Kapitel 1
London, England
Julien Caruthers, der Earl of Dartmore, trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch herum, während er das Kassenbuch seines Anwesens in Hertfordshire durchging. Nachdem er an den Seitenrändern mit seiner forschen Unterschrift unterzeichnet hatte, reichte er es einem Sekretär.
„Wilson, verfassen Sie einen Brief an meinen Verwalter und informieren Sie ihn darüber, dass ich noch um weitere fünf Prozent gekürzte Ausgaben sehen will.“
„J… ja, Mylord“, stotterte Archibald Wilson.
Sein neuer Sekretär war so nervös wie eine Katze, die einer ausgehungerten Dogge gegenübersteht. Schweißperlen glänzten auf der blassen Stirn des Mannes, und würde er noch ein wenig mehr zittern, müssten seine Knie aneinanderstoßen.
Julien wusste, dass sein direkter Blick und das tiefe Timbre seiner Stimme – zusammen mit der Tatsache, dass er ein überaus mächtiger Mann war –, manche seiner Angestellten beunruhigten. Doch er bezweifelte, dass das die Beunruhigung seines neuen Sekretärs erklärte. Wahrscheinlich war Wilsons Angst eher auf die Gerüchte zurückzuführen, Julien könnte etwas mit dem vorzeitigen Ableben seiner letzten beiden Sekretäre zu tun gehabt haben.
Er gab gerne zu, dass er ein anspruchsvoller Arbeitgeber war, doch Mr. Hobbs’ Koronarthrombose war vermutlich eher damit zu erklären, dass der Mann dazu geneigt hatte, exzessive Mengen französischen Gebäcks zu verzehren. Und Mr. Granger war von einer Kutsche überrollt worden, als er die Oxford Street überquert hatte. Seine Sekretäre schienen durchaus vom Pech verfolgt zu sein, aber das war nicht seine Schuld. Es war ja nicht so, als hätte er Hobbs vergiftet und jemanden angeheuert, um Granger zu überfahren.
Jemand klopfte an die Tür seines Arbeitszimmers.
Sein Sekretär stieß einen leichten Schrei aus, als befürchtete er, ein Auftragsmörder würde den Raum betreten und ihm zwischen die Augen schießen.
Wilson würde wohl keine ganze Woche überstehen, doch hoffentlich würde er kündigen, bevor er vor Schreck starb. Ein weiterer toter Sekretär würde nur die Gerüchte befeuern, Julien brächte seine Sekretäre auf abscheuliche Weise um, wenn er unzufrieden war.
„Julien, Schätzchen.“ Seine Mutter kam in den Raum getänzelt und lächelte breit.
Verflucht. Er hatte ganz vergessen, dass seine Mutter angekündigt hatte, sie würde heute in die Stadt kommen. Er liebte die Frau, doch sie konnte anstrengend sein – was der Grund dafür war, dass Julien nur selten sein Anwesen in Hertfordshire besuchte, obwohl der Weg von London aus gar nicht so weit war.
„Hallo, Mutter. – Wilson, das wäre alles.“
Seine Mutter schaute den jungen Mann blinzelnd an. „Sind Sie der neue Sekretär meines Sohnes?“
Wilson verbeugte sich so tief wie ein Theaterschauspieler nach einer Vorstellung im Drury Lane Theater. „Ja, Lady Dartmore.“
Sie hob ihr goldenes, mit Rubinen verziertes Monokel, das an einer Kette hing, und musterte Wilson kritisch. „Sie sehen wacker genug aus. Hoffentlich kippen Sie nicht auch aus den Schuhen, wie die anderen beiden.“ Seine Mutter ließ das Monokel sinken und warf dem Mann einen bekümmerten Blick zu, als würde sie ihr Beileid für seinen bevorstehenden Tod aussprechen wollen.
Julien verkniff sich ein Ächzen. Natürlich musste seine Mutter so etwas sagen. Wilson würde am folgenden Tag gewiss nicht mehr zur Arbeit erscheinen – wobei das vielleicht auch besser wäre.
Der Adamsapfel seines Sekretärs zuckte auf und ab. Er verbeugte sich erneut, dann eilte er aus dem Raum, als wären ihm die Höllenhunde auf den Fersen.
„Wie war die Reise?“ Julien legte seinen Füller ab und erhob sich.
„Holprig. Wenngleich ich weiß, dass die Reise mit dem Zug schneller gewesen wäre, kam ich mit meiner Kutsche. Ich will, dass du erlebst, wie unangenehm es ist, darin unterwegs zu sein. Ich brauche ein neues Gefährt.“
Seine Mutter war verschwenderisch. Dieser Wunsch war vermutlich nur deshalb aufgekommen, weil sich eine ihrer Freundinnen kürzlich eine neumodische Kutsche zugelegt hatte.
„Mutter, dein Landauer ist völlig in Ordnung. Das Gefährt ist gerade einmal zwei Jahre alt. Aber ich werde die Federung überprüfen lassen.“
Sie öffnete den Mund, anscheinend, um ihm zu widersprechen, schloss ihn dann aber wieder. Mit einem besiegten Seufzen griff sie in die Handtasche, die an ihrem Arm baumelte. „Ich habe unterwegs die Liste für die Weihnachtsfeier fertiggestellt, die ich plane.“
Jedes Jahr veranstaltete seine Mutter eine Feier in ihrem Landsitz in Hertfordshire, wobei es im vergangenen Jahr eine Ausnahme gab, weil die Familie nach dem Tod seines Vaters getrauert hatte. Doch seine Mutter hatte die Trauerkleidung vergangenen Monat abgelegt, und heute trug sie ein violettes Kleid. Nicht in einem dunklen Ton, wie man es hätte erwarten können, sondern es war ein strahlend violettes Kleid, das mit einigen Rüschen und Verzierungen versehen war.
„Möchtest du einen Blick darauf werfen, um zu sehen, ob ich jemanden vergessen habe, bevor ich die Einladungen verschicke?“ Sie reichte ihm den Zettel und setzte sich in hoheitsvoller Haltung auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
Während Julien die Liste las, stieg Wut in ihm auf. Als seine Mutter ihm erzählt hatte, dass sie die jährliche Weihnachtsfeier der Familie wiederbeleben wollte, hatte er angenommen, sie würde die gleichen komischen Käuze einladen wie in den vergangenen Jahren, doch auf dieser Liste schien sich jede einzelne Debütantin von Cornwall bis Northumberland wiederzufinden, und sogar ein paar aus Schottland. Die übertriebene Zahl heiratsfähiger junger Frauen war gewiss Teil eines Plans.
Er warf seiner Mutter einen durchbohrenden Blick zu. „Wird das eine Feier oder ein Anschlag auf mein Junggesellendasein?“
„Schätzchen, ich weiß gar nicht, wovon du redest.“ Seine Mutter setzte einen unschuldigen Blick auf, doch die Röte auf ihren Wangen ließ vermuten, dass sie ganz genau wusste, was er meinte.
Er knurrte ungläubig. „Bist du dir sicher, dass du niemanden vergessen hast? In Amerika gibt es bestimmt noch Debütantinnen, die dir entgangen sind.“
Ohne den Sarkasmus zu bemerken, rümpfte sie die Nase, als er Amerikanerinnen erwähnte, und doch tippte sie sich mit dem linken Zeigefinger ans Kinn.
„Mutter?“ Julien schnaubte frustriert.
„Hetze mich nicht, mein Lieber, ich denke nach.“
„Und warum stehen keine Männer auf dieser Liste?“
„Ich habe noch keine hinzugefügt.“
„Nun, dann werde ich in der Woche deiner Feier wohl in eines meiner anderen Anwesen umziehen müssen.“
Sie sprang auf, als hätte sie ein Federmechanismus aus dem Stuhl katapultiert. „Über Weihnachten? Warum? Welches?“
„Jedes, in dem ich nicht von Debütantinnen umgeben bin.“ Er zerknüllte das Papier und warf es in den Papierkorb.
„Was tust du da?“ Sie holte den Zettel wieder heraus und legte ihn an die Ecke seines Schreibtisches, während sie ihn fieberhaft glatt zu streichen versuchte.
„Mach eine andere Liste. Diese ist inakzeptabel.“
„Julien, du musst heiraten. Dein Vater ist seit über einem Jahr tot. Du hast eine Pflicht gegenüber deinem Titel. Was, wenn dir etwas zustößt? Dann würde dein grässlicher Cousin Herbert der neue Earl werden.“
„Mutter, ich bin achtundzwanzig und kerngesund, also ist es verfrüht, von meinem Ableben zu sprechen.“
„Ich habe auch deinen Vater für kerngesund gehalten, und schau dir an, was ihm zugestoßen ist. Ein Hirnschlag, während er dabei war, mit seiner Mätresse zu schlafen. Es war nur angemessen, dass der Schuft auf der Stelle tot umfiel, aber dennoch, das Leben kann unvorhersehbar sein.“
Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er hatte die Ehe seiner Eltern immer für harmonisch gehalten; hatte angenommen, sie seien sich treu gewesen. Bis er zu Lady Markums Residenz gerufen worden war, wo er die Frau in einem hysterischen Zustand und seinen Vater tot im Bett der Viscountess vorgefunden hatte.
Julien kam hinter dem Schreibtisch hervor und umarmte seine Mutter. Es war gut, dass sie nicht die ganze Wahrheit kannte. Denn sein Vater war nicht mit seiner Mätresse allein gewesen – eines von Lady Markums Dienstmädchen hatte sich ihnen angeschlossen.
Julien hatte seinen Vater geliebt. So wie alle. Der Mann hatte viel gelacht und ständig ein Lächeln im Gesicht gehabt, was jetzt nachvollziehbar war. Sein Vater hatte das Leben genossen – vielleicht ein wenig zu sehr.
Seine Mutter löste sich von ihm und blickte ihn mit Tränen in den Augen an. „Was deinem Vater passiert ist, könnte auch dir zustoßen. Du bist in leichtlebiger Gesellschaft unterwegs. Du bist kein Heiliger. Du trinkst, spielst, tollst mit halbseidenen Gestalten herum. In den Klatschspalten wird regelmäßig über den ‚Naughty Earl‘ geschrieben, und ich weiß, wer damit gemeint ist.“
„Woher willst du wissen, dass ich das bin? Ich dachte immer, das wäre der Earl of Granger.“
„Ach, Papperlapapp. Der Mann ist siebenundachtzig.“
Seine Mutter hatte natürlich recht. Er hatte sich in leichtlebiger Gesellschaft herumgetrieben. Wobei er neuerdings den Großteil seiner Zeit mit dem Versuch verbrachte, die umfangreichen Besitztümer seiner Grafschaft zu verwalten oder den Plänen seiner Mutter zu entgehen. Außerdem machte das wilde Leben keinen Spaß, jetzt, da drei seiner engsten Freunde sesshaft geworden waren. Westfield, Adler und Huntington hatten sich allesamt die Ehefessel angelegt.
„Ich habe in Dartmore House gelebt seit ich neunzehn war“, fuhr seine Mutter fort und drängte sich damit in Juliens Gedanken. „Seit ich deinen Vater heiratete. Wenn du stirbst, werde ich ausziehen müssen, und deine drei Schwestern auch.“
„Es tut mir leid, dass dir mein Tod solche Unannehmlichkeiten bereiten würde.“ Er lächelte sie an.
„Ich finde das nicht unterhaltsam.“
„Ehrlich gesagt finde ich Gedanken an meinen bevorstehenden Tod auch nicht unterhaltsam.“
„Dein Vater hat mir meinen Stolz genommen, und jetzt befürchte ich, dass mir und deinen Schwestern unser Landsitz genommen wird, wenn du nicht eine angemessene Ehefrau findest.“
Verdammt. Er wollte seine Mutter glücklich machen, aber eine Ehe … Er war nur ein einziges Mal in seinem Leben verliebt gewesen. Vor langer Zeit.
„Machst du dir Sorgen um die Gerüchte über die Tode deiner Sekretäre? Du bist ein Earl. Die meisten Frauen werden sich nicht darum scheren, dass deine Sekretäre sterben wie die Fliegen. Hättest du im vergangenen Jahr zwei Ehefrauen verloren, wäre das eine andere Geschichte.“
Gütiger Himmel. Dachte seine eigene Mutter etwa auch, dass er seine Sekretäre umbrachte? „Mutter, ich hatte nichts mit ihrem Ableben zu tun.“
„Natürlich nicht. Auch wenn Mr. Hobbs zwanzig Jahre lang für deinen Vater gearbeitet hat, ohne sich auch nur so etwas wie eine Erkältung zuzuziehen.“ Sie wedelte mit einer Hand, als würde sie das Thema langweilen. „Ich verstehe nicht, warum du nicht heiraten willst.“
„Ich habe nie behauptet, ich würde nicht heiraten wollen.“
Darauf sprang sie an wie eine hungrige Katze auf einen Fisch. „Dann wirst du der Weihnachtsfeier beiwohnen?“
„Ja, aber nur, wenn du einwilligst, keine Verkupplungsversuche zu unternehmen.“
„Natürlich.“ Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Wenn er glaubte, dass seine Mutter nicht versuchen würde, ihm irgendeine junge Frau vorzusetzen, wäre er noch törichter, als sie offensichtlich annahm.
***
Ein Monat später
Bei Dartmore, Hertfordshire
„Unerträglicher Schuft!“ Evangeline Breckenridge saß an ihrem Schreibtisch in ihrem Cottage und nahm ein frisches Blatt aus der Papierablage.
Werter Lord Hochmächtig. Zu nett. Werter Lord Erbsenhirn. Immer noch zu freundlich. Ah, Werter Lord Hornochse Erbsenhirn. Redundant, aber perfekt.
„Mama, was ist ein Horn… Hornochse?“, fragte Mary.
Evangeline spürte, dass ihre Wangen rot wurden, als sie zu ihrer fünfjährigen Tochter schaute, die am Boden saß und mit ihrer Stoffpuppe spielte.
„Das ist ein …“
„Ein großer Mann“, sagte ihre beste Freundin, Penny Marlborough, als sie das Wohnzimmer betrat.
Mary nickte, anscheinend zufrieden mit Pennys Erklärung, und fuhr damit fort, ihre Puppe mit Porridge zu füttern.
„Ich muss wohl nicht fragen, über wen ihr redet. Was hat er dieses Mal angestellt?“
„Lord Scrooge hat das Schlittschuhlaufen auf dem See am Rand seines Landes verboten. Einige seiner Schergen haben all die Kinder vom Eis gescheucht. Er wohnt zurzeit nicht einmal hier, und das Schlittschuhlaufen ist eine Weihnachtstradition. Der alte Earl hat es den Bewohnerinnen und Bewohnern von Dartmore immer erlaubt, in den ersten beiden Dezemberwochen auf dem Eis zu laufen, und zusätzlich am zweiten Weihnachtsfeiertag. Er ließ sogar von seinen Bediensteten Lebkuchen und Glühmost an die Leute verteilen. Sein Vater mag ein Schuft gewesen sein, aber der aktuelle Earl of Dartmore ist absolut herzlos.“
„Vielleicht befürchtet er, dass jemand ins Eis einbrechen könnte.“
„Papperlapapp. Es ist so dick wie eine Matratze. Hast du schon vergessen, dass er den Menschen aus dem Dorf im vergangenen Frühling auch das Fischen verboten hat? Sein Vater hat das jeweils eine Woche lang im April und im Juni gestattet. Auch diese Tradition hat der Mann beendet. Was soll da seine Sorge gewesen sein? Dass wir von einem Seemonster gefressen werden könnten? Und Mrs. McGilley hat mir erzählt, dass ein weiterer seiner Sekretäre gestorben ist. Das sind zwei in einem Jahr. Und ein weiterer hat nach nur wenigen Tagen gekündigt. Ich weiß nicht, was er ihnen antut, aber der Mann ist ein kaltherziger Tyrann.“
„Wenn ich mich recht erinnere, hast du dich einmal sehr für diesen Tyrannen interessiert.“
Hitze stieg an Eves Hals empor und wärmte ihre Wangen. „Ja, aber das war vor zehn Jahren. Was weiß ein Mädchen mit siebzehn schon?“
Penny lehnte sich zu ihr und flüsterte: „Ich weiß auch, dass du mit ihm deine ersten Küsse erlebt hast.“
Ja, und es waren herrliche Küsse gewesen. Doch sie hatten ihm nichts bedeutet, während sie geglaubt hatte, verliebt zu sein. Sie gehörten unterschiedlichen Schichten an und sein Verhalten vor zehn Jahren hatte ihr gezeigt, dass er sich an das ungeschriebene Gesetz halten würde, nach dem ein zukünftiger Earl nicht die Tochter eines Arztes heiratet.
Ihre Mutter hatte ihr gesagt, sie solle sich keine Hoffnungen machen. Ihr Vater hatte nichts gesagt, sondern nur gelächelt und ihr zugezwinkert. Er hatte geglaubt, Julien würde sie wirklich lieben, und da ihr Vater ein sentimentaler Mann war, hatte er daran geglaubt, dass die Liebe triumphieren würde. Sie bezweifelte, dass Juliens Eltern von den langen Stunden gewusst hatten, die er in dem kleinen Cottage ihrer Eltern verbracht hatte. Adlige verkehrten nicht mit Menschen wie ihr, doch sie hatte darauf gehofft, dass er eines Tages um ihre Hand anhalten würde. Wie töricht sie doch gewesen war.
„Wenn ich mich recht entsinne, sagtest du, du hättest die Zehen eingerollt und Schmetterlinge im Bauch gehabt, als er dich geküsst hat.“
„Ich kann mich nicht daran erinnern, so etwas gesagt zu haben. In meiner Erinnerung waren seine Küsse nass und schlaff.“
„Meine liebe Freundin, das liegt daran, dass er seine Zunge benutzt hat, wie du ebenfalls erzähltest“, sagte Penny leise.
Evangeline war sich sicher, dass ihre Wangen purpurrot wären, würde sie jetzt in einen Spiegel schauen. „Ich wusste gar nicht, dass ich in meiner Jugend so eine Plaudertasche war.“
Penny lachte. „Du dachtest, du seist verliebt. Du hast wochenlang nur gekichert. Und bevor er an die Universität ging, hat er dir mehrere Sträuße aus gepflückten Wildblumen geschenkt.“
Ja, doch dann war er gegangen, und obwohl er versprochen hatte, ihr zu schreiben, hatte er es nie getan. Eve versuchte, die Erinnerungen an ihr törichtes Verhalten nach seiner Abreise zu verdrängen. Sie hatte drei Monate lang nach der Post gesehen. Dann hatte sich ihr Vater eine Lungenentzündung eingefangen und war gestorben, und sie war mit ihrer Mutter zu Tante Hortense nach Kent gezogen. Eve war erst vor einem Jahr nach Hertfordshire zurückgekehrt, nachdem sie dieses Cottage von Onkel Harry geerbt hatte.
„Küsse mit der Zunge? Igitt“, sagte Mary.
Du lieber Himmel. Eve richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihre Tochter. Hatte Mary die ganze Zeit ihrer geflüsterten Unterhaltung gelauscht?
Mary schaute zu ihr. „Ist der Earl eine Eidechse, Mama? Hat er eine lange Zunge wie Mr. Shingles?“
Penny lachte und bedeckte ihren Mund.
Mr. Shingles war der Name der Eidechse, die Onkel Harry als Haustier gehalten hatte. Ihr Onkel war ein Herpetologe gewesen. Bei seinem Tod hatte er ihr nicht nur sein Haus, sondern auch Mr. Shingles hinterlassen, und seine Bücher über Amphibien und Reptilien. „Nein, meine Liebe. Er ist nur ein Mann.“
Zum Glück kam Pumpernickel, ihr getigerter Kater, in den Raum geschlichen und rieb sich an Marys Arm. Ihre Tochter ließ sich von der Unterhaltung ablenken, hob das Tier hoch und streichelte es. Ein Gottesgeschenk, denn wenn Mary anfing, Fragen zu stellen, konnte das ein endloses Unterfangen werden, und Eve hatte keine Lust, sich über Zungenküsse zu unterhalten. Selbst ihr Ehemann, Gott habe ihn selig, hatte nie so geküsst. Und als sie einmal versucht hatte, ihre Zunge zum Einsatz zu bringen, hatte Samuel sie angesehen, als wäre sie wahnsinnig.
Penny deutete auf den Brief, den Eve angefangen hatte. „Wirst du den abschicken oder ihn in deine Schreibtischschublade stecken, wie all die anderen, die du nie aufgegeben hast?“
Oh, sie war durchaus versucht, ihn abzuschicken. Julien würde nicht einmal wissen, wer sie war. Er hatte sie nie als Mrs. Breckenridge kennengelernt. Er kannte nur das alberne Mädchen namens Evangeline Templeton. Sie sollte ihn abschicken, doch vermutlich hätte er ohnehin keinen Einfluss auf den harten, gefühllosen Earl of Dartmore.
„Vielleicht schicke ich ihn ab.“
„Du traust dich ja doch nicht“, sagte Penny mit einem Lachen.
Eve tauchte ihre Feder ins Tintenfass und fuhr mit ihrer vernichtenden Schmähschrift fort.
Werter Lord Hornochse-Erbsenhirn,
Ihr seid ein herzloser Gentleman! Eure Pächter und die Menschen im Dorf freuen sich darauf, während des Weihnachtsfestes auf dem See Schlittschuhlaufen zu können, doch Ihr habt ihn für sie abgeriegelt. Ihr habt nichts als Kohle in Eurem Strumpf verdient! Die Skandalblätter sollten Euch nicht länger als den Naughty Earl bezeichnen, sondern als Lord Scrooge.
Eure ergebene
Mrs. Breckenridge
Vielleicht waren die beiden Ausrufezeichen ein wenig überzogen. Pah, überzogen? Sie hatte ihn als Erbsenhirn und Hornochsen bezeichnet.
Penny lehnte sich über Eves Schulter und keuchte, als sie den Brief las.
Ehe sie sich umentscheiden konnte, ließ sie die Löschwiege über das Blatt rollen, steckte es in einen Umschlag und adressierte ihn an die Residenz des Earls in Mayfair. Sie reichte Penny den Umschlag. „Würdest du den auf dem Heimweg für mich aufgeben?“
Penny biss sich auf die Unterlippe und starrte sie an. „Eve, bist du dir sicher?“
„Absolut.“ Sie nickte entschieden, obwohl ihr mulmig wurde. Dieser abstoßende Mann hatte es verdient, für sein Verhalten getadelt zu werden.