Leseprobe Das Geheimnis der Highlands

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Edinburgh Castle, königliche Gemächer, Dienstag, 4. Juni 1381

Der Earl of Fife, inoffizieller Herrscher Schottlands, saß behaglich an einem Tisch vor dem Feuer in seiner Lieblingskammer im Davidsturm und bereitete Dokumente vor, die sein Vater unterzeichnen und mit dem königlichen Siegel versehen sollte. Fife herrschte gern über Schottland und konnte sich nicht vorstellen, warum er es nicht noch viele Jahre tun sollte.

Er war lang und schlaksig, besaß ausgeprägte Gesichtszüge und trug ausschließlich Schwarz. Obgleich er die vierzig schon weit überschritten hatte, war er in guter körperlicher Verfassung und darüber hinaus ein Mensch, der sich nur selten Illusionen machte. Als Urenkel von Robert the Bruce und dritter Sohn des Hochkönigs der Schotten war Fife ein gerissener, skrupelloser Politiker, dabei jedoch durchaus leutselig, wenn er es für angebracht hielt, und außerordentlich begabt. Er hatte die Macht gekostet und wollte nun immer mehr, auch wenn er in den vergangenen Jahren mit seinen langen, schlanken Fingern schon eine gehörige Portion davon an sich gerissen hatte.

Fife wusste, dass er besser geeignet war, Schottland zu regieren, als sein altersschwacher, halb blinder Vater, der König, oder sein unfähiger, gleichgültiger älterer Bruder, der Earl of Carrick. Doch da Robert the Bruce einst auf die dumme Idee gekommen war, dass immer der älteste Sohn eines Königs seinem Vater auf den Thron folgen sollte, war nun einmal Carrick der Thronerbe.

Bevor Bruce diese neue Regelung eingeführt hatte, hatten die schottischen Adeligen ihren König stets selbst gewählt. Im Unterschied zu den Engländern und Franzosen waren sie nicht davon überzeugt, dass ein König von Gott auserwählt wurde. Der König der Schotten war nicht mehr und nicht weniger als der oberste der Clanchiefs. Er verfügte weder über ein eigenes Heer noch über eine Flotte, sondern war ganz und gar darauf angewiesen, dass ihn seine Adeligen mit ihren Schiffen und Kriegern unterstützten.

Hätte Bruce nicht entschieden, dass der älteste Sohn oder der nächste männliche Verwandte eines Herrschers sein Nachfolger sein sollte, wäre niemals ein Stewart König der Schotten geworden, denn viele Adelige betrachteten die Stewarts als Emporkömmlinge. Selbst ihr Name war neu; er leitete sich vom Hofamt des High Steward – des obersten Truchsesses – ab, das Fifes Vater Robert innegehabt hatte. Nach dem Tod des kinderlosen Königs David II. war ihm sein nächster Verwandter, Robert the Steward, auf den Thron gefolgt.Aber auf welche Weise die Stewarts an die Macht gekommen waren, interessierte Fife im Augenblick nicht. Das war alles längst vorbei, und er war sicher, dass er Carrick genauso leicht würde lenken können wie jetzt seinen Vater. Dennoch träumte er davon, selbst den Thron zu besteigen. Er wusste, dass die Anführer im schottischen Parlament stets einen starken Mann einem schwachen vorziehen würden. Und, was noch wichtiger war, möglicherweise ließen sie sich dazu bewegen, Bruce’ Thronfolgeregelung außer Kraft zu setzen.

Es war unbestreitbar, dass sowohl Fifes Vater als auch sein Bruder zu schwach waren, um ein Land voller starrsinniger Adeliger zu regieren, die fast unbeschränkt über die Mitglieder ihres Clans herrschten und sich vehement gegen jede Einmischung von außen wehrten. Fife glaubte, er habe bereits hinreichend bewiesen, dass er sie im Zaum halten konnte, und es daher verdient, König zu werden. Er wusste nur noch nicht, wie weit er würde gehen müssen, um sein Ziel zu erreichen.

Er würde alles tun, was er für nötig hielt, doch am liebsten hätte er den Anführern des Parlaments den eindeutigen Beweis geliefert, dass er der geeignetste Bewerber war. Ein Jahr zuvor schien die Gelegenheit für einen solchen Beweis gekommen, doch aufgrund eines feigen Verrats hatte er sie nicht nutzen können.

Doch seiner Erfahrung nach bot sich immer eine neue Chance. Also hielt er die Augen offen und traf für alle Fälle seine Vorbereitungen. Dazu gehörte auch sein neues Schiff, die Serpent Royal.

Als er mit dem letzten Schriftstück fertig war, klopfte ein Diener an die Tür und meldete einen Besucher.

„Der Chevalier de Gredin, Mylord.“

Fife war verblüfft. Dieser Name passte genau zu seinen Gedankengängen. Er nickte, schob die Dokumente beiseite und sah mit zusammengekniffenen Augen zu, wie der Chevalier eintrat und eine schwungvolle Verbeugung machte. In der Hand hielt er ein Schreiben, an dem ein halbes Dutzend rote Wachssiegel baumelten.

Als sich der Ankömmling wieder aufgerichtet hatte, blickte er den Earl mit seinen grünen Augen an und sagte kühl: „Ihr seid zweifellos erstaunt, mich zu sehen, Mylord, doch ich bringe Euch eine Nachricht von Seiner Heiligkeit, dem Papst.“

„Ach ja? Ich dachte eigentlich, Ihr wäret mit eingekniffenem Schwanz nach Norden geflohen.“

„Aber nicht doch, Mylord. Ich wollte mich nur überzeugen, wie die Dinge dort stehen. Da mir jedoch nur norwegische Schiffe und diejenigen meines Gastgebers zur Verfügung standen, konnte ich weder Verbindung zum Papst noch zu meinen Freunden in Frankreich aufnehmen. Daher kehrte ich auf den Kontinent zurück und kann Euch nun vermelden, dass Seine Heiligkeit noch immer Eure Bestrebungen unterstützt und bereit ist, Euch Schiffe zur Verfügung zu stellen. Mit Eurer gnädigen Erlaubnis soll ich hier als sein Gesandter bleiben.“

„Als sein Gesandter oder als meine Geisel?“, fragte Fife mit trügerisch sanfter Stimme.

„Es sei, wie Ihr befehlt, Mylord“, erwiderte de Gredin und sank in einen unterwürfigen Kniefall. „Wir beide verfolgen noch immer die gleichen Ziele“, fuhr er fort. „Wir wollen den Templerschatz finden, ihn Seiner Heiligkeit zurückgeben und Euch zu der verdienten Stellung als Hochkönig der Schotten verhelfen.“

Fife ließ ihn weiter knien und überdachte kurz die Situation.

Der Orden der Tempelritter war ursprünglich als Armee des Papstes gegründet worden, um während der Kreuzzüge die Pilger auf ihrem Weg ins Heilige Land zu beschützen. Im Laufe der Zeit jedoch hatten sich die Templer zu zuverlässigen Bankiers entwickelt, denen man die heiligsten und wertvollsten Kostbarkeiten der Welt anvertraute und die den Reichen und Mächtigen hohe Geldsummen liehen. Auf diese Weise war es dem Orden gelungen, unvorstellbare Reichtümer anzuhäufen. Doch zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts hatte sich der Orden mit König Philipp IV. von Frankreich überworfen, der bei den Templern hoch verschuldet war. Auf seinen Befehl hin erklärte der Papst – eine bloße Marionette in der Hand des Königs – die Tempelritter zu Ketzern und befahl in einem Erlass die Zerschlagung ihres bis dahin hoch angesehenen Ordens. Im Oktober 1307 überfiel der französische König den Sitz des Ordens in Paris und ließ jeden Tempelritter in ganz Frankreich verhaften, dessen er habhaft werden konnte, einschließlich des Großmeisters.

Sein eigentliches Ziel erreichte Philipp indes nicht. Als die Angreifer den Tempel durchsuchten, fanden sie die Schatzkammern leer. Die meisten Tempelritter waren geflohen, und auch ihre große Flotte, die in La Rochelle vor Anker gelegen hatte, war verschwunden. Auch nach nunmehr fast fünfundsiebzig Jahren blieb der Schatz der Templer unauffindbar.

Noch immer erhob die Römische Kirche Anspruch darauf, und der gegenwärtige Papst, der offenbar davon überzeugt war, dass ein Gutteil des Schatzes mit einigen Tempelrittern nach Schottland gelangt war, hatte bereits zweimal Männer ausgeschickt, um ihn zu finden – doch bisher vergeblich.

Einer dieser Männer des Papstes war de Gredin, der bestimmt nicht ohne Grund zurückgekehrt war.

Fifes Interesse an dem Schatz beschränkte sich auf einen einzigen Gegenstand, der sich nach Auskunft eines seiner Informanten mit ziemlicher Sicherheit in Schottland befand. Falls er daher de Gredin und dem Papst bei der Schatzsuche half, würde sich das auch für ihn lohnen. Denn selbst wenn sie den Schatz nicht fanden, konnte es nicht schaden, wenn er sich mit dem Papst gut stellte. Vielleicht konnte ihm das ja eines Tages von Nutzen sein, wenn es galt, das Parlament von seiner Eignung als König zu überzeugen.

Doch für de Gredin hatte er nicht viel übrig. Daher warf er ihm einen finsteren Blick zu und erklärte rundheraus: „Ihr habt mich letztes Jahr verraten. Warum sollte ich Euch jetzt trauen?“

Der Chevalier, der noch immer auf einem Knie verharrte, reichte ihm das versiegelte Schriftstück. „Lest dies, Mylord. Und dann trefft Eure Entscheidung.“

Im Wald der Holyrood-Abtei, Dienstag, 4. Juni 1381

Die zarten Kringel, die sich um die bislang unbewegliche Angelschnur bildeten, waren ein erstes Zeichen dafür, dass sich ein Fisch für den Köder am Haken interessierte.

Die neunzehnjährige Lady Sidony Macleod hielt reglos die Angelrute und starrte wie gebannt auf die Wasseroberfläche, wo die Ringe jetzt immer größer und zahlreicher wurden. Seit mindestens einer Stunde saß sie auf dem flachen Felsvorsprung über dem langen, schmalen Loch, ohne einen einzigen Fisch zu sehen. Dabei hatte der dicke, grauhaarige Gärtner, dem die Angelrute gehörte, ihr doch versichert, dass der Loch bei der Abtei von Fischen nur so wimmelte.

Sie überlegte, ob sie die Schnur einholen sollte. Im Grunde genommen wollte sie gar nichts fangen. Sie hatte die Angel nur mitgenommen, damit ihr Spaziergang nicht allzu sehr nach Faulenzerei aussah.

Da wäre es nicht schlecht, wenn sie auch einen Fisch vorzuweisen hätte, doch andererseits hatte sie keine Lust, sich auf dem Rückweg damit abzuschleppen. Wenn sie sonst angeln gegangen waren, hatte immer ihre ältere Schwester Sorcha die Beute nach Hause getragen.

„Glaubst du wirklich, ich fange einen?“, hatte sie den Gärtner gefragt.

„Aber sicher, Mylady“, hatte der Mann entgegnet. „Wahrscheinlich erwischt Ihr einen schönen Lachs oder eine Forelle zum Frühstück.“

Sidony wollte nicht unhöflich sein und die angebotene Angelrute ablehnen, daher dankte sie ihm und nahm auch noch das Töpfchen mit Regenwürmern als Köder mit. Dann durchquerte sie die drei Bereiche des Gartens, die Clendenen House vom Waldrand trennten, schlüpfte durch die Begrenzungshecke und schritt zwischen Bäumen, Farnen und Blumen dahin. Der Boden war unangenehm morastig, doch schon bald erreichte sie den glasklaren, dunkelgrünen Loch, dessen ruhige Schönheit sie den sumpfigen Untergrund schnell vergessen ließ.

Spiegelglatt lag der See unter dem grauen Himmel. Sein Wasser, das in der Mitte graugrün schimmerte, wurde zu den Rändern hin immer dunkler, wo die Bäume bis dicht ans Ufer wuchsen und ihren Schatten auf die Wasseroberfläche warfen.

Die Luft war mild, und der Wald schien unnatürlich still. Sidony folgte dem Uferpfad, bis sie zu einem vorspringenden Granitfelsen kam. Nach ihrem Marsch durch das sumpfige Gelände wirkte der grauweiße Granit einladend sauber und trocken.

Ihre Stiefel waren lehmverklebt, und auch der Saum ihres Kleides aus feiner blauer Wolle, über dem sie eine passende Tunika trug, hatte ein paar Schmutzspritzer abbekommen. Doch es war nur ein altes Kleid, das sie nicht besonders mochte. Sie hatte es angezogen, um mit ihrem vierzehn Monate alten Neffen zu spielen, der mit seinen schmuddeligen Händchen ein besseres Kleid nur verdorben hätte.

Sie spießte einen Wurm auf den Haken, wie sie es von den Angelausflügen her kannte, die sie mit Sorcha in der Nähe von Chalamine Castle, ihrem Zuhause in den Highlands, unternommen hatte. Unwillkürlich musste sie seufzen, als sie an die Burg und das nahe gelegene Bächlein dachte, das munter durch das dichte Strauchwerk plätscherte.

Jetzt war sie schon mehr als ein Jahr von zu Hause fort – viel zu lange.

Bei dem Gedanken kamen ihr die Tränen, doch im selben Augenblick ruckte es an der Schnur. Sidony packte die Rute fest mit beiden Händen und sprang unbeholfen auf, wobei sie aufpassen musste, nicht auf ihr Kleid zu treten und ins Wasser zu fallen oder aber den Fisch zu verlieren.

Die Beute war größer als erwartet und kämpfte so verbissen, dass Sidony sich wünschte, niemals die Angel ausgeworfen zu haben. Sie erwog kurz, das Tier vom Haken zu lösen und wieder ins Wasser zu werfen.

Doch bei einer ähnlichen Gelegenheit hatte ihre ältere Schwester Sorcha ihr erklärt, dass der Fisch sowieso sterben und zuvor womöglich noch tagelang leiden würde. Als er daher schließlich schwach zuckend vor ihr auf der Felsplatte lag, ergriff Sidony einen Stein und machte seinem Leben entschlossen ein Ende.

Sie verzog das Gesicht, als sie auf den toten Fisch hinunterblickte, dann sah sie sich nach einer Efeuranke um, die sie dem Tier durch die Kiemen ziehen konnte, um es daran zu tragen. Sie lobte sich im Stillen selbst für ihre Geschicklichkeit, beschloss jedoch, auf keinen Fall noch mehr Fische zu fangen. Also hob sie Fisch und Angelrute auf und machte sich auf den Rückweg nach Clendenen House.

Als sie einige Minuten später noch immer nicht auf den Pfad gestoßen war, wurde ihr klar, dass sie sich verlaufen hatte.

Bei Sonnenschein wäre es vielleicht möglich gewesen, sich zu orientieren, auch wenn Sidony nicht genau wusste, wie. Sorcha konnte die Richtung nach dem Stand der Sonne bestimmen, doch Sidony hatte nie gefragt, wie sie das machte. Sie wusste nur, dass die Sonne im Westen unterging, und hatte noch am Abend zuvor beobachtet, wie sie auf der Burgseite von Clendenen House hinter dem Horizont versank.

Ebenso wie Edinburgh Castle lag auch Clendenen House auf einem zerklüfteten Felsen nördlich der Stadt, in welcher der König residierte. Das Gebäude war von allen Seiten gut sichtbar, außer von Sidonys gegenwärtigem Standpunkt, wo das Blätterdach zu dicht war.

Dann wollte sie eben noch ein wenig ihre Freiheit genießen, sagte sie sich. Irgendjemand würde schon nach ihr suchen, wenn sie nicht nach Hause kam. Außerdem läutete die Glocke der Abtei jeden Tag zur Vesper, und den Weg von der Abtei nach Clendenen House kannte sie gut.

Wahrscheinlich würden sich schon alle fragen, wo sie blieb, denn sie war schon eine ganze Weile fort. Vielleicht waren sie auch böse mit ihr, weil sie nicht gesagt hatte, wohin sie ging, doch sie hatte weder ihre Schwester Isobel oder ihre Gastgeberin aufwecken noch die Männer stören wollen, und außerdem hatte sie sich ja nicht mit Absicht verlaufen. Wenn sie nach ihr suchten, würde sie eben ein wenig früher zurück sein, dachte sie – falls überhaupt schon jemand gemerkt hatte, dass sie fort war. Oft nahmen die anderen sie überhaupt nicht wahr.

Vielleicht würde jemand sie hören, wenn sie ein Liedchen pfiff.

Pfeifen gehörte sich nicht für eine Lady, und wahrscheinlich würde man sie dafür ausschimpfen. Doch Isobel war die einzige ihrer sechs Schwestern, die sich zurzeit in Clendenen House aufhielt, und sie war erneut schwanger und schlief bestimmt noch immer tief und fest.

Sidony kannte nicht viele Lieder, daher pfiff sie immer wieder ihre Lieblingsmelodie. Es war ungerecht, dass Damen nicht pfeifen durften, da das zu den wenigen Dingen gehörte, die Sidony gut beherrschte. Wie schon so oft fragte sie sich auch jetzt, wer derartige Regeln eigentlich aufstellte.

Wenn sie zu bestimmen hätte, wäre sie nicht so streng.

Genau in diesem Augenblick begann zu ihrer Erleichterung die Glocke der Abtei zu läuten. Der Klang hallte durch den ganzen Wald. Kurz bevor die Glocke wieder verstummte, erkannte Sidony, dass der Ton irgendwo von rechts kam.

Als alles wieder still war, hörte sie plötzlich ein Pferd schnauben.

Sie öffnete schon den Mund, um zu rufen, überlegte es sich dann jedoch anders. Es konnte ja auch ein Fremder, ja sogar ein Feind sein. Wie einer von den schrecklichen Kerlen, die ihre Schwester Adela entführt hatten.

Falls der Reiter auf der Suche nach ihr war, würde er nach ihr rufen. Dass er es nicht tat, deutete – bestenfalls – auf einen Fremden hin.

Als er das leise Pfeifen vernahm, zügelte der Reiter sein Pferd. Die Melodie faszinierte ihn, und er hätte gern noch ein wenig zugehört. Doch sein starrköpfiges Reittier, das bei Weitem nicht so gut ausgebildet war wie eines von seinen eigenen Pferden, protestierte schnaubend. Er konnte nur hoffen, dass es kein Feind war, der dort vor sich hin pfiff. Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, dass kaum einer seiner vielen Freunde und Feinde ihn ausgerechnet hier im Wald bei der Abtei vermuten würde.

Dennoch stieg er vorsichtshalber ab und vergewisserte sich, dass sein Schwert, das er in einer Scheide quer über den Rücken geschnallt trug, beim Reiten nicht verrutscht war. Dann schlang er die Zügel über einen Zweig und ging mit den raschen, lautlosen Schritten des erfahrenen Waldläufers in die Richtung, aus der das Pfeifen kam. Dabei achtete er wie stets unwillkürlich darauf, nicht auf Zweige, lose Steine oder in Bodensenken zu treten.

Gleich darauf erblickte er sie – eine kleine, schlanke Schönheit mit wohlgeformtem Körper und nahezu weißblondem Haar. Es war zu zwei dicken Zöpfen geflochten, von denen ihr einer nach vorn über die Schulter gefallen war, während der andere ihr auf dem Rücken bis zu den Hüften herabhing. Die Zöpfe sahen so glatt und seidig aus, dass er sie am liebsten gestreichelt hätte.

Sie ging mit zögernden Schritten und blickte sich in alle Richtungen um, wirkte dabei jedoch eher unsicher als ängstlich.

Ihr Kleid befand sich in einem traurigen Zustand, was sehr bedauerlich war, da zu ihrer Schönheit ein prächtiges Gewand gepasst hätte. Sie hätte Seide und Satin tragen sollen, Pelzwerk und Geschmeide – und nicht einen großen, frisch gefangenen Lachs in der einen und eine alte Angelrute in der anderen Hand.

Ihr Vater hätte Prügel verdient, dass er ein so schönes Mädchen unbeaufsichtigt herumstreifen ließ, dachte der Beobachter. Aber da sie nun einmal da war, wollte sich Giff MacLennan die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Er schlich näher, wobei er, um seine Schritte zu dämpfen, auf Büschel von Hasenglöckchen trat. Dabei schlug er einen Bogen, um sich ihr nicht von hinten zu nähern und sie zu erschrecken.

Als er fast bei ihr angelangt war, blickte er zu Boden und tat, als hätte er sie nicht gesehen. Er wollte auf keinen Fall, dass sie schrie. Daran, dass sich ihre Schritte auf dem weichen Boden verlangsamten, merkte er, dass sie ihn nun auch bemerkt hatte. Er blieb stehen und blickte auf, während sie ihn mit großen Augen anstarrte.

Auch ihre Augen waren schön; klar und von einem so hellen Blau, dass es beinahe durchsichtig wirkte. Ihre Wimpern und Augenbrauen waren einige Töne dunkler als ihr Haar, doch noch immer nicht braun. In der linken Hand hielt sie mit festem Griff die Angelrute, von der rechten baumelte an einer Efeuranke der appetitlich anzusehende Lachs.

„Einen schönen guten Morgen, Mistress“, sagte er. „Habt Ihr Euch im Wald verirrt?“

Sie nickte, ohne ihn aus den Augen zu lassen, die weichen Lippen leicht geöffnet. Dabei hoben und senkten sich ihre ebenso weich wirkenden, einladenden Brüste leicht und rasch unter dem Mieder. Noch immer hatte sie kein Wort gesprochen.

„Ich kann Euch den Weg zeigen, wenn Ihr wollt“, fuhr er fort und schenkte ihr sein gewinnendstes Lächeln, das normalerweise stets erwidert wurde. Doch sie blickte ihn nur weiter ernst und stumm an.

„Möchtet Ihr, dass ich Euch den Weg zeige, Mädchen?“

Wieder nickte sie, und ihr Blick verursachte ein erregendes Gefühl in seinen Lenden.

Noch immer lächelnd setzte er hinzu: „Ich wünsche mir auch nur eine ganz kleine Belohnung dafür, dass ich Euch rette.“

Er hätte sich nicht vorstellen können, dass sie die Augen noch weiter aufreißen konnte, doch da hatte er sich geirrt.

Doch noch immer sagte sie kein Wort.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, trat er auf sie zu, gespannt, ob sie wohl zurückweichen würde. Seine Füße sanken in den weichen Boden ein, doch er achtete nicht darauf.

Von Nahem wirkte sie noch schöner und einladender.

Sidony konnte die Augen nicht von dem dunkelhaarigen Fremden wenden. Er trug ein mit Metall verstärktes Lederwams, dazu Stiefel und eine lederne Hose, die sich eng an seine muskulösen Oberschenkel und Waden schmiegte. Das Schwert, das er auf dem Rücken trug, und der Dolch in seinem Stiefel hätten durchaus bedrohlich wirken können, doch nicht eine Sekunde lang hielt sie ihn für einen der Räuber, die das Grenzland unsicher machten.

Das lag nicht nur daran, dass sein weißes, gut geschnittenes Hemd aus feinem Leinen bestand; er legte darüber hinaus auch eine Arroganz an den Tag, die man nur beim Land besitzenden Adel fand.

Er war nicht gerade der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Dafür waren seine Züge zu unregelmäßig, seine Nase zu scharf geschwungen. Dennoch ging etwas von ihm aus, das sie in Bann schlug.

Ihr gefiel das übermütige Funkeln seiner dunkelblauen Augen und seine honigsüße, einschmeichelnde Stimme. Andererseits war er groß und um die Schultern herum ebenso breit gebaut wie Hugo oder Rob, und sie bevorzugte Männer, die nicht ganz so viel Raum einnahmen, da diese, nur weil sie auf andere herabblicken konnten, gewöhnlich glaubten, sie könnten jeden herumkommandieren. Sidonys Schwäger gehörten ohne Ausnahme in diese Kategorie. Allerdings musste sie zugeben, dass sie ihnen auch tatsächlich gehorchte, was sie in ihrer Überheblichkeit vielleicht noch bestärkte.

Sie überlegte noch, welche Art von Belohnung der Fremde wohl gemeint haben könnte, als er sich geschwind hinunterbeugte und ihr einen Kuss auf die Lippen drückte. Dabei legte er auch noch eine Hand um ihren Hinterkopf, sodass sie nicht ausweichen konnte.

Seine Lippen lagen zuerst sanft auf den ihren, dann wurde der Druck stärker, fordernder. Er schloss die Augen, was schade war, da er die dunkelsten blauen Augen besaß, die sie jemals gesehen hatte. Ähnlich wie das Wasser im Loch waren sie so dunkel, dass sie beinahe schwarz wirkten.

Als er den anderen Arm um ihre Taille legte, wurde ihr klar, dass sie sich hätte wehren und ihn wegstoßen müssen. Doch derartige Freiheiten hatte sich ihr gegenüber noch nie jemand herausgenommen, und sie fand die Erfahrung interessanter, als sie gedacht hätte – wenn sie denn jemals darüber nachgedacht hätte.

Plötzlich schlüpfte seine Zunge zwischen ihren Lippen hindurch in ihren Mund. Ohne nachzudenken oder auf Fisch und Angel zu achten, stieß sie ihn daraufhin mit beiden Fäusten kräftig gegen die Brust.

Er ließ sie los und trat verblüfft einen Schritt zurück. Für einen winzigen Augenblick vermeinte sie einen Schatten in seinen Augen zu sehen, doch sofort war da wieder dieses mutwillige Grinsen.

„Warum denn gleich so heftig, Schätzchen? Du kannst doch nicht leugnen, dass es dir gefallen hat.“ Noch immer grinsend stemmte er herausfordernd die Hände in die Hüften.

Ihr Zorn kam für sie selbst überraschend. Ohne zu zögern oder lange darüber nachzudenken, was sie tat, holte sie aus und klatschte ihm den Fisch ins Gesicht.

In einer Abwehrbewegung riss er die Hand hoch und machte einen Schritt rückwärts, doch der morastige Boden gab unter ihm nach, und der satte Schlag mit dem Fisch tat ein Übriges. Sein linkes Bein rutschte nach vorn weg und er landete mit einem lauten Platsch mitten in den Hasenglöckchen auf dem Hosenboden.

Entsetzt drehte sie sich um und ergriff die Flucht, doch sie war noch keine vier Schritte weit gekommen, da legte sich eine Hand wie eine eiserne Klammer um ihren Oberarm, brachte sie zum Stehen und riss sie herum.

Sein wütendes Gesicht war jetzt ganz dicht vor dem ihren. „Für so ein Benehmen sollte ich Euch weiß Gott übers Knie legen!“, fauchte er.

Sidony richtete sich stocksteif auf und fand endlich ihre Stimme wieder. „Wie könnt Ihr es wagen?“, fauchte sie ihn an. „Lasst mich gefälligst los!“

Zu ihrer Überraschung gehorchte er. Doch noch immer sprühten diese erstaunlichen Augen Funken, bevor er sie drohend zusammenkniff. „Was macht Ihr hier draußen allein, gekleidet wie eine einfache Dienstmagd?“

„Ich hielt Euch für einen Gentleman“, gab sie zurück und starrte ihn ebenfalls an. „Aber ich wusste nicht, dass ein Gentleman so mit einer Dienstmagd umgeht.“

„Treibt’s nicht zu weit, Mistress. Ich bin ein duldsamer Mensch, aber eine solche Unverschämtheit lasse ich mir von niemandem gefallen.“

„Was ist an meiner Frage unverschämt?“ Sie reckte trotzig das Kinn. „Es ist viel unverschämter, einfach herumzulaufen und unschuldige Dienstmädchen zu küssen.“

„Die sind gewöhnlich gar nicht so unschuldig“, erwiderte er grinsend.

„Und woran, glaubt Ihr, liegt das wohl?“

Er machte den Mund auf, klappte ihn aber rasch wieder zu und runzelte die Stirn. Schließlich sagte er: „Ich muss mich doch sehr wundern. Da stellt Ihr anzügliche Fragen und bleibt dabei so kühl, als würdet Ihr übers Wetter reden.“

„Ihr habt mir noch keine Antwort gegeben.“

„Nein, Mädchen, und das werde ich auch nicht. Denn entweder wisst Ihr genau, warum die meisten Dienstmädchen nicht so unschuldig sind, und wolltet mich mit Eurer Frage nur in Verlegenheit bringen, oder Ihr wisst es wirklich nicht. Dann werde ich es Euch bestimmt nicht verraten. Außerdem habt Ihr meine Frage auch noch nicht beantwortet, und ich habe sie zuerst gestellt.“

„Ich habe ganz vergessen, worum es dabei ging“, erwiderte sie, obwohl sie sich sehr gut erinnerte.

Einen Augenblick lang sah er aus, als wollte er sie schütteln, und zu ihrer eigenen Überraschung hätte sie gern gewusst, wie sich das anfühlte.

Der Gedanke brachte sie wieder zur Besinnung. Wie kam sie nur auf solch eine Idee?

Mit mühsam beherrschter Ungeduld erklärte er: „Ich habe Euch gefragt, was Ihr hier draußen allein tut, und noch dazu in der Aufmachung einer einfachen Magd.“

„Es ist überaus unschicklich, eine Bemerkung über die Kleidung einer Dame zu machen, findet Ihr nicht auch?“

Zufrieden stellte sie fest, dass sich seine Augen schon wieder verengten.

Er stieß einen Laut aus, der wie ein unterdrücktes Knurren klang, sagte jedoch nur: „Also bitte, habt Ihr Euch nun verlaufen oder nicht?“

„Ja, schon. Obwohl ich jetzt, da ich weiß, wo die Abtei liegt …“ Sie brach ab und blickte sich um. Bei ihrer kopflosen Flucht und der kurzen Verfolgungsjagd hatte sie sich schon wieder verirrt. „Ich weiß immer noch nicht, wo ich bin“, musste sie zugeben.

„Wo wohnt Ihr denn?“

„In Clendenen House an der Canongate“, antwortete sie.

„Ich kenne die Canongate, dann werden wir auch Clendenen House finden. Wenn Ihr dem anderen Weg am Ufer des Lochs gefolgt wärt, hättet Ihr bald die Abtei gesehen.“

Da sie keine Lust hatte, darüber zu diskutieren, was sie hätte tun sollen, sagte sie nur: „Es war nicht recht von Euch, einen Lohn für Eure Hilfe zu verlangen.“

„Stimmt, aber ich habe es trotzdem genossen“, entgegnete er grinsend.

„Tatsächlich? Warum?“

Giff zuckte die Achseln. Sein Grinsen erstarb, als ihn wieder dieses ungewohnte Schuldgefühl überkam wie kurz zuvor bei ihrer naiven Frage über die Dienstmädchen. Den Grund dafür hätte er selbst nicht nennen können, doch die beiden schlichten Wörtchen verursachten ihm Gewissensbisse, zumal sie ihn so eindringlich anblickte, als wäre seine Antwort ihr wichtig. Auf einmal hatte er Angst, sie zu verletzen, wenn er behauptete, der Kuss hätte ihm nicht mehr bedeutet als jeder andere geraubte Kuss zuvor.

Er wollte ihr nicht wehtun, sondern sie lächeln sehen. Denn das hatte sie bisher noch nicht ein einziges Mal getan.

Sein Gewissen, das sich so lange angenehm zurückgehalten hatte, regte sich erneut. Der Grund dafür war gewiss nicht sein Verhalten, denn daran war sie genauso schuld wie er. Er war ein Mann, der an Abenteuern und Vergnügungen mitnahm, was er kriegen konnte, meist ohne Rücksicht auf Verluste. Doch in diesem Fall wollte er seinen Fehler wiedergutmachen. Noch immer wartete sie geduldig auf seine Antwort, doch er wollte ihrer Eitelkeit nicht noch schmeicheln, indem er ihren Kuss als etwas Besonderes darstellte. Sie war ohne Zweifel eine Schönheit, und er hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, sie näher kennenzulernen, doch ein Mann seines Schlages durfte seine Zeit nicht mit Tändeleien vertun. Schon gar nicht, wenn es um eine Jungfrau von hoher Geburt ging, die womöglich noch eine Ehe im Sinn hatte.

Daher sagte er schroffer als beabsichtigt: „Ich muss Euch jetzt nach Hause bringen, also lasst uns dort entlang gehen.“ Mit diesen Worten legte er ihr eine Hand unter den Ellbogen und drängte sie in die bezeichnete Richtung, wobei er hinzufügte: „Weiß jemand, dass Ihr Euch hier im Wald aufhaltet?“

„Ja, der Gärtner“, antwortete sie mit einem kleinen enttäuschten Seufzer, der ihm durch und durch ging.

„Wieso habt Ihr nur dem Gärtner und sonst niemandem Bescheid gesagt?“

„Ich habe mit meinem kleinen Neffen gespielt, damit sich meine Schwester ungestört mit unserer Gastgeberin unterhalten konnte“, erklärte sie erstaunlich gleichmütig. „Als sein Kindermädchen ihn zum Mittagsschlaf holen kam und ich feststellte, dass auch Isobel und Lady Clendenen sich ein wenig hingelegt hatten, ging ich in den Garten. Den Gärtner habe ich ganz zufällig getroffen.“

„Es ist ja nicht besonders ungewöhnlich, im Garten auf einen Gärtner zu stoßen“, bemerkte er.

„Ich weiß, und er ist auch sehr nett. Aber ich wollte gern allein sein, und als er mich fragte, ob ich auf einem Spaziergang wäre, sagte ich, ich wolle in den Wald gehen.“

„Er hätte Euch davon abraten sollen, den Garten zu verlassen“, erwiderte er streng.

„Manch einer wäre bestimmt der gleichen Meinung“, sagte sie, „aber er fragte mich nur, ob ich nicht eine Angelrute mitnehmen wolle. Er war so freundlich, dass ich nicht ablehnen wollte; also nahm ich die Angel mit und fing diesen Fisch hier. Dann habe ich mich verlaufen, und Ihr kamt genau in dem Augenblick, als ich dachte, ich wüsste, wo die Abtei liegt.“

„Aber warum wolltet Ihr denn unbedingt weggehen? Gab es in Clendenen House keinen, mit dem Ihr Euch unterhalten konntet?“

„Oh doch, zwei meiner Schwäger waren da, aber ich wollte sie nicht bei ihrem Gespräch stören.“

„Sind sie denn nicht nett zu Euch?“ Am liebsten hätte er ein Wörtchen mit diesen Männern geredet, weil sie dieses unschuldige Mädchen mutterseelenallein herumlaufen ließen.

Sidony musste ein Lächeln unterdrücken, als sie sah, wie ungehalten er über Hugo und Rob war. „Sie sind sogar sehr nett, Sir“, sagte sie. „Aber man unterbricht solche Männer doch nicht in ihrer Unterhaltung. Und außerdem wollte ich allein sein. Ich bin nun schon ein volles Jahr hier in Midlothian, müsst Ihr wissen, und manchmal tue ich gern so, als wäre ich wieder zu Hause. Heute ging es mir wieder so.“

„Ihr lebt also nicht schon immer in der Stadt des Königs?“

„Aber nicht doch! Ich wohne abwechselnd bei drei meiner Schwestern. Meine Schwester Sorcha und ich kamen zusammen mit unserer älteren Schwester Adela nach Midlothian. Isobel lebte bereits hier, nachdem sie unserer Schwester Cristina einen Besuch abgestattet hatte.“

„Na hört mal, wie viele Schwestern habt Ihr eigentlich?“

„Noch sechs. Früher waren es sieben, aber dann starb Mariota, und jetzt sind nur noch Cristina, Adela, Kate, Maura, Isobel und Sorcha übrig. Sie sind alle schon verheiratet, und in einem Monat vermählt sich mein Vater mit Lady Clendenen. Bis dahin …“

„Euer Vater ist also auch hier? Habt Ihr vielleicht gehofft, ich würde ihn nicht kennenlernen?“

„Er ist zu Hause in den Highlands“, erwiderte sie. „Er ist ein Mitglied des Inselrates, versteht Ihr?“

„Nein, das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht“, gab er zurück. „Wer ist denn nun Euer Vater?“

Sidony verzog das Gesicht. „Ach herrje, da gehen wir miteinander spazieren wie alte Freunde, und Ihr wisst noch nicht einmal meinen Namen. Ich Euren übrigens auch nicht“, fügte sie ein wenig spitz hinzu.

„Nein, das stimmt“, erwiderte er. „Ich weiß sehr wohl, dass Ihr glaubt, ein echter Gentleman hätte sich schon eher vorgestellt. Aber ich möchte nicht, dass Eure Familie und Freunde meinen Namen erfahren, und ich weiß nicht, ob ich mich auf Eure Verschwiegenheit verlassen kann.“

„Nun gut“, sagte sie und dachte, dass er in diesem Fall wohl auch weder Hugo noch Rob kennenlernen wollte, was ihr nur recht sein konnte. „Mein Vater ist Macleod von Glenelg, Sir. Ich bin seine jüngste Tochter Sidony.“

„Lady Sidony, um genau zu sein“, erwiderte er in leicht belustigtem Ton. „Da kann ich wohl froh sein, dass Euer Vater gerade nicht in der Stadt ist.“

„Ich glaube nicht, dass er mit Euch schimpfen würde“, sagte sie. „Wahrscheinlich wäre er eher böse auf mich, weil ich mich im Wald verlaufen habe.“

„Ja, aber es könnte sein, dass er mich kennt, Mädchen. Ich stamme nämlich auch aus Kintail.“

Sie betrachtete ihn mit neu erwachtem Interesse. „Seid Ihr gerade erst angekommen? Oh bitte, sagt mir doch, wie das Wetter dort ist. Blühen die Wildblumen schon? Aber ich müsste doch bestimmt Eure Familie kennen, Sir. So viele gibt es dort ja nicht, und die meisten von ihnen kenne ich. Die Macleods sogar alle. Seid Ihr ein Mackenzie oder ein MacRae?“

„Nein, noch nicht, Mädchen. Erzählt mir erst mehr über Eure Familie. Ich weiß natürlich, wer Euer Vater ist, aber in den vergangenen zehn Jahren war ich mehr fort als zu Hause. Wo ist Eure Mutter, und wie kommt es, dass drei von Euren Schwestern als geborene Hochlandmädchen hier in Midlothian leben? Aber wartet mal, hat nicht Eure Schwester, Lady Cristina, Hector Reaganach Maclean von Lochbuie auf der Insel Mull geheiratet?“

Nachdenklich zog er die Stirn kraus.

Sie überlegte, wie viel sie ihm erzählen sollte. Ihrer Erfahrung nach wollten die meisten Männer kurze, präzise Antworten und keine weitschweifigen Berichte.

„Meine Mutter starb, als ich zwei war, und Cristina ist tatsächlich mit dem Grimmigen Hector verheiratet“, begann sie mit den einfachsten Antworten. „Alles andere ist ein bisschen schwerer zu erklären. Adela sollte Ardelve von Loch Alsh heiraten, müsst Ihr wissen. Doch kurz vor ihrer Hochzeit wurde sie entführt und hierhergebracht. Sorcha und ich sind ihr gefolgt, doch Sir Hugo hat uns eingeholt. Ach, und noch davor heiratete Isobel …“

„Sir Hugo?“ Seine Frage brachte sie zum Schweigen. Es schien, als sei er nicht allzu erfreut, Hugos Namen zu hören.

„Ja“, sagte sie. „Sir Hugo Robison. Er ist der Gemahl meiner Schwester Sorcha.“

Da zuckten seine Lippen, seine Augen funkelten, und schließlich schüttelte er lachend den Kopf. „Jetzt habe ich mich aber wirklich reingeritten“, sagte er, als er wieder reden konnte.

„Was meint Ihr damit?“

„Als ich Hugo Robison das letzte Mal sah, hat er mich niedergeschlagen. Und wenn er erfährt, wie wir beide uns kennengelernt haben, wird er es bestimmt wieder versuchen.“

„Hugo ist selbstverständlich ebenso ein Gentleman wie Ihr“, erwiderte sie ernsthaft. „Ich wüsste zu gern, ob er sich auch einen Spaß daraus macht, unschuldige Dienstmädchen zu küssen.“

„Um Gottes willen, Mädchen, Ihr werdet ihn doch wohl hoffentlich nicht danach fragen!“

„Aber meine Schwestern sagen immer, wenn man etwas wissen will, soll man fragen.“

Er warf ihr einen drohenden Blick zu, den sie jedoch unbefangen erwiderte, auch wenn sie wieder dieses leichte, gespannte Prickeln empfand wie zuvor. „Wirklich, Sir, Ihr braucht keine Angst vor Hugo zu haben. Ihr müsst ihm nicht einmal begegnen. Sobald wir an der Abtei sind, gehe ich einfach wieder durch den Garten zurück. Dann wird er nie erfahren, dass wir uns getroffen haben.“

Erneut blickte er sie amüsiert an. „Dass Euch das am liebsten wäre, kann ich mir vorstellen. Wahrscheinlich wird er ebenso wütend auf Euch wie auf mich sein, nicht wahr?“

„Ja, vermutlich, wenn wir so dumm wären, ihm gemeinsam unter die Augen zu treten. Und deshalb solltet Ihr mich besser allein zurückgehen lassen.“

„Das kann ich nicht“, sagte er mit schiefem Lächeln und bot ihr zur Abwechslung höflich den Arm. „Wisst Ihr, ich habe die Erfahrung gemacht, dass man unangenehme Dinge am besten rasch hinter sich bringt. Außerdem könnte Eure Anwesenheit ein Schutz für mich sein.“

Sidony, die sich fragte, wer denn sie beschützen würde, ignorierte seinen Arm und sagte nur: „Bevor wir weitergehen, solltet Ihr wohl besser Euer Pferd holen, Sir.“

2

Das kleine Biest hatte ihn erst einen halben Kilometer laufen lassen, bevor sie ihn an sein Pferd erinnerte, doch Giff zog es vor, ihr keine Vorwürfe zu machen. Falls er behauptet hätte, sie habe es mit Absicht getan, hätte sie ihn mit Sicherheit daran erinnert, dass er es war, der unbedingt losgehen wollte, und sie ihm lediglich gehorcht hatte.

Darüber hinaus war natürlich er für das Pferd verantwortlich. Dieser Meinung wäre zweifellos auch der Verwandte, von dem er sich das Tier geliehen hatte. Und da dieser Mann, ein stämmiger Grenzbewohner, bestimmt sehr unwillig auf den Verlust seines Pferdes reagieren würde, entschloss sich Giff, es unverzüglich zu holen. Er warf einen Blick auf das Mädchen, das ihn mit der ihr eigenen Gelassenheit ansah, und fragte sich, was wohl geschehen musste, um sie aus der Ruhe zu bringen. Sie trug noch immer den Fisch, dem man es nicht ansah, dass sie ihn Giff um die Ohren geschlagen hatte, und beachtete ihre Beute so wenig, als wenn es wertloser Tand wäre.

„Ich kann Euch nicht hierlassen“, sagte er. „Ihr müsst schon mitkommen, das Pferd zu holen.“

„Hat Euer Pferd keinen Namen?“

„Doch, wahrscheinlich schon“, antwortete Giff. „Aber ich kenne ihn nicht.“

„Um Himmels willen, habt Ihr es etwa gestohlen?“

Er grinste. „Wenn ja, wäre es nicht das erste Mal. Aber nein, Ihr braucht mich nicht so böse anzusehen. Ihr seid viel zu schön, um die Stirn so in Falten zu legen.“

Ihre Augen leuchteten auf, als hätte ihr noch nie zuvor jemand ein Kompliment über ihr Aussehen gemacht. Während er noch über diese widersinnige Vorstellung nachdachte, wandte sie den Blick ab und sagte zart errötend: „So etwas dürft Ihr nicht sagen.“

„Ich kann mir vorstellen, dass Ihr andauernd etwas Ähnliches zu hören bekommt“, erwiderte er. „Aber Ihr habt recht, dass Ihr mich an meine guten Manieren erinnert. Hugo wird es bestimmt auch tun.“

„Woher kennt Ihr ihn?“, fragte sie.

„Ihr wollt wohl wissen, woher Hugo einen Pferdedieb kennt“, sagte er spöttisch.

„Seid Ihr wirklich ein Pferdedieb?“

„Ab und zu.“ Er blickte sich um in der Hoffnung, das verflixte Biest irgendwo zu entdecken. Derart orientierungslos war er sonst nie, doch seit er das Mädchen zum ersten Mal erblickt hatte, hatte er nur Augen für sie gehabt. Nur gut, dachte er, dass sie kein Lockvogel seiner Feinde war.

„Stehlen ist eine schlimme Sünde“, bemerkte sie tugendhaft.

„Ja, mag sein, aber manchmal bleibt einem Mann nichts anderes übrig. Im Grenzgebiet, woher ich gerade komme, ist Viehdiebstahl nichts Verwerfliches, sondern eine ganz alltägliche Angelegenheit. Wenn ein Mann ein Pferd braucht oder ein paar Rinder, um seine Familie zu ernähren, geht er eben auf Raub aus. Ah, da ist es ja“, fügte er hinzu.

„Ihr klingt ja ziemlich erleichtert. Hattet Ihr Angst, Ihr hättet es verloren?“, fragte sie.

„Seid nicht albern. Ein Mann verliert doch nicht sein Pferd.“

„Aber wenn es doch nicht Euer Pferd, sondern gestohlen ist …“

„Jetzt hört mal zu“, unterbrach er sie. „Ich habe dieses Pferd nicht gestohlen, sondern nur geborgt.“

Sie nickte bedächtig. „Das behaupten Pferdediebe immer, wenn sie ertappt werden. Was man sich borgt, gibt man gewöhnlich auch zurück.“

„Das habe ich auch vor“, erwiderte er, nun wieder grinsend. „Sonst würde der Verwandte, der es mir geliehen hat, auch ziemlich unangenehm werden.“

„Habt Ihr Angst vor ihm?“

„Du lieber Himmel, Ihr könnt einem vielleicht die Worte im Mund verdrehen! Kommt her, ich hebe Euch hinauf, dann braucht Ihr nicht den ganzen Weg zu laufen. Ich hoffe, Ihr fürchtet Euch nicht vor Pferden.“

„Natürlich nicht. Ich bin mein ganzes Leben lang geritten.“

„Tatsächlich?“ Er schien überrascht. „Hochlandfrauen reiten selten, und wenn, dann meist nicht besonders gut.“

„Ich schon“, entgegnete sie. „Aber auf einem gestohlenen Pferd will ich nicht reiten.“

„Ich wünschte, Ihr würdet nicht dauernd behaupten, ich hätte dieses Tier gestohlen“, erwiderte er schroff, während er den Braunen losband und ihm beruhigend über Hals und Nase strich.

„Aber das habt Ihr doch selbst gesagt.“

„Habe ich nicht. Vor zwei Minuten sagte ich klar und deutlich, dass ich ihn nicht gestohlen habe.“

„Ja, schon, aber vorher habt Ihr gesagt …“

„Ich sagte bloß, wenn ich es gestohlen hätte, wäre es nicht das erste Mal gewesen.“

„Also seid Ihr doch ein Dieb.“

Er wandte sich ihr zu, um ihr die passende Antwort zu geben, zögerte jedoch, als er ihren Blick bemerkte. Sie fixierte ihn wie ein Rotkehlchen einen schmackhaften Wurm, und ihre hellblauen Augen blitzten erwartungsvoll. Daher sagte er in trügerisch sanftem Ton: „Versucht Ihr jeden Mann so zu reizen, der Euch über den Weg läuft?“

Zu seiner Überraschung widersprach sie ihm nicht, sondern sagte mit wehmütigem Lächeln: „Mir laufen nicht viele Männer über den Weg. Bei einem Spaziergang bin ich noch keinem begegnet, und einem wie Euch schon gar nicht.“

„Einem Dieb, meint Ihr?“

Sie nickte und bedachte ihn erneut mit diesem prüfenden, herausfordernden Blick.

Er seufzte. „Mädchen, ich werde nicht aus Euch schlau. Aber eines ist klar: Je eher ich Euch bei Eurer Familie abliefere, desto besser für uns beide. Ich werde Euch also jetzt auf das Pferd setzen.“

Er wollte nach ihr greifen, doch sie trat ein paar Schritte zurück und sagte ruhig: „Nein danke, ich laufe lieber.“

„Seid doch nicht dumm“, entgegnete er schon etwas bestimmter. „Meine durchnässten Hosen müssen sowieso erst trocknen, und Ihr werdet Euch Eure Stiefel noch mehr verderben, wenn Ihr durch diesen morastigen Wald marschiert. Außerdem ist Reiten viel bequemer.“

„Das glaube ich nicht, aber trotzdem vielen Dank.“

„Ich habe es Euch nicht angeboten, damit Ihr mir dankbar seid“, grollte er.

„Ich möchte jedenfalls lieber zu Fuß gehen.“

„Und ich sage, Ihr reitet.“ Er stemmte die Hände in die Hüften und setzte seine strengste Miene auf, die normalerweise ausgewachsene Männer einschüchtern konnte.

In diesem Augenblick stupste das Pferd ihm mit der Nase gegen die Schulter, sodass er unwillkürlich einen Schritt auf sie zu taumelte.

Da zuckte es um ihre Lippen, und ihre Augen funkelten noch vergnügter.

„Zum Donnerwetter! Wagt Ihr es etwa, Euch über mich lustig zu machen?“ Wieder griff er nach ihr, worauf sie erneut zurückwich. Doch sie war nicht schnell genug, und so gelang es ihm, sie beim Arm zu packen.

Sie stieß ein leises Keuchen aus, wandte jedoch den Blick nicht ab, und als er ihr in die Augen sah, bemerkte er, dass das übermütige Funkeln verschwunden war. Stattdessen sah sie ihn ruhig und erwartungsvoll an und fuhr sich mit der Zungenspitze blitzschnell über die vollen, rosigen Lippen – ein überaus einladender Anblick, wie er fand.

Während er sie festhielt, stand Sidony ganz still und überlegte, ob sie ihn wohl verärgert hatte. Von ihren Erfahrungen mit ihren Schwägern wusste sie, dass Männer es nicht mochten, wenn eine Frau sich über sie lustig machte, doch als das Pferd ihn angestoßen hatte, hatte sie sich das Lächeln einfach nicht verkneifen können.

Noch immer schaute er sie mit diesem eigenartig abschätzenden Blick an, als überlegte er, was er von ihr zu halten hatte und ob er mit ihr schimpfen sollte. Das würde er bestimmt tun, denn auch die Männer, die sie kannte, duldeten keine Aufsässigkeit.

Dabei wollte sie überhaupt nicht aufsässig sein. Sie hatte nur einfach keine Lust, mit ihrem Fisch in der Hand zu reiten, während er nebenherging und das Pferd führte. Dabei wäre sie sich komisch vorgekommen, und außerdem wäre sie ihm dann noch stärker zu Dankbarkeit verpflichtet. Allein schon die Tatsache, dass er sie nach Hause brachte, würde Hugo und Rob davon überzeugen, dass ihr Ausflug leichtsinnig und gefährlich gewesen war, und sie würden ihr bestimmt verbieten, in Zukunft allein spazieren zu gehen.

Diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf, doch gleich darauf bemerkte sie, dass er sie mit einem ganz neuen Ausdruck in den Augen ansah. Plötzlich war ihr Mund wie ausgetrocknet, sodass sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Daraufhin wurde sein Blick geradezu hungrig, und der Griff um ihren Arm verstärkte sich.

Sie schluckte, ohne die Augen abzuwenden. Gleich würde er sie wieder küssen. Obwohl es eine Unverschämtheit gewesen wäre, wünschte sie es sich. Doch schon änderte sich sein Blick erneut, und unversehens fasste er sie um die Taille und hob sie in den Sattel.

Blitzschnell und ohne den Fisch loszulassen, schwang sie das Bein über den Pferderücken und ließ sich hinuntergleiten. Rasch trat sie ein wenig zurück, für den Fall, dass das Tier stieg oder sich aufbäumte, doch es schnaubte nur und begann unruhig zu tänzeln. Als er die Zügel ergriff, beruhigte es sich wieder.

„Langsam geht Ihr mir wirklich auf die Nerven, Mädchen.“

„Das tut mir leid, denn Ihr wart sehr freundlich zu mir“, erwiderte sie. „Aber ich möchte einfach nicht reiten, während Ihr lauft, und auch nicht hinter Euch im Sattel sitzen. Was sollen die Leute denken, wenn wir so die Canongate entlangkommen. Sie würden uns angaffen und sich alles Mögliche ausmalen.“

„Meint Ihr denn, das wäre anders, wenn wir beide zu Fuß gingen?“

„Ja, natürlich. Dann sähe es so aus, als hätten wir uns einfach im Wald getroffen und wären ein Stück gemeinsam gegangen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wäre es wirklich das Beste gewesen, ich wäre denselben Weg zurückgegangen, den ich gekommen bin, und Ihr wärt einfach weitergeritten.“

„Ihr seid also der Meinung, ich sollte Hugo besser nicht unter die Augen treten?“

„Nun ja, so hätte ich es nicht ausgedrückt, aber ich glaube, es wäre wirklich das Beste.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Er schüttelte den Kopf. „Und wie sollen wir uns Eurer Ansicht nach verhalten, wenn wir uns wiederbegegnen? Denn ich werde Hugo auf jeden Fall besuchen. Sollen wir dann einfach so tun, als hätten wir uns noch nie gesehen?“

Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. „Müsst Ihr Hugo denn unbedingt besuchen?“

„Ja, dafür bin ich schließlich nach Edinburgh gekommen.“

„Ach so. Aber wenn Ihr aus dem Grenzland kommt, warum seid Ihr dann nicht auf dem gewöhnlichen Weg in die Stadt geritten, geradewegs über die Cowgate zur High Street?“

„Ich glaube nicht, dass Euch das etwas angeht“, erwiderte er. „Ihr solltet nur wissen, dass ich unschuldigen Mädchen, besonders wenn sie adelig sind, nichts antue, egal, was Ihr von mir denken mögt. Und es gefällt mir ganz und gar nicht, wenn solche Mädchen ohne männlichen Schutz durch die Gegend laufen. Besonders“, fügte er in strengem Ton hinzu, „wenn sie mit meinen Freunden verwandt sind. Wenn sich meine Schwester so benehmen würde, würde mein Vater ihr eins mit der Rute überziehen.“

„Habt Ihr überhaupt eine Schwester?“

„Ja, zwei sogar.“

„Na, jedenfalls habt Ihr nicht das Recht, mir eins überzuziehen“, erwiderte sie. „Und auch wenn Hugo manchmal ganz schön wütend werden kann, würde er so etwas wohl auch nicht tun.“ Ihr kam ein unerfreulicher Gedanke. „Ihr werdet es ihm doch wohl nicht raten, oder?“

Sogleich wurde seine Miene sanfter. „Nein, Mädchen, das nicht. Doch nun kommt, wir haben uns schon lange genug aufgehalten.“

„Aber Ihr wollt mich nicht wieder auf dieses Pferd setzen, nicht wahr?“

„Nein, dieses eine Mal sollt Ihr ausnahmsweise Euren Willen haben.“

Bei seinen Worten wurde ihr ganz unbehaglich, doch sie fing sich rasch wieder. Immerhin war es sehr unwahrscheinlich, dass sie ihn noch einmal wiedersehen würde.

Giff sah zu, wie sie sich ihren Weg durch den sumpfigen Wald suchte, und überlegte, warum er ihr so ohne Weiteres nachgegeben hatte. Schon allein für ihre Dickköpfigkeit hatte sie einen kräftigen Schlag aufs Hinterteil verdient. Dennoch hatte sich gegen den Gedanken, dass Hugo oder sonst jemand sie schlagen könnte, tief in seinem Inneren etwas empört.

„Wollt Ihr den ganzen Weg vor mir hergehen?“, fragte er.

Sie blickte sich zögernd um. „Versprecht mir, dass ich nicht reiten muss.“

„Das habe ich doch schon gesagt. Auf mein Wort könnt Ihr Euch verlassen.“

Sie nickte. „Also gut, wenn Ihr wollt, gehe ich neben Euch.“

So schritten sie eine Weile schweigend dahin, doch nachdem sie ihn zum dritten Mal angesehen hatte, als hätte sie etwas auf dem Herzen, und dann doch schwieg, fragte er: „Was ist denn, Mädchen? Wollt Ihr mir noch etwas sagen?“

Sie nagte an ihrer Unterlippe, dann blickte sie auf und sagte: „Ich wollte nur etwas fragen. Aber eigentlich sollte ich Euch die Frage gar nicht stellen.“

„Nur heraus mit der Sprache. Mir macht es nichts aus.“

„Es gehört sich wirklich nicht, aber ich möchte so gern wissen, ob Eure Bemerkung ernst gemeint war.“

„Ihr müsst mir schon sagen, um welche Bemerkung es geht.“

Sie wandte den Blick ab. „Ich weiß, es ist albern, und man sollte um dergleichen gar nichts geben, aber wenn es einem nun einmal nicht aus dem Kopf geht …“

„Dann muss man eben fragen“, beendete er den Satz für sie. Er konnte es vor Neugier kaum noch aushalten und hätte sie für ihr Zaudern am liebsten geschüttelt. Doch er hatte das Gefühl, wenn er jetzt unfreundlich zu ihr wäre, würde er nie erfahren, um was es ging. Und er wollte es unbedingt wissen.

Als sie noch immer zögerte, schwieg er in der Hoffnung, dass sie zu den Leuten gehörte, die eine Gesprächspause nicht lange ertragen konnten. Doch da hatte er sich offensichtlich geirrt. Sie schwieg weiter, ganz in Gedanken versunken, und obwohl er sie erst seit Kurzem kannte, schien es ihm geraten, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen.

Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen, doch er schaffte es.

Endlich ergriff sie das Wort: „Sagt Ihr zu Frauen oft Dinge, die Ihr nicht ernst meint?“

„Normalerweise meine ich immer, was ich sage. Aber verratet mir doch endlich, was ich denn gesagt haben soll.“

Sie errötete und verstummte erneut. Da sie zuvor nicht so scheu gewesen war, musste es wohl an einer seiner Bemerkungen liegen, dachte er. Doch er konnte sich nur noch entsinnen, dass er es töricht genannt hatte, dass sie allein in den Wald gegangen war. Und diese Bemerkung konnte sie wohl kaum meinen.

Mit so sanfter Stimme, wie er es selbst nie für möglich gehalten hätte, fuhr er fort: „Fragt nur, Mädchen. Ich werde es Euch nicht übel nehmen und Euch eine ehrliche Antwort geben.“

Mit einem dankbaren Blick sprudelte sie hervor: „Ihr habt gesagt, ich wäre schön. Findet Ihr das wirklich?“

Er hätte sie beinahe gefragt, ob sie verrückt sei, doch als er ihre bange Miene bemerkte, blieben ihm die Worte im Hals stecken.

Stattdessen sagte er in sachlichem Ton: „Ihr müsst doch selbst wissen, dass Ihr schön seid. Bestimmt hat es Euch jeder, der Euch kennt, schon gesagt.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, niemand.“

„Aber das kann doch nicht sein. Ihr braucht doch bloß in den Spiegel zu schauen.“

„Ihr versteht nicht“, erklärte sie. „Ich habe sechs Schwestern. Jedermann nennt uns die schönen Macleod-Töchter, doch die meisten Leute kennen nur meine älteren Schwestern. Cristina, die älteste, ist eine außergewöhnliche Schönheit. Im Vergleich zu ihrem Haar ist meines fad; ich bin nicht so drall und viel zurückhaltender. Und diejenigen, die meine Schwester Mariota kannten, behaupten, Cristina könnte ihr nicht das Wasser reichen. Und ich kann mich mit keiner von ihnen messen.“

„Mariota ist diejenige, die gestorben ist“, erinnerte er sich.

„Ja, und Isobel sagt, dass sie zwar gut aussah, aber keinen guten Charakter hatte. Doch die anderen Leute wissen nur noch, wie unglaublich schön sie war.“

„Habt Ihr sie nicht mehr gekannt?“

„Nein. Ich war noch ein Säugling, als sie starb. Ihr seht also, mich findet keiner schön, weil die anderen so viel besser aussehen.“

„Aber Ihr wart gewiss schon am Königshof. Dort wird man Euch doch Komplimente gemacht haben.“

„Nein, auch nicht. Ich mag nämlich keine großen Gesellschaften. Einmal war ich mit Sorcha und Isobel auf Edinburgh Castle, weil mein Vater wollte, dass Lady Clendenen mich Seiner Gnaden vorstellt. Doch Seine Gnaden war krank, daher hielten wir uns höchstens eine halbe Stunde auf. So einen Krach habe ich noch niemals gehört. Ich weiß gar nicht, wie man sich an solch einem Ort unterhalten soll.“

Er lachte leise, als er an seinen eigenen kurzen Aufenthalt auf Stirling dachte. „Der halbe Hofstaat ist taub und die andere Hälfte betrunken, aber die meisten amüsieren sich prächtig. Außerdem muss jeder Mann, der in Schottland etwas werden will, dort seinen Kratzfuß machen.“

„Habt Ihr das auch getan?“

Er nickte und sagte: „Mir gefiel es dort ebenso wenig wie Euch, aber ich habe es zumindest geschafft, mich bekannt zu machen, bevor ich unseren Familiensitz im Hochland übernehme. Was ich wohl eines Tages tun muss, wenn ich meine Abenteuerlust gestillt habe. Im Westen des Landes schert sich keiner groß um das, was am Königshof vorgeht, außer der Lord der Inseln und andere wichtige Männer, die so viel Macht wie möglich erringen wollen. Doch selbst sie lassen sich nur selten in Stirling und Edinburgh sehen und halten sich lieber am Königshof der Inseln auf.“

„Gilt das auch für Euch?“

„Nein. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen.“

„Führt Ihr denn ein abenteuerliches Leben?“

„Oh ja, das liebe ich. Und gerade heutzutage gibt es für einen Mann wie mich jede Menge zu erleben.“

„Erzählt mir davon.“

„Vielleicht ein andermal“, erwiderte er lächelnd. „Dort hinten liegt die Abtei, also ist es bestimmt nicht mehr weit bis nach Clendenen House, nicht wahr?“

„Nein, gar nicht mehr weit“, sagte sie stirnrunzelnd.

Viel zu bald waren sie am Haupttor von Clendenen House angelangt, dem Wohnsitz von Ealga, Lady Clendenen. Es lag an der Südseite der Straße namens Canongate, die von der Kirche St. Giles zur Holyrood-Abtei führte. Dicht an dicht drängten sich an der breiten Straße die Häuser aus Stein und Holz, die fast alle über eine Zufahrt zu den Ställen und Gärten dahinter verfügten.

An der Nordseite, näher an St. Giles, befand sich Sinclair House, wo Sidony gegenwärtig bei ihrer Schwester Isobel und deren Gemahl, Sir Michael Sinclair, lebte. Im Nordwesten überragte Edinburgh Castle auf seinem schroffen Burgfelsen die ganze Stadt.

Mit seinen vierhundert Häusern und zweitausend Einwohnern war der Sitz des Königs die größte Stadt, die Sidony jemals gesehen hatte, doch mittlerweile hatte sie sich an den Lärm und die Betriebsamkeit gewöhnt. Gott sei Dank ging es auf der Canongate stiller zu als in dem Bereich, der näher an der Burg lag, auch wenn soeben ein mit Wolle hoch beladener Karren auf seinem Weg zum Hafen von Leith vorüberratterte.

Sidonys Begleiter warf einem Gassenjungen, der auf dem schmalen gepflasterten Gehsteig herumlungerte, eine Münze zu und bat den erfreut grinsenden Jungen, sein Pferd zu halten. Dann bot er Sidony den Arm, doch sie beachtete ihn genauso wenig wie zuvor. Sie wollte vermeiden, dass man sie für mehr als nur flüchtige Bekannte hielt.

Noch bevor sie das Haus erreicht hatten, öffnete sich die Tür, und zu Sidonys Erleichterung trat Rob – und nicht Hugo – heraus.

„Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Mädchen.“ Seine etwas raue Stimme klang langsam und bedächtig. Doch als er ihren Begleiter erblickte, riss Rob die braunen Augen, die immer ein wenig schläfrig wirkten, weit auf.

Bevor er etwas sagen konnte, legte sich von hinten eine große Hand auf seine Schulter, und Sir Hugo Robison trat neben ihn. Er war größer, breiter und dunkler als sein Schwager, und man konnte deutlich spüren, dass er verärgert war.

Bei den Ehemännern ihrer Schwestern handelte es sich durchweg um große Männer, doch Sidony kannte nur einen, der noch größer war als Hugo, und das war Cristinas Mann, der Grimmige Hector.

Sidony warf Hugo einen vorsichtigen Blick zu. Sie wagte es nicht, zu ihrem Begleiter hinüberzusehen, um herauszufinden, wie er auf Hugos offensichtlichen Unmut reagierte.

Daher erschrak sie, als der Mann neben ihr laut auflachte und sagte: „Meine Güte, Hugo, du siehst aus, als wolltest du das arme Mädchen auffressen. Wenn es schon sein muss, dann lass deine Wut an mir aus, Mann. Ich kann mich wenigstens wehren.“

Hugo richtete seinen Blick auf ihn und antwortete ohne eine Spur von Heiterkeit: „Du willst dich wohl mal wieder mit mir messen, du elender Halunke.“

„Mit dem größten Vergnügen. Beim letzten Mal hast du mich überrumpelt. Das passiert mir nicht noch einmal.“

„Beim letzten Mal habe ich dich zu Boden geschickt, bevor es überhaupt zu einem Streit kommen konnte“, erwiderte Hugo. „Ich habe gehofft, es wäre dir ein für alle Mal eine Lehre gewesen.“

„Das wollen wir erst mal sehen, wer hier wem eine Lehre erteilt, mein Junge.“

Er hatte ganz leise gesprochen, doch Hugo hatte ihn trotzdem verstanden, denn er verzog unwillig das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dann sagte er zu Sidonys Erleichterung ganz friedlich: „Du kannst doch sicher dafür garantieren, dass dem Mädchen in deiner Obhut nichts zugestoßen ist, Giff.“

„Das weißt du doch. Sollen wir hier auf der Schwelle stehen bleiben? Wie ich gehört habe, ist es ja noch nicht einmal dein Haus, sondern das von Lady Clendenen. Du könntest auch einen Diener rufen, damit er Lady Sidony den Lachs abnimmt und ihn ihr zum Abendessen zubereiten lässt. Wie du siehst, ist es ein schöner fetter Bursche.“

„Also gut, gehen wir hinein“, sagte Hugo und ließ sie eintreten. Zugleich bedeutete er einem Pagen, Sidony Fisch und Angel abzunehmen. „Du kannst ihm auch dein Schwert geben, Giff“, fügte er hinzu.

„Die gehört dem alten Gärtner“, erklärte Sidony, als der Page nach der Angel griff. „Gib sie ihm bitte mit meinem Dank zurück.“

„Jawohl, Mylady“, sagte der Bursche, bevor er das schwere Schwert nebst Scheide von ihrem Begleiter entgegennahm.

Nachdem der Diener gegangen war, sagte Hugo: „Es wurde aber auch Zeit, dass du kommst, Giff. Wir hätten dich schon fast aufgegeben.“

„Ich war in Galloway, da mussten deine Jungs lange nach mir suchen.“

„Wie bist du denn auf Lady Sidony gestoßen?“, erkundigte sich Hugo beiläufig.

„Lasst uns in Ealgas kleinen Salon gehen; dort können wir weiterreden“, schlug Rob vor.

Giff schüttelte Rob die Hand und sagte: „Ich wusste nicht, dass du auch hier bist. Wir sind Vettern, müsst Ihr wissen, Mylady“, fügte er an Sidony gewandt hinzu. „Ich habe eine Menge Vettern unter den Logans, weil die MacLennans ursprünglich selbst zum Clan Logan gehörten, bevor sie aus irgendwelchen Gründen ins Hochland übersiedelten. Aber bist du bei der Sache denn auch dabei, Rob?“

„Wir unterhalten uns im Salon weiter“, sagte Hugo bestimmt.

„Sidony, da bist du ja!“ Die vertraute Stimme klang sehr erleichtert. Sidony drehte sich um und begrüßte Isobel, die oben auf der Treppe erschienen war.

Man merkte es Isobel noch nicht an, dass sie zum zweiten Mal schwanger war. Mit ihren blonden Haaren und den grauen Augen sah sie so schön aus wie immer, und Sidony stellte fest, dass Giff sie ebenso hingerissen betrachtete wie fast jeder Mann, der sie zum ersten Mal erblickte.

Isobel, die es gar nicht zu bemerken schien, sagte: „Aber wo bist du nur gewesen, Liebes? Wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht, weil du so lange fort warst. Hugo wollte schon nach dir suchen lassen.“

„Ich wollte euch nicht beunruhigen“, erwiderte Sidony zerknirscht. „Ich war nur spazieren.“

„Aber wo denn bloß?“, fragte Isobel. „Und wer ist der Mann dort neben dir?“

Sidony biss sich auf die Lippen, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie konnte ihn ja schlecht Giff nennen, wie Hugo es getan hatte. Andererseits wollte sie lieber nicht zugeben, dass sie seinen Namen nicht kannte, denn das hätte alles noch schlimmer gemacht.

In der eintretenden Stille warf der Neuankömmling Hugo einen beredten Blick zu. Daraufhin sagte Hugo: „Verzeiht, Mylady, und erlaubt mir, Euch meinen Freund Giffard MacLennan von Duncraig vorzustellen. Er erhielt seine Ausbildung bei meinem Vater auf Dunclathy und war, wie ich hinzufügen darf, für uns alle eine rechte Nervensäge.“

Isobel lächelte den Gast an. „In diesem Fall sollte ich Euch wohl Sir Giffard nennen, nicht wahr?“

Sidony blickte Sir Giffard mit neu gewonnenem Interesse an. Wenn er auf Dunclathy ausgebildet worden war, hatte er die gleichen ritterlichen Fertigkeiten erlernt wie Michael, Hugo und Rob. Auf Burg Dunclathy war Hugo aufgewachsen, und sein Vater, Sir Edward Robison, war ein berühmter Krieger und Schwertkämpfer, bei dem nur die fähigsten jungen Männer in die Lehre gingen.

Bevor Sir Giffard antworten konnte, sagte Hugo: „Isobel ist Michaels Lady, Giff. Also sieh zu, dass du dich in ihrer Gegenwart benimmst.“

„Etwas anderes würde ich mir gar nicht einfallen lassen“, erwiderte Sir Giffard und machte eine tiefe Verbeugung. „Es ist mir eine große Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen, Mylady.“

„Woher kennt Ihr meine Schwester, Sir?“, fragte Isobel unumwunden.

„Das kann ich dir erklären“, mischte Sidony sich hastig ein, bemüht, so gelassen wie immer zu sprechen. „Ich bin sicher, dass Sir Giffard, Hugo und Rob sich viel zu erzählen haben. Also lassen wir sie jetzt besser allein. Hoffentlich bist du mir nicht mehr böse, dass ich dir solche Sorgen gemacht habe, Isobel.“

„Natürlich nicht“, sagte ihre Schwester und schloss sie zärtlich in die Arme. Dann fragte sie Hugo: „Bleibt Sir Giffard zum Abendessen, Sir?“

„Vielleicht“, erwiderte Hugo. Als Sidony Isobels Arm nahm und sie in Richtung Treppe dirigierte, rief er ihr nach: „Wir unterhalten uns noch vor dem Abendessen, Sidony.“

„Ja, Sir.“ Sidony unterdrückte einen Seufzer. Dann besann sie sich auf ihre guten Manieren. Sie drehte sich zu Sir Giffard um, machte einen Knicks und sagte mit gesenktem Blick: „Ich danke Euch für Eure Freundlichkeit, Sir, und hoffe, es missfällt niemandem, dass Ihr mich nach Hause begleitet habt.“

Ebenso höflich erwiderte er: „Ich bin froh, dass ich Euch zu Diensten sein konnte, Mylady.“

Sie hob den Blick und hätte am liebsten gesagt, dass sie ihn nicht darum gebeten hatte. Doch als sie Hugos Blick sah, der sie aus zusammengekniffenen Augen interessiert betrachtete, verkniff sie sich die Bemerkung, machte stattdessen noch einen Knicks und folgte Isobel die Treppe hinauf.

3

Giff sah den beiden Frauen nach, als sie die polierte Holztreppe hinaufstiegen, und wünschte, Lady Sidony würde sich noch einmal zu ihm umdrehen. Mit halbem Ohr hörte er, wie Hugo einen Pagen nach Erfrischungen schickte. Dann war alles still, und man hörte nichts mehr als das Rauschen der Damenröcke und die leichten Schritte auf den Stufen. Schließlich räusperte sich Hugo.

Obgleich er wusste, wie ungeduldig sein Freund war, nahm sich Giff die Zeit, noch einmal tief durchzuatmen, bevor er sich umdrehte und sagte: „Gehen wir in den Salon, Jungs. Ich bin gespannt, was für neue Abenteuer auf uns warten.“

Er bemerkte, wie die anderen beiden einen Blick wechselten, und wusste, dass Hugo im Stillen die Augen verdrehte. Doch das überraschte ihn nicht. Die beiden Männer waren – ebenso wie Michael – mehrere Jahre älter als er und hatten sich seinerzeit bei seiner Ankunft bereits gut auf Dunclathy eingelebt. Damals hielten sie sich für überlegen, und obwohl Giff ihnen mittlerweile bewiesen hatte, was in ihm steckte, war noch immer ein Rest dieser alten Überheblichkeit spürbar.

Jetzt ergriff er erneut das Wort: „Ich war sehr traurig, als ich vom Tod deines Vaters und deines Bruders hörte, Rob. Jetzt trägst du den Titel Logan von Lestalric, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete Rob. „Und ich bin sicher, du bringst Neuigkeiten von unseren Verwandten in Galloway, stimmt’s?“

„Ja, sicher.“ Giff musste daran denken, dass das widerspenstige Tier, das er auf dem Weg nach Edinburgh geritten hatte, einem von diesen Verwandten gehörte. „Aber vielleicht ist jetzt nicht der rechte Augenblick …“

„Jetzt in diesem Augenblick“, unterbrach ihn Hugo und schloss die Tür, „möchte ich zuerst einmal wissen, wo du Sidony getroffen hast, Giff. Du wirst sie ja wohl kaum auf der Straße angesprochen haben.“

„Es ist noch viel schlimmer.“ Giff grinste. „Du hast ihren prachtvollen Fisch ganz vergessen. Ich hörte sie im Wald bei der Abtei pfeifen und bin dem Klang gefolgt.“

Als er Hugos grimmige Miene sah, zog Giff es vor, den geraubten Kuss nicht zu erwähnen. Den wollte er sich als mögliches Ablenkungsmanöver in Reserve halten. So wie er Hugo kannte, konnte eine solche Taktik durchaus erforderlich werden.

„Wahrscheinlich hast du das Mädchen zu Tode erschreckt“, sagte Hugo.

„Überrascht habe ich sie vermutlich schon, aber wohl kaum zu Tode erschreckt“, entgegnete Giff. „Die Dame lässt sich anscheinend nicht so leicht aus der Ruhe bringen.“

„Meinst du? Was hattest du überhaupt dort im Wald zu suchen?“

„Hast du dir mal die Landstraßen angesehen?“, fragte Giff zurück. „Wollkarren, so weit das Auge reicht. Und Schafe! Bei dem Geblöke und Gehüpfe ist es kein Wunder, wenn ein Pferd scheut. Das Tier, das ich mir geborgt habe, kann jedenfalls Schafe nicht ausstehen.“

Rob grinste. „Ich muss zugeben, das kann schon manchmal ein Problem sein, aber die Wolle muss schließlich irgendwie zu den Schiffen kommen. Und mir machen die Schafe noch mehr zu schaffen als dir. Ein beträchtlicher Uferstreifen am Hafen von Leith gehört nämlich mir, musst du wissen, und so müssen die ganzen Karren und Schafe über mein Land, um zum Hafen zu kommen. Ich habe den Schäfern sogar erlaubt, am Weg Unterstände gegen den Regen zu errichten. Manche von ihnen, besonders diejenigen, die nur einen oder zwei Karren besitzen, treiben ihre Schafe sogar bis nach Lestalric und scheren sie erst dort.“

„Deshalb sieht man wohl auch ebenso viele geschorene wie ungeschorene Tiere“, sagte Giff.

Hugos Gesichtsausdruck verriet, dass er sich nicht im Geringsten für Schafe interessierte. Stattdessen blickte er Giff scharf an und fragte: „Was hast du denn da an der Backe?“

Urplötzlich war Giff zumute, als wäre er wieder elf Jahre alt. Er legte eine Hand auf die Wange und musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen.

„Nimm die Hand weg“, sagte Hugo und schaute noch genauer hin. „Verflixt noch mal, das sieht ja aus wie Fischschuppen!“ Er blickte zu Rob hinüber, der sich krampfhaft auf die Lippen biss, um nicht zu lachen. „Findest du das so witzig, mein Lieber?“

„Ja“, antwortete Rob einfach.

In der Hoffnung, die beiden vom Thema abzulenken, begann Giff: „In nur zwei Tagen bin ich von Galloway hierhergekommen, Hugo. Du wirst also schon entschuldigen müssen, wenn ich ein wenig Schmutz an der Wange …“

Er brach ab, als Hugo ihm kräftig mit dem Finger über die Wange rubbelte und dann an dem Finger roch.

Er warf Giff einen schwer zu deutenden Blick zu und sagte: „Dieser Lachs war also zu mehr gut als nur zum Essen. Womit hast du dir den Schlag eingehandelt, Giffard?“

„Meine Güte, wie kommst du denn darauf?“, erwiderte Giff entrüstet.

„Ich kenne dich, und ich kenne die Macleod-Schwestern“, gab Hugo zurück. „Du musst wissen, dass ich mit derjenigen von ihnen verheiratet bin, die Lady Sidony im Alter am nächsten ist. Meine Sorcha würde, ohne zu zögern, jeden Mann umhauen, der ihr zu nahe tritt, doch bei Sidony überrascht es mich, ehrlich gesagt, ein wenig, dass sie es versucht hat.“

„Wenigstens gehst du davon aus, dass sie es nur versucht hat“, erwiderte Giff und verdrängte die Erinnerung daran, wie er auf dem schlüpfrigen Boden ausgerutscht war. Dann fügte er unbefangen hinzu: „Ich fürchte, ich hielt sie versehentlich für eine Dienstmagd. Als ich meinen Irrtum aufklärte, haute sie mir eine herunter. Können wir uns nicht setzen, Hugo? Die letzten zwei Tage habe ich wenig Schlaf bekommen.“

„Halte dich von ihr fern, Giff“, sagte Hugo. „Eine Macleod-Schwester kann sich ihren Ehemann aus den höchsten Kreisen wählen. Ihr Vater und ihre Schwäger werden Sidony einen suchen, der wohlhabend, ordentlich und zuverlässig ist – und nicht so ein Bruder Leichtfuß wie du.“

„Na gut“, erwiderte Giff, nun wieder lächelnd. „Nicht dass ich die Absicht hätte, mir eine Frau zu nehmen, und sei sie noch so hübsch, aber für die MacLennans gilt die Devise ‚Man soll die Hoffnung nie aufgeben‘.“

Hugo zuckte die Achseln. „Wenn du mich fragst, kommt das so ziemlich aufs Gleiche heraus.“

„Ja, sicher, aber deshalb hast du mich doch holen lassen, oder etwa nicht?“ Er schaute zu Rob hinüber. „Und du, werter Herr, sagst kein Wort und amüsierst dich nur im Stillen. Hast du nichts dazu zu sagen?“

Rob lächelte schläfrig. „Ich verlasse mich darauf, dass Hugo die richtigen Worte findet, und meiner Erfahrung nach können die Macleod-Mädchen ganz gut auf sich selbst aufpassen.“

„Oh Gott, du willst doch wohl nicht sagen, dass du auch eine von ihnen geheiratet hast!“

„Doch, Lady Adela.“

Giff schüttelte den Kopf. „Ich nehme an, diese Frauen sind nicht der Grund, warum ihr mich gerufen habt.“

„Wir haben dich kommen lassen, weil wir eine gefährliche Aufgabe für dich haben und du in dem Ruf stehst, solche Aufgaben mit Bravour zu meistern“, erklärte Hugo ohne Umschweife. „Wir wollen nur hoffen, dass du auch diesmal Erfolg hast, denn sonst müsste Schottland jahrelang, wenn nicht sogar für immer, leiden.“

„Du machst mich neugierig.“ Ohne Hugos Erlaubnis abzuwarten, zog sich Giff einen Hocker heran und setzte sich. „Worum geht es denn bei dieser ach so wichtigen Aufgabe?“

Da klopfte es einmal hart an der Tür. Draußen stand der Page mit den Erfrischungen. „Gedulde dich einen Augenblick“, murmelte Hugo.

Der Junge goss ihnen allen einen Becher Ale ein und sagte: „Die Lady schickt Euch kleine Käsebrötchen zum Ale, doch ich soll Euch ausrichten, dass das Abendessen in einer Stunde auf dem Tisch steht. Es gibt Lammbraten und Lachs.“

Nachdem Hugo ihm versichert hatte, dass sie pünktlich sein würden, wartete er, bis der Diener die Tür hinter sich zugezogen hatte. Dann wandte er sich wieder an seine Gefährten: „Es gibt ein paar Dinge, die du wissen musst, Giff. Aber zunächst eine Frage: Du verfügst doch noch immer über mehrere seetüchtige Schiffe, nicht wahr?“

„Ja, schon. Allerdings nützt euch das hier nicht viel, da sie im Westen vor Anker liegen. Aber natürlich …“

Als er von einem zum anderen schaute, erkannte er an ihren trübsinnigen Mienen, dass er ihnen nicht die erhoffte Antwort gegeben hatte.

„Zuallererst musst du dieses scheußliche Kleid ausziehen“, sagte Isobel, während sie Sidony von Kopf bis Fuß musterte. Sie standen in der Schlafkammer, die den Macleod-Schwestern vorbehalten war, wann immer sie Lady Clendenen besuchten. „Wo ist dasjenige, das du bei unserer Ankunft getragen hast?“

„Das brauche ich nicht schon wieder anzuziehen“, erwiderte Sidony, schloss die Tür und begann, die seitlichen Schnürbänder ihrer alten blauen Tunika zu lösen. „In diesem Jahr bin ich so viel herumgereist, dass auf drei Burgen Kleider von mir herumliegen und auch noch welche hier und in Sinclair House. Das hier habe ich nur angezogen, um mit deinem kleinen William Robert zu spielen. Dahinten in der Truhe liegt bestimmt noch eines, das ich zum Abendessen mit den Gentlemen tragen kann.“

„Dann sollten wir es gleich herausholen, denn es muss bestimmt noch gebügelt werden“, sagte Isobel und schritt sogleich zur Tat. „Das geht aber“, sagte sie, nachdem sie das zartgelbe Kleid, das ordentlich zusammengefaltet in der Truhe gelegen hatte, ausgeschüttelt und gemustert hatte. Dann fügte sie augenzwinkernd hinzu: „Erzählst du mir jetzt alles über ihn?“

Sidony schoss die Hitze in die Wangen, als sie daran dachte, was im Wald bei der Abtei vorgefallen war. Sie drehte ihren Rock herum, damit sie das Band in der Taille lösen konnte, und sagte: „Sollten wir nicht erst nach einer Dienstmagd schicken und uns heißes Wasser bringen lassen?“

„Nein, das sollten wir nicht“, entgegnete Isobel. „Ich will jetzt alles wissen, und vor einer Dienerin wirst du bestimmt kein Wort sagen. Du kannst dir Gesicht und Hände mit dem kalten Wasser in dem Krug dort hinten waschen, und ich werde dir beim Umziehen helfen. Wo sind die Bürste und der Kamm, die sonst immer hier auf dem Tisch liegen?“

Da fügte sich Sidony. Sie fand die gesuchten Utensilien auf dem Waschtischchen zwischen zwei hohen, schmalen Fenstern, die auf den Garten hinausgingen. Dann zog sie sich bis aufs Unterhemd aus, während Isobel das mit Goldspitze besetzte Mieder ausschüttelte, das zu dem hellgelben Seidenrock gehörte.

„Ich glaube, in der Truhe ist auch ein sauberes Hemd“, sagte Sidony.

„Stimmt“, erwiderte Isobel. „Mir kommt es so vor, als hätte eines der Mädchen die Sachen gelüftet, weil sie so frisch riechen. Also, jetzt erzähle mir auf der Stelle alles. Wie hast du ihn kennengelernt?“

Da ihr nichts anderes übrig blieb, berichtete Sidony es ihrer Schwester, wobei sie nur Giffs Kuss und den Schlag mit dem Lachs ausließ. Als sie an die Stelle kam, wo er sie aufgefordert hatte, auf seinem Pferd nach Clendenen House zu reiten, errötete Sidony, worauf Isobel argwöhnisch die Augen zusammenkniff.

Doch das hatte offensichtlich noch einen anderen Grund, denn schon sagte Isobel neckend: „Du hast mir noch nicht alles erzählt, Siddie. Wie gefällt er dir? Er ist sehr attraktiv, nicht wahr? Allerdings sieht er nicht so gut aus wie Michael“, fügte sie pflichtschuldigst und ein bisschen wehmütig hinzu.

Sidony, die wusste, woher diese Wehmut rührte, sagte tröstend: „Er kommt bestimmt bald nach Hause.“

„Es dauert mir immer noch zu lange. Und außerdem kommt er nur, weil er weiß, dass ich notfalls auch ohne ihn zu der Hochzeit ins Hochland reisen würde“, entgegnete Isobel.

„In deinem Zustand solltest du wirklich nicht allein reisen.“

„Das sagt Michael auch, und ich kann es ihm nicht verdenken. Schließlich kann ich das Essen kaum bei mir behalten, selbst wenn ich nicht auf einem schwankenden Schiff bin. Aber das geht bald vorüber. Trotzdem wird Michael mich davon abhalten wollen, zur Hochzeit unseres Vaters zu fahren.“

„Das wäre vielleicht auch besser“, sagte Sidony in der Hoffnung, ihre Schwester vom Thema Sir Giffard MacLennan abzulenken.

„Mit Michael werde ich schon fertig“, erwiderte Isobel zuversichtlich. „Doch um ihn geht es mir jetzt nicht. Du hast mir noch immer nicht verraten, was du von Sir Giffard hältst.“

Sidony, die zum Waschtisch gegangen war, goss Wasser aus dem Krug in die Schüssel und feuchtete einen Lappen darin an. Dabei überlegte sie, was sie sagen sollte.

„Nun?“, ermunterte sie Isobel. „Sein freundliches Lächeln ist mir auch aufgefallen. Außerdem scheint er Sinn für Humor zu besitzen; und vor Hugo hat er eindeutig keine Angst.“

„Ich weiß nicht recht, was ich von ihm halten soll“, gestand Sidony schließlich, ohne sich umzudrehen. Das Nachdenken fiel ihr leichter, wenn sie ihre Schwester nicht ansehen musste. „Aber wenn er keine Angst vor Hugo hat, scheint er ihn nicht besonders gut zu kennen.“

„Meine Güte, du fürchtest dich doch wohl nicht etwa vor Hugo?“

„Nein, das nicht, aber manchmal brüllt er so wütend herum, dass alle vor ihm Angst bekommen. Als ich ihn das erste Mal sah, ging es mir genauso. Doch mittlerweile weiß ich, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Seine Männer haben aber durchaus Respekt vor ihm. Ich bin zwar nicht erpicht darauf, ihm noch vor dem Abendessen Rede und Antwort zu stehen, aber zumindest weiß ich, dass er mich nicht schlagen wird. Ich kann nur hoffen, dass Sir Giffard ihn bis dahin nicht noch mehr in Rage bringt.“

„Eine kleine Standpauke hättest du schon verdient“, sagte Isobel in mildem Ton. „Du kannst dir ja nicht vorstellen, was für Sorgen ich mir um dich gemacht habe, als du so einfach verschwunden bist. Aber das kann dir alles Hugo sagen, dann brauchst du es dir nicht zweimal anzuhören. Hast du dir wirklich eine Angelrute vom Gärtner geliehen?“

„Woher weißt du das denn?“, fragte Sidony und drehte sich um. Sie war erleichtert, dass ihre Schwester nicht mit ihr schimpfte.

„Ich hörte, wie du den Pagen gebeten hast, sie zurückzubringen. Bevor ich herunterkam, stand ich einen Augenblick oben an der Treppe.“

„Du hast gelauscht“, stellte Sidony sachlich fest. „Du weißt doch, dass du das nicht sollst.“

„Ich tue es ja auch nur noch ganz selten. Um ehrlich zu sein, als ich Rob rufen hörte, dass du wieder da wärst, bin ich so eilig aufgesprungen, dass mir schwindlig wurde und ich ein wenig warten musste, bevor ich hinunterging.“

„Was hast du noch mitangehört?“ Sidony war nicht sicher, ob sie die Geschichte mit dem Schwindelanfall glauben sollte. Ihre Schwester scheute sich nicht, die Wahrheit ein wenig zurechtzubiegen oder sich Ausreden auszudenken, wenn es ihr in den Kram passte.

Isobel zuckte die Achseln. „Nicht viel. Ich hörte nur, wie Sir Giffard fragte, ob sie auf der Türschwelle stehen bleiben sollten. Dann neckte er Hugo damit, dass es ja noch nicht einmal sein eigenes Haus sei.“

„Hugo sagte, es wäre auch Zeit, dass Sir Giffard gekommen ist, und dass sie ihn schon beinahe aufgegeben hätten“, sagte Sidony. „Weißt du, was er damit meinte?“

„Du musst aufhören, immerzu das Thema zu wechseln, Liebes“, ermahnte sie Isobel. „Es ist doch egal, was er meinte. Uns wird er es sowieso nicht verraten. Außerdem weiß ich noch immer nicht, wie du Giff MacLennan findest.“

„Du solltest ihn nicht Giff nennen, nicht einmal mir gegenüber“, entgegnete Sidony. Ganz besonders nicht mir gegenüber, fügte sie im Stillen hinzu, als sie daran dachte, wie offenherzig sie ihm ihre Gedanken mitgeteilt hatte. Sie konnte sich vorstellen, wohin es führte, wenn sie anfing, ihn insgeheim beim Vornamen zu nennen.

„Puh!“, machte Isobel. „Hast du Angst, dass du ihn aus Versehen so ansprichst? Wenn das ein Hinweis darauf ist, was du von ihm häl…“

„Nein, ist es nicht!“, rief Sidony gereizt. Sie wischte sich eilig das Gesicht ab, faltete das Tuch zusammen und fügte ruhiger hinzu: „Falls du wissen willst, ob ich ihn mag – oder noch mehr für ihn empfinde – und ob ich ihn mir als Ehemann vorstellen könnte, dann schlage dir den Gedanken aus dem Kopf. Ich weiß, alle fragen sich, wann ich endlich heirate, aber Sir Giffard ähnelt Hector und Hugo viel zu sehr, als dass er für mich infrage käme.“

„Damit kannst du doch wohl nur meinen, dass beide Männer ganz schön wütend werden können“, sagte Isobel und blickte Sidony gedankenvoll an. „Hast du es schon geschafft, Giff zu verärgern?“

„Nein“, antwortete Sidony. Sie wollte nicht mehr an seinen Gesichtsausdruck denken, als sie ihn geschlagen hatte, und an den Schreck, den er ihr eingejagt hatte, als er ihr nachgelaufen war und sie festgehalten hatte. „Wie könnte ich das, wo wir uns doch kaum kennen?“

„Ja, wie wohl?“ Isobels Blick wurde eindringlicher. „Du bist nicht gut im Lügen, meine Liebe. Falls du es öfter tun willst, solltest du noch üben.“

„Wir haben nicht mehr viel Zeit, denn Hugo will Lady Clendenen bestimmt nicht auf ihr Abendessen warten lassen“, sagte Sidony. „Hilfst du mir jetzt mit dem Rock?“

„Du hast ihn also doch geärgert“, stellte Isobel mit zufriedenem Nicken fest, während sie Sidony das saubere Hemd und den Rock reichte. „Dreh dich um, dann binde ich ihn dir zu“, sagte sie, als Sidony ihn angezogen hatte.

„Ehrlich, ich wünschte, du würdest mich nicht damit aufziehen“, erwiderte Sidony und wandte ihrer Schwester den Rücken zu. „Als ich sagte, er wäre wie Hector und Hugo, meinte ich damit, dass er jeden herumkommandiert, selbst Leute, die er kaum kennt. Ich will keinen Mann, der erwartet, dass ich nach seiner Pfeife tanze.

„Tut er das denn?“

„Ja. Ich sagte doch, er wollte unbedingt, dass ich nach Clendenen House zurückreite. Ich weigerte mich, weil ich wusste, dass uns jeder angaffen würde, wenn wir so die Canongate entlangkämen. Aber er hat mich trotzdem aufs Pferd gesetzt.“

„Dann ist er aber ein starker Mann“, erwiderte Isobel.

„Na, um mich hochzuheben braucht man ja nicht viel Kraft“, widersprach Sidony.

Isobel lachte. „Ich meinte eher die Stärke, die erforderlich ist, um zu tun, was man für richtig hält, auch wenn es anderen nicht passt.“

„Ich nenne so etwas Halsstarrigkeit und Eigensinn.“

„Und was hast du dann getan?“

„Ich schwang das Bein hinüber und ließ mich auf der anderen Seite hinunterrutschen.“

Isobels Augen funkelten. „Damit hast du ihn also verärgert.“

„Nein, das war es nicht.“

„Aber verärgert hast du ihn doch.“

„Ja, schon, aber den Grund werde ich dir bestimmt nicht verraten.“

Isobel sagte nichts mehr, sondern konzentrierte sich darauf, die Reihe winziger Knöpfe hinten an Sidonys Seidenmieder zu schließen. Doch Sidony ließ sich von ihrer Schweigsamkeit nicht täuschen, denn Isobel war von allen Schwestern die neugierigste. Wenn sie etwas herauskriegen wollte, ließ sie einfach nicht locker. Daher wusste Sidony, dass die Ruhepause, die sie ihr gönnte, nicht von langer Dauer sein würde.

Um weiteren Fragen zuvorzukommen, sagte sie also: „Er ist interessant, und ich mag sein Lächeln. Er würde mir, ehrlich gesagt, besser gefallen, wenn er mehr wie Michael oder Rob wäre.“

„Meiner Meinung nach hast du dir ums Heiraten noch nicht viel Gedanken gemacht“, erwiderte Isobel. „Nur gut, dass Ealga nicht mehr darauf besteht, dass Vater alle seine Töchter unter die Haube bringt, bevor sie ihn heiratet.“

„Ja“, stimmte Sidony ihr zu. „Ich habe schon befürchtet, dass er mich irgendjemandem zur Frau geben würde, nur um mich loszuwerden. Doch seit Adelas Hochzeit scheinen er und die Lady sich darum keine Gedanken mehr zu machen.“

„Das stimmt, denn im Grunde war Adela das Problem“, sagte Isobel. „Sie ist viel resoluter als du.“

„Ich glaube, es lag eher daran, dass sie uns jahrelang den Haushalt auf Chalamine geführt hat“, widersprach Sidony. „Selbst ich kann mir vorstellen, wie wenig Ealga diese Konkurrenz im eigenen Heim gefallen hätte. Wahrscheinlich hätte Adela sich nicht beherrschen können und sich in alles eingemischt.“

„Ja, so wie die Dinge jetzt liegen, ist es für beide Seiten besser“, sagte Isobel. „Und nun reich mir mal die Bürste, dann werden wir Sir Giffard zeigen, wie hübsch du aussehen kannst.“

„Isobel!“, protestierte Sidony. „So etwas darfst du nicht sagen! Ich habe dir doch erklärt, wie ich es sehe, und außerdem kehrt er bestimmt bald wieder in den Westen zurück.“

„Das bezweifle ich“, erwiderte Isobel. „Schließlich haben Michael und Hugo ihn holen lassen.“

„Tatsächlich? Davon hat er mir nichts gesagt, nur, dass er Hugo besuchen wollte.“ Sidony nahm die Neuigkeit mit gemischten Gefühlen auf, doch ihr blieb keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn Isobel lachte nur erneut und drückte sie auf den Hocker nieder, damit sie ihr das Haar bürsten konnte.

Mit gerunzelter Stirn wartete Giff, dass Hugo oder Rob ihm erklärten, wofür sie die Schiffe brauchten, doch die beiden älteren Männer blickten einander nur an, als wollten sie sich wortlos verständigen.

„Was zum Teufel habt ihr denn?“, fragte er schließlich. „Als ich euch sagte, dass ich zwei Tage von Galloway hierher gebraucht habe, hättet ihr euch doch denken können, dass ich nicht mit der Storm Lass gekommen bin. Für die Strecke um die Nordküste Schottlands herum bis in den Firth of Forth braucht selbst das schnellste Schiff bei günstigem Wind mindestens vierzehn Tage. Die südliche Route ist genauso weit, und außerdem bin ich nicht so dumm, mich in englische Gewässer zu wagen.“

„Ja, mag sein. Wir haben nur gehofft, du hättest ein oder zwei Boote in der Nähe“, erwiderte Hugo. Dann hob er warnend die Hand, stand auf, öffnete die Tür und spähte hinaus auf die Diele und die Treppe. „Entschuldigt“, sagte er, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte. „Ich wünschte, die Türen hier wären dicker, aber wir müssen eben leise sprechen.“

Giff nickte und sagte mit gedämpfter Stimme: „Selbst wenn ich im Hafen von Leith ein Schiff hätte, brauchte ich noch ein Dutzend weitere als Geleitschutz, wenn ich etwas Wertvolles befördern soll. Aber den Sinclairs gehört doch die größte Flotte in ganz Schottland, Hugo, und schließlich bist du mit ihnen verwandt, von Michael ganz zu schweigen. Warum nehmen wir nicht die Schiffe seiner Familie?“

„Weil die Schiffe der Sinclairs alle für den Wollhandel eingesetzt werden und unterwegs sind.“

„Selbst wenn uns eines davon zur Verfügung stünde, müssten wir es irgendwie tarnen“, fügte Rob hinzu.

„Warum?“, wollte Giff wissen. Als er keine Antwort erhielt, sagte er seufzend: „Ich glaube, ich könnte einen Boten zu meinen Männern nach Galloway schicken. Sie würden etwa drei Wochen brauchen, um mit einer kleinen Flotte von den Inseln hierher zu segeln. Allerdings sollten wir bedenken, dass die Leute hier sich erschrecken könnten, wenn unversehens fremde Schiffe auftauchen. Euer Plan kann sowieso nicht so schnell ausgeführt werden, also können wir die drei Wochen nutzen, um uns alles reiflich zu überlegen.“

„Du lieber Himmel“, sagte Hugo, der bisher in Gedanken versunken dagesessen hatte, spöttisch. „Erzähl mir nicht, dass du es auf einmal mit dem Überlegen hast, mein Junge. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich auch nur einmal im Leben an einen Plan gehalten hast.“

„Das zeigt mir nur, wie wenig du mich kennst, Hugo“, erwiderte Giff verschnupft. „Du kannst sicher sein, Douglas gegenüber bin ich der Gehorsam in Person. Schließlich ist er der wahrscheinlich mächtigste Mann in Schottland, noch vor dem König und seinem ehrgeizigen Sohn Fife. Mit Männern wie Douglas …“

„Ja, schon gut“, unterbrach ihn Hugo. „Ich habe schon verstanden, dass du dich zu rechtfertigen versuchst, mein Junge. Aber während der Kapitän eines Schiffes sein Handeln den Wetterverhältnissen anpassen muss, taugt es nicht als Entschuldigung, dass der Feind nicht genau das tut, was man von ihm erwartet.“

„Glaubst du, ich wollte mich nur herausreden?“

„Da bin ich sogar ganz sicher“, erwiderte Hugo und fügte dann kopfschüttelnd hinzu: „Aber ich muss zugeben, dass du mit deinem Vorgehen am Ende meist doch Erfolg hast.“

„Ich treffe eben meine Entscheidungen, ohne vorher Hinz und Kunz nach ihrer Meinung zu fragen“, entgegnete Giff und setzte hinzu: „Weißt du, das ist ja gerade der Trick, dass man die Gelegenheit im rechten Augenblick beim Schopf packt. Jemand, der schnell reagiert und so den Sieg davonträgt, ist doch genau das, was ihr braucht, oder etwa nicht?“

Giffs Ton war ernst und eindringlich. Der Auftrag interessierte ihn, daher wollte er Hugo nicht verprellen. Andererseits hatte er jedoch auch keine Lust, sich eine Moralpredigt anzuhören. Schließlich sprachen seine Erfolge für sich.

Nachdem er abermals einen Blick mit Rob gewechselt hatte, sagte Hugo: „Ja, so jemanden brauchen wir in der Tat. Aber wir haben keine Zeit, auf eine Flottille oder auch nur auf ein einziges Schiff zu warten. Uns läuft die Zeit davon. Fife war nämlich so freundlich, sich das ganze letzte Jahr über im Grenzland aufzuhalten, und wir haben gehofft, er würde noch so lange dortbleiben, bis wir alles vorbereitet hätten, ohne dass er etwas merkt. Doch leider kam er genau im falschen Augenblick zurück.“

„Den Männern im Grenzland wird es nicht leidtun, dass er weg ist“, sagte Giff. „Douglas und die anderen, die dort gegen die Engländer kämpfen, sind allesamt viel bessere Krieger als Fife. Er mag ja gerissen sein, doch von Strategie und Taktik hat er keine Ahnung. Und wenn er unter Druck steht, wird er ganz konfus. Deswegen sind sie dort bestimmt froh, ihn los zu sein. Im Grunde genommen hat es niemanden überrascht, dass er sich genau in dem Augenblick davonmachte, als die englischen Truppen nach Norden vorrückten.“

„Kämpfen sie nicht noch immer im Süden gegen die Aufständischen?“, erkundigte sich Rob mit seiner sanften Stimme.

„Doch, aber der Aufstand hat sich in den Norden ausgeweitet“, erwiderte Giff. „Aber wir schweifen ab. Erzählt mir doch von eurem Auftrag.“

„Vor allem musst du wissen, dass es dabei um Angelegenheiten der Templer geht“, erklärte Hugo. „Du bist dir doch im Klaren darüber, dass deine Pflicht dem Orden gegenüber Vorrang vor allem anderen hat, oder?“

„Ja“, sagte Giff, dessen Spannung stetig stieg.

„In den vergangenen zwei Jahren ist vieles geschehen, was uns betraf“, fuhr Hugo fort. „Wir brauchen jetzt nicht im Einzelnen darüber zu reden. Nur so viel: Die Sicherheit eines Gegenstandes, der sich in der Obhut zweier unserer Mitbrüder befindet, ist bedroht. Wie du ja weißt, ist es schon von alters her Aufgabe der Templer, wertvolle Dinge zu bewachen, die ihnen Herrscher und andere reiche und mächtige Männer anvertraut haben.“

„Ja“, sagte Giff, „nicht zu vergessen den gewaltigen Schatz des Ordens selbst, der vor mehr als siebzig Jahren aus Paris verschwand.“

Alle schottischen Tempelritter wussten von diesem Vorfall, als König Philipp IV. von Frankreich versucht hatte, sich des Templerschatzes zu bemächtigen.

„Es wird gemunkelt, dass diejenigen Templer, die nach Schottland kamen und sich unter den Schutz von Robert the Bruce stellten, einen Teil des Schatzes mitbrachten“, sagte Giff nachdenklich. „Es ist ja allgemein bekannt, dass der Orden in Schottland nicht aufgelöst wurde, weil Bruce ein Jahr zuvor vom Papst exkommuniziert worden war und daher den päpstlichen Erlass gar nicht erhielt. Darüber hinaus brauchte er die Templer, da sie ihm bei der Befreiung Schottlands helfen sollten. Doch die meisten Leute hier halten die Geschichten über die Templer für Legenden“, schloss er. „Selbst wir Tempelritter glauben ja nicht alle Geschichten über den Schatz, die im Umlauf sind.“

„Unser Orden versteht sich eben darauf, Geheimnisse zu bewahren“, sagte Rob.

„Und das muss er auch weiterhin“, setzte Hugo hinzu. „Hier geht es nicht um den Schatz von Paris, Giff. Der Gegenstand, von dem wir sprechen, hat Schottland niemals verlassen. Bruce selbst hat ihn zwei Männern anvertraut, von denen er wusste, dass sie Tempelritter waren.“ Er zögerte und fuhr dann widerstrebend fort: „Ich muss euch allerdings sagen, dass Fife der Meinung ist, dieser Gegenstand befände sich bei dem restlichen Schatz. Und er vermutet, dass die Familie Sinclair weiß, wo der Schatz sich befindet.“

„Und, hat er recht damit?“

„Das tut nichts zur Sache, und wir brauchen darüber jetzt nicht zu debattieren. Wichtig ist nur, dass Fife alles tun wird, um ihn zu finden. Er hofft, dass er mithilfe des Schatzes ganz Schottland erobern kann, und er ist seinem Ziel schon gefährlich nahe gekommen. Der betreffende Gegenstand muss so schnell wie möglich in Sicherheit gebracht werden, bevor Fife ihn entdeckt.“

„Was, um Himmels willen, ist denn bloß so wertvoll daran?“, fragte Giff.

„Es ist das Heiligste, was es in Schottland gibt“, erwiderte Hugo ruhig.

„Eigentlich kann es nur das Zweitheiligste sein, denn das Heiligste befindet sich nicht mehr im Land“, widersprach Giff. „Die Engländer haben es vor beinahe einhundert Jahren geraubt.“

„Meinst du?“

Giff überlief ein Schauer. Ein Gefühl der Hoffnung wuchs in ihm, so überwältigend, dass er es nur in der Sprache seiner Kindheit, dem Gälisch der Inseln und des Hochlands, ausdrücken konnte: „Der Lia Fail“, flüsterte er.

„Ja“, sagte Hugo, brach jedoch sogleich ab, als sich von fern leise Schritte vernehmen ließen. Eine der Frauen kam die Treppe herunter.

„Wir reden nach dem Abendessen weiter“, sagte Hugo und ging zur Tür. „Ihr wollt euch vor dem Essen bestimmt noch ein wenig frisch machen.“

Mit diesen Worten öffnete er die Tür und sagte: „Kommt rein, Mädchen.“

Giff starrte Lady Sidony an, die – ganz in Zartgelb und Gold gekleidet – mit hoch erhobenem Kopf eintrat und sich ruhig neben Hugo stellte.

Sie war selbst eine wahre Kostbarkeit, dachte Giff. Wie eine goldene Statue, die zum Leben erwacht war.