fühlen.«
»Was ist passiert?«
Als sich die Gäste darum scharen, schreien und sich nach etwas umsehen, das sie tun können, oder nach jemandem, dem sie etwas sagen können, bemerkt keiner die zwei Männer, die in dem hellen Sonnenschein der späten Frühlingssonne mit großen Schritten über den Rasen gehen, dann um das Haus. Weg von dem Zelt. Weg von der Party. Kurz darauf sind beide verschwunden, weg von dem Chaos, das sich im Garten verbreitet. Um nie zurückzukehren.
Kapitel Eins
HARRIS
Zwei Monate vor der Party
An dem Morgen, an dem Harris die Einladung erhielt, schien die Sonne grell und heiß in sein Schlafzimmer. Irgendwie wusste er in dem Moment, in dem er die Augen öffnete, dass dieser Tag anders werden würde. Kein Tag, der so erdrückend begann, konnte besonders gut werden, dachte sich Harris, während er aus dem Bett kletterte und die Wasserflasche vom Boden nahm. Er trank viel, fühlte sich dehydriert. Vielleicht war es am Vorabend doch zu viel Wein gewesen? Normalerweise trank er an Abenden vor einem Tag voller Vorlesungen nicht. Für gewöhnlich war er da sehr diszipliniert. Für Harris war es nicht schwer, sich an die gewohnte ruhige Mäßigung zu halten. Aber es war eine harte Woche gewesen. Schwere Entscheidungen. Jede Menge zum Nachdenken. Es gab Zeiten, in denen das, was geschehen würde, sich in seinen Gedanken abspielte.
Nachdem Harris das restliche Wasser getrunken hatte, ging er durch den Hauptbereich der Wohnung hinüber zu Rhys’ Schlafzimmer. Seit sie damals kurz nach Beginn von Harris’ erstem Semester in London zusammengezogen waren, hatten sie noch nie geklopft, bevor sie das Zimmer des jeweils anderen betraten; als ob solche Nettigkeiten und Gepflogenheiten für zurückhaltendere Menschen vorbehalten wären. Dieses Gefühl der sofortigen Familiarität und Verbundenheit hatte Harris überrascht. Er hatte nicht geglaubt, dass er sich jemals mit jemandem so verbunden fühlen würde. Es schien, als habe er sich die erste Hälfte seines Lebens treiben lassen, sich selbst nicht mit anderen verbunden gesehen, überzeugt, dass es so weitergehen würde, bis er alt war und starb. Aber dann war Rhys in sein Leben getreten und hatte alles verändert. Zusammenzuwohnen, war wunderbar gewesen. Zumindest so lange, bis Rhys begann, Frauen mit nach Hause zu bringen. Am Anfang waren es ein paar One-Night-Stands gewesen und das hatte Harris nicht gestört, zumindest so lange, wie sie am Abend kamen und am darauffolgenden Morgen wieder verschwanden. Aber eines der Mädels, Ivanka, jemand, mit dem Rhys aus einer früheren WG in Verbindung geblieben war, begann mehrmals die Woche aufzutauchen. Und sie blieb auch den Tag über, um mit Rhys auf der Couch ›rumzuhängen‹, fernzusehen und Lieferservicemahlzeiten zu teilen. Harris konnte nicht anders, als davon genervt zu sein. Sogar eifersüchtig. Und manchmal war es ihm auch peinlich, wenn ihre Es-ist-nicht-nötig-zu-klopfen-Regel zu unangenehmen Situationen führte.
»Hey, Alter, gerade ist kein guter Moment«, rief Rhys, als Harris sein Zimmer betrat, und warf schnell die Decke über ihre Körper.
»Oh, Shit, sorry«, meinte Harris verlegen, »ich wusste nicht, dass sie noch hier ist.«
»Sie hat einen Namen«, hörte er die Stimme der Frau vom Bett. »Guten Morgen, Harris.« Ihr schneidender, russisch-akzentuierter Ton ließ ›Harris‹ wie eine Beleidigung klingen.
»Sorry, Ivanka«, murmelte Harris, als er das Zimmer verließ.
Während Rhys und seine »Freundin« ihre morgendlichen Aktivitäten beendeten, beschäftigte sich Harris damit, Frühstück vorzubereiten. Er hatte gerade erst die Toastertaste betätigt, als er hörte, wie sich die Tür öffnete und Rhys in Boxershorts aus seinem Schlafzimmer geschlendert kam, während er sich mit einer Hand durch das verstrubbelte Haar fuhr.
»Ivanka ist fertig«, berichtete er, kam vor dem Küchentresen zum Stehen und biss sich auf die Lippen.
»Ach, sie trinkt also wieder«, murmelte Harris.
»Nein, fertig, wie stinksauer.«
Harris ging nicht weiter darauf ein.
»Sie glaubt, dass du sie nervig findest und … na ja, auch so behandelst.«
Harris seufzte. »Willst du Toast?«
»Du weichst mir aus«, meinte Rhys und gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einer Zurechtweisung und einem Lachen lag, kam um den Tresen und nahm sein Protein-Shake-Pulver von oben auf den Schränken.
»Ich bin mir nicht sicher, ob die wirken«, sagte Harris mit einem Nicken zu dem Shake. »Du bist noch genauso dünn wie zuvor.«
Rhys unterdrückte ein Lachen. »Das bullige Aussehen wird kommen«, erklärte er. »Oh, hast du gesehen, dass das für dich gekommen ist?« Er nickte zum Küchentisch.
Darauf lag ein cremefarbener Brief mit einem violetten Ornamente-Rand. Harris wusste sofort, was es war. Aber dennoch musste er den Umschlag öffnen, selbst wenn es bedeutete, ihn hinterher zu zerreißen oder im Ofen zu verbrennen und dabei zuzusehen, wie das nach Lavendel duftende Papier in Flammen aufging.
Die Einladung roch doch nicht nach Lavendel oder zumindest hüllte ihn keine Parfümwolke ein, als er den Umschlag aufriss und die kleine Karte herauszog, die seine Rolle in der Familie hervorragend zusammenfasste: irgendwie-ein-Teil-davon, aber eigentlich nicht. Vielleicht waren Raphael und Lauren der Meinung, dass es freundlich von ihnen war, ihn einzuladen, aber Harris sah es eher als weiteren Akt der Entfremdung. Er war ein Gast. Ein Außenseiter. Kein Familienmitglied, von dem man ausging, dass es da war. Er musste eingeladen werden, wie ein Freund oder Bekannter, der nicht zur eng verstrickten Einheit gehörte.
Er überflog den Text auf der Karte nach Details. Schlagworte sprangen ihm entgegen.
Dich einladen.
Eine Party, um unsere Verlobung zu feiern.
Ein freudiger Anlass.
Aber war es das wirklich?, fragte sich Harris. Würde es wirklich ein freudiger Anlass sein? Wohl eher ein schnell-organisierter, beinahe verzweifelter Versuch, wieder etwas Anstand zu erlangen. Aber trotz seiner vielen Gefühle hinsichtlich der Familie Moncrieff war er überrascht von dem Stich der Eifersucht, den er verspürte. Es würde Menschen auf der Veranstaltung geben, die dem jungen Paar wahrhaftig alles Gute wünschten, die sich darüber freuten, dass die beiden heirateten und anscheinend in eine glückliche Ehe starteten. Niemand würde dies je ihm gegenüber empfinden, ging es Harris durch den Kopf. Diese Art von vereinter Feierlichkeit war nicht Teil seiner Welt.
»Vielleicht sollte ich geschmeichelt sein, dass ich eingeladen wurde«, meinte Harris und versuchte die Stimme stabil zu halten.
Rhys entgegnete nichts, behielt ihn aber ganz genau im Auge.
»Ich schätze«, fuhr Harris fort, stellte seinen Teller ab und verschränkte die Arme, »es ist an der Zeit, die Feinheiten unseres Plans auszuarbeiten.«
Rhys nickte. »Bist du dir sicher, dass du das immer noch durchziehen willst?«
Harris gab ihm ein Zeichen der Zustimmung. Er dachte an Isabelle und Patrick, nach außen hin die perfekten Eltern, ihr charmanter Sohn Raphael, der seine wunderschöne Braut heiratete. Dachte daran, wie sie auf ihrem Familiengrundstück grinsten und lachten, was dazu führte, dass Harris die Hände zu Fäusten ballte. »Ja. Und nach allem, was geschehen ist – Ich glaube nicht, dass wir weit genug gehen. Und wie schon gesagt, wegen der Schwangerschaft werden sie keinen großen Empfang veranstalten. Es wird eine einfache Zeremonie sein und dann werden sie in ihre Flitterwochen verschwinden. Es wird nicht öffentlich genug sein.« Harris ging zum Kühlschrank und nutzte einen der runden, schwarzen Magneten, um die Einladung dort zu fixieren. Er las sie erneut und meinte dann ruhig: »Lass uns die Dinge vorantreiben. Die Verlobungsfeier ersetzt eine große Vermählung. Lass es uns da machen.«
Kapitel Zwei
Harris
Der Tag der Party
An dem Tag, an dem er seine Welt zum Einstürzen bringt, schreckt Harris um drei Uhr nachts aus dem Schlaf. Die Gesichter seiner Adoptivfamilie schweben vor seinem geistigen Auge. Einen Augenblick lang, desorientiert und in der Dunkelheit, ist er überzeugt davon, dass sie hier bei ihm sind, um sein Bett stehen, ihn ansehen. Aber als er sich aufsetzt und nach dem Glas Wasser greift, weiß er, dass sein Verstand ihm einen Streich spielt. Innerhalb der Sekunden des Aufwachens und Aufsetzens ist ihm bewusst geworden, dass er träumte, aber er ist dennoch angespannt. Es ist, als würde er heimgesucht. Heimgesucht von Geistern der Menschen, die noch leben. Zumindest für den Moment noch. Er ist von sich selbst genervt, dass er so aufgewühlt ist, der Gnade seines Unterbewusstseins ausgeliefert. Er hatte versucht, den vergangenen Abend möglichst ruhig zu gestalten, um sich davon abzuhalten, über jedes Detail nachzudenken – was gesagt werden könnte, was vielleicht geschah, wohin es führte. Er nahm ein heißes Bad, ging früh schlafen und lauschte einem Podcast über Vulkane, danach hörte er Musik: Largos »Winter« aus Vivaldis Vier Jahreszeiten, gespielt von Yo-Yo Ma. Die Klänge beruhigten ihn genug, dass er einschlief. Zumindest eine Zeit lang.
Um 5:40 Uhr gab er schließlich auf und zog sich langsam an, ließ sich Zeit, jedes Teil überzuziehen, das er im Vorfeld herausgesucht hatte. Eine beige Hose, ein marineblaues Jackett und ein pinkes Shirt. Seine Familie wäre damit einverstanden. Vermutlich wird es heute das Einzige sein, mit dem sie einverstanden sind, denkt sich Harris.
Nachdem er schnell im Badezimmer sein Haar gerichtet hat – das braucht nie viel, da er es, seit er sechzehn ist, relativ kurz trägt – geht er zu Rhys Zimmer. Gerade als er nach der Klinke greifen will, hält er inne, nicht ganz sicher, weshalb. Er atmet tief ein. Schluckt. Fragt sich, ob Rhys eine ähnlich unruhige Nacht hatte. Oder ob er gut schlief, friedlich in seinem Unwissen, wie der Tag laufen würde. Rhys würde ihm nie verzeihen, wenn er es wüsste. Die Lügen. Der Verrat. Aber die Jahre seit dem Tod seiner Eltern hatten Harris zu dem gemacht. Hatten ihn rücksichtslos, hart und kalkulierend werden lassen. Er weiß, dass er zuallererst nach sich selbst schauen muss. Er weiß, dass er immer noch allein auf der Welt ist, ganz gleich, was die anderen sagen.
Als er schließlich den Raum betritt, entdeckt er Rhys, der aus dem Fenster starrt. Er ist zufrieden, dass dieser heute allein ist. Kein Zeichen von Ivanka, die in Rhys Bettwäsche verwickelt ist. Zufrieden, dass es nur sie beide sind, vielleicht zum letzten Mal. Das hängt natürlich davon ab, wie es heute läuft. Rhys hat eine Fensterfront, die einen tollen Blick auf Southwark bietet, der Fluss und das London Eye sind auf der linken Seite erkennbar, obwohl Harris noch nie vorher gesehen hat, wie Rhys hinausstarrt. Zumindest nicht so, stillstehend, den Sonnenaufgang betrachtend. Auch den unsicheren Blick in Rhys Gesicht hat Harris noch nie zuvor gesehen. Aber er ist da, als er sich zu Harris umdreht, die blasse Sonne lässt seine dunkle Haut schimmern und glühen.
»Nervös?«, fragt Harris und tritt weiter ins Zimmer.
»Etwas«, entgegnet Rhys, während die Morgensonne beginnt, durch den Spalt zwischen Häusern und Appartementblocks in den Raum zu scheinen.
»Morgen zu dieser Zeit wird es vorbei sein«, meint Harris und setzt sich auf das ungemachte Bett. Rhys macht es nie, nicht richtig – etwas, das Harris in den Wahnsinn treiben würde, wenn sie sich ein Zimmer teilen würden.
»Möchtest du noch einmal durch die Datei gehen?«, will Rhys wissen.
»Nein«, antwortet Harris, »ich habe mir gestern die Folien angesehen. Ich bin mit allem zufrieden.«
Rhys sieht ihn an. »Bist du dir sicher, dass du alles darin behalten möchtest? Wirklich alles?«
Harris nickt. »Definitiv.«
Einen Moment lang sagt Rhys nichts, beißt sich auf die Lippe. Dann: »Du musst das nicht tun, weißt du.«
Harris würdigt dies keiner Antwort. Eine Zeit lang schweigen beide, dann irgendwann meint Harris: »Du solltest dich fertig machen. Wir müssen bald los, wenn wir Bath früh genug erreichen wollen.«
»Ja«, stimmt Rhys zu. Er entfernt sich einen Schritt vom Fenster und Harris hat das Gefühl, dass er sich aus tiefgründigeren und komplizierteren Gedanken loseist, als er zugibt. Beide haben viel im Kopf, das ist nicht zu vermeiden. Der Tag heute wird ein Zittern durch ihre Leben jagen. Vielleicht kein Zittern, eine Flutwelle, die ihr Gespür für den Alltag niederreißt. Rhys spürt es, das weiß Harris, aber immerhin kennt er nicht den ganzen Plan. Wäre dies der Fall, wäre Harris allein.
»Ich gehe schnell duschen«, berichtet Rhys. »Ich nehme meine Uniform mit und ziehe mich nach der Ankunft um. Ich will so nicht dort vorfahren.«
Harris nickt, schenkt ihm ein Lächeln. Rhys spiegelt es ihm irgendwie zurück, aber es ist eher ein Zucken des Mundwinkels, mehr nicht. Er nimmt sich einen Müsliriegel aus der Küche und Harris hofft, dass es nur die Nerven sind, die Rhys so distanziert wirken lassen. Er zieht besser nicht den Schwanz ein. Nicht, wenn sie so kurz davor sind.
***
Die Fahrt nach Bowen Hall in Bath verläuft problemlos, mit überraschend wenig Verkehr auf der M4 und das Wetter bleibt weiterhin strahlend und trocken. Aber auf dem letzten Stück der Strecke, kaum acht Kilometer von ihrem Ziel entfernt, werden sie von der Polizei angehalten. Rhys fällt auf, dass er im Kreisverkehr in der falschen Spur war und ohne zu blinken wechselte, dann zweimal im Kreis fuhr, während er mit Harris darüber stritt, welche Ausfahrt sie nehmen mussten. Harris kämpfte mit einer unsinnigen Navigations-App auf seinem Handy, versuchte sich die richtige Abzweigung anzeigen und aufsagen zu lassen, aber am Ende gab Rhys nach und wählte irgendeine Ausfahrt, da es ihm nicht möglich war, die nötigen Informationen auf den Verkehrsschildern zu finden. All dies bemerkte die Polizei, die ihnen nun auf die ruhige Straße, auf die Rhys‘ KA abgebogen ist, folgt und zu verstehen gibt, dass sie rechts ranfahren sollen.
»Fuck. O fuck«, murmelt Rhys und streicht sich die Haare aus der Stirn.
»Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst«, beruhigt ihn Harris, versucht sich damit selbst ebenfalls zu überzeugen, während er im Rückspiegel verfolgt, wie die beiden Beamten aussteigen und zu ihnen kommen. »Du bist nicht gerast. Sag ihnen einfach, dass wir uns verfahren haben. Erzähl ihnen die Wahrheit.«
»Shit«, keucht Rhys und packt das Lenkrad fester.
Der Polizeibeamte ist, nachdem er an die Scheibe trat und anwies, diese herunterzulassen, überraschend höflich, sogar freundlich, scheinbar will er nur wissen, ob alles in Ordnung ist, da ihm auffiel, ›dass ihr Jungs ein paar Mal zu viel im Kreis gefahren seid‹.
Auch der Spurenwechsel ist ihm nicht entgangen. Trotz seiner freundlichen Art macht sich Harris darüber Sorgen, wie gestresst er und Rhys wirken, dessen Hände zittern, als er pusten muss (und kein Alkohol in seinem Atem festgestellt wird). Danach, als sie wieder unterwegs sind, scheint Rhys immer noch unglücklich, denn seine Hände zittern nach wie vor.
»Geht es dir gut?«, erkundigt sich Harris. »Hast du wirklich geglaubt, dass die Bullen dich festnehmen?«
Einen Augenblick lang antwortet Rhys nicht. Dann entgegnet er: »Hast du nicht auch das Gefühl, als wäre dies ein schlechtes Omen?«
»Omen? Nein. Ich glaube weder an Omen noch an irgendwelchen anderen Aberglauben und so einen Quatsch.«
»Meine Mutter schon«, erzählt Rhys leise.
Harris weiß nicht, was er darauf erwidern soll, also schließt er den Mund und denkt einen Moment nach. Dann sagt er: »Wir tun das für deine Mutter. Und für meine. Und für alles, was diese Familie getan hat.«
»Ich weiß«, entgegnete Rhys nickend.
»Also … bleibe einfach ruhig.«
»Das werde ich«, beharrt Rhys, immer noch nickend, klappt die Blende herunter und sperrt so die strahlende spätmorgendliche Sonne aus, »und außerdem machen wir ja nichts Illegales. Ich … ich weiß einfach auch nicht, ich finde unseren Plan, sie gesellschaftlich zu ruinieren, einfach etwas stressig.«
Rhys fährt wieder geschmeidig, aber die Knöchel am Lenkrad sind immer noch weiß. Nichts Illegales, denkt sich Harris, als sie in Schweigen verfallen. Wenn das nur wahr wäre.
Kapitel Drei
Raphael
Der Tag der Party
Raphael Moncrieff erwacht am Tag seiner Verlobungsfeier mit einem unguten Gefühl, das ihn durchströmt. Er dreht sich, spürt das kalte Kissen neben sich, genießt den vielen Platz, um sich zu strecken. Wann immer er sich ein Bett mit seiner Verlobten teilt, fühlt er sich angespannt und verkrampft, besonders wenn es sich um ihr Queen-Size-Bett in der Wohnung in Oxford handelt. Es gibt nicht genug Platz für seine langen Beine und mehr als einmal hat er Lauren nachts aus Versehen geschlagen und sie getreten, sie damit geweckt; er entschuldigte sich und versuchte wieder einzuschlafen. Anstatt jedoch vorzuschlagen, in einem größeren Bett zu schlafen, fand sie es scheinbar eher amüsant als nervig, riss am nächsten Morgen Witze darüber und sagte, wie sehr sie es liebte, wie nah und ›verwickelt‹ sie waren. Dieses Wort missfiel ihm besonders: verwickelt. Es gab ihm das Gefühl, als wäre er mit einer gruseligen Pflanze wie der Teufelsschlinge aus Harry Potter in einer Beziehung, die ihn an Ort und Stelle gefangen hielt, seine Freiheit eingrenzte, seine Optionen niedermachte.
Und seine Optionen wurden niedergemacht. Er würde Lauren Rizzini heiraten, weil es der Wunsch seiner Eltern war. Als sie herausfanden, dass ihr Sohn Lauren in seinem letzten Unisemester geschwängert hatte, wurde seine Mutter komplett weiß und sah aus, als würde sie in Ohnmacht fallen, und sein Vater warf einen Porzellanteller an die Wand. »Wie konntest du nur so dumm sein?«, verlangte Isabelle zu erfahren, legte den Kopf in die Hände, bevor sie sich ihrem Ehemann zuwandte und meinte: »Und das ist besser der letzte Teller, den du gegen die Wand wirfst. Wir sind nicht diese Art von Familie.«
Patrick hatte daraufhin aufgelacht. »Scheinbar sind wir das. Richtiges Schundfernsehen mit Raphael, der nicht in der Lage ist, herauszufinden, wie ein Kondom funktioniert.« Der Vergleich war tatsächlich adäquat, denn einen Augenblick lang war sich Raphael vorgekommen, als wäre er in einem Theaterstück oder sogar einer Seifenoper gelandet, wie sie seine Mutter angeblich nicht anschaute (er hatte jedoch einmal den ›iPlayer Download‹-Teil auf ihrem iPad gesehen, also wusste er, dass dies nicht stimmte). Die explosive Reaktion seiner Eltern wurde nur noch schlimmer, als sie alle ›Schwierigkeiten‹ mit dieser Situation auseinandernahmen. Obwohl sie Lauren kannten und zu mögen schienen, nutzten sie die Gelegenheit, um Dinge zu finden, die an ihr falsch waren – wie die Tatsache, dass sie weniger ›ein Mädchen‹ und mehr ›eine ältere Frau‹ war, da sie bereits achtundzwanzig und damit ganze sieben Jahre älter war als er (eine Doktorandin inmitten ihrer Doktorarbeit in georgischer Literatur). Um das Ganze noch schlimmer zu machen, offenbarte er seinen Eltern, die der Meinung waren, dass es nicht noch schlimmer werden könnte, dass die Frau als Teil ihrer Promotion ein paar Seminare abgehalten hatte und er einer ihrer Studenten gewesen war. Ursprünglich hatte er nicht vorgehabt, dies seiner Mutter und seinem Vater zu erzählen, aber mit der Bekanntgabe der Schwangerschaft wollte er auch mit allem anderen von Anfang an ehrlich sein.
»Also hast du deine Dozentin gevögelt?«, spie sein Vater ihm entgegen, das Gesicht ungewöhnlich rot und die Augen so intensiv, dass Raphael sich fragte, ob sie vielleicht schmelzen würden.
»Sie ist nicht wirklich meine Dozentin«, hatte Raphael erwidert und versucht, den Drang zu unterdrücken, sowohl zu weinen als auch selbst Geschirr zu zerschlagen.
»So gut wie«, entgegnete seine Mutter, erhob sich vom Tisch und machte einen Schritt über die Scherben auf dem Boden auf ihrem Weg zur Küche.
Es war einfach schrecklich gewesen und Raphael war an diesem Abend zu Bett gegangen, ohne noch ein weiteres Wort mit seinen Eltern zu wechseln. Lauren hatte ihn später in der Nacht angerufen und gefragt, wie es gelaufen war. Raphael hatte nichts beschönigt. »Stell dir eine absolute Shitshow vor und dann multipliziere es mit dreitausend.«
»Oh, Raphy, versuche dir keine Sorgen zu machen«, wollte Lauren ihn aufmuntern, nutzte aber den Spitznamen, den er hasste. Sie war die Einzige, die ihn so nannte, und die Tatsache, dass ihn niemand sonst so bezeichnete, war ihr entweder nicht aufgefallen oder sie fand es einfach niedlich, ihren eigenen Spitznamen für ihn zu haben.
»Natürlich mache ich mir verdammt noch mal Sorgen«, schnauzte er. »Wenn sie mich enterben –«
»Ich bin keine Goldgräberin, Raphy. Du könntest so mittellos wie diese armen Menschen aus diesen Dokumentationen sein, die du immer schaust, und ich würde dich immer noch lieben.«
»Na ja, das ist ja sehr löblich, aber mich interessiert es. Sehr sogar. Das wäre nicht fair. Es ist alles andere als fair.
»Natürlich ist es das; ich weiß, dass Geld auch dir nichts bedeutet, und es ist nicht wichtig –«
»Das Geld ist wichtig, das ist es, was ich verdammt noch mal sage.«
»Hör auf zu motzen, alles wird gut werden«, entgegnete sie in einem eindeutig beruhigenden Tonfall.
»Ich muss los«, meinte er. »Ich muss schlafen.«
»Gute Nacht, Liebling, ich hoffe, du kannst dich etwas ausruhen und …«
Er hatte das Telefonat beendet.
Am nächsten Tag war alles anders. Seine Eltern hatten, während er schlief, ein Notfalltreffen einberufen. Und sie hatten einen Plan.
»Du wirst sie heiraten«, erklärte Patrick seinem Sohn streng. »Wir müssen einige Details besprechen. Aber ja, der Plan ist, dass du sie heiratest.«
»Du weißt, welches Jahr wir haben, oder?«, hatte Raphael entgegnet. »Dir ist klar, dass wir uns im einundzwanzigsten Jahrhundert befinden, nicht im neunzehnten?«
»Die Hochzeit wird bald sein müssen«, fügte Isabelle hinzu, ignorierte ihn. »Mai oder Juni nehme ich an, bevor ihre Schwangerschaft offensichtlich ist. Zumindest, wenn wir davon ausgehen, dass sie dir hinsichtlich der Daten und so die Wahrheit gesagt hat.«
»Natürlich hat sie mir die Wahrheit gesagt«, entgegnete Raphael. »Unterstell ihr dies nie wieder, das ist nicht nett. Aber was, wenn ich nicht heiraten möchte? Ich bin einundzwanzig.«
»Was du möchtest«, erklärte Patrick langsam, seine harschen, dunklen Augen bohrten sich in Raphael, »ist irrelevant.« Dann zog er eine Augenbraue hoch. »Außer natürlich, du willst mit alldem auf dich allein gestellt sein.«
Die Bedeutung war eindeutig. Spiel mit, tu was man dir sagt oder du bist allein.
Also spielte er mit. Er machte Lauren eine Woche später in ihrer Wohnung in Oxford einen Antrag, als sie mit einem Armvoll verstaubter alter gebundener Bücher und in der anderen Hand einer Tüte voller Einkäufe zurückkam. Sie hatte sofort Ja gesagt, erklärt, dass dies bisher der beste Tag ihres Lebens war, und sie hatten gefeiert, indem sie das supermarkteigene Trüffel-Hähnchen Kyjiwer Art aßen. Danach saßen sie auf ihrem ungemütlichen grauen Sofa und schauten eine 2007er Neuverfilmung von Überredung, während Lauren ununterbrochen berichtete, wie sehr sie sich vom Originaltext unterschied, und Raphael komplett still saß und sich fragte, wann sein Leben so dermaßen schiefgegangen war.
Es war nicht so, dass er Lauren nicht mochte. Tatsächlich mochte er sie manchmal recht gern. Und in vielen Bereichen passten sie auch gut zusammen. Sie war wunderschön, intelligent, obere Mittelklasse, wenn auch nicht wirklich reich. Aber die Schwangerschaft hatte die Dinge beschleunigt, hatte alles schneller vorangetrieben, als er es gewollt hätte, und er kam sich gelenkt und manipuliert vor – nicht wirklich von ihr, aber von jenen um ihn herum. Seinen Eltern und auch bis zu gewissem Grad ihre. Und manchmal konnte er nicht anders, als seine Frustration und Abneigung an ihr auszulassen.
Während die Wochen vergingen, besorgte seine Verlobte Dinge in großen Mengen für die Vorbereitung auf die Hochzeit und das Baby und in Abstimmung mit Isabelle und dem Eventplaner auch für die Verlobungsfeier. Es machte Raphael neugierig, wie die beiden Frauen so gut miteinander klarkamen, obwohl seine Mutter unnahbar und beinahe unfreundlich blieb, während Lauren wie immer fröhlich war und sich von Isabelles Verhalten und Tonfall offensichtlich nicht beeindrucken ließ. Raphael lernte Laurens Eltern kennen (ihr Vater war Produzent bei der BBC, ihre Mutter Rezeptionistin bei einem Arzt in der Harley Street) und gab sein Bestes, wegen der Hochzeit fröhlich und aufgeregt zu klingen, während er versuchte, die schwitzigen Handflächen und zitternden Beine zu verstecken – das war eine seiner nervösen Angewohnheiten, wenn er unter Stress stand oder angespannt war. Die Hochzeit würde eine sehr kleine, diskrete Angelegenheit sein, so war es entschieden worden, mit einer Verlobungsfeier kurz davor anstelle eines großen Empfangs. Sie behaupteten, dass es daran lag, dass sie wollten, dass ihr großer Tag so ›stressfrei‹ wie möglich wurde und sie ihre Liebe zueinander ohne Ablenkung genießen konnten.
***
Nun ist der Tag der Verlobungsparty gekommen und Raphael ist schockiert, als ihm klar wird, dass das Ganze hier wirklich passiert. Er hat sich daran gewohnt, sich selbst einzureden, dass das alles nur ein schlechter Scherz ist oder ein Traum, aus dem er bald aufwachen wird, oder dass jemand ›verarscht!‹ rufen wird und sich dann herausstellt, dass Lauren eine gelernte Schauspielerin ist und das Ganze Teil einer provokanten neuen TV-Serie ist. Aber natürlich ist nichts davon geschehen. Nun muss er sich nach einer Nacht mit wenig Schlaf der Party stellen. Er ist gerade dabei, sich aus dem Bett zu quälen, als die Tür aufgeht und seine Eltern hereinkommen.
»Gut, du bist wach, wir wollten nicht länger warten«, grüßt seine Mutter in einem geschäftsmäßigen Ton, geht zu den Vorhängen und reißt diese auf.
»Beeil dich und zieh dich an«, meint sein Vater. »Wir benötigen deine Hilfe bei diesem Stuhlfiasko.«
»Es ist kein verdammtes Fiasko«, schnauzt Isabelle ihn an.
»Das waren deine Worte. Vor nicht mal einer halben Stunde sprachst du von Fiasko.«
»Na schön«, gestand sie ihrem Ehemann zu, »es ist ein Fiasko. Ich wusste einfach, dass heute etwas schiefgehen würde.«
»Gott, könnt ihr beiden einfach verschwinden?«, wirft Raphael genervt in den Raum, an Ort und Stelle festgenagelt. So ein Drama von seinen Eltern ist das Letzte, was er heute gebrauchen kann. »Im Moment wäre dies das Beste.«
»Es tut mir sehr leid, dass dir das gerade nicht passt, aber auf diese Dinge kommt es nun mal an«, erwidert seine Mutter eiskalt. »Ich habe dir das Leben geschenkt. Sie mussten dich regelrecht rausreißen und seitdem ist es dort unten nicht mehr wie zuvor, also vergib mir, wenn ich darauf bestehe, dass jedes noch so kleine Detail an dem wichtigsten Tag meines wertvollen Sohns perfekt ist.«
»Erzwungenen wichtigsten Tag«, murmelt Raphael.
»Wir möchten noch einmal wiederholen, was wir gestern über Großtante Elizabeth sagten«, meint Patrick.
»Ich weiß, ich weiß.« Raphael stöhnt. »Ihr habt es vor wortwörtlich gerade mal zwölf Stunden gesagt – verrate nichts von Laurens Schwangerschaft und sage nicht, dass ihr zusammenwohnt. Ich dachte, dass das ohnehin ein Geheimnis ist? Zumindest der erste Teil. Ich werde es wohl kaum vor dem intolerantesten und erzkatholischsten Mitglied unserer Familie ausplaudern.«
»Wir möchten dich nur noch einmal daran erinnern. Seitdem wir es besprochen haben, hast du geschlafen, und du hast immerhin eine Geschichte unsensibel und taktlos zu sein, wenn es um Elizabeth geht. Und sie hat die unschöne Angewohnheit, einen Herzinfarkt zu bekommen. Ich würde es bevorzugen, solch ein Drama heute zu vermeiden.«
»Könnt ihr bitte einfach gehen?«, weist Raphael sie bestimmt, aber höflich an.
»Wir erwarten dich in fünf Minuten frisch geduscht und angezogen unten«, entgegnet Patrick und macht auf dem Absatz kehrt.
»Genau«, stimmt Isabelle zu, als sie in Richtung Zimmertür geht, keiner von beiden hält es für nötig, sie zu schließen.
Anstatt zu tun, wie ihm geheißen, lässt sich Raphael halb-stöhnend, halb-keuchend zurück aufs Bett fallen und legt die Hände über die Augen, als ob er versuche, das Licht auszusperren und die Dunkelheit der Nacht zurückzubringen, die Zeit zurückzudrehen, zu einem anderen Tag zurückzukehren, einem anderen Monat, einem anderen Jahr. Dort liegt er, bis sein Handy eine Minute später klingelt. Mit Mühe greift er danach und antwortet.
»Hey, Raphy«, trällert Lauren, ihre fröhliche Stimme ist wie ein Messer auf der bloßen Haut. »Machst du dich gerade fertig? Das Wetter ist perfekt. Wusstest du, dass ich an Zeichen glaube – also na ja, irgendwie zumindest – und ich würde sagen, dass das ein gutes ist. Meine Eltern und ich verlassen Oxford um zehn, also sollten wir gegen Mittag bei euch sein.«
»Ich weiß«, murmelt Raphael.
»Gott, ich bin so aufgeregt«, haucht sie. »Das wird ein Tag, den wir nie vergessen werden, Liebling.«