Leseprobe Das Flüstern der Elbe

Kapitel 1

Schatten im Paradies

Hamburg, Deutschland, damals:

Drei Finger. Es müssen drei Finger einer erhobenen Hand sein, dachte Hans in einem Anflug ehrlich empfundener Panik. Er lehnte sich gegen eine Häuserwand. Mehr nicht. Drei Finger. Bitte, lass es drei Finger sein, die ich bald sehe.

Hans, der sein wild schlagendes Herz unter Kontrolle zu bringen versuchte, lächelte. Sein durch ihn hindurchtobendes, ihn innerlich zu zerreißen drohendes, schlechtes Gewissen, schob er beiseite.

Was ihm schwerfiel.

Ungeheuer. Kaum zu beschreiben.

So schwer, dass er die Augen schloss und sich wünschte, all die erlebten Höllen niemals losgetreten zu haben.

Wäre ich schlauer gewesen, dachte er und spürte, wie ihm das Herz zerriss, als er einen kurzen, prüfenden Blick über die beiden neben ihm herstolpernden, aneinandergepressten Kinder schweifen ließ. Weitsichtiger. Nicht so empfänglich für Überlegenheit, Hochmut und Stolz.

Da war nicht nur der in ihm bohrende Kummer, das Wissen, etwas falsch gemacht zu haben … in ihm stiegen unentwegt Gedanken auf, die ihn mit Vorwürfen überluden, die ihn in der Nacht heimsuchten, und die ihm zuraunten: Deinetwegen. Alles ist nur deinetwegen geschehen.

Du bist schuld.

Hans erschauderte, während er über die ausgebombten Straßen stolperte und die beiden Mädchen dazu anhielt, ihm zu folgen. Er wollte nicht grob zu ihnen sein – nicht, nachdem sie solch einen Horror durchlebt hatten – und musste sie dennoch antreiben, Schritt mit ihm zu halten.

Auch wenn er versuchte, seine befehlenden Worte nicht barsch und herrisch klingen zu lassen, konnte er sehen, wie die Mädchen unter jeder einzeln hervorgebrachten Nuance seiner Aufforderungen zusammenzuckten.

Sie gehen nicht mehr nebeneinanderher, dachte er, während er über Geröll stolperte, und nicht verstehen konnte, wie es so weit hatte kommen können … dass er nicht mehr an roten Backsteinhäusern im Schutz der aufkommenden Dunkelheit vorbeihuschte, sondern an ausgebrannten, rauchenden Ruinen. Der Geruch nach Qualm stieg ihm ebenso in die Nase, wie der Gestank von geplatzten Abwasserrohren, deren dunkelbrauner, übelriechender Inhalt sich fontänenartig über sie alle ergoss.

Hans erschauderte erneut, als er an die immer wieder aufklingende, jaulende Alarmsirene dachte; daran, wie der hohe, schrille Ton sich ihm in den Verstand bohrte und ihn aus seinem oberflächlichen, seichten Schlaf riss. Wie er dann, wenn er die Augen aufriss, instinktiv nach den beiden Mädchen griff, die dicht gedrängt aneinander schliefen, ihre Angst, ihren Kummer, all ihre ausgestandenen, schrecklichen Erlebnisse in ihren hübschen, dunklen Augen trugen. Augen, wie er bemerkte, in denen Leid zu sehen war, das ihm Magenschmerzen bereitete.

Leid, das ich ihnen zugefügt habe. Das ich verursacht habe. Das meinetwegen …

Er ließ den Gedanken nicht zu.

Hans wollte nichts weiter als hinaus zur Veddel, hin zur von der Waffen-SS konfiszierten BallinStadt. Dort, wo damals die Auswandererbaracken gestanden hatten, von wo aus die Menschen versucht hatten, in die USA zu emigrieren.

„Nicht stehen bleiben“, befahl er den beiden Mädchen, die sofort in der Bewegung erstarrten, als die Sirenen erneut ertönten und die trügerische, in die Ferne gerückte Stille markerschütternd durchbrachen.

Weiter, wollte er hinterher schieben, um dann zu merken, wie er klang. Er lächelte schief und verkrampft, als er, in der irrigen Annahme, einfühlsam zu sein, flüsternd sagte: „Wenn wir stehen bleiben, kann es sein, dass einer der Tiefflieger auf uns aufmerksam wird. Das wollt ihr doch nicht, oder?“

Die Mädchen starrten ihn an.

„Das wollt ihr doch nicht, oder?“, schob er hinterher, mit einem gereizten, ihm zuwider klingenden Tonfall in der Stimme, den er nicht zurückhalten konnte.

Es kam ihm so vor, als würde der ganze Stress und all die Anspannung in ihm emporschießen; als würde sich all seine empfundene und mit Mühe unterdrückte Angst in ihm Bahn brechen.

Es stand zu viel auf dem Spiel.

Nicht viel, verbesserte er sich in Gedanken, als er in der Ferne den dumpfen Knall einer in einem Wohnblock einschlagenden, aus dem Himmel gefallenen Bombe zu hören meinte. Alles.

„Kommt. Bald sind wir in Sicherheit.“

Die Mädchen starrten ihn an.

Hans lächelte. „Vertraut mir.“

Seine Worte klangen selbst in seinen Ohren hohl und leer. Wie Metaphern.

Warum sollten die Kinder ihm glauben?

Nachdem, was er ihnen bereits angetan hatte?

Unbewusst, schob er in einem verteidigenden Unterton in seinen Gedanken hinterher und wusste, dass die Schuld, die er auf sich geladen hatte, für immer lichterloh und brennend heiß in seiner Seele brennen würde.

„Tötest du uns?“, wollte die Ältere-, der beiden wissen. Der Blick, den sie ihm dabei zuwarf, das verstörend ängstliche Flackern in den Augen, und um die Lippen herum ein von tief empfundener Furcht gezogenes Grübchen, ließ Hans meinen, sich übergeben zu müssen. Der Klang ihrer Stimme schnitt messerscharf in seine Seele, und die ihm unwillkürlich einschießenden Tränen ließen ihn glauben, an seinem schlechten Gewissen zerbrechen zu müssen.

„Nein“, murmelte er, schüttelte den Kopf und streckte die Hand nach dem dunkelhaarigen, ausgesprochen hübschen Mädchen aus, das ihrer Mutter auf erschreckende Art und Weise ähnlich sah. „Das könnte ich nicht“, sagte er und konnte es nicht verhindern, dass seine einst von Hass angestauten, von der Herrenrasse vergifteten Gedanken hinterher schoben: Nicht mehr.

„Ich …“, setzte er an, zuckte aber wieder zusammen, als er das ihm ins Unterbewusstsein dringende Pfeifen der vom Himmel fallenden Bomben vernahm. „… will euch retten.“

Die Mädchen starrten ihn an.

„Ich bringe euch in Sicherheit.“

Als er in der Ferne eine sich zwischen dem Schutt und den zerbombten Ruinen abzeichnende Gestalt erkannte, die winkend die Hand hob, atmete er erleichtert auf.

Drei Finger, dachte er. Es sind drei erhobene Finger …

***

Beaufort, South Carolina, USA, jetzt:

„Wieder versetzt.“ Kate Speller schüttelte den Kopf, obwohl sie wusste, dass ihre beste Freundin am anderen Ende der Leitung es nicht sehen konnte. „Ich habe einfach kein Glück bei Männern.“

„Weil du dir immer die falschen aussuchst“, hörte sie Olivia sagen und war sich sicher, dass sie das Klickklack, Klickklack, Klickklack einer Tastatur vernahm. „Ich habe dir gleich gesagt, dass diese Dating-Apps Bullshit sind, Mäuschen. Habe ich es dir gesagt, oder habe ich es dir gesagt?“

„Du hast es mir gesagt.“ Kate seufzte, während sie antwortete. Natürlich hatte Olivia sie gewarnt. So, wie Olivia sie immer und vor allem zu beschützen versuchte.

Jetzt, als sie in dem kleinen, muffigen Laden stand, in dem sich die Regale bis zur Decke erstreckten, und sich die einzelnen Fächer unter dem Gewicht der Bücher bogen, kam sie sich haltlos vor.

„Und du hast trotzdem nicht auf mich gehört.“

„Nein, habe ich nicht.“

„Böse Kate“, tadelte Olivia ihre beste Freundin mit einem herzlichen Unterton in der Stimme, der ihr ein wenig Balsam auf die geschundene Seele strich. Sie versuchte, die beklommene Bedrückung, die nach ihr gegriffen hatte, nicht an sich herankommen zu lassen. Kate wollte nicht in dem kleinen, dunklen Verkaufsraum stehen, der von nicht einem Kunden besucht war, und spüren, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

„Ich mache dich mit einem netten Typen bekannt. Was meinst du? Wir beide, heute Abend, am Strand? Ich habe gehört, DJ Hightower soll auflegen.“

Kate wagte nicht zu fragen, wer das war.

„Der hat gerade ein neues Album herausgebracht“, plapperte Olivia weiter, während sie ihrer sich im Dauereinsatz befindenden Tastatur offenbar eine Pause gönnte. „Nicht immer mein Musikstil, aber er ist süß.“

„Weil du ihn interviewt hast, weißt du das natürlich.“ Kate schmunzelte.

„Bingo.“

„Ich wünschte, ich könnte das auch“, gab sie mit einem kurzen, sie durchflutenden Hauch von Eifersucht zu.

„Was?“, wollte Olivia wissen.

„Flirten. So zwanglos. Wie du.“

„Ich weiß gar nicht, was du immer für Hemmungen hast, Süße. Ich meine, hey, sieh dich doch mal an. Allein wenn du mich aus deinen großen, braunen Augen anschaust, und dabei ein wenig melancholisch lächelst, denke ich mir immer: Scheiße man, wenn ich auf Frauen stehen würde, wäre Kate voll mein Typ.“

„Olivia!“

„Was denn? Ist die Wahrheit. Wenn du nur ein wenig mehr aus dir machen würdest, hättest du garantiert an jedem Finger einen Kerl, der mit dir ausgehen will. Wenn nicht sogar mehr. Ich meine, wow, dein Hintern, in einem bis zu den Knien reichenden Rock, dazu eine eng anliegende Bluse oder ein Shirt und die Kerle wissen nicht mehr, wohin mit ihren Blicken.“

„Olivia!“

„Was denn?“, wiederholte Olivia gespielt genervt, während sie wieder anfing, auf ihre Tastatur einzuhämmern. „Du bist eine kleine, sexy Maus, und zeigst es nicht. Wieso nicht? Du musst doch wissen, was für einen hübschen Arsch du in einer Jeans hast!“

„Ich bin nicht so.“

„Wieso nicht?“

„Keine Ahnung.“ Kate zuckte mit den Schultern. „Brian260381 fand mich offenbar nicht ansprechend, sonst wäre er zu dem Date erschienen.“

„Der hat nur Reißaus genommen, weil du das Wort ansprechend benutzt hast“, neckte Olivia ihre Freundin und traf Kate damit unbeabsichtigt mitten ins Herz.

Sie spürte, dass Unzufriedenheit einen immer größer werdenden Platz in ihr einzunehmen begann.

Ein sie verfolgender, immer wieder einholender Gedanke daran, dass mit ihr etwas nicht stimmte. So war es in der Highschool gewesen, später auf dem College und auch beim kurz angesetzten Studium, als sie ihren Bachelor of Science in Education erwerben wollte.

Sie hatte immer das Gefühl, nicht zu reichen.

Warum auch immer.

„Mäuschen“, riss Olivia Kate aus ihren Gedanken.

„Ja?“

„Der Typ war ein Arsch. Ehrlich. Er weiß nicht, was ihm für eine tolle Frau durch die Lappen gegangen ist. Ich kenne niemanden, der eine Portion Pasta so schnell verputzt wie du. Den Rekord aus der Tonhalle hältst du doch noch, oder?“

„Das ist mir peinlich.“ Kate kicherte. Sie lächelte erleichtert, weil ihre beste Freundin immer wusste, wie es ihr ging.

„Wer so viel essen kann, muss es ertragen können, dass er darauf angesprochen wird“, meinte Olivia, mit einer Heiterkeit in der Stimme, die Kate ausgesprochen guttat. „Aber mal im Ernst, Süße, lass dich von solchen Typen nicht immer runterziehen. Du lernst noch den Richtigen kennen. Beim Kurs für kreatives Schreiben vielleicht, oder ist …“

„Äh …“

„Sag bloß nicht …“

„Es lag mir irgendwie nicht“, erwiderte Kate ausweichend und war erleichtert, dass in dem alten Bücherladen das Telefon so antiquiert war, dass sie den Finger um das Kabel wickeln konnte.

„Du warst doch so begeistert davon, als du angefangen hast.“

„War ich auch …“

„Aber?“

„Nun, weißt du, also …“

„Lass mich den Satz für dich beenden, ja?“ Olivia räusperte sich, suchte nach den richtigen Worten und redete dann mit verstellt quietschig klingender Stimme, bevor Kate ein Wort des Protests hervorbringen konnte. „… der Dozent hat viel zu viel geredet und Dinge gesagt, die ich mit kreativem Schreiben nicht in Verbindung bringen konnte. Weißt du, ich hatte mir da echt was anderes drunter vorgestellt.“ Olivia veränderte ihre Stimme wieder. „So oder so ähnlich war es, oder?“

Kate schwieg.

„Habe ich also den Nagel auf den Kopf getroffen – mal wieder“, lobte sich Olivia. „Du musst endlich wissen, wohin deine Reise gehen soll. Mäuschen, du wirst in drei Monaten fünfundzwanzig.“

„Danke für die Erinnerung.“

„Gern geschehen. Ist mir immer wieder ein Vergnügen“, erwiderte Olivia, die ebenso schnell das Thema wechseln konnte, wie ihre Finger über die Tastatur flogen. „Die Party heute Abend geht dann klar?“

„Weißt du …“

„Ein Nein wird nicht akzeptiert.“

„Also …“

„Du kommst. Das freut mich“, überfuhr Olivia ihre Freundin und meinte außerdem: „Du ziehst was Enges an. Keine Widerrede. Ich habe dich letztens erst in kurzer Hose und Top gesehen. Du hast viel zu zeigen und die Herren der Schöpfung sollen glauben, sie trifft der Schlag, wenn sie dich sehen. Ich bin um sieben am Bücherladen. Er schließt doch um sieben Uhr abends, oder?“

„Jepp“, bestätigte Kate.

„Cool. Dann bin ich da.“

„Aber …“

„Abers sind scheiße“, konterte Olivia.

„In diesem Fall dennoch wichtig.“

„Und warum?“

„Weil ich hier nichts Enges anzuziehen habe, das den Herren der Schöpfung die Augen aus dem Kopf springen lässt.“

Olivia seufzte und klang übertrieben verzweifelt, als sie murmelte: „Was für ein Glück, dass du mich hast. Ich kenne deine Größe, ich kenne deine Vorlieben – nein, ich kaufe dir bestimmt nichts Langweiliges – und ich weiß, in was du heiß aussehen wirst. Ein Badezimmer gibt es in dem verstaubten Schuppen, in dem du deine Zeit verschwendest doch, nehme ich an?“

„Klein, aber es ist vorhanden.“

„Also eine einfache Toilette mit Spiegel an der Wand?“

„Richtig.“

Olivia klang hoffnungslos. „Mit dir habe ich einen Fang gemacht. Gut, ich haue hier in der Redaktion so gegen achtzehn Uhr ab. Halte dich bereit, ja? Ich will keine Zeit verlieren. Brian260381 soll begreifen, was für eine Chance ihm entgangen ist, als er dich sitzen gelassen hat. So ein Idiot. Dem werde ich es zeigen.“

 

***

Kiel, Schleswig-Holstein, Deutschland, vor einem Jahr:

„Wir müssen doch irgendetwas machen können!“

„Und was?“

Viktor wusste es selbst nicht. Während er die Stimme seines Bruders Christian im Ohr hatte, fühlte er sich ebenso hilflos wie verloren. Er hatte gewusst, dass es, um den in einer Seitenstraße liegenden Blumenladen seines Vaters, nicht gut stand, und dass sie unentwegt ums Überleben kämpften. Aber jetzt, wo er den Kummer, ach was, die Angst aus den Worten seines Bruders hörte, kam es ihm so vor, als habe man ihm mit der Faust in den Magen geschlagen.

Seine bisherigen Ideen, die er vorgebracht hatte, waren von seinem Vater und auch von Christian immer wieder abgeblockt und mit missbilligenden Blicken abgelehnt worden.

„Ich hatte …“

„Wir können es uns nicht leisten, Blumen zu verschenken oder …“

„Es geht doch nicht um verschenken, sondern um einen Internetversand.“

„Auch das Geld haben wir nicht. Weder für die Homepage noch für die erforderlichen Neuanschaffungen, um einen Versand der frischen Blumen zu gewährleisten. Viktor, wir stehen mit dem Rücken zur Wand.“

Viktor konnte nichts darauf erwidern. Er schwieg, presste sich das Telefon ans Ohr und nahm den, von einer der Auszubildenden gereichten Ordner mit einem gemurmelten „Danke“, entgegen.

„Du bist nicht kreditwürdig?“, hörte Viktor seinen Bruder fragen und bekam Magenschmerzen. Bevor er stammelnd eine Antwort herausbringen konnte, wiegelte Christian ab: „Ich habe dich nicht gefragt. Vergiss es.“

Viktor lächelte schief und sagte: „Alter …“

„Ich weiß, war eine dumme Frage.“ Christian seufzte. „Aber seit der Wirtschaftsprüfer im Haus ist, der auch bezahlt werden will, geht mir der Arsch auf Grundeis. Ich weiß, dass er uns sagen wird, dass wir schließen müssen. Scheiße Mann, ich habe doch nichts anderes. Wenn du jetzt sagst …“, fiel Christian ihm ins Wort, „… dass ich ja wie du etwas anderes als Florist hätte lernen sollen, komme ich durchs Telefon und verprügele dich.“

Viktor musste lachen, obwohl ihm nicht danach zumute war.

„Du wolltest es sagen.“

„Anmerken“, verbesserte er seinen Bruder und fügte hinzu: „Mir liegt der Laden genauso am Herzen wie dir, das weißt du. Papa und Mama haben uns zwischen Blumen und Gartenkräutern aufwachsen lassen. Ich will auch nicht, dass der Laden schließen muss.“

„Wäre Mama noch hier …“, murmelte Christian und versetzte Viktor einen Stich mitten ins Herz.

„Ja, ich weiß.“

„… dann wäre alles besser. So viel besser.“

Viktor mochte es nicht, traurig zu sein. Er wollte sich nicht den erdrückenden, sein Herz schwer werden lassenden Gedanken an seine, vorletztes Jahr verstorbene, Mutter hingeben. Er wehrte sich gegen die in ihm aufsteigenden Bilder, an das Krankenhaus, seine im Krankenbett liegende, ausgezehrte Mama. Daran, wie sie mit den Ärzten gesprochen hatten, und diese ihnen mit betont betroffen klingender Stimme sagten, dass weder eine Operation noch eine Chemotherapie das Leben seiner Mutter verlängern, geschweige denn retten könnte.

Der an ihrem Pankreaskopf wuchernde Tumor hatte eine solche Größe erreicht, dass seiner Mutter keine Chance mehr geblieben war.

„Sie hat den Laden zusammengehalten.“

„Und wie.“

„An Jazmin will ich gar nicht denken. Wie soll ich ihr das bloß beibringen?“

Viktor klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr, begann die ihm gereichten Unterlagen zu studieren und spürte dabei den unangenehmen, heißen Stich von Traurigkeit in seinem Herzen.

Ihm kam seine Arbeit plötzlich albern, klein und unbedeutend vor. Was hatte er davon, dass er Ladung und Löschung kontrollierte, dass er die in Kiel einfahrenden Schiffe checkte und deren Fracht auf Korrektheit prüfte?

Es bringt mir ein sicheres Gehalt, versuchte er sich Mut zu machen, um dann zu merken, wie ihm ein weiterer, ihn schüttelnder Gedanke kam. Mehr nicht. Es hat dich aus der Familie herausgeschoben.

Du bist schon lange nicht mehr innig mit ihnen, nicht mehr so dicht an allen dran. Weder an Christian oder an Dad, geschweige denn an Jazmin. Sie hast du beinahe vollkommen aus den Augen verloren.

Bei dem Gedanken an seine dunkelhaarige, liebevolle aber auch zum Aufbrausen neigende Schwester, wurde ihm schwer ums Herz. Sie hatte unter dem Tod ihrer Mutter am meisten gelitten. Es hatte sie in eine Depression getrieben, die bis heute weder geheilt noch ausgestanden war.

Dabei hatte sie von uns Dreien am stabilsten gewirkt, dachte er und musste sich eingestehen, dass das nicht der Fall gewesen war – im Nachhinein betrachtet.

Ja, sie hatte immer versucht, Zuversicht zu versprühen. Hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihrer Mutter das schwindende Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Nur um dann dabei zusehen zu müssen, wie ihre Mama immer magerer, schwächer und ausgezehrter wurde.

Viktor schüttelte den Kopf, als er die Ladungsnummern überflog, die ihm auf seinem Computer angezeigt wurden. „Sag es Jazmin nicht“, meinte er zögerlich, als hätte er Angst vor seinen eigenen Worten. Nur um dann hinterherzuschieben: „Noch nicht.“

Christian seufzte. „Ich werde noch wahnsinnig. Keine Ahnung wie es weitergehen soll. Verdammte Konkurrenz“, fügte er fluchend hinterher.

„Ich mache mir Gedanken, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauskommen.“

„Das ist lieb von dir“, sagte Christian, um dann beklommen und heiser zu fragen: „Einen Kredit für uns kannst du wirklich nicht aufnehmen, wenn hier alles den Bach runtergeht, oder?“

***

Beaufort, South Carolina, USA, jetzt:

Kate beneidete Olivia für ihr lockeres, unbekümmertes und freches Auftreten. Damals, als sie sich in der Schule kennengelernt hatten, war Olivia vollkommen anders als die anderen gewesen. Egal, ob es darum ging, wie man sich kleidete, wie man sich benahm, oder was man las oder hörte. Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie die meisten ihrer Mitschüler als albern, aufgeblasen und wichtigtuerisch empfand. Sie war sich, was für Kate bis heute unbegreiflich war, immer treu geblieben.

Während sie mit Selbstzweifeln kämpfte und in einem Gespräch den angefangenen Satz unterbrach, hektisch darüber nachdachte, wie er besser klingen könnte, schien es Olivia egal zu sein, was sie wie sagte.

Sie redete einfach drauf los.

Hatte sie das nicht auch einmal gekonnt?

Vor langer Zeit, überlegte sie.

In einem anderen Leben, wie sie jetzt dachte, während um sie herum die beatlastige Musik aus den, neben dem DJ-Pult aufgestellten, Boxen ballerte und ihr unangenehm dröhnend in den Ohren nachebbte.

Als ich dachte, ich würde es zu irgendetwas bringen … so wie meine Schwester.

Der ihr plötzlich durch den Magen krampfende Schmerz überraschte sie.

Noch nie hatte sie etwas gegen Paris gehabt. Ganz im Gegenteil. Sie hatte die hochgewachsene, sportliche und seit einigen Wochen erfolgreich ihren eigenen Friseursalon betreibende Schwester immer bewundert.

Doch jetzt, wo sie sich in dem hautengen Shirt in der wild zu der Musik tanzenden Menge befand, hatte sie das überraschende Gefühl, irgendwann in ihrem Leben die falsche Abzweigung genommen zu haben.

Als wäre sie durch einen im Nebel liegenden Wald gelaufen, ohne zu merken, dass sie einen Pfad einschlug, der von dichten, kaum zu durchdringenden Spinnenweben überzogen war.

Sie schluckte schwer und schaute irritiert zu der, zwei Bacardi-Cola-Gläser durch die tanzende Menge balancierenden, Olivia, die gegen den Krach anschrie: „Wir können gleich hinter die Bühne gehen.“

„Wir sollen blühen gehen?“, fragte Kate verwirrt, die das Bumbumbum des Basses nicht nur im Magen, sondern im ganzen Körper vibrieren spürte.

„Ja, das auch.“ Olivia nickte. „Aber Hightower will mir noch einen kurzen Reel einsprechen, für meine Instagram-Wall.“

Was?“

„Du sollst trinken!“

„Ich verstehe kein Wort.“

„Prima. Machen wir so!“

Olivia prostete der verwirrt lächelnden Kate zu, nippte an ihrem Bacardi und nickte anerkennend. Als Kate einen Schluck nahm, die Augen aufriss und einen Hustenreiz unterdrücke, stupste Olivia sie an und deutete mit einem Nicken in die im Blitzlichtgewitter gespenstisch anzusehende tanzende Menge. „Schau mal.“

„Was denn?“

Kate blinzelte, hielt die Luft an und versuchte, zu verstehen, was Olivia von ihr wollte. Diese deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger ihrer linken Hand durch die tanzende, schwitzende und wie hypnotisiert wirkende Masse zu einem, für Kate nicht ersichtlichen Punkt.

„Komm!“ Olivia zerrte ihre Freundin hinter sich her. Kate kam nicht dazu, zu protestieren.

Erst als sie sich aus Olivias Griff befreite und sie auf dem aufgeworfenen und unebenen Sand sicheren Halt gefunden hatte, huschte sie ihrer Freundin hinterher. Sie drängte sich an nassgeschwitzten Leibern vorbei und ekelte sich davor, als ein vor ihr tanzender Mann seine behaarten Achseln präsentierte und ein zum Dröhnen des Bumbumbum passendes „Yeahhhhh“ ausstieß und sie zu berühren drohte.

Sie schob sich hastig weiter. Angetrieben von ihrem Ekel, da sie nasse, schweißige Haut auf ihrer kaum ertragen konnte. Obwohl sie es liebte, ins Schwitzen zu kommen, und nichts erfrischender fand, als nach dem Sport ausgepowert in sich zusammenzusinken, war es ihr ein Graus, den Schweiß anderer abzubekommen.

Auch nicht den von meinen Freunden, dachte sie, als sie sah, wie sich eine blondierte Frau mit den Händen Luft zufächelte.

Während sie den verwirrenden Gedanken hinterher hing, kam es ihr so vor, als habe sie für einen kurzen Augenblick Olivia aus den Augen verloren.

Erschrocken blieb Kate stehen.

Sie ließ ihren Blick über die Masse schweifen, die, während die Blitzlichter einsetzten, um den neu aus den Boxen ballernden Song effektvoll zu untermalen, aussahen, als wären sie abgehackte, fremde Schatten einer ihr unbekannten Welt. Gesichter tauchten aus dem Dunkel des Abendlichts auf, verwandelten sich zu Bildnissen loser, zusammenhängender Fotografien und ließen Kate schwindelig werden.

Erst als sie die Augen zusammenkniff und sich vor ihr ein hüftbreiter Korridor öffnete, der geradewegs auf das Ende der Tanzfläche zuzuführen schien, entdeckte sie Olivia wieder. Die sich, die Arme vom Körper abgespreizt, den Kopf in den Nacken gelegt, freudig im Kreis drehte.

„Wie bist du da so schnell herausgekommen?“, wollte Kate wissen. Sie erreichte Olivia und nippte an ihrem Longdrink. Verwundert stellte sie fest, dass der Lärm der Musik hier kaum zu hören war. Es gab nur das Rauschen des Meeres und das stetige Pfeifen des Windes.

„Ich dachte schon, du lässt mich allein zurück.“

„Ich bin einfach gegangen“, sagte Olivia schulterzuckend und deutete zum Strand hinunter, zu einer Felsformation, die aus dem Wasser ragte und umspült wurde von weißer Gischt werfenden Wellen. „Komm mit.“

„Was …“

„Komm einfach mit“, rief Olivia, „ohne immer alles infrage zu stellen.“

„Das mache ich doch gar nicht.“

„Doch, das machst du, und zwar unentwegt. Oh Mann, jetzt höre ich mich schon an wie du. Ich verbringe eindeutig zu viel Zeit mit dir. Ah, hi.“

Kate blieb abrupt stehen.

Sie hatte damit gerechnet, dass Olivia sie nicht aus Jux und Tollerei hierher an den Strand gelotst hatte. Aber sich jetzt hier zu befinden und zu sehen, wie ein hochgewachsener, braunhaariger Mann bis zu den Knöcheln im Wasser stand, irritierte sie. Was zu einer Steigerung ihrer Verwirrung beitrug, war, dass Olivia zu dem Mann ging und zwei seiner Begleiter mit einem weiteren, locker klingenden: „Hey“, und „Na, wie geht es dir?“, begrüßte.

„Das hier ist Steve. Solo Baby“, meinte sie, während sie auf den braunhaarigen Mann zeigte, und setzte damit in Kate eine Faszination frei. Nur um dann zu merken, dass er zwar gut aussah, aber etwas Künstliches an sich hatte; etwas Aufgesetztes.

„Äh.“

„Aus meiner Redaktion. Er ist Fotograf und hat für mich die letzte Titelstory bebildert. Die, über die Beschmutzung des Kriegerdenkmals. Du weißt schon, die aus dem Bürgerkrieg. Steve macht viele historische Fotostrecken, damals und heute. Der hat es echt drauf. Haben uns köstlich amüsiert, als wir nach zwei kritischen Fragen an den Bürgermeister wegen der Denkmalpflege auf ein luxuriöses Abendessen und einen netten Abend an der Bar eingeladen wurden.“

„War der Hammer“, meinte Steve, in dessen Kinn sich ein Grübchen bildete, das selbst von seinem Dreitagebart nicht verborgen werden konnte. „Hat Spaß gemacht. Du bist Kate?“, wollte er wissen, während seine beiden Begleiter über irgendetwas lachten, was sie sich auf einem Handy anschauten. „Freut mich, dich kennenzulernen.“

„Äh …“

„Sie ist schüchtern“, erklärte Olivia, die einen großen Schluck aus ihrem Glas nahm, und ein „Ahhh“, ausstieß, als sie sich dem im untergehenden Sonnenlicht daliegenden Meer zuwandte. „Einfach zu schön hier.“

„Olivia.“ Kate wusste, dass sich die in ihr aufsteigende Panik wie ein Bild von Munch auf ihrem Gesicht abzeichnete.

„Ja?“

„Auf ein Wort.“

„Geht nicht.“

„Hä?“

„Starre aufs Wasser und liebe es. Hach, Steve könnte den Moment mit seiner Kamera bestimmt wunderbar malerisch einfangen. Vielleicht macht er ja auch ein Bild von dir, wie du dich am Strand rekelst, was meinst du?“

„Ich meine, nicht verkuppelt werden zu wollen.“

„Das wirst du nicht“, versicherte Steve ihr, der ihr so nahegekommen war, dass sie nicht den salzigen, algigen Geruch des Meers in der Nase trug, sondern sein nach einer im Sonnenlicht daliegenden Wiese riechendes Aftershave. „Ich habe keine Lust auf eine Beziehung. Ich will nur ein bisschen Spaß, du auch?“

Kate grinste fassungslos.

„Lass uns spazieren gehen, bevor das Interview beginnt. Lernen wir uns doch kennen.“

„Olivia!“, flehte sie.

„Ich bin immer noch beschäftigt“, flüsterte ihre beste Freundin, und sog genießerisch die Luft ein und schenkte ihr ein freches Grinsen.

***

Kiel, Schleswig-Holstein, Deutschland, vor einem Jahr:

Viktor fühlte sich getrieben.

Als er von dem Ergebnis der Betriebsprüfung gehört hatte und er nun wusste, wie viele Schulden der Blumenladen seines Vaters wirklich angehäuft hatte, war ihm schlecht geworden. Obwohl er noch am Abend in einer Konferenz gesessen hatte und mit seinem Vorgesetzten über diese und jene Abläufe innerhalb des Betriebes gesprochen hatte, war er nicht bei der Sache gewesen.

Immer wieder waren seine Gedanken zu den bestürzt klingenden Worten seines Bruders zurückgewandert; zu jenen wie erstickt klingenden schrillen Lauten, die ihm jetzt noch, als er bei Jazmin saß, eine Gänsehaut über den Rücken jagten.

Obwohl er mit keinen schlechten Nachrichten zu seiner Schwester hatte kommen wollen, hatte sie ihm angesehen, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte ihn mit ihren tiefen, braunen Augen, den wie in ihm in einem Buch lesenden Blicken bedacht, die ihn auf schmerzliche Weise an seine Mutter erinnerten.

Er lächelte schief, deutete auf die auf ihren Knien liegende Zeitschrift und fragte: „Wieder Historie?“

Sie nickte.

„Natürlich.“

„Cool.“

Viktor kam sich albern vor, weil er kein Gespräch mit seiner Schwester in Gang setzen konnte. Dass da etwas war, das ihn hemmte locker mit ihr zu kommunizieren.

Auch wenn sie beide mehr als sechs Jahre trennten und sie das Nesthäkchen der Familie war, hatte er sich ihr stets nahe und verbunden gefühlt. Sie hatte immer eine Leichtigkeit besessen, die ihn faszinierte und die ihn unwillkürlich ansteckte, und dazu trieb, Dinge zu analysieren, über die er sonst gedanklich niemals gestolpert wäre.

Aber jetzt, wo er wusste, dass das Familienunternehmen kurz vor der Pleite stand, sein Vater vor Kummer nicht in den Schlaf fand und Christian ernsthaft fragte, ob Viktor einen Kredit für den Laden aufnehmen konnte, kam es ihm so vor, als habe sich eine Mauer zwischen ihm und seiner Schwester errichtet. Diese, von dem Kummer des Verlustes gezeichnet, von einem schattenhaften Grau auf dem Gesicht heimgesucht, legte den Kopf schief.

„Es ist ein Artikel über die Nazis in Hamburg.“

„Interessant“, murmelte er und holte tief Luft. „Etwas Neues, was du lernst, oder nur eine Vertiefung deines bisherigen Wissens?“

„Es geht um Häuser und die Art, wie die Männer der Waffen-SS gelebt haben. Wie sie Friede, Freude, Eierkuchen für ihre Kinder zelebrierten, während andere Menschen ihretwegen in Not und Elend gelebt haben.“

„Umgebracht wurden, meinst du.“

„Auch, ja“, sagte Jazmin, in deren dunklen Augen ein Viktor erfreuender Glanz trat. Ein Schimmern, der den dumpfen Glimmer der durch ihren Kopf tobenden Depression für einen klitzekleinen, erleichternden Augenblick vertrieb.

„Über Uromas Schwester steht nichts drin, oder?“, wollte Viktor beiläufig wissen, während er innerlich um die richtigen Worte kämpfte, wie er mit Jazmin sprechen konnte … wie er sie davon überzeugen, ach was, zwingen konnte, wieder im Laden ihres Vaters anzufangen. Weil sie das Zünglein an der Waage war, die die Last verringern würde, Personalkosten stemmen zu müssen.

„Nicht direkt.“

Viktor schaute auf.

Jazmin lächelte, bevor sie die Zeitschrift umschlug, knickte, und ihrem Bruder die Fotografie eines alten Hauses zeigte, dessen zur Haustür führende Wege mit einer erschreckenden Geradlinigkeit angelegt worden waren. Deren Beete in solch akkurater, aufeinander abgestimmter Genauigkeit lagen, dass es einem nicht ordnungsliebenden Menschen Magenschmerzen bereitete.

Viktor zuckte mit den Schultern. „Was ist das? Ein Herrenhaus?“

Jazmin sagte: „Wenn mich nicht alles täuscht, ist dies das Haus, in dem Uromas Schwester einst gearbeitet hat und versucht hat, dem langen Arm der Vernichtung zu entgehen.“

***

Beaufort, South Carolina, USA, heute:

Die Leichtigkeit war wieder da.

Plötzlich, von einem Moment zum anderen, gesellte sie sich zu ihr. Ob es an dem Kate langsam in den Kopf steigenden Bacardi lag, oder daran, dass Steve es ausgezeichnet verstand, sie zu unterhalten und – ja, sie genoss es – zu umgarnen, wusste sie nicht. Was sie aber wusste, war, dass es ihr zu gefallen begann, zusammen mit Steve am Strand entlangzuspazieren. Sie mochte es, sich anzuhören, wie er sich Perspektiven aussuchte, Lichtverhältnisse studierte, und sein zu fotografierendes Objekt platzierte, damit das in seinem Kopf entstandene Bild Wirklichkeit werden konnte.

Was ihr gefiel, und das ließ in ihr ein kurzes Gefühl der Zuversicht aufsteigen, war die sanfte Berührung Steves an ihrer Hand, als er meinte: „Komm, ich will dir was zeigen.“

Er hatte sie nur kurz am Handrücken berührt, und hatte damit bei ihr etwas in Gang gesetzt, das ihr wie ein Elektroschlag unter die Haut gegangen war. Verwirrt von der Tatsache, dass sich ein wohliges Kribbeln in ihrem Magen ausbreitete, hatte sie gesehen, was er ihr zeigen wollte. Keinen kitschig wirkenden, zu Verführungszwecken dienenden langweiligen Sonnenuntergang. Nein, es war ein kaum wahrnehmbares, leises Pfeifen, das von der Felsformation zu kommen schien, an der sie sich vorhin getroffen hatten. Er lächelte sie an – was ihr einen weiteren kribbelnden Moment von weiblicher Vorfreude auf eine womöglich schöne Nacht bescherte – und erklärte: „Der kleine, singende Freund spielt jeden Abend ein anderes Lied.“

„Kleiner, singender Freund?“

„Ich habe mir die Freiheit genommen, den Felsen hier so zu nennen“, erklärte er und watete, bis zu den Waden ins lauwarme Wasser, das Kates Füße umspülte. Als ihm das Wasser bis zu den Knien reichte und die Feuchtigkeit bis zu den Oberschenkeln seine Jeans durchnässte, blieb er stehen, winkte sie zu sich heran und deutete auf ein zerklüftetes, faustgroßes Loch. „Heute spielt er nur für dich.“

„Für mich?“, fragte sie skeptisch.

„Hör hin.“

Sie tat es und war überrascht.

Als sie den immer wieder über ihr Gesicht streichenden Wind spürte und sie das Rauschen des Wassers vernahm, war da ein plötzliches, leises Pfeifen in der Luft. Es war zaghaft, so, als wäre die aufklingende Stimme schüchtern. Nur um dann lauter zu werden, angenehmer, einem Zwitschern gleich, das durch den beginnenden Morgen durch friedliche Stille ebbte.

„Schön“, murmelte sie, schloss die Augen und genoss es, was sie hörte.

„Nachdem ich den Mädchen das gezeigt und ihnen gesagt habe, dass der Wind heute ihre Schönheit besingt, haben sie alle mit mir geschlafen.“

Kate, die Steve gegen die Schulter stieß, rief: „Wie billig ist denn das?“, und musste lachen, als er ihr mit spielerisch hochgezogenen Augenbrauen und kussförmigem Mund signalisierte, dass er sie leiden konnte. Sie lachte, watete aus dem Wasser, setzte sich an den Strand und zeigte der auf sie zukommenden Olivia spaßeshalber den Mittelfinger.

„Hau bloß ab.“ Sie schmunzelte, als ihre Freundin, die Arme unter der Brust verschränkt, den Blick verklärt, auf sie zukam. „Mit dir rede ich heute kein Wort mehr.“

„Musst du auch nicht“, sagte diese entspannt. „Es reicht, wenn du mir Steve überlässt.“

Dieser schaute auf die Armbanduhr und fragte: „Jetzt schon?“

„Ich sage es nur ungern, aber ja.“

„Wie schade“, erwiderte er, als er den Kopf drehte, und die im Sand sitzende, ebenfalls hinaus aufs Meer schauende Kate betrachtete. „Ich wäre gerne hiergeblieben.“

„Überrede das launische Miststück doch, uns zu begleiten. Was eigentlich albern ist.“ Olivia erhob heiter die Stimme: „Denn vorhin auf der Tanzfläche hat sie schon zugestimmt.“

„Mit dir rede ich nicht.“

„Steve“, forderte sie ihn auf. „Kommst du bitte?“

Dieser schüttelte grinsend den Kopf. „Ein wenig doof seid ihr beide schon.“

„Sie ist doof. Ich bin niedlich“, meinte Olivia. „Und wenn du das Gegenteil behauptest, buche ich dich niemals wieder als Fotografen.“

„Mensch, was bist du für ein niedliches, freundliches und überhaupt nicht zum Machtmissbrauch neigendes Mädchen. Himmel, sowas wollte ich schon immer mal kennenlernen.“

„Braver Wauwau.“

„Wuff“, machte Steve, und streckte Kate die Hand entgegen, damit diese sie ergreifen konnte.

Kate blieb sitzen, schmunzelte und meinte: „Hätte nie gedacht, dass du so leicht zu manipulieren bist.“

„Arbeit zahlt die Miete.“ Steve seufzte. „Und die muss ich leider Monat für Monat aufbringen, damit dieser sonnengebräunte, muskulöse und den Frauen ausgesprochen gut gefallende Körper ein wenig Erholung findet nach anstrengenden Befehlsempfängen wie diesen.“

„Oh“, machte Kate und verzog spöttisch das Gesicht. „Mit Worten kann er auch noch.“

„Aber nur, wenn sie sich um mich drehen“, versicherte er mit erhobenem Zeigefinger. „Also? Kommst du mit?“

„Sag der da, dass ich gewillt bin, darüber nachzudenken …“

„Ah …“

„… wenn sie mir verspricht …“

„Natürlich gibt es einen Haken.“

„… mich niemals wieder verkuppeln zu wollen, ohne mich vorher zu warnen. Machst du das für mich?“

„Äh … klar.“

„Bellst du auch für mich?“

„Wuff!“

Kate lachte und erhob sich widerstrebend von ihrem Platz, der sie geradewegs hinaus auf das Meer schauen ließ. Dorthin, wo sich die Wellen nach und nach auftürmten. Sie genoss das ihr an die Ohren dringende Rauschen. Sie lächelte, als sie das auslaufende Wasser dabei beobachtete, wie es dicht vor ihren Zehenspitzen kurzweilig zum Stehen kam und dann, ebenso majestätisch wieder zurückfloss.

Sie wollte hierbleiben, die vergehenden Sonnenstrahlen dabei betrachten, wie sie über einzelne Wellenkämme sprangen. Sich nur entspannt fühlen. Doch in diesem Moment begann es, in ihrer Rockseitentasche zu vibrieren. Während sie ihr Handy hervorholte, hörte sie, wie Steve ansetzte zu sagen: „Kate lässt dir ausrichten …“, um dann nichts mehr zu hören.

Es war ihre Mutter, die anrief.

Verwundert darüber, dass sie sich meldete und dass an einem Wochentag, bemerkte Kate einen ziehenden Schmerz in ihrem Magen. Sie hörte sich wie aus weiter Ferne sagen: „Ja?“

„Schatz“, begrüßte sie ihre Mutter mit solch weicher, melodischer Stimme, dass Kates Magenschmerzen zu Krämpfen wurden.

„Was ist los, Mom?“

Kate wurde blass.

Sie starrte entsetzt ins Nichts und hörte Olivia dumpf fragen: „Was ist los, Süße?“, und war sich dann nicht mehr sicher, überhaupt irgendetwas gehört oder gesehen zu haben.

***

Husum, Schleswig-Holstein, Deutschland, damals:

Viktor mochte seine Oma. Sehr sogar. Er liebte es, durch den feinsäuberlich angelegten Garten über die Gehwegplatten zu laufen, von der die eine in der Mitte des Weges unter seinen Schritten nachgab. Dazu kam der ihm immer in die Nase steigende, seinen Hunger – um nicht Gier sagen zu müssen – anheizende Duft nach dem von Oma Gerda frisch gebackenen Erdbeerkuchen.

Während sein älterer Bruder Christian, würdevoll, sein He-Man Schwert mit sich tragend, auf den Eingang zuging, in dem Oma stand und wartete, lief Viktor, so schnell er konnte. Er rannte und kam sich dabei vor, wie Speedy Gonzales, die schnellste Maus aus Mexiko. Er stieß das für die Cartoon-Maus typische: „Arriba, andale! Andale!“, aus und stürmte an seinem Bruder vorbei.

Das von seiner Mutter ausgestoßene „Schatz, nicht immer so schnell“ ignorierte er beflissen, genauso wie er das Quengeln von Jazmin ausblendete, die auf der Fahrt von Kiel hierher, eingeschlafen war.

Was ihn bei seiner Oma immer störte und erschreckte, um ehrlich zu sein, war die nicht angekündigte Gegenwart seiner Urgroßmutter. Jener schmalen, fast schon dürren Frau, deren faltiges, verhärmtes Gesicht nie zu lächeln schien. In dem er nur selten eine Spur Freude, geschweige denn Zufriedenheit sehen konnte. Immer wenn er sie sah, wenn er sie begrüßte, und sie ihm einen Kuss auf die Wange presste – weil man das eben so machte – hatte das etwas Hartes, Unnachgiebiges an sich.

Und war ihm gerade eben noch vor Freude ein Schrei entwichen, und hatte er dem puren Verlangen nach Erdbeerkuchen nachgegeben, so erloschen jetzt all diese Gefühle in ihm. Da war eine schier endlose Leere in ihm, die ihm zuflüsterte, ach was, zuraunte, dass sie sich wieder über nichts anderes, als die Vergangenheit unterhalten würden. Über das, was damals geschehen war, als die Familie aufgrund von Hunger und Krieg aus Hamburg geflohen war. Hinaus ins ländliche Schleswig-Holstein, zu den Stränden und den abgelegenen Bauernhöfen in Friesland, wo man hoffte, dem Terror und der Angst entkommen zu können.

Viktor, der vor seiner Oma stehen blieb und an ihr vorbei zu deren Mutter schaute, brachte ein kurzes, abgehacktes, erstickt klingendes „Hallo“, hervor und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.

„Hallo, mein Schatz“, sagte seine Oma, beugte sich zu ihm hinunter, streichelte ihm über die schwarzen, für seine Familie typischen Haare, und gab ihm ein liebevolles, nach Pfefferminztee und Lippenbalsam riechendes Küsschen. „Bist du wieder wild?“

„Ich bin Speedy“, rief er, machte mit den Füßen hastige, trippelnde Schritte, während er mit den Armen rasende, vor und zurückschnellende Bewegungen vollführte. „Die schnellste Maus aus Mexiko.“

„Das ist ja fantastisch!“

Später, in den Momenten, wenn er allein war, und sich an seine Oma erinnerte; daran, wie gerne er bei ihr gewesen war und seine Zeit mit ihr verbracht hatte, schmunzelte er. Nicht, weil sie ihn in seinem Tun unterstützt und ihm gesagt hatte, wie schön sie es fand, dass er spielte, sondern, weil sie keine Ahnung hatte, wovon er redete.

Und dennoch alles dafür tat, damit ich mich in ihrer Nähe wohlfühlte.

In dem Moment, wo er vor ihr stand, keine acht Jahre alt, fühlte er sich voll und ganz von ihr bestätigt. Er sah keinerlei Grund darin, ihr zu erklären, wen er verkörperte, und warum er sein wollte wie Speedy. Er war es einfach. Er rannte los, brüllte: „Arriba, andale! Andale!“, und flitzte über den feinsäuberlich geschnittenen Rasen, sprang über Blumenbeete und das von Opa angelegte Kürbisfeld.

Erst am Nachmittag, als sie alle gegessen hatten, jeder sich auf Liegestühlen oder der erst vorgestern von Opa frisch gestrichenen Bank niedergelassen hatten, kam es zu den üblichen, langweiligen Gesprächen, die seine Uroma immer in Gang brachte.

Viktor, der sich nicht eine Sekunde für das Gewäsch interessierte und eher seinem Bruder das Plastikschwert wegnehmen wollte, um zu verhindern, dass dieser sich wieder in den Stärksten der Starken verwandelte, bekam nur am Rande mit, worüber die Erwachsenen redeten.

Über ein altes Landhaus, draußen in Kirchwerder – wo immer das auch sein sollte. Darüber, wie Uromas Schwester Carmen dort gearbeitet hatte und dann verschwand. Dass Uromas Familie es in den Wirrungen der Hochzeit der Verfolgung geschafft hatte, aus dem Hamburger Umland zu fliehen.

Dabei zeigte sie wieder diese alten, Viktor nicht eine Sekunde interessierenden Landschaftsaufnahmen herum, deutete auf irgendwelche nie kennengelernte Menschen und redete von ihnen, als würde es sie noch geben. Dabei nahm ihre Stimme einen wehmütigen, schweren Klang an, der ihm auch Jahre später nicht mehr aus den Ohren gehen wollte.

Ein Klang von ernster, ehrlich empfundener Trauer, die ihm als Kind nicht nahe gegangen war; die ihm befremdlich erschien, während er nichts anderes gewollt hatte, als zu spielen, zu rennen und sich mit allem auseinanderzusetzen, nur nicht mit der Vergangenheit.

Dennoch schnappte er einen Fetzen der Unterhaltung auf, als er zu seiner Mutter an den Tisch gelaufen kam; sie ihm eine verschwitzte, schwarze Haarlocke aus der Stirn wischte, und zu ihm sagte: „Nicht so hastig. Du verschluckst dich noch.“

„Durst“, keuchte er und trank gierig den mit Wasser vermengten, frischgepressten Apfelsaft.

„Hier hat sie geschuftet und geackert und ist dann von einem Tag auf den anderen verschwunden“, hörte er seine Uroma sagen, die jetzt ein Bild auf den Tisch legte, das ihm ein Haus mit akkurat angelegten Beeten und einem feinsäuberlich arrangierten Steinweg zeigte.

Dann war er auch schon wieder weg vom Tisch, hinein in den Garten gelaufen, die Worte seiner Uroma im Ohr, die flüsternd voller Gram sagte: „Bis heute weiß ich nicht, was mit ihr und ihrer Familie geschehen ist und wo der Familienschmuck geblieben ist …“

***

Beaufort, South Carolina, USA, heute:

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er tot sein soll“, meinte Kate, als sie auf dem Fußboden des alten Hauses saß, in dem sie als Kind schon gesessen und gespielt hatte. „Ich meine, Great Grandpa war immer da. Egal, was los war.“

„Der Lauf der Zeit“, murmelte ihre Mutter, die Kate eine dunkelbraune Haarsträhne aus der Stirn wischte, sie tröstend anlächelte und obwohl sich ihr Alter angefangen hatte in ihrem Gesicht niederzuschlagen, ausgesprochen hübsch war. Da war kein kümmerlicher Versuch zu sehen, ihr wahres Geburtsjahr zu verheimlichen, geschweige denn zu verbergen. Sie stand dazu, dass sie auf Mitte fünfzig zuging. Ihr war es gleich, dass sich weiße Strähnen in ihrem pechschwarzen Haar abzeichneten und sich Falten um ihren Mund herum bildeten. Sie trug eine moderne, ihr schmales Gesicht betonende, rahmenlose Brille und sah in ihrem T-Shirt jugendlich fit aus. Hinzu kam noch, und das hatte Kate schon immer bei ihrer Mutter geliebt, dieses verschmitzte, liebenswürdige Lächeln in ihrem Mundwinkel, das aussah, als habe sie das erste Mal einen Kuss bekommen. Es war ein immerwährender, freundlicher, zum Blödsinn neigender Glanz in ihren Augen, der mit Leichtigkeit ihr schmal geschnittenes, mit weichen Konturen und hoch angesetzten Wangenknochen versehenes Gesicht zur Geltung brachte.

„Er soll friedlich eingeschlafen sein“, erzählte ihre Mutter, während sie Kate über die Haare strich, sie anlächelte, und ihr ein Gefühl von Geborgenheit schenkte, das sie in ihrer Kindheit, abgöttisch geliebt hatte.

Da waren plötzlich die Erinnerungen an den Samstagmorgen. Während sie in ihrem My little Pony-Pyjama auf leisen Sohlen ins Wohnzimmer schlich, eine Schüssel Cornflakes in der Hand, sich heimlich den Fernseher anmachte, und die Gummibären-Bande, Bravestar und He-Man and the Masters of the Universe guckte.

Ebenso war da das Wissen, dass ihre Mutter kurz nach neun Uhr zu ihr kommen würde, sie ihr eine Haarsträhne aus der Stirn wischte – so wie eben – sich vorbeugte und ihr ein Küsschen auf die Wange gab und flüsterte: „Mach mal den Fernseher aus, Maus. Paris und Dad haben schon den Tisch gedeckt. Wir wollen frühstücken.“

Sie lächelte milde, während sie das schwere, in Leder eingeschlagene Fotoalbum auf den Knien liegen hatte.

Die Wirklichkeit schien plötzlich einen Schritt zur Seite gemacht zu haben.

Da waren nicht nur Erinnerungen und Eindrücke, nicht nur das Wissen, dass ihr Urgroßvater einmal gelebt und sie in den Arm genommen, ihr den Kopf gestreichelt oder ein Küsschen auf die Stirn gegeben hatte. Nein, es war, als konnte sie ihn wieder sehen. Als würde sie grüßend die Hand heben, während er am Eingang seines Hauses stand, schwer auf einen Gehstock gestützt, dass ihm fast ausgefallene, spärliche graue Haar wie eh und je zurückgekämmt.

Sein Geruch ist in meiner Nase, dachte sie, während ihre Hand erneut über den ledernen Einband des Fotoalbums strich. Als wäre er niemals weggewesen.

Ich meine selbst seine Stimme noch zu hören.

„Komm“, riss ihre Mutter Kate aus ihren Gedanken. Sie schaute auf, legte den Kopf schief und erntete das zauberhafteste Lächeln, das sie jemals von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. „Gehen wir nach oben.“

„Von oben nach unten vorarbeiten“, sagte Kate und seufzte, als sie das Album aufschlug. „Das hat Uropa immer gesagt.“

„Hat er.“ Ihre Mutter seufzte ebenfalls, als sie sich in dem geräumigen Wohnzimmer umschaute. Sie strich mit den Fingerspitzen über die schwere, rustikale Kommode. Kate sah, dass ihre Mutter die Bilder seiner beiden Töchter betrachtete, sowie die Fotografien seiner Enkel- und Urenkel.

„Einfach einschlafen“, sagte Kate, die die erste Seite des Albums anschaute, auf der ein adretter Mann zu sehen war, der mit seinen Kniehosen, dem gestärkten Hemd, der Weste und der verwegen auf dem Kopf getragenen Mütze etwas Charmantes und Liebenswertes besaß.

Wenn da nicht immer der harte Zug um seine Lippen gewesen wäre, dachte sie und sah, dass ihre Mutter vor dem Bild ihrer Tante stehengeblieben war, es musterte und mit der Fingerspitze über die Fotografie fuhr.

„Zum Glück muss sie es nicht mehr miterleben, dass Opa gegangen ist“, meinte Kates Mutter. „Es hätte sie zerbrochen.“

„Tante Mary fehlt mir auch, mit ihrer stillen, in sich gekehrten Art. Weiß Oma es schon?“

Kates Mutter zuckte mit den Schultern. „Schon, ja. Aber ob sie es verstanden hat …“

„Irgendwie bestimmt schon.“

„Irgendwie, ja“, sagte sie betrübt und fragte: „Wollen wir?“

„1945 ist dieses Bild gemacht worden. Was für eine lange Zeit von damals bis heute.“ Kate schüttelte den Kopf. „Kann man sich gar nicht vorstellen, oder? Opa ist über hundert geworden. Das hat er sich selbst nicht erträumt, oder? 1922 geboren.“

„Und mit dreiundzwanzig hatte er schon zwei Töchter.“

„Er hatte es eilig.“ Kate schmunzelte.

„Dabei war er immer ein so besonnener und ruhiger Typ.“

„Wenn die Hormone erst mal sprießen.“

„Kate!“ Ihre Mutter lachte glockenhell, sodass Kate merkte, wie erneut Liebe in ihr aufstieg. „So kennt man dich ja gar nicht. Doppelzüngigkeit ist doch Paris Spezialität.“

„Stille Wasser sind tief“, erwiderte sie schmunzelnd, strich erneut über die Fotografie und fand, dass ihr Urgroßvater auf dem Bild, in New York, wo er am Hafen stand und darauf wartete, vorgelassen zu werden, um Papiere und Dokumente bei den Mitarbeitern der Einreiseverwaltung abzugeben, besorgt aussah.

So, als würde er nicht wissen, was als Nächstes passieren würde.

„Lass uns“, riss ihre Mutter sie aus ihren Gedanken. Einen Gedanken, der jetzt erst in ihr in Bewegung zu geraten schien. Der, in diesem Augenblick eine überraschende Wendung in ihr nahm, die sie sich kaum erklären, geschweige denn benennen konnte. Ihr war nur bewusst, dass sie innerlich stutzte, während sie das Bild betrachtete, und sich gedanklich den Satz ihrer Mutter durch den Kopf gehen ließ. „Und mit dreiundzwanzig hatte er schon zwei Töchter.“

Was sie plötzlich daran störte, wusste sie nicht. Sie schaute auf, blickte zu ihrer Mutter und fragte: „Wie alt war Opa, als er der Vater von Tante Mary wurde?“

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern, blinzelte und nahm den Blick von den auf der Kommode stehenden Bildern. „Keine Ahnung. Zwanzig oder so.“

„Mary sieht auf dem Bild hier nicht so aus, als wäre sie drei“, meinte Kate, die eine andere Fotografie betrachtete. Eine Frontalaufnahme ihrer Tante, die in ihrem langen Überrock, der schief auf ihrem Kopf sitzenden Mütze und den abgetragenen, braunen, bis unter die Knie gebundenen Stiefeln ebenso ausgezehrt und müde wie ihr Vater aussah. „Sie ist älter. Bestimmt sieben oder acht.“

„Dann wäre Opa aber sehr früh dran gewesen“, entgegnete ihre Mutter, die sich, wie alle aus der Familie, nie ernsthaft Gedanken über ihre Herkunft gemacht hatte.

Kate erinnerte sich daran, dass sie ab und zu darüber gesprochen hatten, lockere, haltlose Floskeln austauschten, dass in ihren Adern deutsches Blut floss, mehr nicht. Und wenn sie ihren Urgroßvater auf seine Vergangenheit angesprochen hatte, hatte dieser sich stets bedeckt gehalten, ihr die Hand auf den Unterarm gelegt, sie angelächelt und gemeint: „Es ist schon so lange her.“

Mehr nicht.

Jetzt kam es ihr so vor, als lüftete sich das erste Mal in ihr ein mit Mühe geschlossen gehaltener Vorhang. Als gestattete sie es sich, das zu hinterfragen, was ihr als Kind, Jugendliche und Frau schon immer unter den Nägeln gebrannt hatte.

„Du weißt doch, wie er war. Er hatte schon immer seine Pläne und Ideen.“

„Als Jugendlicher Vater werden?“

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. „Mary und Oma sind oder waren nun mal auf der Welt.“

Kate fühlte in sich ein merkwürdiges, nur selten in ihr zum Vorschein kommendes Gefühl der Sturheit aufkommen. Es war nicht typisch für sie, aber in ihrem Innersten sträubte sich etwas, diese Erklärung hinzunehmen.

„Wir haben nie wirklich was über unsere eigene Vergangenheit erfahren“, meinte sie. Kate blätterte weiter in dem alten Fotoalbum. Sie betrachtete die Fotografien. Sie ignorierte, dass ihre Mutter anfangen wollte, sich eine Übersicht von dem zu machen, was sie behalten und was sie wegwerfen konnten.

Das Haus, in dem ihr Großvater die letzten sechzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, in dem er Familienfeiern ausgerichtet, sich an dem Erwachsenwerden seiner Enkel und Urenkel erfreut hatte, kam ihr vertraut und gleichzeitig fremd vor. Als wäre sie mit offenen Augen, aber ohne zu sehen, hier entlanggelaufen.

„Wir wissen, dass wir aus Deutschland stammen, das reicht doch, oder nicht?“

„Findest du?“

Ihre Mutter nickte und gab dann, lachend und beschämt zu: „Ich kann dir nicht mal mit Bestimmtheit sagen, wo Deutschland überhaupt liegt. Zeig mir eine Weltkarte und ich kreise nur mit dem Finger über Europa und werde dann bestimmt noch irgendwo in Afrika landen.“

„Mama.“ Kate lachte, als sie das hörte.

„Kannst du denn genau sagen, wo Deutschland liegt?“

Kate schüttelte den Kopf und spürte die sie gern heimsuchende Unsicherheit. Sie fühlte sich plötzlich schmerzhaft an die Worte ihres Lehrers aus dem Schreibkurs erinnert. Der ihr mit seiner hässlichen, wie ein Vorwurf prangenden, in rot gehaltener Handschrift an den Rand ihrer verfassten Geschichte geschrieben hatte: Nur über das schreiben, was man auch kennt.

Es kam ihr so vor, als könnte sie seinen tadelnden Blick erneut sehen. Als schüttelte er den Kopf, um ihr dann zu sagen, dass sie es sein lassen sollte, sich über Dinge Gedanken zu machen, von denen sie keine Ahnung hatte.

Kates Unsicherheit kehrte abrupt zu ihr zurück.

Sie klappte das Fotoalbum zu, nachdem sie einen letzten Blick auf eine Schwarz-Weiß-Fotografie geworfen hatte, die ihr eine weite, flache Landschaft zeigte, in der ein wuchtiges Haus in der Ferne zu sehen gewesen war, dessen auf den Eingang zuführende Wege feinsäuberlich mit Steinen begrenzt worden waren. Dessen Beete so herrisch akkurat anzusehen waren, dass es ihr Magenschmerzen bereitete.

Weil es meiner Art chaotischen, ungeordneten Persönlichkeit widerspricht?, fragte sie sich und seufzte wieder.

„Nein, ich weiß nicht genau, wo Deutschland liegt“, gab sie ehrlich zu und fand, dass sie mit dieser Aussage ausgesprochen dumm wirkte.

***

„Was hast du denn zurzeit immer mit Uropa?“, wollte Paris wissen, die – wie immer – bezaubernd schön in Kates Augen war. Nicht nur, dass ihre schwarzen, lockigen Haare in einem natürlichen, beinahe unbegreiflichen Glanz schimmerten; sie unterstrichen das Braun ihrer vor Lebensfreude schimmernden Augen.

Die sie mit einem Eyeliner noch mehr betont, indem sie einen kaum wahrnehmbaren Strich in ihre äußeren Augenwinkel setzt, dachte sie schmachtend und wollte nicht im Entferntesten daran denken, wie sie in ihrer schlabbrigen Jogginghose und dem losen, zwei Nummern zu großen Sweater aussah. Sie schafft es mühelos, hübsch zu sein. Lebensfroh. Ein Ausbund an Fröhlichkeit, während mir …

Sie dachte ihren Satz nicht zu Ende, denn sie wollte nicht wieder in die enge Gedankenspirale fallen, in der sie sich die letzten Tage ununterbrochen befunden hatte.

Jetzt, wo Paris vor ihr stand, diese ihre schlanken Hände in ihre ebenso schmalen Hüften stemmte, war es ihr ein Bedürfnis gewesen, über Uropa zu sprechen. Darüber, was sie in den letzten Tagen alles meinte, herausgefunden zu haben.

Sie zuckte mit den Schultern, bevor sie sagte: „Keine Ahnung, er interessiert mich halt.“

„Aber was er gemacht hat, bevor er in die USA kam, kann ich dir beim besten Willen nicht sagen“, meinte Paris, die an ihrer eng anliegenden Bluse zupfte, und einen weiteren, kurzen Stich der schwesterlichen Eifersucht in Kate aufsteigen ließ.

Was total bescheuert ist, dachte sie und musste wieder an Olivias liebevoll gewählten Worte denken. Daran, wie diese sie gelobt hatte, und meinte, Kate sähe bezaubernd aus, in eng anliegenden Kleidern. Ich kann ebenfalls eine weiße Bluse tragen, die meine Brust eng umschließt. Ebenso kann ich die Bluse lässig über meinen Po fallen lassen, während ich sie mir vorne hinter den Gürtel stecke.

So sieht jede Frau schön aus.

„Oma hat auch nie was dazu gesagt, oder?“, riss Kate sich selbst aus ihren Gedanken.

Paris zuckte mit den Schultern. „Ich habe wirklich keine Ahnung. Hast du Mama das schon mal gefragt?“

Kate nickte. „Ja, natürlich.“

„Und die weiß auch nichts?“

Kate schüttelte den Kopf. „Überhaupt nichts. Sie meint, er wäre Ingenieur oder so etwas in der Art gewesen. Auf jeden Fall hat er hier in Beaufort in einer der zahlreichen Fabriken gearbeitet. Aber in Deutschland“, sie verzog das Gesicht. „Keine Ahnung.“

„Warum interessierst du dich überhaupt jetzt so sehr dafür?“, wollte Paris wissen, die in das Haus getreten war, und zur Begrüßung gerufen hatte: „Bin da. Hey, Mom, hey Dad!“

Kate zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Es interessiert mich einfach. Ich habe in seinem alten Fotoalbum geschmökert und einige frühere Dokumente von ihm gefunden. Deshalb.“

„Was denn für Dokumente?“

„Die Einreisepapiere und Ähnliches. Von ihm und Oma und Tante Mary.“

„Und das lässt dich fragen, was er früher in Deutschland gemacht hat?“

„Es hat mich neugierig werden lassen, weil er gar keinen deutschen Namen hat.“

Paris lachte, als sie die Treppe zum Dachboden hinaufging, und hörte, wie ihre Eltern miteinander redeten. „Die haben früher doch alle ihre Namen geändert. Speller war damals bestimmt ein Springer oder so.“ Bei dem Wort, das ihrer Schwester schwer über die Lippen kam, musste Kate unwillkürlich lachen.

Es erinnerte sie daran, wie sie früher mit Oma zusammen im Garten gesessen, Limonade getrunken und versucht hatten einige Brocken deutsch zu sprechen.

Was ihnen nicht gelungen war. Ganz und gar nicht. Die Sprache ihrer Vorfahren war für sie ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Unzerbrechlich. Nicht zu öffnen. Für immer verschlossen.

„Ich weiß ja nicht“, sagte Kate, die ihrer Schwester die Treppe hinauf folgte, und hörte, wie ihr Vater verwundert sagte: „Da ist noch ein Etui hinter der Wand.“

„Verrückt“, meinte ihre Mutter mit einem Ton in der Stimme, den Kate bei ihr nur aus Situationen ehrlicher Verblüffung und des Unglaubens kannte. „Warum hat Opa die denn hier so sorgsam versteckt?“

„Das weiß nur der Himmel“, entgegnete Kates Vater, mit seiner tiefen, brummenden, liebevollen Stimme, der sie als Kinder immer und auch als Erwachsene gerne lauschten. „Alte Menschen sind sonderbar. Das muss dir an dir doch auch schon aufgefallen sein.“

Kates Mutter lachte, bevor sie mit Spaß in der Stimme sagte: „Werde ja nicht frech.“

„Niemals“, entgegnete ihr Vater. „Lass mich mal machen. Nicht, dass du dich noch verletzt.“

„Erwacht da etwa der Gentleman in dir?“

„Der hat niemals geschlafen“, konterte ihr Vater. „In deiner Sonderbarkeit ist dir das nur nie aufgefallen. Geh mal einen Schritt zurück“, bat er seine Frau, die wie ein verliebtes Mädchen kicherte. Und in Kate Erinnerungen empor spülte, die ihr deutlich machten, wie liebevoll ihre Eltern immer miteinander gewesen waren. Dass sie untereinander scherzten, dass sie sich gernhatten, sich zeigten, wie man eine lange Zeit miteinander verbringen konnte; egal wie schwer es manchmal war, über Berge zu klettern oder Klippen zu umschiffen.

„Hast du es?“

„Ja, gleich.“

Als ihr Vater das von Staub bedeckte, schwarze, lederne Etui hinter den losen Brettern hervorholte, traten Paris und Kate zu ihren Eltern auf den Dachboden. Während ihr Dad keinen Blick für seine Töchter übrig hatte, war es die verschwitzte, ihre wirren, schwarzen Locken aus der Stirn wischende Mutter, die ihre Kinder mit einem herzlichen Lächeln begrüßte.

„Vielleicht hat der alte Schlingel in Wertpapiere investiert und macht uns jetzt noch zu reichen Leuten“, mutmaßte ihr Vater, der sich seit geraumer Zeit wieder einen, sein rundes Gesicht betonenden, von grauen Haaren durchzogenen braunen Vollbart stehen ließ.

„Du schon wieder“, sagte Kates Mutter kopfschüttelnd, während sie Paris in den Arm nahm und dieser ein Küsschen auf die Wange hauchte. „Hallo, mein Schatz.“

„Was denn?“, verteidigte ihr Vater sich. „Kann doch sein.“

„Wenn du jetzt noch mal sagst, dass Opa sonderbar war, bekommen wir Ärger.“

„Das würde ich mich nur trauen, über dich zu sagen“, erwiderte ihr Vater jungenhaft grinsend.

„Opa hat Verstecke hier oben gehabt?“, wollte Paris wissen, die sich auf dem Dachboden umschaute, und ebenso wie Kate vor ihr, von den vielen Kisten, Regalen und lose gestapelten Büchern wie erschlagen wirkte.

„Scheint so“, murmelte ihr Vater. „Er hat versucht, alte Bilder und Ähnliches zu verstecken.“

„Alte Bilder?“

Kates Dad nickte. Er hatte das Etui geöffnet, es aufgeschlagen und die in die für Fotos vorgesehene Öffnungen gegriffen. „Hier, seht mal.“

„Warum versteckt er denn solche ollen Bilder?“, wollte Paris enttäuscht wissen, die einen flüchtigen Blick auf die Fotografien warf, bevor sie diese an ihre Mutter und Kate weiterreichte.

„Darum“, murmelte Kate, die ein Foto anstarrte, von dem sie im ersten Moment glaubte, sich versehen zu haben … von dem sie hoffte, es wäre eine Fälschung … eine Fotomontage, irgendetwas, dass das fest in ihr verankerte Bild eines liebenswerten alten Mannes nicht mit solch einer Macht ins Wanken brachte, wie es ihr gerade widerfuhr.

„Das kann nicht Uropa sein“, flüsterte sie entsetzt, schaute auf, blinzelte und richtete ihren Blick dann erneut auf das Bild in ihrer zu zittern beginnenden Hand. „Er darf nicht …“

 

***

Kiel, Schleswig-Holstein, vor einem Jahr:

„Das ist völliger Blödsinn“, meinte Christian, der gerade dabei war, E-Mails abzurufen und es nicht für nötig hielt, über den Rand des Bildschirms zu seinem kleinen Bruder zu schauen. „Und das weißt du.“

„Das können wir doch nicht wissen“, entgegnete Viktor, hielt die von Jazmin entgegengenommene Zeitschrift in die Höhe und deutete mit dem Finger auf die, auf der ganzen Seite abgedruckten, Fotografie. „Ich meine, Uroma hat immer von diesem Haus gesprochen und dass ihre Schwester dort verschwunden ist.“

„Aber überleg doch mal“, sagte Christian in einem Viktor wütend machenden, Verständnis aufbringenden Tonfall. „Wenn an deiner Idee wirklich was dran sein sollte; meinst du nicht, irgendein Historiker hätte sich dann schon mit Uromas Schwester eingehender auseinandergesetzt?“

„Weißt du, wie lange es dauert, die Gräueltaten der Nazis aufzudecken und die damit verbundenen Schicksale zu rekapitulieren? Es wird immer schwieriger, denn die Zeitzeugen sterben doch nach und nach aus.“

„Viktor …“, setzte Christian wieder an.

„Christian“, fiel Viktor seinem Bruder ins Wort. „Denk doch einmal in Ruhe darüber nach. Ganz genau und mit logischem Verstand.“

„Der sagt mir, dass du einen an der Waffel hast.“

„Ich will nur nicht unseren Laden mit einem weiteren Kredit belasten“, gab Viktor offen und ehrlich zu, ohne dabei zu verschweigen, dass er den Termin bei der Bank nur mit Magenschmerzen absolviert hatte.

Natürlich war der Bankangestellte nett gewesen. Er hatte Viktor gesagt, was für einen gewaltigen finanziellen Spielraum er besaß. Dennoch war da etwas, das unablässig an ihm nagte, das ihn nicht mehr loslassende zweifelnde Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben.

Bis zu dem Moment, als er sich daran erinnerte, wie seine Urgroßmutter von dem Familienschmuck erzählt hatte. Davon, wie ihre Mutter damals die Halskette, die Ohrringe und Ringe geschenkt bekam.

„Als Anerkennung ihrer guten Dienste und der Wertschätzung ihres Dienstherrn“, hatte sie immer gesagt. Damals, als sie sich bei seiner Oma getroffen hatten und Viktor lieber als Speedy Gonzales durch den Garten gerannt war, als sich ernsthaft mit seiner Familiengeschichte auseinanderzusetzen.

„Eine andere Möglichkeit haben wir nicht“, erklärte Christian ihm und deutete auf einen geschlossenen Karton, der vor ihm auf einem Tisch stand. „Kannst du mir die Vasen da mal reichen?“

„Du musst weiterdenken“, sagte Viktor und tat, was sein Bruder von ihm verlangt hatte. „Nicht stehen bleiben. Ich meine es ernst.

Vielleicht gibt es den Schmuck ja noch.

Irgendwo.

Ich glaube, dass ich mal eine Fotografie von der Kette gesehen habe.“

Christian machte eine schulterzuckende Geste. „Das weiß ich beim besten Willen nicht. In Mamas Nachlass habe ich nichts derartiges gefunden.“

„Ich frage Papa mal.“

„Dann lieber Caro.“

„Caro?“

Viktor kniff die Augen zusammen, schaute zu seinem Bruder, der mit einem Cuttermesser die Schnüre löste, mit denen das Paket eingewickelt worden war. „Wenn ich mich nicht irre, hat sie damals Uromas Nachlass an sich genommen. Also das, was für uns alle nicht so von Wert gewesen ist.“

„Du meinst, sie könnte die Unterlagen noch haben?“

„Ruf sie an“, sagte Christian, der die gelieferten Vasen eingehend einer strengen Musterung unterzog. „Dann erfährst du es.“

„Weißt du was?“

Christian schaute ihn fragend an, sagte aber nichts.

„Das werde ich machen. Ich rufe Caro an. Und anschließend“, er deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Bruder, „werden wir ja wissen, ob es sich lohnt, in der Vergangenheit nachzusehen, ob es doch noch etwas für uns zu holen gibt. Hast du denn Caros Nummer?“

Christian schüttelte den Kopf. „Woher sollte ich die haben? Ich habe mit ihr seit bestimmt fünf Jahren nicht mehr gesprochen.“

„Dito“, sagte Viktor, der den fragenden Blick seines Bruders richtig gedeutet hatte.

Sie hatten sich aus den Augen verloren.

Nachdem Oma verstorben war, der eine Zweig der Familie sich nicht mehr um den anderen kümmerte, war der Kontakt nach und nach eingeschlafen.

Viktor seufzte. „Wer könnte ihre Nummer denn haben? Ich will es auf jeden Fall versuchen.“

„Sie ist doch selbstständig“, meinte Christian, der die Vase in der Hand hin und her drehte.

„Das ist eine Idee.“

„Eine gute, denn sie ist von mir“, sagte Christian und hob den Blick, als Viktor sich mit einem Ruck von seinem Platz löste. „Was hast du vor?“

„Ich werde mich einfach mal ganz ungezwungen und offen und ehrlich bei Caro melden. Der liebende und freundliche Cousin, dem etwas daran liegt, wieder mit seiner hübschen Cousine in Kontakt zu treten. Ganz zum Wohle der Familie natürlich.“

Christian, der den Blick auf die Vasen gerichtet hatte, schüttelte den Kopf. „Sei mir nicht böse, aber das ist absoluter Blödsinn. Lass uns lieber versuchen mit ehrlicher Arbeit den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Deine Idee mit dem Onlineshop beginnt mir langsam zu gefallen. Sag mal, wie genau hast du dir das denn jetzt vorgestellt?“

Viktor verdrehte die Augen.

Seine aktuelle Idee ließ ihn nicht mehr los.